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BREAKING THE WAVES

Text Nicola Kuhn

Die britische Bildhauerin Phyllida Barlow hat ihr erstes Bühnenbild für die Oper geschaffen. Ihre Skulpturen sind dramatische Statements im Raum. Eine künstlerische Reise von der Küste Englands über Venedig bis nach München.

Im Frühsommer 2017 gestaltete Phyllida Barlow den britischen Pavillon bei der Biennale von Venedig. Den klassizistischen Tempelbau stattete sie üppig mit ihren abstrakten, rauen Gebilden aus Bauholz, Beton, Maschendraht, Gummi, Sand, Pappe und Klebeband aus. Ein opulentes Szenario, ein machtvoller Auftritt. Der Intendant der Bayerischen Staatsoper, Nikolaus Bachler, entdeckte Barlows Arbeiten damals in den Giardini, war fasziniert von ihnen und besuchte Barlow daraufhin in ihrem Londoner Atelier, um sie zu fragen, ob sie Lust hätte, ein Bühnenbild zu entwerfen. In den vergangenen Jahren holte er zahlreiche bildende Künstler und Künstlerinnen wie Georg Baselitz, Hermann Nitsch, Ilya und Emilia Kabakov sowie Marina Abramović für Kooperationen nach München. Immer ließ er ihnen freie Hand – so wie auch jetzt bei Barlow. „Er sagte nur zu mir, er hätte gerne eine BarlowSkulptur auf der Bühne“, erzählt sie bei einem Gespräch am Telefon. „Das habe ich als sehr großzügig empfunden.“

Mit Phyllida Barlow lädt Nikolaus Bachler eine der bedeutendsten britischen Bildhauerinnen ein und gleichzeitig eine der ganz großen Entdeckungen jüngster Zeit, denn Barlows internationale Karriere hat eigentlich erst vor wenigen Jahre begonnen. Lange galt sie als artists‘ artist, als Tipp unter Künstlern. Während ihrer Laufbahn hat sie fünf Kinder geboren und aufgezogen, zusammen mit ihrem Mann, dem Maler Fabian Peake, den sie zu Beginn ihres Studiums Anfang der 1960er Jahre am Chelsea College of Arts in London kennenlernte. Als Professorin der Slade School of Fine Art, ebenfalls in London, brachte sie anschließend viele große Talente an den Start: Rachel Whiteread, Steven Pippin, Douglas Gordon, Angela de la Cruz oder Eva Rothschild.

Was die Künstlerin in dieser frühen Zeit in ihrem Atelier schuf, wurde am Ende ihrer Ausstellungen meist für neue Werke wiederverwendet oder verschwand irgendwann im Stadtraum, wo Barlow ihre Skulpturen zeitweilig einfach platzierte. Eine eher anarchische Strategie, um Öffentlichkeit jenseits des Ausstellungsraums für ihre Arbeiten zu gewinnen. Erst mit ihrer Emeritierung im Jahr 2009 und den seither immer weiter ausgreifenden Werken wurde ein größeres Fachpublikum auf Barlow aufmerksam. Nach einer Ausstellung in der Serpentine Gallery gemeinsam mit der Iranerin Nairy Baghramian, 2010 kuratiert unter anderem von Hans Ulrich Obrist, nahm die Zürcher Galerie Hauser & Wirth sie unter Vertrag. Von hier war es dann nicht mehr weit bis nach Venedig und schließlich bis nach München, an die Oper.

Phyllida Barlow will Wolfgang Amadeus Mozarts Idomeneo weniger buchstäblich umsetzen als vielmehr psychologisch und symbolisch interpretieren. Mithilfe szenographischer Elemente versucht sie, bestimmte Charakteristika herauszuarbeiten, die für das Stück prägend sind. Genau mit diesem Ansatz trifft sie sich gedanklich mit dem Regisseur Antú Romero Nunes, für den die Oper, angesiedelt im antiken Griechenland, vor allem einen Generationenkonflikt verhandelt: die Ablösung einer alten Macht durch die Jugend, das Ende eines kriegerischen Konflikts zugunsten eines harmonischen Zusammenlebens. Für Barlow gibt es zwei Sphären, die sich hier überlagern: die religiöse und die emotionale. Auf der einen Seite befinden sich die Götter, nach deren Plan die Menschen agieren, auch wenn alles Fantasie sei, eine Erfindung der menschlichen Vorstellungskraft, wie die Bildhauerin betont, auf der anderen Seite die Gefühle, der Kampf um die Liebe. „Das hingegen ist eine große menschliche Realität“, sagt sie. „Die Küste erschien mir als der passende Schauplatz für Idomeneo, wo Land und Meer aufeinandertreffen“, so Phyllida Barlow. Die Künstlerin ist in Newcastle upon Tyne aufgewachsen, einer mittelgroßen Stadt unweit der Nordostküste Englands. Auch mit ihrer Familie lebte sie später zeitweise am Meer und kennt seine eigentümliche Stimmung. Motive der Küste finden immer wieder Eingang in ihre Werke, so tauchen auch in Barlows Bühnenbild imposante Wellenbrecher und gewaltige Felsformationen auf. Ebenso wie Aussichtsposten, wie es sie heute noch mancherorts in Großbritannien gibt, mit denen früher nach Booten in Seenot Ausschau gehalten wurde, nach Schmugglern und Piraten. „Ich mag ihre spezifische Form“, sagt Barlow, „sie repräsentieren für mich nicht nur die Fähigkeit, in die Ferne zu schauen, sondern auch die Möglichkeit, etwas zu sehen, das aus der Zukunft kommt.“ Diese Idee der Zeitlichkeit wiederholt sich im Bild des Felsens, der für Barlow Langlebigkeit symbolisiert, für die alte Zeit steht, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragt.

Wenn Phyllida Barlow ihr Bühnenbild beschreibt, dann hebt sie selbst daran eine Mischung aus Intuition und intellektueller Erfassung hervor. Diese Mischung verleiht auch ihren Skulpturen eine phänomenale Präsenz. Sie scheinen zwar grob zusammengehauen; die Alltagsmaterialien, die sie zum Großteil im Baumarkt findet, sind roh aufeinandergestapelt oder ineinandergeschoben. Und doch wägen sie sehr genau den Raum aus, ergeben ein fein austariertes Zusammenspiel von Tragen und Lasten, Form und Farbe, Gespürtem und Gesehenem. So auch auf der Bühne des Prinzregententheaters.

Im Münchner Haus der Kunst lässt sich die Wucht und das Spielerische von Barlows Werk theoretisch gerade unmittelbar erleben, sofern es die Inzidenzwerte zulassen. Noch bis Ende Juli wird ihre Restrospektive als Auftakt einer Ausstellungsreihe gezeigt, mit der der neue künstlerische Leiter Andrea Lissoni ausschließlich zeitgenössische Künstlerinnen in den Fokus rückt. Der Besucher begegnet einer Armada bunter Banner, mit farbigen Brettern bedeckten Betonstützen und fünf haushohen Säulen mit gestapelten Platten obendrauf, die sich über das falsche Pathos der NS-Architektur lustig zu machen scheinen. Dass die bislang größte Werkschau zum 50 Jahre umfassenden Œuvre Barlows parallel zu ihrer Premiere als Bühnenbildnerin an der Oper stattfindet, quittiert die Künstlerin mit einem glucksenden Lachen und einem zufriedenen „Yes, extraordinary!“.

Es ist kein Zufall, dass München die Bildhauerin so umfassend würdigt. 2011 nahm sie bereits im Haus der Kunst an der Gruppenschau Skulpturales Handeln teil und präsentierte ihre erste Einzelausstellung in Deutschland, im Kunstverein Nürnberg, wo sie die gesamte Raumhöhe des ehemaligen Verwaltungsgebäudes eines Milchhofs nutzte. Ein Jahr später erhielt sie den Kunstpreis Aachen, zu dem eine Schau im Ludwig Forum gehörte. Hier ging sie nicht nur bis unters, sondern gleich aufs Dach, indem sie eine Skulptur auf dem Sheddach des früheren Fabrikgebäudes platzierte, die für das Publikum nur von schräg unten durch eine Fensterfront zu sehen war. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf zeigt in diesem Jahr – parallel zur Retrospektive im Haus der Kunst – in einer Ausstellung zum 100. Geburtstag von Joseph Beuys als monumentalsten Beitrag Barlows STREET (2010): Darin finden sich ebenfalls farbige Banner, die hier wiederum einen demokratischen Aufbruch markieren.

Ihr Entwurf für Idomeneo ist die erste Arbeit der 77-Jährigen für das Operngenre. Erfahrungen als Szenographin sammelte die Britin bislang nur bei einer Inszenierung am Wimbledon Theatre in London, Knives in Hens, das war 2001. Aber Phyllida Barlow war schon immer offen für Herausforderungen. Auch Idomeneo wird ein Wagnis – aber ein beglückendes, folgt man der Künstlerin.

Außerdem ist ihr das Musiktheater nicht fremd. Sie habe es geliebt, als Kind mit ihren Eltern in die Oper zu gehen, erzählt sie. Als junges Mädchen faszinierte sie die immersive Erfahrung: das Orchester, die Bühne, die Sänger, die Szenerie, die Kostüme. „Ich mag dramatische Ereignisse wie Karneval, bei denen viele Faktoren gleichzeitig eine Rolle spielen, das Publikum hineingezogen wird, nicht zuletzt emotional.“ Auch Skulptur könne ein dramatisches Statement sein, in der Art, wie Raum besetzt werde. Zwischen Bühne und Bildhauerei gebe es durchaus Gemeinsamkeiten. Und doch hat sich die Künstlerin Idomeneo anders genähert als ihren bisherigen Arbeiten. Es war ein Herantasten: „Wenn ich sonst in meinem Atelier bin, denke ich nicht an das Publikum. Ich konzentriere mich auf meine Skulptur und lasse auch Fehler zu, um etwas herauszufinden, etwa beim Material. Es ist nie von vornherein klar, wie es ausgeht. Wenn ich dann ein Werk installiere, kann sich immer noch etwas ändern. Es scheint, als ob mir ein Skript für ein Stück gegeben worden wäre, das ich vorher noch nicht kannte.“

Diesmal gibt es eine Partitur, einen Regisseur und eine Bühnenwerkstatt für die engen Absprachen bei der Realisierung, die sie coronabedingt ausschließlich via Onlinekonferenz umsetzt. Eine ungewohnte Situation, die Barlow gelassen meistert. Zunächst arbeitete sie mit einer Blackbox als Modell, in dem sie mit kleineren Skulpturen operierte, bis sich schließlich die Komponenten Fels, Wellenbrecher, Aussichtsposten herausbildeten. Waren es zu Beginn noch drei Felsblöcke, so reduzierten sie sich im Verlauf auf einen einzigen, der sich stark vergrößerte. Barlows ursprüngliche Idee, den Fels benutzbar zu machen, eine Plattform für die Sänger darauf zu platzieren, musste aus Gründen der Sicherheit wieder aufgeben werden. „Die Skulptur musste etwas von ihrer Skulpturhaftigkeit verlieren, um Teil der Bühne zu werden“, sagt sie. „Das war eine neue Erfahrung für mich.“

Auch umgekehrt nimmt das Ausstattungsteam an einem Lernprozess teil und erlebt eine Wandlung: Als es um die Gestaltung der Felsoberfläche geht, dessen Textur, empfiehlt Barlow den Münchner Mitarbeitern, den Brocken nicht länger als solchen wahrzunehmen, sondern sich ihn als individuelle Gestalt vorzustellen, die ein Eigenleben besitzt. „Das ist für mich der entscheidende Punkt in meiner Arbeit: wenn das Werk selbst übernimmt.“ Vergesst den Felsen, habe sie als Devise ausgegeben, entlasst ihn! Schließlich entwickelten auch die Charaktere des Stücks im Laufe einer Produktion eine eigene Dynamik. „Ich liebe diesen Moment des Übergangs“, beschreibt sie das Mysterium ihrer bildhauerischen Arbeit, wenn banales Material sich mit Bedeutung auflädt und eine neue Kraft gewinnt. Für Idomeneo hat die Bildhauerin ihre Skulpturen in den Dienst der Oper gestellt.

Nicola Kuhn ist Kunstredakteurin beim Berliner Tagesspiegel sowie Autorin, zuletzt der Autobiographie des Kunsthändlers Rudolf Zwirner, Ich wollte immer Gegenwart (Wienand Verlag). Sie lehrt Kunstkritik an der Universität der Künste, Berlin.

IDOMENEO – Am 29. Januar 1781 war das Münchner Cuvilliés-Theater Schauplatz einer besonderen Uraufführung: Auf dem Programm stand Idomeneo des gerade mal 25-jährigen Salzburger Junggenies Wolfgang Amadeus Mozart. Die Oper ist ein Meilenstein im Schaffen des Komponisten. Erstmals konnte er für das damals wohl weltbeste Orchester eine Musiksprache entwickeln, die an Klangfarben und musikalischen Formen absolute Avantgarde darstellte. Auch der antike Stoff um den kretischen König, der nach dem trojanischen Krieg wieder in seine Heimat zurückkehrt, war in seiner archaischen Wucht einzigartig. Doch diese wendete Mozart ins Aufklärerisch-Humane. Denn den Konflikt Idomeneos, der dem Meeresgott versprochen hatte, den ersten Menschen auf Kreta zu opfern, dem er begegnet, löst die Oper auf unerwartete Weise. Idomeneo begegnet tragischerweise seinem Sohn Idamante, der folglich als Menschenopfer sein Leben lassen müsste. Zwischen Verzweiflung, Schmerz und der Erkenntnis der Unausweichlichkeit des Schicksals bahnt sich ein versöhnlicher Weg an: Idomeneo verzichtet auf seine Macht, der Gott wiederum auf sein Opfer. Ein solcher Bick auf politische und göttliche Macht ist bahnbrechend für die Zeit.

Dramma per musica in drei Akten von Wolfgang Amadeus Mozart Musikalische Leitung: Constantinos Carydis Inszenierung: Antú Romero Nunes Montag, 19. Juli 2021, 18:00 Uhr, Prinzregententheater

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