Sopranistin Nina Stemme, die Kundry in „Parsifal“ im Interview

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MAX JOSEPH Nina

„Ich muss die Wunde zeigen, ohne Schaden zu nehmen“

Unter den Wagner-Sopranen unserer Zeit gibt es wenige wie sie: Nina Stemme spielt als Brünnhilde und als Isolde derzeit beinahe in einer Liga für sich. Auch als Kundry ist sie weltweit gefragt, beispielsweise in Wien, Zürich und Berlin. Nun interpretiert sie diese vielleicht rätselhafteste von Wagners Frauenpartien erstmals an der Bayerischen Staats oper, wo man sie zuletzt als Brünnhilde, aber auch als Turandot und Elektra kennt und verehrt. Neben Wagnerpartien gehören etwa auch Marie (Wozzeck), Leonora (Il trovatore), Tosca, Katerina (Lady Macbeth von Mzensk), Arabella und Salome zu ihrem Repertoire. Die schwedische Sängerin ist Mitglied der Königlichen Musikakademie, Königlich Schwedische Hofsängerin und Österreichische Kammersängerin, außerdem

In der Neuinszenierung von Parsifal singt Nina Stemme die Kundry. Hier spricht sie über das Wundenzeigen auf der Bühne und ihre Sicht auf Richard Wagners geheimnisvolle Frauenfigur – von #MeToo bis Ödipus.

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Nina Stemme

trägt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Lund. Sie tritt in der ganzen Opernwelt auf (u. a. in Wien, London, Zürich, Barcelona, Mailand, Paris, New York, San Francisco, Bayreuth, Salzburg, Luzern sowie in Glyndebourne).

Stemme, wem haben Sie das letzte Mal – abseits der Opernbühne – eine Wunde geheilt? NINA STEMME Eine physische oder psychi sche Wunde? MJ Oh, schon vorbei, die Aufwärmrunde … NSt Ich kann nicht zaubern, aber ich kann die Voraussetzungen für eine Heilung verbessern. So sehe ich auch meine Rolle als Mutter. Aber meine Kinder sind nun schon groß. Man muss auch zulassen, dass eine Wunde selbst heilt. MJ Wer außer einst Ihren Kindern trägt seine Wunden an Sie heran? NSt Oft kommen Menschen auf mich, auf die Sängerin, zu, da sie denken, dass ich eine Art Heilsfigur bin. MJ Die Sängerin als Projektionsfläche, zu der man alles bringen kann. Das ist schön, aber ist es nicht so, dass Sängerinnen vielmehr selbst verletzlich sind? NSt Natürlich, man zeigt auf der Bühne die eigene Wunde. Vorausgesetzt, alles klappt. Darum geht es beim Singen: Ich muss die Wunde zeigen, ohne Schaden zu nehmen. Ich schaffe das auf der Bühne vielleicht sogar besser als im Privatleben. Es entsteht eine Wahrheit. MJ Nur eine sehr starke Person kann das aushalten. NSt Ja, man muss wissen, was man macht und wie weit man geht. Ich bin ein Spiegel für den Zuschauer. Manchmal muss man dabei vom Dirigenten oder vom Regisseur oder den singenden Kollegen geführt werden. MJ Eine Maria Callas betrieb Stimm-Exhibitionismus, sie verbrannte auf der Bühne, niemand konnte sie führen. NSt Ich denke nicht an Exhibitionismus, auch wenn das der Zuschauer immer ersehnt. Warum wünschen wir uns den Sänger als eine offene Wunde auf der Bühne, da er uns doch so viel schenken will? Wir sehen doch, wie viel er ohnehin dafür bezahlt. MJ Der romantische Wunsch an den Künstler, „Verbrenn für uns!“, ist also kritisch zu hinterfragen? NSt Ich muss meine Worte präzisieren: Es soll den Sänger tatsächlich etwas kosten, mit offener Wunde auf der Bühne zu stehen. Das habe ich vielleicht sogar von der Callas gelernt. Unglaublich, wie sehr sie sich aufopferte – auf der Bühne wie im Privatleben. MJ Können Sie lenken, wie weit Sie auf der Bühne gehen? NSt Nein, es passiert einfach.

Festspielpremiere Parsifal

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Und dann wird es gefährlich? Es kann gefährlich werden – aber eben: Das soll das Publikum spüren. Darum geht es: Man spielt mit einer Wunde. Aber wenn man über die eigenen Grenzen geht, ist das nicht immer schön oder erlebenswert. MJ Für wen? Für den Zuschauer – und für mich kann es schädlich sein, vokal oder seelisch. Als ich in meiner Studienzeit Mimì gesungen habe, kam unser Rektor nach einer Klavierprobe, in der ich unheimlich viel gegeben hatte, zu mir, und sagte: „Aufpassen, Nina, das wird gefährlich.“ Und tatsächlich hatte ich danach eine Halsentzündung. Ich stürze mich beim Lernen mit Haut und Haar in Partien hinein. Als ich Butterfly einstudierte, habe ich geheult und geweint. Auf der Bühne aber war das alles weg, da bin ich fest in meiner Figur drin, da verstehe ich als Künstlerin, warum sie diese oder jene Entscheidung trifft. Schaffe ich es nicht, diese Grenze zu ziehen, wird Kunst zur Privatsache der Ausführenden. Ich soll eine Rolle gestalten, aber nicht als Nina Stemme auf der Bühne weinen oder husten. Und so gilt es zu fragen: Was kann ich geben, damit ich aus der Kunst heraus einen genauso starken Eindruck vermittle? MJ Packt Sie die Musik und das Geschehen bisweilen dennoch so stark, dass Sie in der Rolle versinken? Durchaus. Im dritten Aufzug von Parsifal etwa, da sehe ich die Welt als Kundry. Da spielt es keine Rolle, ob ich tatsächlich weine oder ob es gemacht ist. Ich frage mich selbst: Fließen da meine Tränen oder jene von Kundry? Aber keine Angst: Keiner sieht sie. Das ist mein Geheimnis. MJ Ich stelle mir das als einen unglaublich schönen Moment vor. Aber wie ist es denn im Finale von Tristan und Isolde? Ich gehe auf im Weltall. MJ Und Sie wissen dennoch, was Sie machen? Nein. Ich weiß, was in der Musik steht, aber ich lasse es geschehen, und der Dirigent, das Orchester und ich lenken zusammen, was passiert. Aber ich kann Ihnen nicht beschreiben, was in mir passiert. MJ Aber sind wir da nicht an dieser gefährlichen Grenze … Nein, die Frage ist falsch: Alles ist da so schön und so klug komponiert, dass keine Gefahr droht. Das ist kein Verismo. Callas opferte als Tosca Fleisch und Blut. Das kann bei Wagner nicht passieren, dann klingt es hässlich. MJ Wir reden über Wunden, über Frauen und über MJ

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„Warum wünschen wir uns den Sänger als eine offene Wunde auf der Bühne, da er uns doch so viel schenken will? Wir sehen doch, wie viel er ohnehin dafür bezahlt.“ – Nina Stemme

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Kundry [hochdramatische Sopranpartie in Parsifal] stellt eine der tiefgründigsten Frauengestalten Wagners dar, wird in der Dichtung des Werks als „Namenlose“, „Urteufelin“, „Höllenrose“, „Gundryggia“ und mit noch anderen Namen bezeichnet, da sie

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als „weiblicher Ahasver“ und in Anlehnung an die buddhistische Lehre der Reinkarnation zahlreiche Wiedergeburten hinter sich hat, zu ihrem Unglück Christus am Kreuz verlachte und deshalb nach Erlösung sucht, die sie jedoch nicht ohne sinnliche Tatkraft zu erreichen vermeint. Ihre erste Begegnung in der Handlung von Parsifal mit dem knabenhaften Titelhelden lässt sie erschauern, da sie in ihm ihren wiedergeborenen Erlöser erahnt. Als sie im 2. Aufzug Parsifal in der Rolle der Verführerin gegenübersteht, widersetzt sich der Held, gewinnt den heiligen Speer zurück und vernichtet Klingsors Zauberreich mit dem Zeichen des Kreuzes. Im 3. Aufzug begegnet Parsifal wieder der Büßerin Kundry, die Parsifals Füße wäscht und von ihm die Taufe erhält. Ihren Einzug in den Gralstempel und die Gralsfeier erlebt sie als Erlösung aus dem Bann ihrer Wiedergeburten, indem sie stirbt. Aus: Hans-Joachim Bauer, RichardWagner-Lexikon, Bergisch Gladbach 1988

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Kundry: Doch ist diese Kundry im ersten und dritten Aufzug von Parsifal eigentlich ein Mensch beziehungsweise eine Frau? Das weiß vielleicht nicht mal sie selbst. Sie ist ein Weib der Intuition, hat kein Vokabular – und am Ende braucht sie keines mehr. Dann ist es fast am schönsten, denn dann ist sie vielleicht ein Mensch geworden – oder ein nicht beschreibbares Wesen. Sie gibt einer Interpretin eine wahnsinnige Freiheit. MJ Ihr Aufschrei zu Beginn erinnert an … ein Tier. Ja, aber wir Menschen sind manchmal auch tierisch. Leider. Sie hat tierische Tendenzen, weil sie ganz allein lebt, so lange, bis sie keine Worte mehr hat. Oder vielleicht spricht sie auch eine andere Sprache? Woher kommt dieses Stöhnen: Wurde so etwas vorher schon mal komponiert? Da zeigt sich Kundry musikalisch als Bühnenfigur der Zukunft. Erst nach Wagner trifft man diese Laute, diesen Aufschrei, öfters an. MJ Diese Frau schlägt Wunden – und nachher will sie sie heilen. Ist die noch normal? Sie will sie heilen, aber tut nie Gutes, sagt sie jedenfalls. Sie lebt unter diesem Fluch und der Schuld – das ist etwas sehr Menschliches. Aber sie kommt damit nicht zurecht, kommt nicht weiter, sie braucht einen anderen Menschen. Ist sie nicht ein Pendant zu Parsifal? Die zwei brauchen einander. Ohne Kundry kommt Parsifal nicht weiter. Sie hilft ihm vielleicht auch, aus der Männerwelt auszubrechen. MJ Vorher aber fühlt sich Kundry sichtlich unwohl auf der Bühne. Sie will büßen, ja muss büßen. Das glauben nämlich die Männer auf der Bühne – und Richard Wagner. Die wünschen sich aber auch, dass sie verführen muss. Sie aber will das nicht, weiß allerdings, wie man es macht – und tut es. Doch bei Parsifal schafft sie es nicht mehr! Und klar: Das ist eine Schöpfung der Männerwelt, aber wir müssen es aus Wagners Zeit heraus betrachten. Und man sollte sie als Person und nicht nur als Weib sehen. Es gibt ja auch Männer, die verführen können. MJ Aber die Männer sind selten bereit zu büßen. Don Giovanni verneint die Aufforderung sogar dann noch, als er mit einem Bein in der Hölle steht. Die büßende Verführerin hingegen ist ein Topos, von Eva über Maria bis zu Magdalena zu Kundry. Ja, die Frau verführt – und bekommt Schuldgefühle. Aber das kennen sicher viele Männer auch, nicht wahr? Das ist eine menschliche Reaktion. Kundry hat am Kreuz gelacht, sie zeigt im ersten Aufzug

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keine Empathie. Aber muss man das begründen? Sie ist erschöpft, ist meilenweit gelaufen, ist so alt wie die Menschheit ... MJ Wenn die Oper immer wieder gespielt wird, bringt das diese büßenden Verführerinnen immer wieder in die Gegenwart. Ist dieses Frauenbild noch zeitgemäß? Nein. Aber wenn man den zweiten Akt nicht nur als Verführungsakt sieht, merkt man, dass mit ihr auch etwas passiert – oder eher zwischen dem zweiten und dritten Akt. Sie hat nämlich keine Schuldgefühle mehr. Vielleicht ist sie mit dieser Männerwelt fertig und zieht weiter: Ob in ein anderes Leben oder in eine andere Welt, weiß ich nicht, jedenfalls bricht sie auf zu etwas Neuem. Sie hat alle bereichert. Sie sieht ein, was die Männerwelt bringt: nicht viel. Wir brauchen Männer und Frauen. MJ Männer werden „Opfer“ von Kundry. Weder Kundry noch die Männer können eigentlich etwas dafür. Sie ist zu stark für die Männer. Ja, vielleicht hat niemand Schuld. MJ Sind wir da nicht mitten drin in der #MeTooDiskussion? Die vermeintlich so armen Männer können gar nichts dafür, sie sind Opfer ihrer Triebe und des alles verschlingenden Weibes? #MeToo prangert den Missbrauch von Macht an. Wir haben aber auch unsere Hormone, die Gefühle spielen mit uns. Aber wenn man eine höhere Machtposition innehat, darf man das nicht ausnutzen – und besonders nicht sexuell. MJ In Parsifal ist es Klingsor, der seine Macht über Kundry ausspielt. Ja, aber er ist entmannt: Absolut keine #MeTooSituation! Und sie wehrt sich gegen ihn, erniedrigt ihn: „Haha, bist du keusch.“ Etwas Schlimmeres kann er nicht hören. Sie ist zwar stark, leidet aber unter diesem Fluch, dass sie wieder die Verführerin spielen muss. Trotzdem gelingt es ihr im zweiten Aufzug ja gar nicht, Parsifal zu verführen. MJ Im dritten Aufzug wäscht sie Parsifal die Füße. Ist das Füßewaschen das Gegenteil der Erotik des zweiten Aufzugs oder die Fortsetzung? Ich spüre in der Musik nichts Erotisches, eher etwas Demütiges – und das ist neu für sie, sie entwickelt Empathie. Ich fühle mich aber bei diesem Füßewaschen nicht ganz wohl. Was bedeutet es? Es ist so unmodern, dieses „Dienen, Dienen“. Aber vielleicht brauchen wir das wieder mehr, wer weiß? MJ Die Frauen sollen mehr dienen? Nein, beide, die Männer und die Frauen – die

Interview Christian Berzins

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Menschen. Sie sollen sich vielleicht wieder gegenseitig dienen. Wir sind so große Individualisten geworden. MJ Wagner hatte die Idee eines „Weibes der Zukunft“. Diese ging sehr stark vom Mann aus: Die Frau rettet ein ihr unerreichbares Wesen, einen Mann, durch ihre Liebe. Kann man damit heute noch kommen? Es ist ein jugendlicher Gedanke, dass man einen anderen Menschen retten oder verändern kann. Man kann sich selbst verändern, aber keinen anderen Menschen. Und doch ist es schön und romantisch, so zu denken – und sich das zu erlauben. Ich kann damit besser leben, wenn ich die Kategorien Mann und Frau etwas auflöse und ganz einfach von Zwischenmenschlichkeit rede. Wie ginge die Geschichte aus, wenn Senta ein Mann wäre? Der Holländer eine Holländerin? MJ Ich bin zuversichtlich, dass die Regisseure diesen Aspekt zeigen können, ohne alles zu verdrehen. Klar, das geht. Aber Wagners Opern sind schon auch Produkte seiner Zeit – und er war modern. Er wollte Senta als einen modernen, offenen jungen Menschen sehen, der naiv an die Erlösung glaubt. MJ Vielleicht erlöst Parsifal ja Kundry – und umgekehrt. Ja, das denke ich auch. Er sagt: Es ist alles gut. Der Kreis schließt sich. MJ Ist Ihnen dieser Parsifal sympathisch? Nicht unsympathisch. Er ist ein bisschen unreif für Kundry. In der Musik gibt es nicht viel, das darauf hindeutet, dass sie ihn sympathisch findet. Und wenn sie agiert, dann eher mütterlich. Sie weiß, dass die einzige Frau, die ihm je begegnete, seine Mutter war. Das ist auch eine intuitive psychologische Annäherung. MJ Vielleicht ist sie seine Mutter, die alle Wunden heilt. Ja, vielleicht.

„Ja, die Frau verführt – und bekommt Schuldgefühle. Aber das kennen sicher viele Männer auch, nicht wahr?“ – Nina Stemme

Parsifal Ein Bühnenweihfestspiel in drei Aufzügen Von Richard Wagner Premiere am Donnerstag, 28. Juni 2018, Nationaltheater Christian Berzins ist seit 2016 Kulturredakteur der NZZ am Sonntag, zuvor arbeitete

Weitere Termine im Spielplan ab S. 209

er für die Aargauer Zeitung. Nebenbei schrieb er u. a. für Die Zeit und das Magazin Du.

Die Vorstellung am 8. Juli wird im Rahmen von Oper für alle live auf den Max-Joseph-

Mehr über die Illustratorin auf S. 22

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Platz übertragen (17.00 Uhr, Eintritt frei).

Illustration Julia Geiser


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