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IM LABYRINTH DES WIR DAS PRINZIP WARLIKOWSKI

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BREAKING THE WAVES

BREAKING THE WAVES

Text Miron Hakenbeck

Bei Krzysztof Warlikowski verbinden sich Arbeit und Leben, Proben, Inszenieren, Gastspiele und Reisen zu einem nomadenhaften Gesamtkunstwerk, das an vielen Orten zu Hause ist. Ein Streifzug durch ein eigentümliches Regiewerk.

Es hätte auch alles anders kommen können. In der von Klaviermusik erfüllten Lounge eines altehrwürdigen Hotels inmitten einer europäischen Hauptstadt treffen sich der Regisseur und der Direktor des Opernhauses einer anderen Stadt, die auf ihre Weise auch Hauptstadt ist. Das offenherzige Gespräch entwickelt sich nach einer Weile zu einem Monolog, bei dem der Theaterdirektor die Rolle des Zuhörers einnimmt. Der Regisseur übt scharfe Kritik am deutschen Theatersystem, in seinen Augen eine auf Effizienz getrimmte Maschinerie, die jede künstlerische Energie ersticken würde. Überhaupt würde er sich in dem Land der musterschülerhaften Perfektion und vielen Single-Existenzen stets unwohl fühlen. Nicht zuletzt sei ihm kaum möglich, dort nicht bei jedem Schritt an den Krieg zu denken. Der Theaterdirektor, der ein so berufsbedingtes wie naturgegebenes Interesse an Künstlern und ihrer Weltsicht hat, überlegt: Sollte er dieser Wortflut mit Argumenten begegnen? Was wollte sich hinter den polemischen Zuspitzungen offenbaren? Gab der Regisseur ihm umständlich zu verstehen, dass er partout nicht noch einmal an dem Opernhaus arbeiten wolle, in dessen Mission er ihm gegenübersaß? Der Direktor ist geübt darin, Künstler zu umwerben. Jetzt aber verlässt ihn die Lust. Eher seinem Bauchgefühl als einem Kalkül folgend erhebt er sich, erklärt knapp „Dann können wir es ja auch lassen!“, nimmt seinen Mantel und geht.

Im Detail mag diese Episode anders verlaufen sein, in ihren groben Zügen ist sie verbrieft. Angesichts dieser verfehlten Begegnung, die in die Anfangsjahre der Münchner Intendanz von Nikolaus Bachler zu datieren ist, könnte man es ein Wunder nennen, dass diese nach 13 Jahren mit einer WarlikowskiInszenierung von Tristan und Isolde zu Ende geht. Und dass Krzysztof Warlikowski und sein Team ab 2013 regelmäßig an der Bayerischen Staatsoper gearbeitet haben. Über die Jahre ist München neben Paris und Brüssel sogar eine der Basisstationen für Warlikowskis Erkundung des Kosmos Oper geworden. GESTÄNDNISSE, MASKEN Dabei lag München bereits am Anfang von Warlikowskis Opernweg: Noch ein Jahr vor Bachlers erster Spielzeit, aber von diesem angeregt, hatte Warlikowski mit Tschaikowskys Eugen Onegin nachhaltig gezeigt, welche Diskurse die Gattung Oper auslösen kann. Anstelle der Petersburger Ballgesellschaft tanzten oberkörperfreie Cowboys zur berühmten Polonaise im dritten Akt, parodierten Männlichkeitsposen und begegneten einander mit unverhohlener Zärtlichkeit. Was einen Kilometer weiter südlich am Gärtnerplatz in einem anderen Repertoire wahrscheinlich goutiert worden wäre, löste im Nationaltheater einen Entrüstungssturm aus. Auch das Feuilleton brachte sich werkverteidigend gegen queere Lesarten in Stellung: Anders als im intoleranten Polen seien diese in Deutschland ohnehin nicht mehr nötig! Dabei zielte mancher so scharf wie der Titelheld, der die seinen Fantasien entsprungenen Jungs mit der Pistole auf Abstand hielt. Der häufig zitierte Einstieg der Deutschlandfunk-Kritik sei noch einmal strapaziert: „Schwule Kunstpenetration. Ein homosexueller Regisseur vergewaltigt heterosexuelle Oper.“

Die Aufregung um die schmusenden Cowboys verstellte den Blick auf etwas viel Aufregenderes: Warlikowski hatte zu einer Reise ins Subjektive der Titelfigur eingeladen. Er ließ Onegins Duell mit Lenski und die spätere Wiederbegegnung mit Tatjana ohne Pausenunterbrechung im gleichen Raum spielen. Mit seinem riesigen Doppelbett konnte dieser vielfach gedeutet werden: als Demonstration von Tatjanas Eheglück, als Hotelzimmer für eine unmögliche Affäre zwischen Tatjana und Onegin, als anonymer Ort einer erträumten oder tatsächlichen Liebesnacht zwischen diesem und Lenski, gefolgt von einem tatsächlichen oder nur symbolischen Schuss in Lenskis Brust. Nicht zuletzt als Überall-undNirgends von Onegins Einsamkeit, in der sich Gegenwart und Erinnerungen, Lust- und Angstfantasien überlagerten.

Diese Bewegung hin auf innere Vorgänge ist der Kern von Warlikowskis Theater. Im Fall von Eugen Onegin fragte der Regisseur danach, welches ambivalente Begehren und welche Ängste der Titelfigur geglückte Beziehungen verhinderten. Die Annahme einer unterdrückten Liebe Onegins zu Lenski hatte natürlich mit Tschaikowskys Biographie zu tun, dem tragischen Versuch des schwulen Komponisten, mit einer Ehe die ringsherum vorgelebte Normalität wenigstens zu versuchen. Kritiker fragten 2007, warum Tschaikowskys Homosexualität jemanden interessieren sollte. Noch vierzehn Jahre später muss man vehement zurückfragen, wie davon auszugehen ist, dass diese nicht von Interesse sei.

Warlikowski weiß um die Notwendigkeit der Trennung von Leben und Werk eines Künstlers – aber er ist hellhörig für die kleinste Spur, dass ein Komponist eigene existenzielle Lebensfragen in ein Werk überführt hat. Gleichzeitig sucht er in sich selbst nach einem empathischen Widerhall der emotionalen Ausnahmezustände der Figuren dieser Werke. Streng genommen drehen sich alle Inszenierungen Warlikowskis eigentlich um ihn selbst. Das heißt, um seine Fragen ans

Leben. Theater ist für ihn ein Mittel der Selbstergründung. Was wiederum auch als Einladung an die Darstellenden und das Publikum zu verstehen ist.

UNAUFHÖRLICHE SUCHE Treffen Sänger zu Probenbeginn erstmals auf Warlikowski, erleben sie eine einigermaßen irritierende Initiation. Der Regisseur sitzt ihnen gegenüber, lacht verschmitzt und sagt erst einmal nichts. Irgendwann springt er auf, läuft immer größere Bahnen durch den Raum und wirft eine Frage nach der anderen in die Luft, ohne eine einzige Antwort zu geben. Als beteiligter Dramaturg fühlt man sich kurz zum Narren gemacht: Längst gemeinsam getroffene Entscheidungen lässt Warlikowski unter den Tisch fallen, als gelte es, erneut beim ersten Staunen über ein Werk zu beginnen. Vollkommen uninteressiert daran, den Darstellern zu beweisen, dass er in der Lage wäre, sie in eine ausgeklügelte Konzeption einzubauen, verführt Warlikowski sie zu einem Prozess gemeinsamen Suchens. Er skizziert Handlungsmotivationen und verwirft sie gleich wieder, umkreist das Stück wie eine rätselhafte Kammer und stößt eine Tür nach der anderen auf, durch die man zu ihr vordringen könnte. Die erste Viertelstunde schaut der Großteil skeptisch, danach ist eigentlich jeder angesteckt von diesem Appetit, Hypothesen aufzustellen. Beglückend ist, wenn es gelingt, diesen Zustand des unaufhörlichen Suchens möglichst lange in den Proben weiterleben zu lassen. Wie oft dabei Entscheidungen hinterfragt werden, ist für viele Sänger verunsichernd. Anders als andere ähnlich tief in den Innenwelten der Figuren suchende Regisseure zeigt Warlikowski dieses Innen nicht durch minutiös einstudierte Vorgänge als eine restlos zu entschlüsselnde Welt. Er will die Sänger eher dahin bringen, sich im Spiel den oft unvermittelten, unlogischen und irrationalen Grenzerfahrungen der Figuren auszusetzen. In der Oper bleiben für diesen Prozess bis zum ersten Komplettdurchlauf knapp vier Wochen. Das ist wenig für einen Regisseur, der mit den Schauspielern seines Warschauer Ensembles zu Beginn einer neuen Arbeit wochenlang ausschließlich Texte liest und diskutiert. Auch mit der Premiere ist dort die gemeinsame Suche nicht beendet: Warlikowski sitzt bei nahezu jeder Vorstellung in der letzten Reihe der Zuschauertribüne, analysiert die Energie zwischen Bühne und Publikum, übt anschließend Kritik, verändert. Das setzt vertrauensvolle Beziehungen voraus. Der permanent das Labyrinth des Ich durchstreifende Regisseur hat sich über Jahre hinweg ein Wir geschaffen. Das sind Schauspieler, mit denen er zum Teil seit Ende der 1990er Jahre arbeitet. Das sind vor allem aber die Bühnen- und Kostümbildnerin Małgorzata Szczęśniak und der Choreograph Claude Bardouil.

VOR DEM GESETZ Die vier sitzen auf Stühlen nahe der Bühnenkante, blicken Richtung Zuschauerraum: die Kaiserin, die keinen Schatten wirft, und ihre Amme, die Frau des Färbers Barak, die ihren Schatten abtreten wollte, Barak selbst. Alle vier sind zur Beurteilung ihres Handelns in die Welt des Geisterkönigs beordert worden. Trotzdem sitzt jeder von ihnen hier allein.

Warlikowski hatte Richard Strauss’ und Hugo von Hofmannsthals symbolisch aufgeladene Frau ohne Schatten entmystifiziert, ohne sie zu entzaubern: Alles begann quasi auf der Couch. Genauer: auf der Ruheliege eines Sanatoriums, wo der Weg der Kaiserin heraus aus der Neurose und hinein in die Selbstkonfrontation ihren Anfang nahm. Gerade wegen der Entschlüsselung der Märchenelemente als Imaginationen einer in sich verstrickten Seele bevölkerten rätselhafte Fabelwesen die Inszenierung. Im dritten Akt war alles Märchenhafte aber vollends verschwunden: Hinter den vier zu Gericht Geladenen gähnte ein riesiger weißgekachelter Raum, in seiner Tiefe eine Doppeltür und ein Schreibtisch mit einem Akten ordnenden Boten. Das Warten vor dieser Tür suggerierte jedem der vier, schuldig geworden zu sein: am Partner, an der Welt der Väter und ihren Gesetzen, aber auch an der Nachwelt, die nicht ins Leben treten konnte, solange die Paare kinderlos blieben. Indem die vier Protagonisten an der Rampe dem Publikum gegenübersaßen, wurde diese Konfrontation in einen größeren kollektiven Zusammenhang gestellt. Was daran erinnerte, dass Strauss’ und Hofmannsthals Läuterungsbotschaft nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs uraufgeführt worden war und ebenso bei der Wiedereröffnung des aus den Ruinen des nächsten Weltkriegs aufgebauten Münchner Opernhauses als Stück der Stunde erschien. Die direkte Gegenüberstellung von Akteuren und Publikum ist ein wiederkehrendes Element in Warlikowskis Inszenierungen, durch das sich die suggestiven Bühnenräume in den Zuschauerraum hin öffnen: als Konzertsänger gekleidete Kinder am Ende von Wozzeck (Warschau, 2006), Torte essende Witwen beim Leichenschmaus in Iphigénie (Paris, 2006), die Zuschauer einer Kabarettvorstellung in Salome (München, 2019). Das Publikum folgt nicht allein einer Geschichte, sondern nimmt Teil an einem gemeinsamen Ritual. In diesem Sinn sind Małgorzata Szczęśniaks großdimensionierten, rechtwinkligen Bühnenräume auch keine als naturalistisch zu lesenden Orte. Sie definieren vielmehr das Spielfeld für die theatralische Erkundung, über dem sichtbar tief die Scheinwerferbatterien hängen. Zumeist kalte Materialien – Sichtbeton, chromglänzender Stahl, Plexiglas und Kacheln – oder riesige Holzvertäfelungen bilden eine unmenschlich-perfekte Architektur. Es sind funktionale Räume mit der Brillanz von OP-Sälen oder Laboratorien. Durchgangsorte, die niemandem ein Zuhause bieten würden. Hier vollführen die Darsteller ihre Figurenerkundungen, den Blicken des Publikums ausgeliefert, selbst wenn das Licht von Felice Ross sie in violette oder grüne Inseln taucht. Ohne in ironische Distanz zum Stoff zu gehen und ihr Spiel als Theater auf dem Theater auszustellen, bleiben sie hinter den Figuren immer ein Stück weit anwesend.

Videos lassen die Wände transparent werden: Denis Guéguin macht mit der Livekamera oder Filmzitaten das Körperliche riesengroß. Der Animationsfilmer Kamil Polak zaubert Traumhaftes und Verdrängtes hervor. So wie die Soldaten, Pferde und Geschütze, die in Die Frau ohne Schatten langsam in Wassertiefen versanken.

Das Ritual von Oper als gemeinsamem Erkundungsprozess sollen auch die szenischen Prologe beschwören, die Warlikowski noch den raffiniertesten Stückanfängen voranstellt. Mit ihnen unterläuft er die Erwartung des Vertrauten, verweigert die Konvention eines punktgenau beginnenden fiktionalen Spiels, schafft Übergänge zwischen gemeinsam geteilter Realität und Fiktion.

ALL THESE ARTISTS ARE PRESENT Warlikowski hat keine Scheu vor Zitaten. Häufig verwendet oder paraphrasiert er Filme, Pop- und Kunstphänomene. Manchmal lassen sich diese Zitate als Zeichen dechiffrieren, oft weisen sie als ein Netz assoziativer Bedeutungen rätselhaft weit aus der Handlung hinaus. So flackerten am Ende der Frau ohne Schatten die Graffitis von Helden im Ringen um eine gerechte Welt über die Wände. Was aber suchte King Kong an der Seite von Mahatma Gandhi und Karl Marx? Filmsequenzen, die für ihn moderne Mythen gleich Erfahrungen kondensieren, projiziert Warlikowski großformatig in den Bühnenraum. Diese cinephilen Querverweise auf unseren kollektiven Bilderschatz ermöglichen ihm in der Oper die Öffnung der dramatischen Fabel hin zu einem thematischen Erzählen, was er in seinen Schauspielarbeiten durch die Gegenüberstellung klassischer Dramen mit zeitgenössischen Prosatexten etwa von Hanna Krall oder J. M. Coetzee erreicht.

Alviano Salvagos „Elysium“ in Franz Schrekers Die Gezeichneten zeigte Warlikowski 2017 als Supershow der Gegenwartskunst, deren Besuchermassen sich über das Ausgestellte ihre Mäuseköpfe zerbrachen. Neben Filmklassikern des Expressionismus gab es hier Reenactments von Performances der Jahrtausendwende zu sehen, Beispiele für das Bestreben von Künstlern, in ihren Gesten so einfach und direkt wie möglich zu werden. So wie Tilda Swinton, die sich als sleeping beauty in eine Museumsvitrine legte. Oder Marina Abramović, die jedem Ausstellungsbesucher des New Yorker MoMA einen intimen Blickaustausch anbot. Im Licht der künstlichen Sonne, die sich der missgestaltete Alviano in sein „Elysium“ holte, wollte Warlikowski diese Kunstzitate als Befragung unserer Erwartungen an Kunst verstanden wissen: Ist sie der Ort von Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen? Oder geht es mehr denn je darum, kommunikativ zu sein?

RELEKTÜREN DER GESCHICHTE Mit seiner zweiten Münchner Strauss-Inszenierung hat Warlikowski irritiert. Am Ende der Salome gab es keinen abgeschlagenen Kopf des Jochanaan, den die Prinzessin hätte küssen können. Stattdessen betrat der Prophet unversehrt die Bühne. Auch Naraboth, der sich zu Stückbeginn getötet hatte, erstand von den Toten auf, als wolle er die Kunde von der Ankunft eines Messias bekräftigen. Der Messias allerdings war nicht gekommen und dieses Ende alles andere als utopisch: Naraboth verteilte Gift für einen kollektiven Suizid – offenbar der letzte Ausweg, um einer drohenden Vernichtung zu entkommen. War bis zu diesem tödlichen Moment alles nur ein Spiel gewesen? Wie ernst war dann die Forderung Salomes nach dem Kopf des sie zurückweisenden Mannes? In wenigen Takten stellte sich eine ganze Flut von Fragen. Warlikowski hatte Herodes und seine Familie, seine Gäste und seinen Gefangenen als eine Gruppe von Juden gezeigt, die sich in den 1940er Jahren in einer Bibliothek versteckt hielten. Deren Wissensschätze waren zu Teilen geplündert oder versetzt worden. An einem Ort der Tradierung von Geschichte und Kultur verwandelten diese Menschen die Randepisode eines Evangeliums in ihr eigenes Mysterienspiel von Liebe und Tod. Das konnte als Akt kultureller (Wieder-) Aneignung einer jahrhundertealten Legende christlichabendländischer Kultur gelesen werden, deren Varianten mit der jüdischen Prinzessin immer wieder auch „das Fremde“ zur Schau stellten: als erotisch anziehend, moralisch verwerflich oder verbrecherisch. Durch seine Parallellektüre mit einer fiktiven Episode aus der Zeit des Holocaust machte Warlikowski die Geschichte der Salome aber vor allem zur Parabel für eine Realität, in der die Gewissheiten abendländischer Zivilisation und Kultur trotz meterlanger Buchreihen in sich zusammengebrochen waren. Eindrücklich vermittelte sich eine Ausweglosigkeit, in der Leben und Tod ein verkehrtes Verhältnis eingingen. Dass sich Warlikowski nach dieser Salome unter anderem mit der Frage konfrontiert sah, mit welcher Motivation er die Leidensgeschichte jüdischer Menschen erzählte, war zu erwarten. In seinen Schauspielarbeiten hat er mehrfach das Verhältnis von Polen und Juden thematisiert. Zurzeit arbeitet er an einer Neuerzählung der Odyssee. Dem Heimweg von Homers Helden nach Ithaka stellt er die Geschichte der Izolda Regensberg aus Hanna Kralls Roman Herzkönig an die Seite, eine sagenhaft zu lesende Odyssee durch Ghettos und Lager. In der Frage, wessen Geschichten wessen Geschichte bilden, ist Warlikowski also noch nicht an ein Ende gekommen.

ABSOLUTE LIEBE? Der radikalste Text über die Liebe, den Warlikowski bislang auf die Bühne gebracht hat, ist Sarah Kanes Gesäubert (Wrocław 2003). Für die Figuren dieses Stückes besteht die absolute Liebe nicht darin, gemeinsam zu sterben, sondern in der Bereitschaft, für den anderen zu sterben.

Was ließe sich wiederum von einer Liebe sagen, die ihre Erfüllung von Anfang an im Tod und nicht im Leben sucht? Als sie sich dem Tod am nächsten glauben, erleben Tristan und Isolde das Leben in einer ungeahnten Intensität. Dieser paradoxe Ausnahmezustand wird zur Triebkraft ihrer verheimlichten Beziehung. Auf der Suche nach Aufhebung der Grenzen, die ihnen ihr Alltag, ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen, ihre Körper, ja Zeit und Raum auferlegen, spielen sie mehrfach mit dem Gedanken des gemeinsamen Todes. Richard Wagners Musik steuert diesen Grenzübertritt immer wieder auf verlockende Weise an. Warlikowski wird jenseits von Liebesmetaphysik und mythischen Tränken nach konkreten biographischen Prägungen suchen, die zwei Menschen den gemeinsamen Tod als Vorbestimmung erscheinen lassen. Und nach den erlebten Verletzungen, Enttäuschungen und Unzulänglichkeiten fragen, aus denen diese radikale Überschreitung jedem der beiden einen Ausweg zu bieten verspricht. Spuren für diese Suche hat Wagner genügend gelegt.

Der Theaterdirektor ist in den Herbstabend getreten und biegt in die von Verkehrslärm erfüllte Straße ein. Nach ein paar Schritten hört er jemanden seinen Namen rufen. Er dreht sich um. Der Regisseur erklärt sich nicht, steckt sich nur rasch eine Zigarette in den Mund. Wie er ohne Jacke fröstelnd vor ihm steht, erinnert er den Theaterdirektor an einen Schüler der Oberstufe in der Ecke des Pausenhofes. Ein wirkliches Zwiegespräch entsteht wohl an diesem Abend nicht mehr, aber beiden ist klar, dass das letzte Wort zwischen ihnen noch nicht gefallen ist.

Die Handyfotos aus Małgorzata Szczęśniak unerschöpflicher tagebuchartiger Sammlung geben einen Einblick in die Arbeit des Regisseurs Krzysztof Warlikowski, egal ob im eigenen Theater in der polnischen Hauptstadt, in seiner Wahlheimat Palermo, den Probenräumen von Paris, München oder Salzburg.

KRZYSZTOF WARLIKOWSKI inszenierte nach seinem Regiedebüt 1992 zunächst am Theater TR Warszawa Stücke von William Shakespeare, Euripides, Sarah Kane, Hanoch Levin und Tony Kushner. Seit 2008 ist er Künstlerischer Leiter des Nowy Teatr in Warschau. Mit diesem Ensemble schuf er Inszenierungen wie (A)pollonia, Koniec/Das Ende, Afrikanische Erzählungen, Kabaret warszawski und Die Franzosen. Er führte u. a. Regie bei Don Carlo, Wozzeck und Krzysztof Pendereckis Ubu Rex an der Warschauer Staatsoper, Iphigénie en Tauride, Die Sache Makropulos, Karol Szymanowskis Król Roger, Parsifal, Herzog Blaubarts Burg/Die menschliche Stimme und Lady Macbeth von Mzensk an der Opéra national de Paris, Médée, Macbeth, Lulu und Don Giovanni am Théâtre La Monnaie in Brüssel, Aus einem Totenhaus am Royal Opera House London und Hans Werner Henzes Die Bassariden sowie Elektra bei den Salzburger Festspielen. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er bisher Eugen Onegin, Die Frau ohne Schatten, Die Gezeichneten und Salome. Die Biennale di Venezia verleiht ihm im Sommer 2021 den Goldenen Löwen für sein Lebenswerk.

Miron Hakenbeck arbeitet seit 2005 regelmäßig als Dramaturg mit Krzysztof Warlikowski bei dessen Operninszenierungen zusammen. Von 2008 bis 2018 war er Dramaturg an der Bayerischen Staatsoper, anschließend wechselte er an die Staatsoper Stuttgart.

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