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Der Riss in mir
In den Arbeiten des flämisch-marokkanischen Choreographen und Regisseurs Sidi Larbi Cherkaoui werden die Brüche der Menschen und der Welt, in der sie leben, sichtbar. Doch anstatt sie zu verstecken, hebt er sie hervor. Seine Inszenierung von Alceste wird zeigen, dass selbst der Tod Liebende in Ewigkeit verbinden kann. Ein persönliches Porträt.
Vor ungefähr 500 Jahren entwickelten japanische Kunsthandwerker eine Technik, mit der sich Keramik auf eine ganz besondere Weise reparieren ließ: Kintsugi. Wie Amy Azzarito in Architectural Digest schreibt, „wird diese Reparaturtechnik als Kintsugi bezeichnet, was so viel bedeutet wie ,vergoldendes Zusammensetzen‘“. Dabei wird ein spezieller Lack verwendet, dem Gold, Silber oder Platin beigemischt ist und mit dem das Objekt auf eine Weise geklebt wird, die die Bruchstelle eher hervorhebt als verdeckt. Es ist eine Methode, die das Zerbrechen als Teil der Geschichte eines Objekts würdigt und es nicht als sein potenzielles Ende betrachtet.
Vielleicht löste der Begriff Kintsugi auch deswegen sofort etwas in mir aus, weil ich ihn mit einem anderen Schlüsselbegriff verbinde: Cherkaoui. Sidi Larbi Cherkaoui kenne ich schon seit den frühen 2000er Jahren, als die Performance- Kunst, der zeitgenössische Tanz so etwas wie Zufluchtsorte waren. Viele bemerkenswerte und sehr unterschiedliche Choreographen, die ihre politischen und gesellschaftlichen Haltungen auf der Bühne vehement zur Sprache brachten, wurden damals in Europa erfolgreich.
Aber nur einer, nämlich Sidi Larbi Cherkaoui, besaß die besondere Fähigkeit, die Bausteine, aus denen sich Identität zusammensetzt, niederzureißen, sie einzeln zu untersuchen und wieder neu zusammenzufügen – ob es sich dabei nun um ethnische Zugehörigkeit, Herkunft, (Bewegungs-) Sprache, um Geschlecht oder um Behinderung/Nichtbehinderung handelte. Dieser Umsturz erfolgte mit den Mitteln der Bewegung, der Musik und einer sehr eigentümlichen Darstellungskunst. Seine mitreißenden poetischen Arbeiten, deren „unerwartete Wendungen seine Visionen weit wie den Himmel und wild wie Las Vegas werden lassen“, wie es der US-amerikanische Kritiker Paul Ben-Itzak formulierte, enthüllten oft heikle und komplexe menschliche Wahrheiten.
Andersheit durch Lack und Gold begegnete. Cherkaoui würdigt diese Andersheit als Merkmal, das einen von anderen unterscheidet. Sie soll nicht verborgen oder nur ertragen, sondern gezeigt und hinterfragt werden. Man darf auch darüber lachen, sie sich zu eigen machen oder aus sich herausbrechen lassen. Es muss OOK (2002) gewesen sein, bei dem ich, zunächst noch als Zuschauerin, zum ersten Mal dieser Hervorhebung (oder Wiederzusammensetzung) von
OOK, Sidi Larbis zweite abendfüllende Arbeit, die er gemeinsam mit Nienke Reehorst choreographierte, wurde mit und für zehn Menschen mit Behinderung, alle professionelle Schauspieler des Theaters Stap, entwickelt. OOK steht für die Universalität von Träumen und großen Zielen (einige davon sind für manche kaum erreichbar: etwa ein Kind zu bekommen, professionell zu jonglieren oder ein Gesangsstar zu werden), dafür, dass die Vorstellungskraft frei und allen Menschen eigen ist – behinderten und nichtbehinderten.
Die Überdosis visueller Medien, die wir täglich zu uns nehmen, und die Tatsache, dass wir ihr ausgeliefert sind, benutzten Sidi Larbi und Reehorst dazu, zusammen mit den Schauspielerinnen und Schauspielern Szenen heraufzubeschwören, in denen sie bestimmte Bilder, die sie immer noch quälten, noch einmal durchleben konnten. So sollten die Zuschauer zu der Wahrnehmung angestoßen werden, dass diese Verknotungen mit dem Irrealen unsere Realität, dieses Durcheinander unseres beschädigten und trotzdem auch heiteren Lebens, zusammenhalten können.
In Memoriam (2004) – Sidi Larbis erster Ausflug in die Welt des klassischen Tanzes, von den Ballets de Monte-Carlo beauftragt – zeigt, dass seine Veranlagung, tief in den Rissen menschlicher Existenz zu graben, noch über die Beschäftigung mit Andersheit und Identität im Allgemeinen hinausgeht. Ausgelöst durch den Tod naher Verwandter, war das Stück vom Choreographen als Meditation über Trauer, Verlust und deren Auswirkungen auf den Körper gestaltet worden. Die Arbeit mit Körpererinnerung und Energiefeldern, die durch Anziehung und Abstoßung entstehen, brachte die 21 Tänzer dazu, tanzend und singend Geschichten zu erzählen, die ein Körper im Laufe seines Lebens durchstehen muss und die alle ihre Narben hinterlassen. Die Tänzer kreisen unermüdlich umeinander,
bis dann im Kuss eines Paares Harmonie oder die zarte Ahnung von Heilung eintritt: als wäre das Leben, vom Verlust zerrissen, durch die silbernen Nähte der Erinnerung neu zusammengefügt und umgestaltet worden; denn Erinnerung ist niemals deckungsgleich mit der Realität. Sutra (2008), TeZukA (2011) und Puz/zle (2012) gehören zu den späteren Stücken, in denen es um Umbrüche geht – berufliche, persönliche oder globale. (TeZukA ist hervorzuheben, da es 2011 nach dem Tsunami in Japan entstand, den die Compagnie während ihrer Proben in Tokio erlebte.)
Aber erst mit Fractus V (2015) drehte sich ein Stück ganz um das Thema Bruch und Zerbrechen, als nicht bloß wünschenswerte, sondern notwendige Bedingungen für Überleben und Wachstum. Das Stück wurde angeregt von den Schriften Noam Chomskys über den Sturz von Regierungen und das Beenden einer Manipulation durch die Medien mittels kollektiven und ununterbrochenen Widerstands. In Fractus V lassen neun Tänzer und Musiker – aus fast genauso vielen Regionen und so unterschiedlichen Stilrichtungen wie Lindy Hop, Flamenco und Instrumentalmusik aus Hindustan – neue Formen des Dialogs, der Wechselbeziehung durch Bewegung, Takte und Akkorde entstehen.
Und jetzt also Alceste. Was interessiert Sidi Larbi Cherkaoui am griechischen Mythos, an der Opernversion einer antiken Geschichte? Was hat das mit seiner intensiven Beschäftigung mit der heutigen Welt zu tun, mit ihren Rissen, Gräben und Tumulten? Es ist die Musik, sagt Sidi Larbi Cherkaoui mit freudig erregter Stimme: Es ist Glucks erhabene, feierliche Musik mit ihrer fast rituellen Strenge. Er war sofort eingenommen von der Partitur, einer Musik, die jene unsichtbare Geschichte erzählt, um die es ihm geht, die er mit der sichtbaren Handlung des Librettos zusammenführen möchte. Das ist der mythische Goldene Apfel, der ihn zum Ballett und zur Oper lockt.
Natürlich ist Alceste aktuell, reflektiert er meine Nachfrage. Denn hierin liegt ja gerade die Magie von Mythen: Sie können gewaltige zeitliche Distanzen auflösen und Geschichten erzählen, die vielleicht uralt sein mögen, aber dennoch die Gegenwart widerspiegeln. Für Sidi Larbi geht es in Alceste um zwei große drängende Themen. Einmal um das Opfer, um die Selbstaufopferung, die Vernichtung des Selbst im Wunsch, dadurch etwas Höheres, Wertvolleres zu erschaffen oder zu bewahren. Und es geht um Gleichheit und Spaltung zwischen Göttern und Menschen. Für die Götter ist das Leben der Frau dem des Mannes gleichwertig; für den Menschen ist die Frau eher ersetzbar, leichter zu opfern. Das sind hochaktuelle Fragen, die seit ein paar Jahren die ganze Welt beschäftigen, von Los Angeles bis Neu-Delhi! Der Begriff „Opfer“ wird zur treibenden Kraft dieser Operninszenierung. Das Team wird all seine Energie dafür aufwenden, eine in sich geschlossene Welt zu erschaffen, in der Ideal – das in einer zynischen und bornierten Welt als fragwürdig hingestellt wird – so real, so einnehmend und berührend wird, wie es für Stück daraus machte. Gemeinsam mit dem Bühnenbildner Henrik Ahr möchte Sidi Larbi eine Art ganzheitliche oder absolute Umgebung für das Ritual der Opferung erfinden. Sie wollen die Welt der Lebenden von der Welt der Toten abgrenzen, die Zeit vor der Raum andeuten kann; sechs veränderbare Wände, mit denen unterschiedliche Orte dargestellt werden können. Es wird massive Steinwände geben, aber auch die weichen, vagen Ausdehnungen des Jenseits als möglicher Spiegelung unserer Lebenssphäre sowie eine traumartige, unerwartet entstehende Landschaft. Sidi Larbi bestätigt, dass Zufallsfunde in seinem Arbeitsprozess eine wichtige Rolle spielen, denn obwohl eine Operninszenierung penible Vorbereitung erfordert, kommt der Durchbruch doch häufig durch eine zufällige Entdeckung, durch Experimentieren oder Improvisation.
Das Ergebnis ist dann jene flüchtige Kostbarkeit, auch künstlerische Wahrheit genannt. Der Modedesigner Jan-Jan Van Essche, der Kostümbildner von Alceste, stellt sich ebenfalls verschiedenartigen Herausforderungen. In einer Oper, in der viel getanzt wird, müssen seine Kostüme trotz ihrer komplizierten Gestaltung und aufwendigen Drapierung den Tänzern stets die Bequemlichkeit bieten, die sie brauchen, um die schwierigen, schnellen Tanzschritte leichtfüßig und sicher ausführen zu können, ohne sich um die Kostüme zu sorgen, die scheinbar ohne Aufwand nur über ihre Schultern gelegt sind. Van Essche hat noch eine andere Aufgabe: Er muss die Zeitlosigkeit des Sujets im Wallen und Fallen seiner Kostüme einfangen. Diese Zeitlosigkeit kann sich auf die Antike, aber auch auf eine unbestimmte Zukunft auf der Erde oder sogar auf einem anderen Planeten beziehen.
Denn die meisten Mythen, so betont Sidi Larbi nochmals, können von jedem historischen Kontext aus betrachtet werden, und sie berühren uns trotzdem immer wieder neu. Das macht ihren Reiz aus. In Alceste möchte er hervorheben, wie ähnlich sich unterschiedliche Kulturen und Machtmenschen sind: in ihren Unsicherheiten, ihrer Selbstsucht, ihrer Ungerechtigkeit und Heuchelei. Das Gegenmittel für diese Schwächen ist Zusammengehörigkeit, beständige Liebe, die selbst göttliches Gesetz außer Kraft setzen kann: die Zusammengehörigkeit, die menschliche, aber trotzdem unzerstörbare Liebe zwischen Alceste und Admète, die lieber gemeinsam in die ewige Dunkelheit gehen als getrennt von ein an der durch Leben und Licht. Eine solche Trennung wäre wie ein Bruch, eine Amputation für dieses Paar, das sich unbeirrt dagegen wehrt.
Sogar der Tod verwandelt sich schließlich in ein Narbengewebe, das sie für immer verbindet, entgegen allen Beschlüssen der Götter. Ein weiterer Moment des Umbruchs, eine weitere Bruchstelle also, eine weitere Wiederherstellung, die Sidi Larbi Cherkaoui mit uns teilen und zelebrieren will.
Aus dem Englischen von Sabine Voß
Text Karthika Naïr