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WEISST DU, WIE DAS WIRD?

Text Arno Lücker Festspielpremiere Tristan und Isolde

Ein Mittelalterstoff, angereichert mit dem biblischen Gefühl des Mitleids und übertönt von einem Akkord, der die Musiktheorie spaltet: Richard Wagners Konzeption von Tristan und Isolde bedeutet Ausbruch und Umkehr.

Es mag durchaus Argumente für die Theorie geben, Richard Wagners Musikdramen seien im Grunde arm an Wendepunkten: die leitmotivische Determinierung aller Protagonistinnen beispielsweise, die Aus- und Umwege per se unmöglich mache. Die zurückliegenden akuten oder nahenden Schicksale, die diesen Leitmotiven eingeschrieben seien. Die Verwandtschaftsbeziehungen – dem betreffenden Personal teilweise selbst nicht bewusst – und die sich daraus ergebenden eigentlichen Motivationen, die ein agiles Gefüge verhinderten, ja, zu einem voraussagbaren Schauspiel mit (gesungenem) Gebrüll führten. Der hässliche Zwerg bliebe immer der hässliche Zwerg, geformt aus antisemitischen Klischees und gekräuselten Bratschenmotiven. Der teutonische (arische?) Held sei im Gegensatz dazu durch profundes, strahlendes, blechbläsergeschwängertes C-Dur musikalisch immer der Gute – und gleichsam zum Gewinnen verdammt.

Der harmonisch zumindest nicht sofort eindeutig analytisch zu erfassende sogenannte Tristan-Akkord spaltet vor diesem Hintergrund die Zunft der Musiktheorie. Nicht zu Unrecht. Der in der Tat dumpf-schillernde, janusköpfig-strebende erste Akkord des Vorspiels wird explizit als Markstein der Musikgeschichte verstanden, als klingendes Vorzeichen der bevorstehenden Auflösung tonaler Zusammenhänge. Die Emanzipation des Einzelklangs.

Doch schon biographisch und arbeitstechnisch bedeutet Wagners Konzeption von Tristan und Isolde Ausbruch und Umkehr. Gewissermaßen am Reißbrett entwarf der im Sommer 1845 32-jährige Komponist im westböhmischen Marienbad den zu diesem Zeitpunkt utopisch erscheinenden Plan seiner Laufbahn als Musikdramatiker. Hier kam es zu den ersten inhaltlichen Skizzen für Die Meistersinger von Nürnberg. Und aus dem intensiven Studium von Nibelungen- und Gralsmythos-Dichtungen heraus ergaben sich schließlich Lohengrin, Der Ring des Nibelungen und Parsifal. Alles war vorgezeichnet. „Weißt du, wie das wird?“, fragen die Nornen zu Beginn der Götterdämmerung. Wagner wusste, wie es werden würde.

Nur eben der Mittelalterstoff von Tristan und Isolde: Von dem war zu dieser Zeit noch keine Rede. Die Oper entstand außerhalb der Planung aller anderen musikdramatischen Visionen Wagners. Erste Skizzen brachte er 1856 zu Papier, ganz im Zeichen der Lektüre von Arthur Schopenhauers Die Welt als Wille und Vorstellung. Die Arbeit an Siegfried unterbrechend verfasste Wagner im Sommer 1857 den Großteil des Tristan-Textes; zwei Jahre später war die Partitur fertiggestellt. Eine Befreiung für den Komponisten, der damit eine vergleichsweise kleine Welt voll immanenter Bezüge erschaffen und somit dem für ihn wohl allein leitmotivisch enervierenden Riesenuniversum des Rings entfliehen konnte. Einen weiteren Wendepunkt könnte man in dem durch seine spätere Ehefrau Cosima verbürgten Wunsch Wagners sehen, im Tristan „endlich“ die Vorherrschaft des Symphonischen, des Motivisch-Verwobenen, des – Handlung, Textbuch, gesungenes Wort weggedacht – paradoxen „Absolutmusikalischen“ kompositorisch auszuleben. In Cosimas Tagebüchern heißt es, Wagner „habe das Bedürfnis gehabt, ein Mal sich ganz symphonisch gehen zu lassen, das habe ihn zum Tristan geführt.“ Die Durchdringung allen Operngeschehens durch die symphonische Kraft, die Fortentwicklung, die künstlerische Eigenständigkeit der Musik.

Doch der Wegweiser zu den aufregendsten und an konkreten opernhandlungsmäßigen Ausnahmemomenten feststellbaren Wendepunkten findet sich dort, wo bei Wagner das große, christliche, biblische Gefühl des Mitleids im Raum steht. „Durch Mitleid wissend“, heißt es im Parsifal. Nur durch einen „reinen Tor“, durch die Hand eines Helden des Mitleids könne, so Gurnemanz, der verlorene Speer zurückgewonnen werden, um damit – und nur damit – Amfortas‘ Wunde zu schließen; denn nur diejenige Waffe, die ihn einst verletzte, vermöge die Wunde wieder zu heilen. Wagner‘sches Mitleid: eine wundersame Essenz, der der Wandel immanent ist.

Aus Mitleid gewährt Elsa im Lohengrin im zweiten Aufzug der heidnischen Zauberin Ortrud Einlass in den Palast. Doch noch viel deutlicher tritt der Mitleidsaspekt als wirklicher Handlungsumschlagspunkt des ganzen Ring des Nibelungen auf den Plan. In Die Walküre ist es Brünnhildes Aufgabe, Siegmunds Niederlage samt Tod im Kampfe mit Hunding, dem eigentlichen Ehemann von Sieglinde, der inzestuös geliebten Zwillingsschwester Siegmunds, zu besiegeln. Auf Geheiß von Wotan, der wiederum von Fricka, Göttin der Ehe, zur exekutiven Einhaltung der göttlichen Walhall-Regeln gedrängt wird. Doch die Liebe von Siegmund und Sieglinde empfindet die Noch-Halbgöttin Brünnhilde als so stark, dass sie weich wird; von Mitleid mit dem liebenden Zwillingspaar durchströmt will sie Siegmunds Überleben in der Auseinandersetzung mit Hunding gewährleisten. Das Ganze endet in einem Fiasko; Wotan nimmt Siegmunds Niederlage selbst in die Hand, Brünnhilde widersetzt sich dem Willen ihres Vaters und muss fliehen – und wird zur Strafe von der Halbgöttin zum Menschen. Der stärkste Umschwung im Ring.

Tristan ist aber nicht nur dasjenige Musikdrama mit den meisten Mitleidsszenen, sondern zugleich das mit den meisten unerwarteten Plot-Twists. Schon im ersten Aufzug kommt es zu großen, klingenden, musikalisch subtil inszenierten Wendepunkten voller Mitleidswallungen. In der dritten Szene erzählt Isolde davon, wie sie den verletzten Tristan – von dem sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er der Mörder ihres Verlobten Morold ist – an der Küste Irlands aufsammelte und mittels ihrer Heilkräuterkraft gesunden ließ. Nach dem berühmten Vorspiel voller Engschrittigkeiten hat die Musik bis zu diesem Zeitpunkt zwischen weiteren chromatischen Auf- und Abwärtslinien und volkstümlich liedhaften Momenten hin und her gewechselt („Sein Haupt doch hängt im Irenland, als Zins gezahlt von Engeland“). Doch nun singt Isolde in „großer Bewegung“, wie Wagner es in der Partitur anweist, von dem ersten Augenblick der nahen Begegnung mit Tristan. Die Musik schwillt an, das Orchester drängt – das „Sehnsuchtsmotiv variierend“ – in kleinsten Tonschritten in die Höhe, geht über in die leise Abwärtsvariante des besagten Leitmotivs – und Isolde singt über Tristan: „Von seinem Lager blickt’ er her, nicht auf das Schwert, nicht auf die Hand …“ Jetzt scheint der Beginn des Vorspiels ganz nah zu sein: einheitliche Chromatik im Orchester. Isolde fährt fort: „Er sah mir in die Augen.“ Hier kommt es zum ersten großen MitleidsWendepunkt im Tristan. Das Orchester verstummt fast. Nahaufnahme. Die untersten Stimmen eines Streichquintetts bleiben übrig. Und die Solo-Bratsche lässt die schönste und wärmste Melodie bisher erklingen: eine einzelne Viola. „Sehr ausdrucksvoll und zart.“

Wagner macht durch klare Orchesterspotlights, durch auskomponierte Affirmationsoptionen deutlich, dass die Liebe zwischen Tristan und Isolde erstens einzigartig, zweitens weltentrückend tief und drittens resistent gegen die extremsten Widerstände ist. Aber Isolde wird klar, dass sie als König Markes künftige Gattin Tristan zwar nah sein, doch nie als seine Frau ewig in sein Herz gelangen wird. Mit dem bis hierhin größten Orchester-Fortissimo in der Partitur zerstört sie sozusagen die vorherige Liebesinnigkeitsmusik, sich und Tristan den gleichzeitigen Tod wünschend: „Rache! Tod! Tod uns beiden!“ Helferin Brangäne stürzt sich über Isolde, voller Angst, ihre Führerin an den Wahnsinn oder durch Selbsttötung zu verlieren.

Von dieser Szene ausgehend entzündet sich der Aufbau zum nächsten entscheidenden Mitleidswendepunkt des Musikdramas: Verzweifelt versucht Isoldes Dienerin, diese in ihrer amourös-unglücklichen Vorahnung zu trösten. Wagner bereitet hier musikalisch-schicksalshaft die spätere Entscheidung von Brangäne vor, den von Isolde verlangten Todestrank aus dem Reservoire ihrer heilkraftkundigen Mutter durch einen Liebestrank auszutauschen.

Die Dienerin ist zugegen, als Isolde in der Truhe mit Heilsäften ihrer Mutter nach einer tödlichen Tinktur greift. Bevor Isolde Tristan auffordert, sühnende Gerechtigkeit walten zu lassen und mit ihr gemeinsam den Todestrunk einzunehmen, ersetzt Brangäne – aus Mitleid – das Serum jedoch bekanntlich durch einen Liebestrank. Das Mitleid von Brangäne für Isolde wird allerdings musikalisch deutlich vorher entfacht; noch grübelt Isolde nach circa vierzig Minuten des Musikdramas „starr vor sich hinblickend“ darüber nach, wie schlimm es an der Seite Markes wäre, mit dem allgegenwärtigen Tristan als Teil seines Hofstaats: „Ungeminnt den hehrsten Mann stets mir nah zu sehen! Wie könnt’ ich die Qual bestehen?“ Isoldes Vertraute missversteht dies immanent als Aufforderung, König Marke in Isolde verliebt zu machen: „Was meinst du, Arge? Ungeminnt?“ Brangäne wird plötzlich („Sie nähert sich schmeichelnd und kosend Isolden“) von Violinen und Bratschen unterbrochen, die ein dolce-Streichquintett ohne Celli und Bässe aufführen. Zartschmelzend im Piano. Hier wird gewissermaßen der obere Teil des Streichquintetts nachgeschoben; als komplementärer Teil des tiefen Streichquintetts der besagten ersten Mitleidsstelle Isoldens („Er sah mir in die Augen“). Das Missverständnis ist komplett. Die beiden Streichquintett-Teile kommunizieren quasi unterbewusst miteinander. Ausgedünnte Streichquintett-Stellen voller (vermeintlicher?) Schönheit werden so gesehen zum Wagner‘schen Lackmustest in Sachen Mitleidsgefühle und Wendepunkte. Absichtlich verwirrend strukturiert – gemäß dem von Wagner wohl aufgesogenen Motto Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra: „Du mußt immer zwei- drei- vier- fünfdeutig sein! Auch was du jetzt bekanntest, war mir lange nicht wahr und nicht falsch genug!“

TRISTAN UND ISOLDE – In kaum einer anderen Oper verdichtet sich der genretypische Konflikt einer Dreiecksbeziehung so elementar wie in dieser von Richard Wagner: Die Liebe Tristans und Isoldes als Passion steht hier über allen gesellschaftlichen Normen. König Marke wird als Ehemann Isoldes von ihr und Tristan hintergangen, und Wagners Musik beglaubigt und legitimiert den Ehebruch. Schon im ersten Aufzug verleitet gemeinsame Todessehnsucht Tristan und Isolde zum Plan des Doppelsuizids. Auf welchen psychologischen Ursprung ist dieser Todeswunsch zurückzuführen? Unwissend nehmen die Protagonisten statt des Todestrankes einen Liebestrank zu sich. Entspringen die nun überbordenden Emotionen wirklich erst einem vermeintlich magischen Liebeszauber? Auch die Musik überschreitet alle Grenzen, indem Wagner die traditionelle Tonalität in chromatischen Klängen ausreizte und damit moderne Kompositionstechniken in das 20. Jahrhundert hinein maßgeblich beeinflusste.

Arno Lücker arbeitet als Moderator und Dramaturg. Er ist künstlerischer Leiter der Astronomie-Musik-Reihe Himmlische Partituren im Zeiss-Großplanetarium Berlin, schreibt Programmtexte für zahlreiche Orchester und macht Konzerteinführungen in der Hamburger Elbphilharmonie, der Kölner Philharmonie und anderswo.

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