MAX JOSEPH 2019/20 | 4

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A M Joseph X

Aus dem Sinn Das Magazin der Bayerischen Staatsoper


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Partner der Bayerischen Staatsoper

BMW AG Niederlassung MĂźnchen www.bmw-muenchen.de


EDITORIAL „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Gesagt hat Mark Twain das wohl nie. Zugeschrieben wird das Zitat dem amerikanischen Romancier trotzdem immer wieder. So oder so sind diese Worte, von wem auch gesprochen, wahr. „Black lives matter“ reimt sich auf „Nie wieder“, Corona auf Pest. In beunruhigender Regelmäßigkeit gerät diese unsere Welt aus den Fugen, ob nun ein Virus namens Rassismus der Grund dafür ist oder das ebenso tödliche Covid-19. Wir können darüber weinen, dass die Welt in der Krise immer wieder ihren Verstand zu verlieren droht – und zum Weinen ist es! –, aber die Frage, die sich letztlich stellt, lautet doch: Was fangen wir damit nun an? „Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie wiederholt ihre Lehren“, das sagte der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker, ohne Zweifel. Die Bayerische Staatsoper musste, wie viele andere Häuser auch, wegen der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie ihre Türen schließen und beendet ihre Spielzeit vorzeitig. Überschrieben war diese mit der Forderung „Kill your Darlings!“. Der prägnante Imperativ, der ursprünglich der Praxis des literarischen Schreibens entlehnt ist, meint im übertragenen Sinn die Notwendigkeit, sich von lieb gewonnenen Überzeugungen, Gewohnheiten, ja, selbst von Menschen zu trennen, um sich hemmenden Ballastes zu entledigen und dadurch neues Potenzial zu entfalten. So der konstruktive Impuls. Seit ganze Städte und Länder isoliert sind, stirbt unsere Gesellschaft viele kleine Tode und erfährt am eigenen Leib, was bedingungsloser Verzicht bedeutet. Der Theologe Jochen Wagner schreibt hierzu auf den folgenden Seiten, dass die Corona-Krise in diesem Zuge auch unseren wundesten Punkt attackiert: die Lust auf alles Sinnliche. Aus den Augen, aus den Ohren, aus dem Herzen, aus dem Sinn? Diese Frage stellen sich die Autorinnen und Autoren,

die Künstlerinnen und Künstler in den Beiträgen dieser Ausgabe von Max Joseph, die allesamt während der Hochphase des Lockdowns entstanden sind. Der Regisseurin Mateja Koležnik beispielsweise, die zu den Münchner Opernfestspielen Falstaff inszenieren sollte, drängte der endlos repetierte Begriff der Systemrelevanz die schmerzliche Frage nach der Notwendigkeit ihrer Arbeit auf. Die Essayistin Cécile Wajsbrot hat sich derweil mit dem Phänomen beschäftigt, warum die Menschen in größter Not erst einmal einen Schuldigen benennen wollen, anstatt eine Lösung zu finden. Denn so wie das weiche Meer aus Solidarität langsam abebbt, kommen die spitzen Kanten zum Vorschein, an denen sich irrationale Reaktionen und irrwitzige Verschwörungstheorien schürfen. Eigentlich würde nun, zu den Festspielen, eine über 200-seitige Prachtausgabe dieses Magazins erscheinen. Doch auch wenn der reguläre Spielbetrieb an der Bayerischen Staatsoper gerade gezwungenermaßen ruht, ist unser kreatives Denken nicht unterbrochen. Und so drucken wir Max Joseph trotzdem – in reduzierter Form als Beilage in der Süddeutschen Zeitung – und widmen uns den Sinnen. Einerseits, um darüber nachzudenken, was uns während der vergangenen Wochen alles genommen wurde. Aber auch, um deutlich zu machen, was es wieder zurückzugewinnen gilt, nämlich: berührt zu werden – auch durch die Kunst. Berührung, so sagt der Philosoph Jean-Luc Nancy in diesem Heft, ist weit mehr als nur zarte Finger auf nackter Haut. Wir berühren mit Worten, Blicken, Gesten und Gedanken. Deshalb, so Nancy, wird auch ein Impfstoff allein nicht genügen, um unsere menschliche Gemeinschaft als Verbindungen der Nähe zu (re-)organisieren. Was wir brauchen, ist eine Sorge für das Miteinander. Und die beginnt dort, wo wir einander atmen lassen.

Nikolaus Bachler Intendant der Bayerischen Staatsoper

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INHALT S. 3

EDITORIAL

S. 38

Im Süden Mexikos trifft das Virus auf eine völlig unvor­ bereitete Region. Eine Reportage vom Ende der Welt Von Tino Hanekamp

Von Nikolaus Bachler S. 6

CONTRIBUTORS / IMPRESSUM

S. 8

KILL YOUR DARLINGS

S. 46

Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper über die Opfer, die sie bringen S. 12

S. 18

S. 24

Der französische Philosoph Jean­Luc Nancy erzählt vom Sinn der Berührung Im Interview mit Astrid Kaminski S. 50

DER KLINGENDE TAGTRAUM

Studioaufnahme oder Mitschnitt? Über das perfekte Hörerlebnis in Shutdown­Zeiten Von Martin Elste

„ICH WÜRDE AUCH DER PEST NICHT NACHLAUFEN!“

Regisseur Hans Neuenfels über ungeborene Projekte und das Kippmoment der Existenz Im Interview mit Christine Wahl

„WENN DAS VERTRAUEN FEHLT, FÜHRT DAS ZUM BÜRGERKRIEG“

VON SPIELEN UND SPIELVERDERBERN

Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten: Was pas­ siert in einer Krise mit der Lust auf alles Sinnliche? Von Jochen Wagner

ALLES WIE IMMER

S. 52

DER WAHRE FEIND

Bevor man in der Krise eine Lösung findet, wird meist zuerst ein Schuldiger gesucht. Was das mit Angst und Hass zu tun hat Von Cécile Wajsbrot

ZONEN DES (UN-)SICHTBAREN

Begegnungen zwischen Oper und Gegenwartskunst Von Birgit Wiens

AGENDA S. 30

EIN BISSCHEN MÜDE, EIN BISSCHEN TRAURIG, EIN BISSCHEN KRANK

S. 58

S. 60 S. 34

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RÜTZEL RÄT

Die Ratgeberkolumne für geplagte Opernfiguren Von Anja Rützel

COOLE WAMPE

Vom herrschaftlichen Falstaffbauch bis zum „Dad bod“ – eine Typologie des Genusszentrums Von Jutta Person

MAX JOSEPH ONLINE

Noch mehr spannende Beiträge, Interviews und Reportagen auf dem Blog der Bayerischen Staatsoper

Wie die Quarantäne Regisseurin Mateja Koležnik zwingt, die Notwendigkeit ihrer Arbeit zu hinterfragen Von Ingmar Volkmann

S. 62

VORSCHAU


Lina ballerina clip Weißgold und Diamanten.

Haute Joaillerie, place Vendôme seit 1906

MÜNCHEN - Maximilianstraße 10 www.vancleefarpels.com - +49 89 2030 3251


CONTRIBUTORS

IMPRESSUM

S. 1

Max Joseph Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2, 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de, www.staatsoper.de

Stefanie Gutheil Die Wesen auf Stefanie Gutheils Ölgemälden bezeichnet die Berliner Künstlerin als ihre Alter Egos, ihre „persönlichen Monster“. Themen ihrer großformatigen Arbeiten sind u. a. Queerness, Heimlichkeit und das Verborgene. Drei ihrer neuesten Werke bebildern Jochen Wagners Essay über den Verlust der Sinnlichkeit. Gutheil studierte an der Universität der Künste Berlin und hatte Ausstellungen u. a. in New York, Helsinki und Toronto.

Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.) Redaktionsleitung Sarah-Maria Deckert Chef vom Dienst Christoph Koch Redaktion Lukas Leipfinger, Rainer Karlitschek, Carmen Kovacs, Malte Krasting, Benedikt Stampfli, Nikolaus Stenitzer, Sabine Voß

Foto Micha Lueder

S. 8

Yura Taralov Betrachtet man das Covermotiv von Yura Taralov, könnte man meinen, der russische Fotograf hätte den Mundschutz auf humorvolle Weise abstrahiert. Das Bild ist Teil seiner Schwarz-Weiß-Serie New Beginnings (2019), aus der noch ein weiteres in dieser Ausgabe zu finden ist (S. 50). Beide verhandeln das Thema „Sinne“ auf originelle Weise. Seine Mode- und Porträtfotografie erscheint u. a. in Vogue Italia, im Iconic Artist Magazine und im Red Milk Magazine.

Bildredaktion Katrin Dillkofer

S. 24

S. 32

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Helen Eunhwa Oh Passend zur Bauch-Typologie von Jutta Person entstand die Belly Family von Helen Eunhwa Oh. Die koreanische Illustratorin studierte an der School of Visual Arts in New York und zeichnet am liebsten Alltagsgeschehen mit einem expressiven, dynamischen, sehr zeitgemäßen Strich. Dazu kommen satte und helle Farben, in denen sich der pure Optimismus bricht. So fein wie ihre Linien ist übrigens Ohs Sinn für Humor.

Tino Hanekamp Tino Hanekamp war Musikjournalist, gründete in Hamburg zwei Clubs (Weltbühne und Uebel & Gefährlich), schrieb einen Roman (So was von da) und ein kleines Buch über Nick Cave (beides KiWi). Seit einigen Jahren lebt er im Süden Mexikos. Die Beobachtungen des Autors von dort für diese Ausgabe sind mehr als aufschlussreich, irgendwie zärtlich und nie ganz ohne Augenzwinkern.

Gestaltung Bureau Borsche Autorinnen und Autoren Martin Elste, Tino Hanekamp, Astrid Kaminski, Jutta Person, Anja Rützel, Ingmar Volkmann, Jochen Wagner, Christine Wahl, Cécile Wajsbrot, Birgit Wiens Bildkünstlerinnen und -künstler Markus Burke, Dr Julian Gravy, Stefanie Gutheil, Helen Eunhwa Oh, Benedikt Richert, Yura Taralov Marketing Eva Bergmann, T 089 – 21 85 10 27, besucher@staatsoper.de Anzeigenleitung Karla Hirsch, T 089 – 21 85 10 39, karla.hirsch@staatsoper.de

Foto Johanna Ruebel

Jutta Person Mehr Bauch geht nicht: In ihrer cleveren Typologie spannt Jutta Person, ausgehend von der Figur des Falstaff, einen Bogen von der herrschaftlichen Wampe bis zum „Dad bod“. Die Berliner Journalistin und Literaturwissenschaftlerin betreut das Buch-Ressort beim Philosophie Magazin und schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und andere. In der Naturkunden-Reihe von Matthes & Seitz erschien zuletzt ihr Korallen-Porträt.

Schlussredaktion Katja Strube

Lithografie MXM Digital Service, München Druck & Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung. Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Max Joseph wird auf Bio Top Naturpapier gedruckt.

Foto Jee Eun Jang

S. 24

Christine Wahl Wegen der Corona-Pandemie konnte Christine Wahl ihr Interview mit Regisseur Hans Neuenfels nur am Telefon führen – doch herausgekommen ist ein sehr präzises Krisen-Gespräch. Die Theaterkritikerin und Journalistin arbeitet u. a. für den Tagesspiegel, Theater heute und den Spiegel. Sie ist als Moderatorin tätig, als Jurorin des Festivals Radikal jung und ist Mitglied im Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage Stücke.

Das Inhaltspapier von Max Joseph ist zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial. Es ist FSC®-zertifiziert und erfüllt sowohl die Kriterien des Blauen Engels als auch des EU Ecolabels. Zudem wird das Heft mit mineralölfreien Farben gedruckt. Foto Gabriel Suarez

S. 14


Unverbindliche Darstellung aus Sicht des Illustrators

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KILL YOUR DARLINGS Das Motto der diesjährigen Spielzeit klingt wie ein kaltblütiger Auftrag zum Mord, meint aber weit mehr als das. Hier erzählen die Künstlerinnen und Künstler der Bayerischen Staatsoper von den Opfern, die sie bringen – und davon, was sie im Gegenzug gewinnen.

Protokolle Sabine Voß 8


Seit meiner Kindheit will ich Ärztin werden, Herzchirurgin. Nach dem Abitur machte ich den Aufnahmetest für das Medizinstudium und bestand ihn im zweiten Anlauf. Parallel dazu hatte ich mich am Konservatorium beworben. Auch dort wurde ich aufgenommen, und so studierte ich Gesang und Medizin in Padua. Das Konservatorium schloss ich nach fünf Jahren ab – das Medizinstudium nicht. Vergangenen Sommer wollte ich das endlich nachholen. Also fuhr ich nach Padua und lernte wie verrückt. Zwei Tage vor der ersten Prüfung rief mein Agent an und schickte mich zu Vorsingen nach Toulouse und Valencia. Ich bekam beide Rollen, was schön und schlimm zugleich war, denn jetzt bin ich noch immer keine Ärztin. Dafür habe ich als Sängerin Erfolg. Diese Spielzeit habe ich drei Hauptrollen gespielt. Gleichzeitig vertiefe ich mich immer wieder mit glühendem Interesse in meine Vorlesungsmitschriften der Medizin und in mein geliebtes Anatomiebuch. Ich muss aber eine Entscheidung treffen. Denn ich bezahle teure Studiengebühren und es ist mental anstrengend, zwischen diesen zwei Welten hin- und hergerissen zu sein. Ich besaß einmal ein wunderschönes Stethoskop, mein Name war darauf eingraviert. Auf dem Weg von einer Kardiologievorlesung zur Klinik habe ich es verloren. Ich glaube, das ist ein Zeichen.

Als ich anfing zu dirigieren, hatte ich den Ehrgeiz, ein zweiter Pierre Boulez zu werden. Das ist natürlich ein schwieriges Vorbild für einen 15-Jährigen. Aber mich faszinierte sein strenger puristischer Stil, dass er ohne Taktstock dirigierte, so elegant, nur mit den Händen. Als Student ahmte ich hingebungsvoll diese Technik nach. Das blockierte mich natürlich. Nie werde ich meine Verwirrung vergessen, als ich beim Dirigieren des Violinkonzerts von Max Bruch feststellen musste, dass die nüchterne Strenge Boulez’ zu diesem Werk gar nicht passte. Etwas später habe ich dann Mahlers neunte Symphonie mit dem Orchester der Musikhochschule einstudiert. Es war eines der wichtigsten Projekte meiner Studienzeit. Hier merkte ich endlich, dass ich ein ganz anderes musikalisches Gespür hatte als der einzigartige, unnachahmliche Boulez. Das war eine große Befreiung für mich, eine Feier meines eigenen Könnens, meiner eigenen Technik – mit Taktstock. Geoffrey Paterson, Dirigent

Selene Zanetti, Sopran

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Es ist mir schwergefallen, mein Elternhaus auf dem Land in der Nähe von London zu verlassen. Ich vermisse die Gegend, die Stille, die Vertrautheit. Als ich an die Bayerische Staatsoper kam, war ich mir noch sicher, irgendwann wieder zurückzukehren. Aber dieser Plan gehört der Vergangenheit an. Natürlich spielt dabei der Brexit eine Rolle. Vor allem aber die Zusammenarbeit mit all den großen Künstlerinnen und Künstlern, die mich vollkommen verändert hat. Dass die FestspielPremiere von Castor et Pollux abgesagt wurde, war nicht überraschend, aber es schmerzt trotzdem sehr. Es sollte mein Highlight in dieser Spielzeit sein, mein Darling. Nun nutze ich die gewonnene Zeit und beschäftige mich jetzt schon mit den Rollen der nächsten Saison. Ich koche auch mehr als sonst. Ich lebe mit vier Kolleginnen und Kollegen aus dem Opernstudio zusammen. Wir essen gemeinsam, spielen Brettspiele, schauen Filme. Und wir machen Gesangsaufnahmen, einfach so zum Spaß. In einer Situation wie dieser besinnt man sich auf das Wesentliche und spürt die ursprüngliche Begeisterung für den Beruf ganz neu und stark. Caspar Singh, Tenor

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Als Sängerin muss ich dauernd Darlings killen. Was die Stimmtechnik angeht, zum Beispiel. Möchte ich nach einer Wagner-Partie wieder Mahler-Lieder singen, muss ich die Technik überprüfen, auf das Feintuning achten, was wiederum der nächsten Wagner-Partie guttut. Wenn man dann etwas erreicht hat, müssen auch die Korken knallen. So vertreibt man in der Theaterwelt die Geister und kann wieder etwas Neues angehen. Ich feiere aber eigentlich nicht gerne. Jedenfalls nicht im großen Rahmen. Zu zweit oder mit wenigen Menschen zusammenzusitzen, die nichts von mir erwarten, und persönliche Gespräche zu führen, ist mir viel lieber. Empfänge oder Premierenfeiern finde ich schwierig, weil dort erwartet wird, dass man gut gelaunt und für jeden ansprechbar ist, als „Sängerin zum Anfassen“. Kurz nach dem Auftritt bin ich aber selten in der Stimmung, Smalltalk zu machen. Man kann in der Situation sehr einsam sein, in der Metamorphose zwischen Bühnenfigur und Privatperson. Okka von der Damerau, Mezzosopran



VON SPIELEN UND SPIELVERDERBERN Es liegt in der Natur des Menschen, dass er alles sehen, hรถren, riechen, schmecken und anfassen will. Nun attackiert ein Virus unseren wundesten Punkt. Was passiert in einer Krise wie dieser mit unserer Lust auf alles Sinnliche? Ein Essay.

Text Jochen Wagner Bilder Stefanie Gutheil 12


„Kill your Darlings!“ Das klingt verwegen. Nicht: „Kiss your Darlings“? Geht’s da ans Eingemachte? So wirklich rebellisch, radikal, brutal, verquer, dass eine Institution, die immerhin sehr traditionsbewusst, ja, sensibel ist, empörte Buhrufe – Skandal! – riskiert? Die Kunstform Oper darf das: alle Exzesse des Lebens, die Bestie und den Engel Mensch aufführen. Aber hat sie’s wirklich auch im Kreuz? Denn das ist ja Pop, Avantgarde, Ketzerei, No-Go. Wir erinnern uns unwillkürlich. Pures Entsetzen, selbst bei den hartgesottensten Fans, als 1967 in Monterey erstmals elektrische Gitarren live on stage zerstört wurden. Oder Marcos Baghdatis, der 2012 bei den Australian Open seine Tennisschläger am Spielfeldrand jähzornig zerhackte, vier Stück, in 40 Sekunden. War das nicht pure, aber auch faszinierende Gewalt? So, als hätte James Dean den silbernen Porsche 550 Spyder bei seiner Todesfahrt 1955 im Crash unabsichtlich ikonisch designt? Kill your Darlings! Aber doch nicht im Ernst? Mehr symbolisch-moderat? So als Frühjahrsputz, mal durchlüften. Oder doch Tabula rasa? Auf den Kehricht alles Etablierte, Liebgewonnene, die ganze sedierte, satte Kunstbehäbigkeit! Da zuckt’s schon, das gemütliche Fleisch. Könnte vielleicht nochmals rasend werden, wie damals, als Eric Burdon & The Animals mit When I Was Young das Tier in uns lockten. Wir kennen uns ja: Du musst dein Leben ändern, die Cholesterine, die Fettleber, die Raucherlunge, so der Arzt. Nein,

Subway, 2020

du musst dein Ändern leben, so die Kids. Hau weg den SUV, Schluss mit Fliegen, basta Kreuzfahrt! Wir schämen uns, ganz arg, bedauern, machen Therapie. Aber die Sachzwänge, das schöne Leben! Was kann man da einzeln schon machen? Und so kontern wir „Fridays for Future“ mit „Fridays for Hubraum“. 1881 schrieb Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra: „Oh meine Brüder, bin ich denn grausam? Aber ich sage: was fällt, das soll man auch noch stossen! Das Alles von Heute – das fällt, das verfällt: wer wollte es halten! Aber ich – ich will es noch stossen! Kennt ihr die Wollust, die Steine in steile Tiefen rollt?“ Die Darlings killen? So richtig, nicht nur Kabarett oder im übertragenen Sinn: total, industriell, politisch, kulturell, bürgerlich, säkular, klerikal, also den ganzen affirmativen Saustall: Nockherberg, Passionsspiele, Heimatsound, Oktoberfest. Ois wegramma! WILLST DU FRIEDEN, BEREITE DICH AUF KRIEG VOR

Es hat etwas Alttestamentliches, was da mit Verve gefordert wird. Wie in den urbiblischen Thrillern: Abraham soll seinen Sohn Isaak opfern; da fällt ihm gerade noch ein Engel in den Gott gehorsamen Arm mit dem Schlachtmesser. Wie in den Evangelien: Gottvater tut nichts, als sein Sohn gekreuzigt wird. Am Ostermorgen umarmt dafür Maria Magdalena ihren auferstandenen Liebling, doch Jesus von Nazaret wehrt sich

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mit einem Nolimetangere – berühr mich nicht! Trotzen! Bis heute werden allerhand Darlings im Namen eines Gottes gekillt. Der Anthropologe René Girard hat sein ganzes Leben lang versucht, diesen bigotten Gehorsam zu töten, die heilige Mimesis der Gewalt zu enträtseln. Am 9. November 1967 wurde an der Universität Hamburg von zwei damaligen Studenten ein Transparent enthüllt. Darauf stand: „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“. Neues brauchte und braucht Luft, Raum, Mut – auch den, Tabus zu brechen. Im Motto „Kill your Darlings“ stand die Literatur Pate. Ursprünglich geht es wohl auf den britischen Schriftsteller Arthur Quiller-Couch in On the Art of Writing (1916) zurück: „Whenever you feel an impulse to perpetrate a piece of exceptionally fine writing, obey it – whole heartedly – and delete it before sending your manuscript to press. Murder your darlings.“ Ähnlich der US-amerikanische Romancier William Faulkner: „In writing, you must kill all your darlings“, sowie Stephen King in On Writing: A Memoir of the Craft: „Kill your darlings, kill your darlings, even when it breaks your egocentric little scribbler’s heart, kill your darlings.“ Nur wer nicht zögert, seine liebsten Routinen, vergnüglichsten Ideen und hübschesten Forme(l)n zu schlachten, dem kommt das Noch-nie-da-Gewesene entgegen. Kränk dich selber narzisstisch! Klingt paradox wie si vis pacem, para bellum – willst du Frieden, bereite dich auf Krieg vor. Das Neue hingegen ist meist ein uralter Wunsch, ein verspielter Tagtraum. Theodor W. Adorno schrieb 1970 in seiner Ästhetischen Theorie: „Das Verhältnis zum Neuen hat sein Modell an dem Kind, das auf dem Klavier nach einem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Möglichkeiten der Kombination sind beschränkt, eigentlich steckt alles schon in der Klaviatur. Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue. Was als Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Bestehende, und diesem hörig.“ DAS SPIEL ALS GEGENWELT

Nur, wie reagieren? Mit Spieltrieb, Nervenkitzel, Risiko, heiligem Ernst, Leidenschaft, Kick? Spielen ist bis heute, trotz vieler Entstellungen, eine Gegenwelt zu Gewalt und Profit. Das Spiel nährt das Phantasma von feinsensorischer Leibesertüchtigung, psychomotorischer wie sozialer Kompetenz. Als Schulung von Fairplay, durch Gewinnen und Verlieren zivilisiert es Aggressionen. Wie Pop, Mode und Musik ist das Spiel ein kosmopolitischer Parameter für offene Gesellschaften, eine natürliche, evolutionäre, kulturelle und religiöse Urkraft, wie etwa der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga 1938 in Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel aufzeigt – sie nähren, analog wie digital, die ewige Idee vom Weltfrieden. Für den Soziologen Pierre Bourdieu und den Ethnologen Clifford Geertz ist Spielen der Produzent sozialen Sinns schlechthin. Mit der modernen Spieltheorie skizziert das Motto „Kill your Darlings“ ein anderes Bild vom Menschen,

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nicht Soldat oder Konsument zu sein, sondern Autor, Poet, Subjekt seines Lebens. Es bleibt also eingehegt in Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1794: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Doch nun ist alles anders. Corona – ein Wort genügt als Spielverderber im dramatischsten Sinne. Wähnten wir uns nicht schon jubilatorisch auf dem Olymp der Digitalisierung? Das Virus attackiert unseren reichsten, unseren wundesten Punkt: die Berührungslust. Unser fünfsinniges, leibgeistseelisches Sensorium will alles anschauen, anfassen, riechen, schmecken, hören. Wird uns ein Objekt des Begehrens verwehrt, ernährt das „Berühren verboten!“, „Don’t touch!“, „Si prega di non toccare!“, „Défense de toucher!“ nur mehr den Reiz, das Tabu zu brechen. Es ist der Organismus, unser auf Sinnliches unersättlich heißer, geiler Körper, dessen unheilbar analoges Repertoire uns zum Kontakt mit jedweden Darlings verführt. Urplötzlich ist das soziale Leben ein einziges russisches Roulette. Corona killt unsere Darlings, unsere Darlings killen uns. Das ist der Plot, Punktum. So beschreibt es beispielsweise der Medienwissenschaftler Neil Postman 1985 in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode. Unser HautIch, so der Psychoanalytiker Didier Anzieu, ist süchtig nach dem mimetischen Rausch. Doch die Politik muss uns seinen Dealer, den Markt, verbieten. Das commercium admirabile, die „wundersame Verwandlung“ respektive „Vermählung“, hat alles zur Konsumpraline verzaubert, Gott human, die Ware spirituell gemacht: Corona bläst die Posaune zum Entzug. Abgesagt – verschoben – fällt aus. WENN DEN MENSCHEN DER MENSCH FEHLT

Was mich nährt, mich auch zerstört. Augustinus’ Formel erwischt uns im Doublebind. Wir Dinosaurier des Konsums fressen alles für den pursuit of happiness. Rumpelt der Kapitalismus als Religion, wie es Walter Benjamin bezeichnete, seinem Karfreitag entgegen? Oder zwingt uns Corona weltweit zum Abschied von der antropologia gloria, vom tollen Menschen? Hightech, der Zauberstab des Anthropozäns, predigt noch immer die Superlative: Profit, Potenz, Performance. Die Darlings killen, was uns unvollkommen, verletzlich, lachend, weinend, schöpferisch, böse und sozial, dennoch letztendlich menschlich macht. Menschlich macht auf der Suche nach Orten, wo wir nicht nur müssen, sondern dürfen. Doch überall fehlen uns Menschen die Menschen. Ein Phantasma der Leere, wund, plärrend, lechzend nach Fülle. In der Fondation Beyeler in Riehen zu Basel war jüngst die Ausstellung Edward Hopper – Ein neuer Blick auf Landschaft zu sehen. Hoppers Bilder frieren die apathischen Menschen in erstarrte Unruhe ein. Seine Nighthawks wären jetzt, 80 Jahre später, das ideale Abbild für all die toten Städte da draußen. Wie viel diffuse Bedrohung durch die brutale Differenz (x infiziert, y nicht infiziert) verkraften wir? „Zusammenhalten!“, sagen nicht wenige. Sie sind ein Wunder, diese


Es ist unser auf Sinnliches unersättlich heißer, geiler Körper, dessen unheil­ bar analoges Repertoire uns zum Kontakt mit jedweden Darlings verführt. Urplötzlich ist das soziale Leben ein einziges russisches Roulette. Corona killt unsere Darlings, unsere Darlings killen uns.

Vermummt, 2020

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Foto Matthias Koll

„Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, sagte schon der Revolutionär Che Guevara. Eine Fußballhymne singt sie uns vor: „You’ll never walk alone“. Kann man so etwas nach Corona noch singen? Ist das emotionale Kuscheln der Hymne dann überholt oder entwickelt sie erst jetzt eine neue, subversive Kraft?

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Fliegen lernen, 2020


Solidarkräfte. Doch ist Corona zu viel? Ist es ein Mordstrumm Natur, malum naturale, oder ein Mordstrumm Mensch, malum morale? Wir müssen umkehren. Ja, aber wie – und wohin? Und nach Corona? Ein Reset? Alles nachholen? Das Ende der Illusionen (2019) von Andreas Reckwitz lesen? Samuel Becketts Diktum aus Worstward ho. Aufs Schlimmste zu (1986) genügt völlig: „Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“ Augenscheinlich kollidieren momentan Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung und Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Das „Menschenmögliche“ tun und mit Dietrich Bonhoeffer Von guten Mächten wunderbar geborgen beten? Oder, wenn nur Ungewissheit gewiss ist, Friedrich Hölderlin glauben: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“? Und sich mit Bertolt Brecht vergewissern: „Wenn es einen Gedanken gibt / Den du nicht kennst / Denke den Gedanken / kostet er Geld / verlangt er dein Haus; / Denke ihn! Denke ihn! / Du darfst es!“ YOU’LL NEVER WALK ALONE

Es gibt kein Zurück zum Garten Eden, zum Berg der Wahrheit Monte Verità, zur Wiese Woodstock des Milchbauern Max Yusgar. Der Mensch werde nach Corona nicht mehr derselbe sein, wettert der Philosoph Slavoj Žižek und fordert eine weltinnenpolitische Koordination. Doch wir erleben die eine Welt als ausweglose Immanenz, als blue world, die alles Trennende transzendiert. „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“, sagte schon der Revolutionär Che Guevara. Eine Fußballhymne singt sie uns vor: „You’ll never walk alone“. Kann man so etwas nach Corona noch singen? Ist das emotionale Kuscheln der Hymne dann überholt oder entwickelt sie erst jetzt eine neue, subversive Kraft? Das Spiel macht, einer psychischen Impfung gleich, immun gegen Krieg. „Competition“ kommt aus dem Lateinischen „cumpetere“ und bedeutet so viel wie „etwas gemeinsam bestreben“. Der Wettbewerb vereint Konkurrenz und Zusammenhalt. Sich anerkennen, das ist das Minimum auf dem Spielfeld, denn man kann nur miteinander gegeneinander spielen. Wenn es ein absolut schlagendes Gleichnis für „Kill your Darlings“ gibt, dann das vom Monterey Pop Festival 1967. The Jimi Hendrix Experience und The Who streiten um die Auftrittsreihenfolge. Beide Leadgitarristen werden ihre Gitarre zertrümmern. Der Münzwurf entscheidet: zuerst The Who. Pete Townshend zerstört seine Gibson SG. Jimi Hendrix rammelt mit seiner Fender Stratocaster den Marshall-Verstärker. Schließlich fackelt er die feelsaitige hölzerne Sirene ab. Entsetzen macht sich breit. Nur Nico, Sängerin von The Velvet Underground, küsst ihn. 1969 komponiert Peter Maxwell Davies das Monodram Eight Songs for a Mad King. Am Ende zertrümmert George III die Geige eines Musikers – so steht es in der Partitur, und so geschieht es bei jeder Aufführung neu. Werktreue! Eine Geige ist am Ende zerstört, noch immer, jedes Mal bis heute und für immer. Der Mythos Topform ist tot. Es lebe das Ideal des Kaputten.

Hören wir Walter Benjamin: „Der destruktive Charakter kennt nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen. Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß. Der destruktive Charakter ist jung und heiter. Denn Zerstören verjüngt. […] Der destruktive Charakter ist immer frisch bei der Arbeit. […] Dem destruktiven Charakter schwebt kein Bild vor. […] Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. […] Der destruktive Charakter ist ein Signal. […] Der destruktive Charakter ist gar nicht daran interessiert, verstanden zu werden. […] Der destruktive Charakter ist der Feind des Etui-Menschen. […] Der destruktive Charakter verwischt sogar die Spuren der Zerstörung. […] Der destruktive Charakter sieht nichts Dauerndes […] überall Wege. […] Das Bestehende legt er in Trümmer, nicht um der Trümmer, sondern um der Wege willen.“ Jochen Wagner, Jahrgang 1957, studierte Evangelische Theologie und Philosophie, war Vikar in Garmisch-Grainau, Pfarrer in Bayreuth und wissenschaftlicher Assistent für Systematische Theologie und Philosophie an der Augustana Hochschule Neuendettelsau. Im Jahr 2000 wurde er mit einer Arbeit über Walter Benjamin promoviert. Seit 1994 ist er Studienleiter des gesellschaftswissenschaftlichen Referats an der Evangelischen Akademie Tutzing, mit einer Passion für Fußball, Gitarren und italienische Motorräder. Mehr über die Künstlerin auf S. 6

KILL YOUR DARLINGS – so lautet das Motto der diesjährigen Spielzeit 2019/20 an der Bayerischen Staatsoper, die durch das Coronavirus vorzeitig zu Ende ging. Der griffige Imperativ stammt ursprünglich aus der Praxis des literarischen Schreibens. Auf das Leben übertragen bezeichnet er die Notwendigkeit, sich von lieb gewonnenen Gewohnheiten, Überzeugungen oder Lebensweisen zu trennen, weil sie einem selbst oder anderen schaden können. Diese Janusköpfigkeit unserer „Darlings“ macht das Loslassen umso schwerer. Die Premieren dieser Spielzeit haben sich auf unterschiedliche Weise mit den Aspekten des komplexen Prozesses beschäftigt.

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„ICH WÜRDE AUCH DER PEST NICHT NACHLAUFEN!“ Der Regisseur Hans Neuenfels über das Kippmoment der Existenz, ungeborene Projekte und das Tröstliche an furzenden Göttern.

Interview Christine Wahl 18


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Herr Neuenfels, Sie haben einmal gesagt, wenn Sie keine Termine haben, leben Sie wie ein „verbummelter Student“. Ist das nun, da coronabedingt das öffentliche Leben mehr oder weniger stillsteht, der Fall? Ja, ich würde das so sagen. Ich lese sehr viel, liege herum und gehe ab und zu an die Luft. Das ist genau das, was ich unter studentisch verstehe: Ich habe viel Zeit, aber ich kann nicht sagen, dass ich’s nur genieße. Warum nicht? Was mir ein bisschen auf die Nerven geht, ist, dass ich im Moment kein Ziel habe. Ich lese wild drauflos, alles Mögliche, quer durchs Gebüsch, aber mir fehlt wirklich die zielgerichtete Aktion. Eigentlich sollten Sie gerade an der Bayerischen Staats­ oper mit Castor et Pollux Premiere feiern. Ja, aber die Produktion kommt im Moment leider nicht raus. So eine Situation, dass die Theater geschlossen sind, habe ich noch nie erlebt. Und ich habe sie mir auch nicht vorstellen können. Sie steckten mitten in den Probenarbeiten, als der Shut­ down kam? Wir hatten sehr intensiv gearbeitet und waren eigent­ lich an dem Punkt, wo man dem theoretischen Teil der Vorbereitung gegenüber schon ziemlich abge­ stumpft ist und in die konkrete sinnliche Situation springen möchte. Das bleibt jetzt irgendwie so unge­ boren. Die Corona­Krise wird allenthalben als die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet. Würden Sie das als 1941 Geborener bestätigen? Ja, ich sehe das auch so, weil in der Folge sicher nichts mehr so sein wird, wie es vorher war. Man kann dieses plötzliche Eintreffen unbekannter Phänomene nicht mehr übersehen. Das wird aufgrund der Entwicklung, die wir als Menschen gemacht und auch verschuldet haben, in absehbarer Zeit immer wieder auftauchen und vermischt sich ja auch mit dem Problem des Klima­ wandels. Es ist schon eine sehr unbehauste Welt, in die wir da hineingetrieben sind. Was ist für Sie das Bedrohlichste an der jetzigen Situ­ ation? Abgesehen davon, dass ich in meinem Alter und mei­ nen Lebensumständen als Raucher persönlich zur Risikogruppe gehöre, ist es die Isolation. Immerhin bin ich mit meiner Frau zusammen. Wir sind also wenigs­ tens zu zweit. Aber die Dinge, die einen sonst noch bereichern und das Leben schön machen, sind jetzt unmöglich. Zum Beispiel Kommunikation, in jeder Hinsicht.

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Der Austausch mit anderen hat sich fast vollständig ins Digitale verlagert. Für einen bekennenden Computer­ skeptiker wie Sie ist das sicher besonders schwierig? Ich bin überhaupt nicht gegen die Digitalisierung, ich kann nur nichts damit anfangen. Ich habe jetzt ein iPad, daran versuche ich mich, aber ich habe keine Freude daran. Wichtig finde ich es trotzdem: Ohne meine Frau, die das alles total beherrscht, könnte ich gar nicht die Miete überweisen. Soziologen und andere Gesellschaftsforscher behaup­ ten, in der Krise liege auch eine Chance. Stimmen Sie ihnen zu? Das ist dieses positive Denken, das man sich ranschafft. Wenn es anderen hilft: gut! Aber ich brauche das nicht. Wäre aber nicht zumindest die Entschleunigung, über die jetzt vermehrt nachgedacht wird, jedenfalls von denen, die es sich leisten können, auch für den Büh­ nenbetrieb erstrebenswert? Das stimmt, in der Oper gibt es nur noch sechs Wochen Probezeit, das ist ein großer Verlust. Die Premierenfrequenz ist in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen. Sie und andere Regisseure Ihrer Generation wie Peter Stein, Peter Zadek oder Klaus Michael Grüber haben Probezeiten noch in Monaten gerechnet, nicht in Wochen. Drei Monate oder dreieinhalb waren tatsächlich keine Seltenheit. Es muss möglich sein, innerhalb des Arbeitsprozesses auf eine Schwierigkeit zu stoßen und das Ganze noch einmal anders zu denken. Peter Zadek hatte zum Beispiel in Bremen schon wochenlang Die Räuber probiert, als er merkte: Nee, das ist ja grauen­ haft! Dann hat er noch mal neu angefangen und eine völlig andere Form gefunden. Das war 1966, die Inszenierung schrieb dann Theater­ geschichte. Heute wäre das gar nicht mehr möglich! Man steht der­ art unter dem Druck des eingeschlagenen Weges, dass der Gedanke an einen anderen gar nicht aufkommen kann. Warum hat sich das so stark verändert? Das hat durchaus mit ökonomischen Zwängen zu tun, aber nicht nur. Auch das Selbstverständnis, mit dem man an die Dinge herangeht, ist ein anderes. Man nimmt die Sachen nicht mehr so existenziell. Es herrscht ein starkes Selbstbewusstsein, dass jeder ein Künstler sein und ständig irgendetwas erschaffen kann. Die Regisseurinnen und Regisseure trauen sich Ihrer Meinung nach zu viel zu?

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Das Tolle am Mitbestimmungsmodell in Frankfurt …

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… das Sie in den 1970er Jahren unter der Intendanz von Peter Palitzsch entscheidend mitgeprägt haben … … war ja, dass man wirklich erst mal diskutierte, wenn man ein Stück ins Auge gefasst hatte: Kann ich das überhaupt? Der Intendant des Staatstheaters Stuttgart, Walter Erich Schäfer, wollte damals zum Beispiel, dass ich Euripides inszeniere, Medea. Ich konnte nichts damit anfangen und habe ihm Nora vorgeschlagen.

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(Lacht) Ich muss gestehen, ich überlege gerade krampfhaft, ob es eine Oper gibt, die etwas mit Lepra oder Aussatz zu tun hat, aber mir fällt spontan keine ein. Penderecki vielleicht, aber da müsste ich nachschauen.

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Wenn es eine gäbe: Würden Sie sie inszenieren? Sicher nicht. Ich würde auch der Pest nicht nachlaufen!

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Ein ziemlich großer Unterschied. Das sagte er auch: „Aber Nora ist doch kein Äquivalent, Neuenfels!“ Und Sie? Ich habe geantwortet: „Aber Nora könnte ich – Medea kann ich nicht.“ Dann hat er mir erlaubt, den Ibsen zu machen, und es wurde ein großer Erfolg. Medea haben Sie erst Jahre später in Frankfurt inszeniert. Ja, dafür brauchte ich ganz andere Entwicklungen. Dass die Stufe, auf der man sich befindet, eine elementare Rolle spielt, wird heute vollkommen übersehen. Konkret im Schauspiel ist das auch deshalb recht einfach geworden, weil sich der Flickenteppich stark durchgesetzt hat. Das müssen Sie erklären. Dort, wo das Stück schwierig wird, öffnet man es einfach und führt Fremdtexte ein. Man macht ein Potpourri. Das kann in Einzelfällen durchaus Vorzüge haben, aber häufig erlebe ich es als nachteilig. Ist das ein Grund dafür, warum Sie öfter Opern inszenieren als Schauspiele? Nein, das ist eher willkürlich. Dass es bei mir insgesamt mehr zur Oper hinüberrutschte, war in erster Linie eine Sache von Angebot und Nachfrage. Dann habe ich aber tatsächlich bemerkt, dass die Schwierigkeiten, mich im Schauspiel zu formulieren, größer wurden. Ich suchte nach modernen, zeitgenössischen Stücken, und die meisten, die ich las, fand ich nicht interessant, nicht aufreizend genug, sowohl bezüglich der Form als auch hinsichtlich der Thematik. Gemessen daran, wie viel Aufregendes ich im Lauf der Jahre mit Stücken und Autoren schon erlebt hatte, erschien mir das blass. In der nächsten Spielzeit dürften die Theater keine Probleme haben mit der Stofffindung; da wird als CoronaAufarbeitung vermutlich überall Albert Camus’ Roman Die Pest für die Bühne adaptiert. Gibt es auch in der Oper so etwas wie das Werk der Stunde?

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Das wäre Ihnen zu vordergründig? Ja, mir geht es im Theater immer um eine erkennbare Grundhaltung. Heute existieren dagegen eher Tageshaltungen, weil die politischen Strömungen ja auch etwas Trendhaftes an sich haben. Jetzt gibt es zum Beispiel das Flüchtlingsthema oder das Minderheitenproblem. Für mich ist das aber sowieso da. Der Komplex des Fremden, des Ausgegrenzten – das ist vielen Stücken immanent, zum Beispiel Medea. Es hat dort nur eine andere Dimension. Apropos Dimension: Wenn man sich die Formate anschaut, die Künstler zurzeit aufgrund der Theaterschließungen im Netz ausprobieren, fällt auf: Die Wohnzimmerkonzerte funktionieren, die Küchentischdramolette aus dem Schauspielbereich eher nicht. Woran liegt das? Das hat zunächst einmal damit zu tun, dass ein Pianist beispielsweise mit dem Klavier in einem Wohnzimmer prinzipiell in einem durchaus normalen Zustand ist, das Instrument kann theoretisch überall stehen. Warum ist das beim Schauspiel schwieriger? Die Dramolette oder sonstige theatrale Versuche am Küchentisch haben oft das enorm Peinliche des Privatistischen und Dilettantischen, weil die Übersetzungsform zu gering bleibt: Die Verwandlung ist nicht groß genug. Ohne Kostüme, Licht oder Kulissenwände links und rechts wird es schnell banal. Sie meinen, die Übertragung in den Kunstkontext fehlt? Ja, während die Musik direkt ans Gefühl und ans Unterbewusstsein geht, müssen wir bei den Worten einen Sprung machen; das ist das Schwierige am Schauspiel. In der Oper gibt es die Ouvertüre, eine Introduktion, durch die wir eine Art von Hochhebung erfahren. Im Schauspiel dagegen kommt, wenn sich der Vorhang öffnet, direkt der erste Satz. Ich habe das Bühnenbild deshalb einmal die Dimension des Abends genannt; in dem Sinne, dass man „Ah“ denkt oder „Oho“ oder „Donnerwetter“, wenn der Vorhang aufgeht. Also dass irgendetwas in einem passiert, was einen Sprung macht, im besten Fall. Sie gehören seit jeher zu denen, die in Oper und Theater


„Ich bin überhaupt nicht gegen die Digitalisierung, ich kann nur nichts damit anfangen. Ich habe jetzt ein iPad, daran versuche ich mich, aber ich habe keine Freude daran. Ohne meine Frau, die das alles total beherrscht, könnte ich gar nicht die Miete überweisen.“

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nicht die Berieselung, sondern die produktive Auseinandersetzung suchen. Schon 1982, kurz nach Ihrer berühmten Frankfurter Aida, haben Sie gefordert: Oper muss wieder anstrengend werden. Hat sich da aus Ihrer Sicht etwas getan? Nicht viel, ehrlich gesagt. Ich habe in Berlin nacheinander fünf, sechs Abende an der Staatsoper gesehen, die zwar alle anstrengend waren, aber leider nur im Sinne des Verschließens. Da ging es gar nicht um gut oder schlecht, sondern die waren mir vollkommen fern gerückt, die haben sich mir einfach nicht erschlossen. Vielleicht geht es heute vielen ja gar nicht mehr um Anstrengung in der Kunstrezeption, sondern eher um so etwas wie Gemeinschaftsstiftung und kollektive Selbstvergewisserung? Das Gefühl habe ich auch. Mir fällt dazu der etwas böse Satz ein, dass man sich als Regisseur, bewusst oder unbewusst, mit dem Publikum gleichmacht. Und das ist etwas, was mich enttäuscht und langweilt. Ich will herausgefordert werden! Also ich will diesen Sprung schon tun, und es kann nicht sein, dass mir das fast nur noch bei Filmen gelingt. Wie sähe denn eine produktive Anstrengung für Sie konkret aus? In jedem Fall will ich, verdammt noch mal, die Geschichte mitkriegen! Und zwar hinsichtlich des äußeren Ablaufs genauso wie bezüglich der Hintergründe. Das gilt auch für das Werk, das ich in München jetzt nicht mehr inszenieren werde: Wenn bei Castor et Pollux der eine sterblich ist und der andere unsterblich, dann möchte ich wissen, was die Unsterblichkeit bedeutet, was der Hades ist und wofür Jupiter steht. Was interessiert Sie noch an Jean-Philippe Rameaus Oper aus dem 18. Jahrhundert? Es war nicht so, dass ich mir diese Oper ausgesucht hätte, sondern sie wurde mir angeboten. Und als ich sie mir anhörte, habe ich erst einmal sehr wenig damit

anfangen können. Im Verlauf einer Woche stellte ich aber plötzlich fest, dass die Musik doch Chöre hatte, die mich sehr interessierten, und dass es einzelne Nummern gab, die meine Fantasie anregten. Ich merkte, dass die Entschlüsselung von Dingen, die in der damaligen Zeit selbstverständlich waren, uns heute aber vollkommen verborgen sind mit all ihren allegorischen Verknüpfungen, ein aufschlussreicher Diskurs werden könnte. Das alles offenzulegen und die Hintergründe zu untersuchen, reizte mich. Ich war detektivisch wirklich in Höchstform! MJ HN

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Was haben Sie denn ermittelt? Vor allem das Thema der Unsterblichkeit: Ich lese die Figur des Pollux so, dass er darunter leidet. Für diese Interpretation gibt es auch Ansätze in Musik und Text: Durch die Unsterblichkeit fehlen ihm der Druck und die Unbedingtheit in der Liebe. Beide Brüder liebäugeln mit der Prinzessin Télaïre, die allerdings nur Castor liebt, den Sterblichen. Dass Pollux Télaïre schließlich an seinen Bruder abtreten kann, hängt eben mit seiner Unsterblichkeit zusammen: Er tut es nicht allein aus Heroismus oder Ehrenhaftigkeit oder Bruderliebe, sondern auch, weil er sie nicht so stark zu spüren imstande ist. So kommen aus diesem statischen Behauptungsprozess plötzlich differenziertere Gebilde heraus. Im Sprechtheater haben Sie zuletzt am Residenztheater in München Antigone inszeniert, jetzt hätte Castor et Pollux an der Oper folgen sollen. Woher rührt Ihre Liebe zur griechischen Antike? Die Griechen haben praktisch den Olymp zu sich heruntergeholt, die Götter sind ja nichts anderes als Spiegelbilder von ihnen. Das Jenseits wird sozusagen der Metaphysik entkleidet; es wird konkret, weil es aus der Diesseitigkeit gesehen wird und nicht aus einer übergeordneten, künstlichen Perspektive, wo alles göttlich, fern und anders erscheint.

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„Immer wenn die Griechen einen Komplex hatten, haben sie einen Gott erfunden, bis zum furzenden Hermes. Sie haben die Götter das machen lassen, was sie sich selbst in ihren Träumen und Albträumen vorstellten. Das fand ich immer sehr aufregend und auch sehr tröstlich.“

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Die überirdischen Gestalten haben, mit anderen Wor­ ten, höchst irdische Probleme. Ja. Immer wenn die Griechen einen Komplex hatten, haben sie einen Gott erfunden, bis zum furzenden Hermes. Sie haben keinerlei Jenseitsfeierlichkeit auf­ kommen lassen, sondern die Götter das machen las­ sen, was sie sich selbst in ihren Träumen und Albträu­ men vorstellten. Das fand ich immer sehr aufregend und auch sehr tröstlich. Sie selbst hatten eine außergewöhnliche künstlerische Initiation: Als Sie 19 waren, gingen Sie für zwei Jahre nach Paris und wurden Sekretär des Malers Max Ernst. Das war ein namenloser Glückszufall, einer dieser Erweckungsmomente im Leben. Die Bedeutung die­ ses Unternehmens ist mir auch erst Jahre später klar geworden, als der deutsche Förderer und Vertreter von Max Ernst mich einmal in Berlin besuchte und sagte: „Warum haben Sie danach nie mehr etwas von sich hören lassen? Der Ernst hat immer nach Ihnen gefragt.“ Und, was war der Grund für Ihr Schweigen? Ich kann das auch nicht verstehen! Und ich könnte mich heute noch umbringen dafür. Es war wahrscheinlich einfach zu viel. Das war ja ein vollkommen irrer Vor­ gang, dass er auf meine Gedichte reagiert und sie illus­ triert hat, dass wir uns später in Köln bei einer Ausstel­ lung kennenlernten und er sagte: „Ich hab da so Arbeiten, die kann ich nicht mehr machen; Kohlen ins Büro bringen, Briefe schreiben. Haben Sie Lust, das zu tun?“ Die hatten Sie natürlich! Ich habe sofort Ja gesagt. Aber es ist mir auch deswe­ gen unverständlich, weil ich dann in Paris plötzlich Französisch gesprochen habe. Ein Freund, der Halb­ franzose war und mich damals besuchte, fragte: „Woher kannst du denn so gut Französisch? Du hast doch nie ein Wort gesprochen!“

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Was war passiert? Das ist mir auch schleierhaft. Es war ein Ausbruch von einem Selbst, den ich bis heute nicht verstehe. Auch die Selbstständigkeit, mit der ich damals dort herum­ lief, obwohl ich überhaupt kein Typ dafür war: Ich stieg in die Metro und fand problemlos die Orte. Dabei bin ich ein vollkommen ungeografischer Mensch. Das ist wirklich ein Mysterium. Und wahrscheinlich war das alles so viel, dass ich den Kontakt dann einfach nicht mehr aufgenommen habe. Ich möchte zum Schluss gern noch einmal auf die Kri­ sensituation zurückkommen. Von Ihrem Kollegen Frank Castorf wird kolportiert, dass er auf die Frage, ob sein Theater in der Krise sei, einmal geantwortet habe: The­ ater ist Krise. In welchem Zusammenhang stehen Kunst und Krise für Sie? „Krisis“ heißt im Griechischen ja eigentlich Entschei­ dung, insofern ist es ein aktives Moment. Darin besteht, glaube ich, auch dieser Irrtum: Wir empfinden die Krise immer als etwas Passives, in das wir gestürzt werden. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um das Kipp­ moment der Existenz, also um ein von der Reflexion in eine Aktion springendes und drängendes Moment. Insofern ist der Zustand, in dem wir uns befinden, prin­ zipiell ein spannender. Mehr über die Journalistin auf S. 6

Hans Neuenfels, 1941 geboren in Krefeld, studierte Schauspiel und Regie am Max Reinhardt Seminar in Wien. Von 1986 bis 1990 war er Intendant des Theaters der Freien Volksbühne in Berlin. Zu seinen wichtigsten Arbei­ ten zählen Il trovatore (Nürnberg und Berlin), Macbeth und Aida (Frankfurt), Rigoletto und Idomeneo (Deutsche Oper Berlin), Le prophète (Wiener Staatsoper), Die Entführung aus dem Serail (Stuttgart), Lady Macbeth von Mzensk sowie Schumann, Schubert und der Schnee an der Komischen Oper Berlin. 2005, 2008 und 2015 wählte ihn die Zeitschrift Opernwelt zum Regisseur des Jahres. 2010 inszenierte er bei den Bayreuther Festspielen Lohengrin, 2018 bei den Salzburger Festspielen Pique Dame. An der Bayerischen Staatsoper führte er bisher Regie bei Medea in Corinto, Manon Lescaut und bei der Uraufführung von South Pole.


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ZONEN DES (UN-)SICHTBAREN Beobachtungen Ăźber die produktiven Reibungspunkte in der Begegnung zwischen Oper und Gegenwartskunst.

Text Birgit Wiens 24


Foto T & T Fotografie

Szenenfoto zu Carmen, Konzert Theater Bern, 2018. Bühne und Kostüme: Philipp Fürhofer

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Seit ihren Anfängen ist die Oper mit den bildenden Künsten verbunden – traditionell in Form eines illustrativen, die Handlung und Musik interpretierenden Bühnenbilds. Man kann auch sagen: Sie ist eine plurimediale Kunst, da an einer Oper, verstanden als Inszenierung und Aufführung, immer verschiedene und eben auch visuelle Künste beteiligt sind. Wie Oper als „Traum vom Gesamtkunstwerk“ auf den Bühnen gestaltet wurde (an Richard Wagners viel bemühtem Begriff kommt man nicht vorbei) und – seit den Kunstavantgarden zu Beginn des vorigen Jahrhunderts und mit verschiedenen Vorzeichen bis heute – umkämpft, reformiert, dekonstruiert und immer wieder anders gedeutet wurde, führte unlängst eine Ausstellung im Centre Pompidou-Metz vor Augen: Opéra Monde, die Oper als Welt, so der Titel der Schau. Dass Bühnenbild so viel mehr sein kann als Ausstattung, als Dekoration und Kulisse, war dort facettenreich bis Anfang des Jahres zu erleben – bis zu jenem Covid-19-bedingten Shutdown, der die Theater und Museen weltweit in Geisterhäuser verwandelte. Das beeindruckende Spektrum der im Rahmen der Ausstellung vorgestellten Beispiele wurde in einem Katalog aufwendig dokumentiert. Solche Retrospektiven, wie sie auch Denise Wendel-Poray 2018 in ihrem Buch Painting the Stage. Artists as Stage Designers unternahm, machen Transformationen in der Geschichte der Künste erkennbar und die besonderen, produktiven Reibungspunkte in der Begegnung zwischen Oper und bildenden Künsten. Zugleich wird mit ihnen deutlich, dass es prinzipiell mehr ist als nur ein modisches Unterfangen, wenn Festspiele, etwa in Salzburg oder Bayreuth, oder große Opernhäuser wie die Bayerische Staatsoper in ihren Spielzeitplanungen gezielt Begegnungen zwischen Gegenwartskunst und Musiktheater anregen. In München kam es in jüngerer Vergangenheit zu Kooperationen mit dem Konzeptkünstler Ilya Kabakov, dem Maler Georg Baselitz und dem umstrittenen Erfinder des Orgien-Mysterien-Theaters Hermann Nitsch – allesamt etablierte Protagonisten der internationalen Kunstszene, die als Bühnenbildner auf dem ihnen eher fremden Feld der Opernbühne freilich für eine Extraportion Aufmerksamkeit und, so jedenfalls die Idee, für künstlerische Reibung sorgten. In der laufenden Spielzeit, die nun vorzeitig ihr jähes Ende fand, stand im April eine mit Marina Abramović entwickelte Hommage (oder sollte man sagen: Femmage?) zu Maria Callas kurz vor der Uraufführung: Ausgehend von sieben Arien, die in der Karriere der Sopranistin eine bedeutende Rolle gespielt haben, sowie einer Neukomposition (des serbischen Komponisten Marko Nikodijević) wurde die Produktion – formal ungewöhnlich – als intermediales Zusammenspiel zwischen konzertanter Darbietung, Film und Live-Auftritten der berühmten Performancekünstlerin angelegt. Und mit der französischen Künstlerin Dominique Gonzalez-Foerster, bekannt für ihre raumgreifenden Fotound Video-Arrangements, war eine szenische Installation im dritten Rang des Nationaltheaterfoyers geplant. Die

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Inspiration für das Work-in-progress-Projekt: ein Song der Yankees aus den 1950er Jahren. So divers die Ansätze sind, vereint sie, dass die Kunst als Bühnenbild eine veränderte Aufmerksamkeit bekommt. Theaterszenographen fordern längst, dass es, im Dialog mit der Regie, als eigenständiger künstlerischer Beitrag zur Inszenierungsarbeit anzusehen sei. Aleksandar Denić beispielsweise, der an der Bayerischen Staatsoper 2018 die Bühne für Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus entwarf und auch bei der geplanten Eröffnungspremiere der kommenden Spielzeit von Walter Braunfels‘ Die Vögel erneut gemeinsam mit dem Regisseur Frank Castorf involviert ist, geht in dieser Hinsicht besonders weit: Er beschreibt seine komplexen Bühnenarchitekturen als künstlerische Setzungen und eigenwillige „Planeten“, auf denen Regisseur und Ensemble quasi versuchen müssten, „zu überleben“. Ganz ähnlich wollte Bert Neumann, der langjährige Chefbühnenbildner der Berliner Volksbühne, seinen künstlerischen Beitrag auch in Opernproduktionen (mit Regisseuren wie Peter Konwitschny und Jossi Wieler) als autonomen Beitrag gesehen wissen und sagte: „Ich verstehe mich als bildender Künstler, der am Theater arbeitet.“ Kommen Künstler quasi von außen ans Theater und bringen ihren Namen und ihre Ansätze dort mit ein, wird die Herausforderung für alle Beteiligten – auch für das Publikum – erst recht zum Programm. Offenbar geht es mit all jenen Experimenten und kreativen Provokationen um eine Arbeit am gesamten Dispositiv der Oper. Bildende Künstler, so die These, sind hier Impulsgeber für eine fortwährende (Neu-) Befragung ihrer Ästhetiken, künstlerischen Formate und institutionellen Gegebenheiten. Immer wieder steht dahinter die Frage, wie beweglich, aber auch beharrlich und vor allem lebendig sie als Kunst und Institution weiterhin ist. AN DEN GRENZEN DER GENRES

Einer dieser geladenen „Eindringlinge“ im Dialog zwischen Oper und bildender Kunst ist der Maler, Medien- und Installationskünstler Philipp Fürhofer. Zuletzt entwarf er die Bühne für die Neuinszenierung von Castor et Pollux (Regie Hans Neuenfels) für die Münchner Opernfestspiele, bevor Proben und der Premierentermin im Juni wegen des Coronavirus abgesagt werden mussten. Fürhofers Bühne für die Inszenierung von Jean-Philippe Rameaus Tragédie en musique, mit ihrer mythologisch grundierten Geschichte um die Zwillingsbrüder Kastor und Pollux, wäre seine erste Arbeit für die Bayerische Staatsoper, jedoch nicht seine erste an der Oper. Mit seinen Installationen arbeitet Fürhofer ohnehin an den Grenzen verschiedener Kunstgattungen und Genres. Beim Besuch in seinem großräumigen Berliner Atelier waren zu sehen: mannshohe Gebilde aus Acryl, angefüllt mit Dingen aus verschiedenen Materialien, Spiegelfolie, unzählige Glühbirnen, über den Bildrand wuchernde Kabel, auch Schmutz, Farbe, vermeintlich wirre Pinselstriche. Das betrachtende Auge, kalkuliert getäuscht, nimmt diese Gebilde als Körper-


Foto Henning Moser

Philipp Fürhofers Installation Vom Himmel durch die Welt, 2017

schemen, Wolken- oder Landschaftsbilder wahr, als artifizielle Natur und seltsam schöne Erscheinungen, mal auf flächigem Display, mal in plastisch-skulpturalen Formen. Die meisten, ja eigentlich alle Arbeiten leuchten – (elektrisches) Licht ist sein wichtigstes künstlerisches Mittel. Entsprechend sind in vielen seiner Werke – von außen stets sichtbar – automatische Zeitschalter eingebaut, die das Licht so steuern, dass die Arbeiten von innen heraus buchstäblich erstrahlen. Mal wirkt ein Bild flach, dann meint man Wolken, Äste, vielleicht eine Sonne zu erkennen, im nächsten Moment ändern sich die Farben, es schimmert, wird transparent, plastisch, bevor es sich wieder verdunkelt. Fürhofers Arbeiten werden im Changieren zwischen Materialität und Immaterialität wahrnehmbar. Sie sind nicht einfach da; vielmehr stellt sich mit ihnen die Frage, mithilfe welcher Techniken und Medien Bilder überhaupt in Erscheinung treten. Beschreiben könnte man sie als schwellenartige Szenarien, die ganz offenkundig mit der ästhetischen Wahrnehmung ihrer Betrachter spielen und in liminale Zonen des Sicht- bzw. Unsichtbaren führen. Auch ist da die Dimension der Zeit und offenkundige Theatralität, die ihre Wirkung ausmacht und ihnen teils schon über die Titel eingeschrieben ist, die Fürhofer für sie findet. Unter den früheren Arbeiten gibt es eine Serie Rheingold I–III, eine Götterdämmerung I–III (beide 2012) und ein Traumschloss Walhall (2013). Ein altmodisch geblümter, tiefgrüner Sessel, der aussieht wie ein Stück

Trash aus dem Theaterfundus, übermittelt im mit einer Waldlandschaft bemalten Acrylglaskasten Grüße aus Bayreuth (2010). Überall ist eine gewisse Rauheit, Ironie, aber auch Reflexion auf das Thema Vergänglichkeit und eine mit heutigen Mitteln verhandelte Vanitas-Stimmung zu spüren. Dieses schwer Greifbare in Fürhofers Arbeiten hat der Kunsthistoriker und Museumskurator Andreas Beitin 2014 in einem Katalogbeitrag als „postironischen Barock-Punk“ beschrieben. Manches mag erklärlich werden aus einem Schlüsselerlebnis des 1982 in Augsburg geborenen Künstlers, das bis heute in seiner Biographie und in Texten über ihn meistens erwähnt wird, da es für ihn persönlich und auch künstlerisch einschneidend wurde. Noch in der Studienzeit, in Berlin, wurde bei ihm eine Herzschwäche diagnostiziert, die sogar eine Herztransplantation notwendig machte. Wie ist es, das Organ eines anderen, fremden Menschen im Körper zu haben? Die medizintechnischen Apparate, Röntgenbilder, Monitore und Schläuche jedenfalls haben sich während des sechsmonatigen Klinikaufenthalts in sein Gedächtnis eingebrannt und finden sich seither in seiner Kunst wieder. Was aber vermögen Röntgen- oder Mikroskopbilder zu sagen, etwa zur Frage, wie unsere Körper mit Fremdkörpern wie Spenderorganen und Prothesen oder Eindringlingen wie Viren und Bakterien umgehen? Noch in der vom Künstler soeben vorgelegten Publikation Dis/Illusions ( Nai010 Publishers) werden solche Fragen abermals Thema

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© Philipp Fürhofer Philipp Fürhofers Bühnenmodell für Castor et Pollux, 1. (links) und 5. (rechts) Akt

– besonders im Beitrag des französischen Philosophen JeanLuc Nancy, der, vor rund 20 Jahren ebenfalls am Herzen operiert, zu Fürhofers Buch das Vorwort schrieb (anknüpfend an einen Nancy-Essay aus 2000, Der Eindringling. Das fremde Herz). Was bedeuten solche willkommenen (oder aber bekämpften) Eindringlinge für die Identität einer Person? Und welche Folgen haben die mit ihnen gemachten Erfahrungen für unsere Vorstellung von Sozialität und unser Erleben des menschlichen Miteinanders? „Mich interessieren Verwandlungen, die in ihrer theatralen Herstellung durchschaubar bleiben und sowohl im künstlerischen Prozess wie auch beim Betrachten Fragen nach Selbst- und Fremdbestimmung, Kontrollverlust oder bewusster Verunklärung aufrufen“, sagt Fürhofer. Theaterkontakte bahnten sich früh über Reinhard von der Thannen an, dem langjährigen Bühnen- und Kostümbildner von Hans Neuenfels; seit etwa zehn Jahren entwirft Fürhofer selbst Bühnen (manchmal auch die Kostüme) für Operninszenierungen von Regisseuren wie Stefan Herheim, Holger Müller. Brandes oder Kasper Holten. Hinzu kommen Ausstellungsszenographien (Du bist Faust. Goethes Drama in der Kunst, Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 2018, oder zuletzt zwei Räume für eine Modeausstellung zu Thierry Mugler, die bisher in Montreal und Rotterdam zu erleben war). Und natürlich eigene Beiträge zu Ausstellungen, wie die Rauminstallation [Dis]Connect, im Kontext der Ausstellung Diorama. Die Erfindung einer Illusion 2017 in der Frankfurter Schirn. Fürhofer betreibt eine Art Medienarchäologie und -reflexion. Und besonders fasziniert zeigt er sich von historischen Bilderapparaten und Illusionstechniken, etwa den beim schaulustigen Publikum im 19. Jahrhundert populären Panoramen, Dioramen und Lichtbildspektakeln, oder auch von älteren Attraktionen wie Spiegellabyrinthen, optischen Spielzeugen wie dem Kaleidoskop oder frühen Projektionsapparaturen wie der Laterna magica. Entsprechend interessant ist für Fürhofer daher auch die Auseinandersetzung mit der Bühnenapparatur von Opernhäusern und deren bildnerischen Potenzialen, wie beispielsweise der Drehbühne.

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DIE BÜHNENWELT IN BEWEGUNG

Als deren Erfinder, oder besser: Vordenker ihrer heutigen Form gilt der königlich-bayerische Hoftheater-Maschinist Carl Lautenschläger. Eigentlich spezialisiert auf elektrische Beleuchtungssysteme, ließ er sein Konzept einer Drehbühne mit elektrischem Antrieb patentieren; eingebaut im Münchner Residenztheater, kam sie 1896 bei einer Don-Giovanni-Aufführung erstmals zum Einsatz. Ihre technische Funktion lag darin, schnelle Schauplatzwechsel zu ermöglichen und Leinwandkulissen und Requisiten hinter geschlossenem Vorhang rasch zu bewegen. Ihre künstlerische Verwendung beginnt mit dem Errichten plastischer Kulissen und dem Drehen der Bühne bei offenem Vorhang, ein Effekt, der – in den Augen eines staunenden Publikums – zunächst eine Sensation war. Als Impulsgeber wird in der Theatergeschichtsschreibung meist Max Reinhardt genannt. Hinzu kamen später, mit ganz anderem ästhetischen Programm, etwa auch die drehbaren, mit Film-, Text- und Bildprojektionen versehenen Spielgerüste des Agitproptheaters der 1920er Jahre. Alsbald verfügten fast alle größeren Theater über Drehbühnen oder zumindest Drehscheiben. Zeitweilig standen sie nahezu still, schienen aus der Mode gekommen zu sein oder fanden allenfalls „im Lustspiel oder Ausstattungsstück Anwendung“ (ABC der Theatertechnik, 1950). Das hat sich aber wieder geändert. In jüngerer Zeit sehen wir unterschiedlichste Verwendungen der Drehbühne als künstlerischem Instrument – dramaturgisch eingesetzt ist sie dazu geeignet, den Raum und die Visualität der Bühne ästhetisch zu dynamisieren. Als besonders eindrückliches Beispiel zu nennen ist etwa Christoph Schlingensiefs Konzept des Animatographen und seine Parsifal-Inszenierung in Bayreuth (2004), der das Festspielhaus heute seine zuvor nicht vorhandene Drehbühne verdankt. Ebenso unvergessen: die szenische Uraufführung von Walter Braunfels’ Jeanne d’Arc, Schlingensiefs letzter Opernarbeit, die 2008, nach seiner Lungenkrebs-Diagnose, an der Deutschen Oper Berlin von einem Stellvertreterteam umgesetzt wurde. Abermals rotierten hohe Aufbauten mit Gerüsten, Leinwänden und Gazevorhängen auf der Dreh-


bühne, kaleidoskopisch überlagert von Filmprojektionen ritueller Handlungen, organisch-pulsierender Strukturen und einem dichten Gewebe aus mystisch und spirituell aufgeladenen Bildern unterschiedlicher Provenienz sowie einer riesigen roten, herzförmigen Lunge, die, auch für das Publikum durchaus schmerzhaft, in die Bühnenmitte herabsank. Manchmal tauchten Plakate auf, wie Zwischenrufe, und dann war es, als sei der Künstler doch anwesend und seltsam präsent: „Hier fehlt ein Ritual“, „Tote Kuh fällt vom Schnürboden“, oder „Dekorativer Leerlauf“, war da zu lesen. Letzteres galt es allerdings unbedingt zu vermeiden. SZENARIEN ZWISCHEN HIER UND HADES

Wie aber geht ein Künstler wie Philipp Fürhofer mit dem Instrument Drehbühne um? In Rameaus Oper geht es um Liebe, Eifersucht, Tod, jedoch nicht vornehmlich um die ewigen Dramen zwischen Mann und Frau, sondern um das Motiv der Geschwisterliebe. „Die Musik ist heftig, weil das Geschehen heftig ist“, sagt Hans Neuenfels über diese Oper, „die Arien haben enorme Kraft, eine enorme Leidenschaft, die Chöre sind sehr rhythmisch, und die freien Musiken, die das Ballett ausmachen, haben effektvolle Melodien und Instrumentalisierungen.“ Auf der Handlungsebene, so Neuenfels, beschreibt das Stück eine Reise durch Himmel, Welt und Unterwelt „mit vielen Stationen“. Vor allem szenographisch galt es eine Lösung zu finden, und die mit Fürhofer getroffene Entscheidung für die Drehbühne sei zunächst auch eine pragmatische gewesen: „Die Drehbühne gibt schnelle Anschlüsse für die Szenen, und das ist in diesem Stück besonders wichtig, weil die Musik treibt. Es soll schnell und rasant laufen.“ Schon mehrfach, in insgesamt vier großen Operninszenierungen (Eugen Onegin in Amsterdam 2011, Alcina in Luzern 2014, Macbeth in Karlsruhe und Der fliegende Holländer in Helsinki, beide 2016) hat Fürhofer mit Drehbühnen gearbeitet, und anhand seiner Pläne und Modellzeichnungen lässt sich ersehen, wie sein Bühnenbild für Castor et Pollux gedacht war. Die Drehscheibe sollte als konzentrische Struktur in drei gleich große Segmente unterteilt werden, verweisend auf Himmel, Unterwelt und Lebenswelt der Figuren. Vom Zuschauerraum aus anmutend als spitz zulaufende Kuchenstücke sollten die Felder durch transparente Spiegelglaswände voneinander getrennt werden. Schon im Entwurf sind diese Trennungen und ihre räumliche Semantik mit Bedacht allerdings vielfach auch wieder aufgesplittert, vermittels von Schwingtüren, Tüllvorhängen, Paravents, verschiebbaren Wänden. Dem direkten Blick verborgen, waren rückwärtig weitere Spiegelwände vorgesehen. Zudem hätte es über dem Portal Projektionswände gegeben, auf das Bildmaterial projiziert worden wäre, das sich wiederum in der Bühnenkonstruktion gespiegelt hätte. Offene Drehverwandlungen, Drehungen bei geschlossenem Vorhang und unterschiedliche Beleuchtungssituationen waren geplant. Komplexe optische Effekte, Mehrfachspiegelungen von Figuren und Unend-

lichkeitseffekte, in denen sich Realität immer weiter auflöst. Ebenso ephemere Szenarien, in denen die Figuren an der Schwelle zwischen verschiedenen Sphären miteinander kommunizieren: So hätte die Darstellerin der Télaïre ihre Trauer um Castor („Tristes apprêts“) besingen können, während dieser hinter spiegelndem Glas, abwesend-anwesend, wie aus einer anderen Welt zu ihr herübersieht. Aber auch einige ganz konkrete Dinge und Requisiten waren angedacht, beispielsweise ein vom Regisseur ausdrücklich gewünschtes rotes Tandem-Fahrrad, auf dem gegen Ende die wieder vereinten Zwillinge ihrer Apotheose entgegengeradelt wären. Überhaupt sah das Bühnenbildkonzept, mit der eingezogenen, beleuchteten Treppenstufe und einer Blende zur Projektion von Texten (aus der Feder Neuenfels’), auch eine Kommentarebene vor. Seine Lesart des Stücks mag sich inzwischen möglicherweise geändert haben. Tröstlich, wie das Stück davon erzählt, dass an der Grenze zwischen Leben und Tod zwei füreinander einstehen. Die Entwürfe, Pläne und Konzepte der Probenarbeit und auch das Material, das nach den Aufführungen bleibt, sind nie das Theaterereignis selbst, sondern allenfalls Fragmente, Spuren. Und wenn liebevoll und kenntnisreich gemachte Bücher und Bildbände über Theater erscheinen, wie die eingangs erwähnten Bände zum Thema Oper und Gegenwartskunst oder auch Künstlermonographien wie Fürhofers Buch, so sind dies Medien – oder, wenn man so will: andere Bühnen –, die die Auseinandersetzung mit Oper immerhin wachhalten, bis sich der Vorhang in den zurzeit überwiegend leeren Theaterhäusern hoffentlich bald wieder öffnet. Im jetzigen Vakuum, angeschoben durch den Wunsch, weiterzumachen und Kunst weiterhin zu sehen, zu hören, entstehen derzeit vermehrt digitale Bühnen. Diese zu gestalten – nicht als Ersatz, aber als mögliche Erweiterung –, mag vielleicht eine der neuen Aufgaben im Dialog zwischen Gegenwartskunst und Oper werden. Für viele der hauptberuflichen, meist frei arbeitenden Bühnen- und Kostümbildner, die außerhalb des Theaters kein zweites Standbein haben und die, anders als bildende Künstler, keine ihrer Arbeiten über Galerien verkaufen können, geht es allerdings jetzt – wie ein Brandbrief des Bunds der Szenographen verdeutlicht – bis auf Weiteres um die Existenz. „Orpheus wird von den Mänaden zerrissen, und die einzelnen Glieder schwimmen im Fluss, und jedes Teil singt weiter. Der Gesang ist nicht zu Ende, aber er ist ein anderer geworden“, hat Heiner Müller einmal gesagt. Der Gesang mag nicht zu Ende sein, aber man wird sehen müssen, wie man in der Zukunft singt.

Birgit Wiens ist Dozentin am Institut für Theaterwissenschaft der LMU München, wo sie aktuell das Forschungsprojekt Szenographie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart durchführt. Das zuletzt von ihr herausgegebene Buch Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design erschien 2019 bei BloomsburyMethuen.

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EIN BISSCHEN MÜDE, EIN BISSCHEN TRAURIG, EIN BISSCHEN KRANK Was tut eine Regisseurin, die nicht proben kann? Sie hinterfragt die Notwendigkeit ihrer Arbeit. Eine digitale Annäherung an Mateja Koležnik.

Text Ingmar Volkmann Fotos Markus Burke 30


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Eigentlich war alles perfekt geplant. Das Interview mit Mateja Koležnik hätte in Baden-Baden stattfinden sollen. Dort hatte die Regisseurin im Frühjahr einen Monat verbracht, um Ludwig van Beethovens Fidelio in diesem Jubiläumsjahr, 250 Jahre nach der Geburt des Komponisten, für die Osterfestspiele zu proben. Die Idee wäre gewesen, in der Schwarzwaldidylle in aller Ruhe über ihre Falstaff-Interpretation für die Münchner Opernfestspiele im Sommer zu sprechen. Über ihren Ansatz, Falstaff, diesen heruntergekommenen Edelmann, als einen altersweisen Gaukler zu inszenieren, der tief in der Midlife-Crisis steckt. Das Bühnensetting wäre ein Casino gewesen. Die Handlung hätte ausschließlich in den Vorräumen spielen sollen, im Gang vor dem Roulettesaal, dem Ballsaal, im Hotelflur. Die Gesellschaft, mit der wir es in diesem Falstaff zu tun gehabt hätten, wäre eine von Emporkömmlingen gewesen. Und die Nebenfiguren, die die Intrige gegen Falstaff spinnen, hätten allesamt keine sympathischen Charaktere abgegeben. Und wo hätte man über Emporkömmlinge besser plaudern können als in Baden-Baden, dem Luftkurort, in dem es sicher auch im Frühling nach einer herrlichen Mischung aus 4711 und neuem Geld duftet? In diesem speziellen Städtchen, in dem sich das Casino im Kurhaus befindet? „What happens in Baden-Baden, stays in Baden-Baden“, so hätte man das berüchtigte Las-Vegas-Motto übersetzen können, und um die Falstaff-Schlussfuge ergänzen: „Tutto nel mondo è burla“ („alles ist Spaß auf Erden“). Dann hätte man über Neureiche tratschen können, und nach einem ergiebigen Interview wäre man vielleicht noch gemeinsam in die Ausstellung Körper. Blicke. Macht. gegangen, eine Schau über die Kulturgeschichte des Bades. In Zeiten, in denen man auf Hygiene besonders intensiv achten muss, hätte man diese sicherlich ganz neu in den Blick genommen. Die bisherige Häufung von Konjunktiven deutet es an: Kurz nachdem der Termin für das Treffen mit Mateja Koležnik in trockenen Tüchern war, wurde er auch schon wieder abgesagt, schneller als ein gewaschenes Fingerschnippen. Die Regisseurin steckte coronabedingt in Slowenien in Quarantäne fest. Wie schreibt man in diesen Tagen also ein Porträt, ohne die Protagonistin des Textes persönlich zu treffen? Man macht es wie der Rest der Welt und kommuniziert von Homeoffice zu Homeoffice, auch wenn Mateja Koležnik kein Fan der digitalen Kommunikation ist. „Die Vorteile der vierten industriellen Revolution habe ich komplett ausgelassen. Instagram, Facebook oder andere Social-Media-Tools nutze ich nicht”, schreibt die Künstlerin per E-Mail. Vielleicht ist Mateja Koležnik gerade deshalb eine angenehme Interviewpartnerin, die alles andere als flüchtig antwortet. Sie überlegt, mit einem wunderbaren Sinn für Selbstironie und einem Hang zur Lakonie. Wie es ihr in diesen seltsamen Zeiten geht? „Auch nicht sehr viel anders als nach dem Ende eines jeden anderen Projekts. Ein bisschen müde, ein bisschen traurig und ein bisschen krank. Mit dem Unterschied, dass ich noch trauriger als normalerweise bin und es

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gerade gefährlich ist, leicht krank zu sein“, erklärt Koležnik, die sich mit ihren 57 Jahren in einem lässig schwarzmalerischen Ton bereits zur Corona-Risikogruppe zählt. Die Corona-Krise überfällt alle Länder und Gesellschaften gleichermaßen – mit unterschiedlichen Auswirkungen. Freie Künstlerinnen und Künstler treffen die Veranstaltungsabsagen mit besonderer Wucht. „Die Krise zwingt mich dazu, die Notwendigkeit meiner Arbeit zu hinterfragen. Dabei kommt nichts Gutes heraus. Meine Beschäftigungsverhältnisse sind prekär, und ich bin sozial schlecht abgesichert. In meinem Alter kann einen das verzweifeln lassen“, schreibt Koležnik. Und so tut die Regisseurin, die nicht proben kann, das, was zurzeit viele tun: lesen, sich im Binge-Watching üben, die Wohnung sauber machen. Koležnik hat Philosophie, Komparatistik und Literaturtheorie an der Universität in Ljubljana studiert, dazu Theaterregie an der dortigen Akademie für Theater, Radio, Film und Fernsehen. Aufgewachsen im Sozialismus wurde sie darin bestärkt, dass Geschlechter nicht entscheidend sind. „Ich habe nie gedacht, dass ich einen Job bekomme oder nicht bekomme, weil ich eine Frau bin. Wenn ich einen Job gekriegt habe, dachte ich immer, dass ich gut bin.“ Koležniks Regiearbeiten wurden vielfach ausgezeichnet und auf europäischen wie internationalen Festivals gezeigt. Welchen Stellenwert haben Preise in Koležniks Leben? „Sie sind der Beweis dafür, dass deine Arbeit immer noch zählt. In der Realität aber werden sie am fünften Tag der Proben für das nächste Projekt irrelevant.“ Mateja Koležnik lässt sich gern von der Musik der 1960er und 1970er Jahre inspirieren. Von einem Pop, den sie einst selbst als Sängerin interpretiert hat. Wie Koležnik auf der Bühne geklungen hat? „Wie Leonard Cohen in sehr, sehr Schlecht“, sagte sie einmal in einem anderen Interview. Diese Art von Musik sei jedenfalls „nichts, womit man Giuseppe Verdi knacken würde“. Umso wichtiger ist für die Regisseurin das Medium Film. 2018 wurde ihre Version von Franz Grillparzers Trauerspiel Medea in Stuttgart zu einem kleinen Glanzstück. Das Ensemble ließ sie mit Richtmikrofonen arbeiten; heraus kam dabei ein fast filmisches Sounddesign, das dem Publikum höchste Konzentration abverlangte. Ähnlich war es im Vorjahr bei ihrer Inszenierung von Molières Tartuffe am Münchner Residenztheater, bei der sie die Schauspieler auch dann sprechen ließ, wenn sie nicht zu sehen waren, was die Inszenierung stellenweise wie ein Hörspiel wirken ließ. Für ihren Falstaff hat sich die begeisterte Cineastin Koležnik vom italienischen Kino inspirieren lassen, darunter auch von dem Drehbuchautor, Schriftsteller und Filmregisseur Paolo Sorrentino. Der gewann mit La Grande Bellezza 2014 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film und gilt als Meister darin, Sinn und Sinnlosigkeit des Daseins gleichermaßen opulent und tiefgründig umzusetzen. Was hat Sorrentino, was Verdis Oper gut gebrauchen kann? „In den Werken von Sorrentino habe ich etwas gefunden, das


mir geholfen hat, Falstaffs Flucht vor der Endlichkeit des Lebens auszudrücken“, erklärt Koležnik: „die Hysterie der unendlichen Jugend.“ Reduktion ist der Schlüssel zum Verständnis von Mateja Koležniks Arbeit. „Ich versuche, alle Handlungen, alles Schauspielerische und alle Zeichen auf der Bühne auf ein Minimum zu reduzieren.“ Verdichtung und Zuspitzung fungieren als wesentliches stilistisches Merkmal, „weil ich der festen Überzeugung bin, dass alle großen Dinge einfach sein müssen. Leider sind aber nicht alle einfachen Dinge auch automatisch großartig. Manche sind schlicht langweilig oder banal. Wenn ich ehrlich bin, gelingt Ersteres deutlich seltener als Letzteres.“ Zum Schluss des E-Mail-Pingpongs geht es dann noch um Ängste und Ziele. Wovor fürchtet sich eine Regisseurin, die gerade eine beachtenswerte Karrierestrecke hingelegt hat, inklusive zweier großer Operninszenierungen? „Theater ist für mich vom Kontext und der Zeit abhängig, ein wenig wie die Mode“, sagt sie. „Im Jahr 2020 ist die Kollektion von 2010 nicht mehr zeitgemäß. Man muss die Geschichte so erzählen, dass sie das Publikum im Hier und Jetzt berührt. Eine Performance, die in zehn Jahren zu verstehen sein wird, kann man auf der Bühne nicht bringen. Je älter ich werde, desto schwerer fällt es mir, den Zeitgeist zu verstehen. Um eine lange Ant-

wort abzukürzen: Ich habe Angst davor, outdated zu sein.“ Glücklicherweise hält die Angst Mateja Koležnik nicht zurück. Auf die Frage, wovon die Regisseurin träumt, weit über Corona hinaus: „So lange arbeiten zu dürfen, bis ich tot umfalle.“ Ingmar Volkmann ist Titelautor der Stuttgarter Zeitung und nach Corona reif für Falstaff-mäßige Ferien in Slowenien.

Die Regisseurin Mateja Koležnik, 1962 geboren in Metlika / Slowenien, befasst sich in ihrer Arbeit vorwiegend mit britischen und amerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts sowie deutschen Gegenwartsautoren. Sie inszenierte an allen großen Theatern des ehemaligen Jugoslawien und gewann zahlreiche Preise, darunter mehrfach den Borštnik Award, den wichtigsten slowenischen Theaterpreis. Seit 2012 arbeitet sie auch im deutschsprachigen Raum, u. a. am Schauspiel Leipzig, am Berliner Ensemble und am Münchner Residenztheater.

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COOLE WAMPE

Text Jutta Person Illustration Helen Eunhwa Oh 34


Vom herrschaftlichen Falstaffbauch bis zum gemütlichen „Dad bod“ – eine kleine Typologie des Genusszentrums. Gäbe es ein Beliebtheitsbarometer der Körperteile, hätte der Bauch eine seltsame Wertschätzungskurve hinter sich: über Hunderte, Tausende, wenn nicht gar Hunderttausende von Jahren hinweg verzeichnet er ein stabiles Dauerhoch – gefolgt vom höchst hektischen Zickzack der Gegenwart zwischen Adipositas-Bashing und Körpermitte-Achtsamkeit. Dass Bäuche einst bewundert wurden, ist eine Binsenweisheit der Menschheitsgeschichte: Wer auf dem Zeitstrahl so weit zurückgeht wie möglich, landet unweigerlich bei der berühmtesten Figur der Altsteinzeit. Die Venus von Willendorf hat nicht nur ausladende Brüste und einen bemerkenswerten Po, sondern auch: Bauch, viel Bauch. Bauchbewunderung und Bauchverachtung sind kulturellen Konjunkturen ausgesetzt und nehmen überdies, je nach Geschlecht, Herkunft und materiellen Lebensverhältnissen, völlig unterschiedliche Formen an. Der männliche Bauch steht gewissermaßen stellvertretend für den klassisch korpulenten Mann in all seinem Glanz und Elend. Der weiblich gewölbte Bauch wiederum war lange Zeit Teil eines Schönheitskatalogs, der Fruchtbarkeit idealisierte; erotisch war das Rundliche, ein bisschen Schwangere. Der Bauch musste als Zeichen hedonistischer Fülle oder sündiger Völlerei herhalten, als Wohlstands- oder Verwahrlosungsanzeiger, als Angriffsziel des Fitnessregimes oder als Gemütlichkeitsmerkmal – und wird genau dann faszinierend, wenn die Gegensätze in eins fallen, wenn sich also das Anziehende und Abstoßende nicht mehr klar unterscheiden lassen. Ein gewaltig hervorspringender Bauch verleibt sich die Welt ein und nimmt das vormalige Außen in Besitz; er beansprucht Platz und suggeriert Macht. Umrissvergrößerung funktioniert schließlich nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite: Wie ein riesiger Wal, der die Meere auseinanderdrängt, kann auch ein menschlicher Bauch die Menge teilen und beiseiteschieben. Solch eine Überschreitung von Körpergrenzen kann sowohl ins Anarchische als auch ins Lächerliche kippen. „Er verschlingt die Welt und

lässt sich von ihr verschlingen“, schrieb der russische Literaturwissenschaftler Michail Bachtin über den grotesken Körper, der nie abgeschlossen und immer im Werden begriffen ist. Am Beispiel von François Rabelais’ Gargantua und Pantagruel, den fressenden Riesen der Renaissance, zeigte Bachtin: Bauch und Phallus spielen eine besondere Rolle, weil mit ihnen der Körper über die eigenen Grenzen hinauswächst. Der Bauch ragt in die Welt, ein je nachdem Ehrfurcht gebietender oder anstößiger Überhang. Mächtiges In-sich-Ruhen, phlegmatisches Aufblähen und regelverachtende Selbsterfüllung liegen dabei oft nur wenige Gramm auseinander. In diesem Dreieck, oder genauer: In diesem Halbrund aus Macht, Behäbigkeit und Anarchie springen bestimmte Bauchtypen ins Auge. Besonders der Herrscherbauch dominiert die Bildprogramme von der Renaissance bis in die Moderne: Ob Heinrich VIII., König von England bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts, Ludwig XIV., Sonnenkönig im 17. Jahrhundert, oder Karl VI., römisch-deutscher Kaiser in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – das Embonpoint, französisch verschleiernd für Übergewicht, wurde ausdrücklich gepflegt, und für die meisten Regenten galt auf repräsentativen Gemälden: Brust raus, Bauch raus. Von Heinrich VIII. etwa wusste man, dass sein Bett mit Balken abgestützt werden musste, damit es nicht unter dem königlichen Gewicht zusammenbrach. In der Frühen Neuzeit war der Bauch allerdings, ganz im Sinne des christlichen Todsündenregisters, auch ein Vanitas-Zeichen: zu diesseitig, zu sinnenfroh, zu genussorientiert. Martin Luther nannte den „unflätigen Bauch“ einen „Madensack“ und war nicht damit einverstanden, dass wir ihm ein „köstlich Kleid und güldene Ketten“ anlegen und ihn noch dazu auf weiche Polster betten: „Da lieget der Stank und Unrat, mit Fleisch und Haut überzogen, und kommt zu den höchsten Ehren auf Erden.“ Dass der füllige Luther sich sogar selbst als „feisten Doktor“ titulierte, bezeichnet ein Paradox,

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Auch dort, wo man den Bauch hedonistisch feiert, lauert die Verkehrung ins Gegenteil: Hinter der Heiterkeit wartet die regellose Groteske; und in der anarchischen Subversion steckt wiederum schon der Keim zur staatstragenden Blähung.

das die ganze jüngere Bauchgeschichte durchzieht: Der Bauch mag von Geistlichen theoretisch abgelehnt werden, in der Praxis sind eben jene oft rund und wohlgenährt. Und auch dort, wo man den Bauch hedonistisch feiert, ob als Zeichen der Gemütlichkeit oder gieriger Weltverschlingung, lauert die Verkehrung ins Gegenteil: Hinter der Heiterkeit wartet die regellose Groteske; und in der anarchischen Subversion steckt wiederum schon der Keim zur staatstragenden Blähung. Der korpulente Kleriker mit seinem Mönchs- oder Pfaffenbauch markiert eine wichtige Station in der Geschichte des ambivalenten Übergewichts, denn der Geistliche, der Wein trinkt und Wasser predigt, verkörperte einen lebenden Widerspruch. Der dicke Mönch, fester Bestandteil in der Geschichte der Komödie wie auch in der Karikatur, hatte unzählige reale Vorbilder. Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin etwa, der seine theologische Laufbahn im Orden der Dominikaner begann, war ein mehr als massiger Mann: Der Legende nach waren seine Tische, Pulte und Katheder zurechtgesägte Maßanfertigungen mit einer halbkreisförmigen Ausbuchtung, in der sein überbordender Bauch untergebracht werden konnte. Dass die weltverschlingende Wampe, vor allem in ihrer grotesk-anstößigen Form, auch ziemlich anarchische Züge trägt, zeigt sich nicht zuletzt an der Völlereiikone des Sir John Falstaff. Der verkommene Ritter wird sowohl bei William Shakespeare als auch bei Giuseppe Verdi zum großen, weltverachtenden Fresser und Säufer, aus dem sogar der umgangssprachliche Falstaffbauch hervorgeht. Bauchtypologisch auf der genau entgegengesetzten Seite der Skala – ordnungsbetont, gemäßigt, gesetzestreu – liegt der deutlich bekanntere Bürger- oder Wohlstandsbauch, der die Grenzen des guten Geschmacks selten verletzt. Gefährlich wirkt der gewölbte Bürgerbauch auch nicht, vielmehr spielt er ins Gemütliche und Verträgliche, ohne dass Geschäftssinn und Gewinnstreben beeinträchtigt würden. Die Physiognomien der Bürger, die Honoré Daumier Mitte

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des 19. Jahrhunderts gezeichnet hatte, führen weitere Varianten vor: den Pariser Kleinbürger, dessen Bauch weder an den Falstaff- und schon gar nicht an den Herrscherbauch heranreicht. Eher wächst mit ihm ein Habitus heran, der zwischen bieder und derb oszilliert. Der Wohlstandsbauch, der ziemlich genau hundert Jahre später in Deutschland ikonisch wird, geht wiederum auf die Fresswelle in der frühen Bundesrepublik zurück. Ihre wohl bekanntesten Exponenten, Ludwig Erhard (Wohlstand für Alle) und Theodor Heuss, stehen für den Aufschwung im Wirtschaftswunderland. Heuss reimte, wie sein Biograph Joachim Radkau erzählt, sogar auf sich selbst: „Schon rundet sich ein Bürgerbauch / was meistens leichten Beifall findet, / weil manche Sorg mit ihm entschwindet.“ Und Erhard verkörperte wie kein zweiter die kollektive Sehnsucht nach Fett und einem neuen Lebensstil – in Form von Eisbein, Kondensmilch, Südfrüchten oder Zigarren. Den schärfsten Einbruch in der Bauchwertschätzung markiert demgegenüber die Fitnessbewegung im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Zunächst mit Trimmtrab, dann im Fitnessstudio ging es dem Bauch an den Kragen; in den Nullerjahren wurde zudem durch umfassende Selbstoptimierung ideologisch aufgerüstet. Waschbrettbauch, oder genauer: Sixpack und Eightpack bestimmten die neue Bauchleitkultur. Doch seit einigen Jahren ist der „Dad bod“ auf dem Vormarsch, der weiche Vaterkörper mit leichtem Bauchansatz. Einen ähnlichen Attraktivitätszugewinn wünscht man natürlich auch dem „Mum bod“ oder dem weiblich-runden Körper im Allgemeinen. Im Sinne der BodyPositivity-Bewegung, die für ein freundlicheres Bild vom eigenen Körper wirbt, könnte man den gestählten Hartschalenkörper als Ideal dann endlich ausrangieren. Eine heimliche Parole der Bauchgeschichte hätte sich damit bewahrheitet: Rundlich rules. Mehr über die Autorin und die Illustratorin auf S. 6


ORIGINALE DIGITAL ERLEBEN

WWW.PINAKOTHEK.DE #PINADIGITAL

Ferdinand Georg Waldmüller, Die Erwartete, 1850/60, Neue Pinakothek, München


ALLES WIE IMMER

Gläubige sprechen von der Apoka­ lypse und Politiker empfehlen Talismane gegen die Pandemie: Im Süden Mexikos trifft das Coronavirus auf eine Region, die völlig unvorbereitet ist. Beobach­ tungen vom Ende der Welt.

Text Tino Hanekamp 38


Foto Ixtel Castro Arreola

Die Straße zur Siedling am Rande der Hochebene. In der Siedlung, die nicht offiziell registriert ist, leben 36 Menschen in Bretterhütten unter einfachsten Bedingunungen. Es gibt Strom, aber nur alle paar Tage fließendes Wasser. Während der Trockenzeit reicht es oft nicht einmal, um einen kleineren Gemüsegarten zu bestellen. Der nächste Arzt ist eineinhalb Fahrtstunden entfernt, aber niemand der Bewohner hat ein Auto. Wer in die nächstgrößere Ortschaft muss, fährt mit dem Moped oder läuft.

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AM ENTENTEICH

Wenn wir abends am Ententeich sitzen und der Himmel klar ist, blicken wir hinunter über die Tiefebene, hundert Kilometer weit bis zu einer Gebirgskette, hinter der sich der Pazifik befindet. Die nächste Stadt ist eine Autostunde entfernt, San Cristóbal de las Casas. Dort begann vor 26 Jahren der Aufstand der Zapatisten, einer legendären indigenen Befreiungsarmee, die weltweit für Aufsehen sorgte. Bis dahin war Chiapas, der südlichste und ärmste Bundesstaat Mexikos, nur jenen Menschen bekannt, die sich für die Pyramiden der Mayas interessierten. Unsere wenigen, weit versprengten Nachbarn sind fast alle Indigene und leben in Holzhütten. Auch wir leben in Holzhütten, aber wir wollen das, seit zwei Jahren schon. Es gibt hier keinen Handyempfang. Die Straße ist festgefahrener Lehm, der in der Regenzeit zum Schlammfluss wird. Internet haben wir, weil wir für viel Geld auf einem Berg in Sichtweite eine Antenne installieren ließen. Wir leben meistens sehr glücklich auf zwei Hektar wildem, wohltemperierten Wuchergarten – Kaffeesträucher, Bananenstauden, Zedern und Kakteen –, und oft fühlt es sich an, als lebten wir am Ende der Welt. Nur Wälder und Maisfelder, und ab und zu reitet mal jemand auf einem Pferd vorbei. Es ist ein gutes Gefühl. Dann brach in Wuhan das Virus aus. Wir waren von Anfang an dabei, als vollinformierte Fernzuschauer. Aber immer öfter erscheint mir die Gebirgskette am Ende des Horizonts wie eine auf uns zurollende Welle. Jemand läutet die Kuhglocke am Tor. Zwei Männer auf einem Moped. Ein alter Mann sei ohnmächtig geworden und schwer gestürzt, erzählen sie. Meine Frau ist gelernte Krankenschwester und so etwas wie die Landärztin der Gegend, in der es sonst keine Ärzte gibt. Wir steigen in unseren alten Jeep und fahren den Männern hinterher. Unser dreijähriger Sohn sitzt auf dem Schoß meiner Frau und freut sich. Ich bin nervös, reiche ihr das Desinfektionsspray, erinnere sie an die Welt, in der wir jetzt leben, die Vorsichtsmaßnahmen, die es nicht zu vergessen gilt – eigentlich sollten wir zu Hause bleiben wie alle meine Freunde in Deutschland. Meine Frau nickt und lächelt. Vielleicht, weil es offiziell, Anfang März, in ganz Mexiko nur ein paar hundert Infizierte gibt. Aber wenn man irgendetwas in Mexiko nicht glauben sollte, dann „offizielle“ Zahlen. Und auch sonst nichts. Am Ende der Straße ein paar Hütten am Rande der Hochebene. Armut, ärmer geht es kaum. Betten aus Holzbrettern und Strohsäcken, gekocht wird über einem offenen Feuer in rußgeschwärzten Hütten. Schmutzige Kinder, schwangere Mädchen, Männer, denen Zähne fehlen. Wir müssen viele Hände schütteln. Wie denn auch nicht? Diese Menschen wissen nichts vom Virus. Die meisten können nicht mal lesen. Es gibt hier einen Fernseher, und über dem hängt ein Tuch. Meine Frau hat mir geraten, den Leuten nichts vom Virus zu erzählen. Sie würden es nicht verstehen, und sollte das Virus irgendwann kommen, könnten sie denken, wir hätten es gebracht. Meine Frau kennt diese Welt, ist in Siedlungen wie dieser auf-

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gewachsen. Ihre Mutter war ein paar Jahre bei den Zapatisten, obwohl sie aus dem Norden kommt – lange Geschichte. Während meine Frau den alten Mann zusammenflickt und unser Sohn mit mageren Welpen spielt, gehe ich zum Auto, desinfiziere meine Hände und komme mir blöd vor. Wie soll das Virus denn hier schon hingekommen sein? Niemand kommt hierher. Die Leute hier haben nicht mal ein Auto. Und wenn das mit dem Virus in unserem Versteck am Ende der Welt losgeht, werden wir noch viele Einsätze wie diesen haben. Was sollen wir denn machen? Die Leute wegschicken? Trotzdem bin ich froh, als wir wieder am Ententeich sitzen. Drei Tage später stirbt in der Siedlung hinter unserem Wald ein einjähriges Mädchen, wahrscheinlich Tuberkulose. Seine Eltern wollten uns nicht mitten in der Nacht belästigen, sind zu Fuß losgegangen und kamen erst fünf Stunden später im Krankenhaus an, zu spät. Wir sagen dem Vater, dem Vorsteher unserer kleinen Gemeinde, dass alle bitte immer jederzeit zu uns kommen können. Er soll es allen sagen. UNHEIMLICHES HAMSTERN

Ende März. Wir fahren in die Stadt, Vorräte kaufen, noch mehr als sonst. Mit dem Einkaufswagen hätte man uns in Deutschland mindestens schief angeguckt, hier: nichts. Es gibt keine Desinfektionsgels, ansonsten alles da im Walmart von San Cristóbal. Wir sehen zwei Plakatwände, mit denen die Regierung auf Covid-19 hinweist. Im historischen Zentrum der Stadt haben die ersten Restaurants und Läden geschlossen, es sind kaum noch Touristen unterwegs, aber niemand trägt einen Mundschutz (wir auch nicht), und auf einer Pressekonferenz in Mexiko-Stadt hält der Präsident auf die Frage, was er gegen die Pandemie zu tun gedenke, seine Talismane hoch und sagt, die hätten ihn bisher noch immer beschützt. Er sieht sie sehr lange an. Wir fahren zur Mutter meiner Frau und einigen älteren Bekannten, alle Expats, um zu sehen, ob sie vorbereitet sind. Sind sie. Vorratslager voll, die Haushaltshilfen kommen nicht mehr, werden aber weiterhin bezahlt – umgerechnet fünfzehn Euro am Tag ist hier ein guter Lohn. Man schließt sich ein; niemand will in ein mexikanisches Krankenhaus müssen, wo es auch so schon an allem fehlt. Ich auch nicht. Ich bin zwar erst vierzig, aber Raucher – wer weiß. Auf der Fahrt zurück reden wir über unsere Angestellten. Fünf Tage die Woche kommt Rufi, die Nanny unseres Sohnes, zwei Tage die Woche kommt Juan, unser Mann für alles. Beide leben in Betania, einer Indigenen-Stadt am panamerikanischen Highway auf halber Strecke nach San Cristóbal. Wenn das Virus dort ankommt, wird es wie ein Buschfeuer durch die Region rasen, da bin ich mir sicher – Großfamilien leben in einer einzigen Hütte, das Leben findet auf der Straße statt, alles geht von Hand zu Hand, finanzielle Rücklagen gibt es nicht, Staatshilfe schon gar nicht. Aber Rufi nicht mehr kommen lassen? Wir könnten sie weiterhin bezahlen und müssten es auch, sie ist die einzige in ihrer Familie, die noch etwas verdient, alle


Foto Tino Hanekamp

Hamsterkauf Ende März. Allerdings ist bei Tino Hanekamp und seiner Familie jeder Einkauf ein Hamsterkauf. Wenn man zum nächsten Supermarkt eine Stunde fahren muss, kauft man automatisch auf Vorrat.

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anderen haben Souvenirs für Touristen hergestellt. Ich habe Glück: Ich schreibe neuerdings Drehbücher, Geld kommt also trotz des Virus – wenn sich irgendwer über die Zukunft keine Sorgen machen muss, dann die Filmindustrie. Aber unser Sohn würde seine Rufi vermissen und sie ihn – und für wie lange? Bis es einen Impfstoff gibt? Den Kontakt mit Men­ schen können wir ohnehin nicht vermeiden. Alle drei, vier Tage läutet jemand die Kuhglocke am Tor; ein Kind hat Husten, ein Mann eine Fleischwunde, eine Frau fühlt sich schwach. Im schlimmsten Fall ist es eine komplizierte Geburt und wir fah­ ren die werdende Mutter nach San Cristóbal ins Krankenhaus. Wie also sollen wir uns verhalten? Wie uns und vor allem andere schützen? Meine Frau lächelt. Ist das dieser typisch mexikanische Fatalismus, diese Todesverachtung, oder weiß sie schon wieder mehr als ich? Sie sagt, so schlimm wird das alles nicht. Aber woher zum Teufel will sie das wissen? Das Problem ist, dass sie bisher immer mit allem recht hatte. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein Beatmungsgerät brau­ chen werde, ist sehr viel geringer als die Risiken, mit denen wir sonst so leben. Wir beschließen: Rufi bleibt, alles bleibt. Aber wir werden vorsichtig sein, ja? Meine Frau nickt. Unser Sohn fragt, ob wir wegen des Coronavirus nicht mehr auf den Spielplatz können. Wir bestätigen das. „Coronavirus ist nicht mein Freund“, sagt unser Sohn. GERÜCHTE

Lockdown in Deutschland, Notstand in New York, und Rufi kommt und erzählt, dass in Betania die Kirchen und der Markt geschlossen wurden und sich die Preise für Lebensmittel ver­ dreifacht haben. Angst hat sie nicht. Das Virus ist der Beginn der Apokalypse, da ist sie sicher, aber sie und die anderen Gläubigen ihrer Gemeinde Palabra Miel, einer der zahlreichen protestantischen Splittersekten in der Gegend, sind gerettet, denn sie glauben. Und unser Sohn? Der auch, sagt Rufi, sie bete für ihn, für uns übrigens auch. Rufi ist klug, kann lesen und schreiben, ist aber wie alle hier gläubig, und was der Pries­ ter sagt, ist Gesetz. Der Priester sagt: „Das Ende ist nah, Erlö­ sung auch – für einige.“ #faithoverfear Ein Bekannter aus Hamburg wollte mich Ende März besu­ chen kommen, hing aber in Cancún fest und wartete darauf, dass ihn die Bundesregierung nach Deutschland zurück­ holte. Da will ich nicht hin, bin aber froh, dass meine Eltern dort leben. Wir machen weiter wie bisher. Plötzlich ergibt das alles noch mehr Sinn: dass wir so weit weg von allem wohnen, so viel Platz haben, mein Gewächshaus und der Garten – Quarantäne auf zwei Hektar Paradiesland geht klar, und die ist ohnehin schon seit zwei Jahren mehr oder weni­ ger selbst gewählt. Der Sohn spielt mit den Tieren und badet im Ententeich, meine Frau pflanzt noch mehr Dschungel­ pflanzen, und ich schreibe, gärtnere und öle die Schreck­ schusspistole, das Luftgewehr und die alte Vogelschrotflinte, die ich einem alten, halbblinden Mann im vergangenen Herbst abgekauft habe – man kann ja nie wissen.

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Wir fahren wieder in die Siedlung und sehen nach dem alten Mann, den meine Frau zusammengeflickt hat. Die Wunde ver­ heilt gut. Wir kaufen ein Ferkel, damit es nicht am Span­ ferkelspieß enden muss. Wir essen keine Tiere – noch nicht. Rufi sagt, die Geschäfte und Kirchen in Betania haben wieder geöffnet. Die indigenen Siedlungen im Hochland von Chiapas sind selbstverwaltet, die Polizei kommt hier nicht hin und sonst auch niemand – Rufi erzählt außerdem, dass in Betania jetzt Strafe zahlen muss, wer sein Geschäft schließt, die Preise anhebt oder Gerüchte verbreitet. Gerüchte verbreiten sich hier schneller als das Virus, das sich bis jetzt immer noch nicht bli­ cken lässt. Ein Mann postet auf Facebook, sein Nachbar habe das Virus, und schon wird der unliebsame Nachbar samt Fami­ lie ausgegrenzt; niemand kommt mehr an seinen Stand oder gibt ihm Arbeit. Das will man unterbinden. Aber wenn jemand stirbt, erzählt Rufi, geht dieser Tage niemand mehr auf die Beerdigung, denn wer weiß schon, woran der Mensch starb? Anfang April. Unsere Bekannten schreiben, dass im Zen­ trum von San Cristóbal jetzt alles dicht ist. Das wollen wir sehen. Da fahren wir hin. Außerdem brauchen wir mehr Vor­ räte – es geht ja gerade erst los. ZUM LETZTEN MAL

Der zweite Eingang des Walmarts wurde bis unter die Decke mit Paletten voller Klopapier verrammelt. Desinfektionsgel am Einlass, ein paar Leute mit Mundschutz, aber die Regale sind voll, nur die Alkoholabteilung ist abgesperrt – Alkohol­ verkauf verboten, damit die Leute nicht zusammen feiern. Wir müssen suchen, bis wir im historischen Zentrum ein Hotel finden, das noch geöffnet ist. Die Fußgängerzonen sind abge­ sperrt, Männer mit orangefarbenen Westen gehen gelang­ weilt umher – die Seuchenpolizei. Diese sonst von Touristen so bevölkerte Stadt ist bis auf ein paar Einheimische leer. Ach, wenn man doch jetzt, genau jetzt, durch Rom schlendern könnte, Wien, Venedig, Sevilla, Fès! Ein letztes Mal Pizza essen – der Restaurantbesitzer verkauft uns quasi unterm Tresen eine Flasche Rotwein. Wir sind seine einzigen und letz­ ten Gäste, auch das Hotel haben wir für uns allein. Am nächs­ ten Tag ein Zahnarzttermin für meine Frau, dann noch mehr Einkäufe und vergebliche Versuche, Alkoholika zu besorgen. Aber interessant: Im Zentrum ist alles geschlossen, am Stadt­ rand hingegen, in den ärmeren Vierteln, läuft das Leben wei­ ter wie bisher. Mit vollgepacktem Auto (Reis, Mehl, Olivenöl, Pasta, Tofu, Gas und hundert Kilo Hunde­ und Katzenfutter) fahren wir zurück. Kurz hinter der Stadtgrenze sitzen indigene Frauen in ihren Trachten hinter Bergen von Dosenbier – Modelo, Dos Equis, Corona. Der Preis ist dreimal so hoch wie sonst, was der Verkäuferin peinlich ist, aber das zahle ich gerne, sie wird es brauchen. Im Auto Schuldgefühle und Sorge. Wir waren vorsichtig, haben aber nicht mal Mundschutz getragen – was, wenn wir es sind, die das Virus in unsere Einöde bringen? Meine Frau hält das für unwahrscheinlich. Das regt mich auf, diese Sorg­


Foto Tino Hanekamp

Ixtel Castro Arreola beim Besuch in der Siedlung. Die Frau des Autors ist ausgebildete Krankenpflegerin und kann bei kleineren Beschwerden oft helfen. Dem kleinen Kind geht es gut, es hat nur einen leichten Schnupfen.

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losigkeit. In Betania ist Markt, Hunderte Menschen dicht gedrängt vor den Ständen. Ich rege mich wieder ab und bin noch besorgter. Wie soll das nur werden? Meine Frau sagt, wir werden sehen. Sie ist natürlich klüger als ich, kommt daher die Kühle? Ich muss an diesen Kafka-Satz denken, den ich vor ein paar Tagen in Fritz J. Raddatz’ Tagebüchern gelesen habe: „Weltkrieg ausgebrochen – war im Schwimmbad.“ Hm … DIE RUHE VOR DEM STURM?

Ostern. In den USA gibt es die bislang weltweit meisten Covid-19-Toten, in Deutschland werden die Menschen langsam in ihren Wohnungen verrückt, und hier sind die Kirchen der Indigenen voll. Selbst wir hören, am Ententeich sitzend, das Rumpeln einer Fiesta-Kapelle von irgendwoher. Meine Frau hat keine Angst vor dem Virus, sondern davor, wozu er die Menschen zwingt. Nicht die Menschen hier, die leben ja quasi jetzt schon postapokalyptisch von dem, was sie anbauen. Aber die in der Stadt, die Bauarbeiter, Kellnerinnen, Straßenhändler – bis vor Kurzem konnten sie sich mit ihren mickrigen Löhnen gerade so über Wasser halten, jetzt hält in ihren Familien der Hunger Einzug. Anruf bei Freunden, einem älteren, wohlhabenden Ehepaar aus den USA: „Ihr müsst euren Zaun verstärken, Natodraht, das Tor abschließen!“ – „Glaubst du wirklich? Wir waren doch immer so nett und großzügig zu den Leuten.“ – „Ich weiß es doch auch nicht, aber meine Frau hat gesagt …“ In ganz Mexiko nur 6.000 Infizierte, in Chiapas: einer. Offiziell … Wie kann das sein? Mag das Virus keine Wärme? Hält die Jungfrau von Guadalupe, die Schutzheilige Mexikos, ihre wachende Hand über das Land? Oder ist das nur die Ruhe vor dem Sturm? Der Präsident sagt, er werde nicht der Wirtschaft helfen, sondern nur den Armen, was auch immer das bedeutet. Ich bleibe zwei Tage im Bett, fühle mich schwach, kränklich, kein Fieber – wahrscheinlich nur zu viel gearbeitet. Ein paar Minuten von hier gibt es eine Hippiekommune, die Anführerin ist eine Deutsche und hat alle ihre Arbeiter entlassen und das Tor verrammelt. Der US-Pferderancher gegenüber gibt seinen Arbeitern nicht mehr die Hand und lässt sie nur noch in die Ställe. Juan, der zweimal die Woche zu uns kommt, um dies und das zu bauen, sagt, das mache die Leute sauer. Glauben die Gringos (also die Weißen), Indigene seien schmutzig? Juan hat jetzt nur noch uns, alle anderen Jobs sind weg. Wir bieten ihm an, auf dem verwilderten unteren Teil unseres Grundstücks für sich und seine Familie Mais anzubauen, er selbst hat kein Land, nur zwei Hütten. Er bedankt sich, übermorgen bringt er seine vier Söhne mit, um mit dem Anbau zu beginnen. Rufi erzählt, dass die Taxifahrer in Betania keine Gringos mehr befördern dürfen. Außerdem habe man in einer Siedlung, 45 Minuten von hier, einen Gringo ins örtliche Gefängnis in Zwangsquarantäne gesteckt, und in Betania überlege man, so mit allen Gringos zu verfahren, die sich zu oft blicken lassen. Ich muss an das Interview mit dem Medi-

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zinhistoriker Wolfgang U. Eckart auf Spiegel Online denken, in dem er über Pandemien sagte: „Ein bis heute stets wiederkehrender Reflex ist die Suche nach dem Schuldigen. Die absurdesten Verschwörungstheorien blühen auf, eine Hatz auf Sündenböcke beginnt.“ Ich kriege noch einen Job für den Entwurf eines Drehbuchs, Zahlung sofort. Wir erhöhen die Löhne für Rufi und Juan und geben Juan ein Darlehen, weil er einen Wassertank bauen will, denn in Betania gibt es nur eine Stunde am Tag Wasser. Der Vater des gestorbenen Mädchens kommt und bringt einen Sack Mais, um Schulden abzuzahlen. Wir wollen ihm Geld geben für den Mais, das mit den Schulden hat ja Zeit, aber er möchte das nicht. Er sagt, er habe genug geerntet dieses Jahr. Ich frage ihn nach dem Virus. Er winkt ab. Hierher werde das niemals kommen, und außerdem beschützt uns Gott, el señor. Er reicht mir die Hand, ich schüttele sie, ganz sanft, wie man das hier macht. Er geht, ich wasche mir die Hände, dreißig Sekunden lang. Dann füttere ich die Katzen und die Hunde. Mehr über den Autor auf S. 6


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Foto: Anthea Schaap, Coverfoto: Meike Kenn

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„WENN DAS VERTRAUEN FEHLT, FÜHRT DAS ZUM BÜRGERKRIEG“ Wie berühren wir einander und warum? Der französische Philosoph Jean-Luc Nancy im Gespräch über Zärtlichkeit und Schmerz, Nähe und Distanz.

Interview Astrid Kaminski 46


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Herr Nancy, Sie gelten als Philosoph eines derzeit raren Guts: der Berührung. Darf ich das – mit Derrida – so sagen? Es war Jacques Derrida, der mich dazu gemacht hat. Er hat mich sozusagen getauft. Hätte er nicht sein Buch Berühren: Jean-Luc Nancy geschrieben, wäre ich mir wohl kaum im Klaren darüber gewesen, wie viel Wich­ tigkeit ich der Berührung verliehen habe. Derrida hat eine Art Psychoanalyse meiner Texte unternommen. Während ich selbst mich übrigens nie einer unterzo­ gen habe! Dieses Interesse, dieses Motiv der Berüh­ rung, ist ein sehr sensibles. Es hat sich fast heimlich in die Geschichte des modernen Denkens eingeschlichen. Es gibt etwas davon bei Maurice Merleau­Ponty, auch bereits bei Friedrich Nietzsche. Bis dahin war das große Motiv des abendländischen Denkens das Sehen. Das Sehen, das sich auf ein Objekt, auf das Außen, bezieht. Das Fühlen spielt sich dagegen in der Nähe, im unmittelbaren Kontakt ab. Eine weitere Besonder­ heit: Es verbindet sich mit allen anderen Sinnen. So erzeugt zum Beispiel das Sehen das Bedürfnis nach einer taktilen Erfahrung. Eine Einkerbung der Wand sehe ich nicht nur, ich fühle sie auch. Man möchte berühren, was man sieht. Alles, was einen sensibilisiert, hat eine Qualität des Fühlens. Wenn ich etwas sehe, aber nichts fühle, ist es leer, seiner Sensibilität entleert.

tausch eines Blicks sein. Die Alltagsberührungen sind affektuös und damit nicht absolut trennbar von Sexua­ lität. In jeder Berührung, in jeder Zärtlichkeit liegt die Möglichkeit der Sexualität, die Möglichkeit, dass die körperliche Verbindung Zweck an sich wird. MJ

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Außer im medizinischen Kontext, so schreiben Sie, sei das Berühren immer mit Zärtlichkeit verbunden. Kön­ nen wir uns dem Thema daher weder von der klinisch­ pragmatischen noch von der besitzergreifenden Seite, sondern von der Zärtlichkeit her nähern? Absolut. Selbstverständlich. Das fängt mit der Geburt an. Diese ganz kleinen Körper, die angesichts ihrer Zer­ brechlichkeit eine Beziehung der Zärtlichkeit mit uns aufbauen. Auch verweisen sie auf einen weiteren Aspekt: Berühren erfordert immer eine Kraftregulie­ rung. Nicht alle beherrschen sie. Manch einer zer­ quetscht mir die Hand, wenn er sie drückt. Die Berüh­ rung geht einher mit einer Ordnung, unter deren Gesetzen die Körper, nicht nur die menschlichen, im Kontakt miteinander sind. Wenn das Gefühl fehlt, kann ein Körper, wenn es ein lebendiger ist, durch eine Berührung sterben. Das Gegenteil der Zärtlichkeit ist die Verletzung. In der Sexualität kann das eine in das andere übergehen. Wir merken zurzeit, wie wichtig nicht nur die sexuelle, sondern gerade auch die alltägliche Berührung ist. Sicherlich! Nur ist es nicht so einfach, zwischen Berüh­ rung und sexueller Berührung zu unterscheiden. Wo fängt eine sexuelle Beziehung an? Das kann im Aus­

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Sie arbeiten ununterbrochen. Im Juli werden Sie 80 Jahre alt. Ihr Herz aber ist seit einer Transplantation 20 Jahre jünger als Sie. Ist das fühlbar? Leider nein! Körperliche Kraft habe ich fast keine mehr. Gestern wollte ich zum Beispiel die Fenster putzen. Aber ich bekam keine Erlaubnis, auf die Leiter zu stei­ gen. Ich glaube, das liegt an dem Eindruck, den mein Zustand vermittelt. Körperlich bin ich nicht mehr in guter Verfassung. Einen Nagel in die Wand zu schla­ gen, das schaffe ich vielleicht noch. Sie entwickeln das Denken der Berührung aus einer Ontologie der Haut. Sie macht uns zur geschlossenen Entität und schafft zugleich den Wunsch, das, was außerhalb ist, zu berühren. Was ist die Verbindung zwi­ schen körperlicher Berührung und anderen Arten des Berührtwerdens? Es gibt keinen Unterschied. Es gibt keine Verbindung, die zu legen wäre. Die Körper waren in allen Kulturen bislang mehr als anatomische Teile oder sensorische Funktionen. Wir haben zum Beispiel alle unsere spezi­ fischen Krankheiten. Ich war, bis auf Brüche und mein kaputtes Herz, für das man die Ursache nie gefunden hat, kaum krank, keine Infektionskrankheiten. Zumin­ dest bis zur Transplantation. Andere Menschen sind ihr ganzes Leben lang ständig ein bisschen krank, aber haben dafür keine mechanischen Probleme. Es gibt ver­ schiedene Temperamente. Auch Mediziner wissen inzwischen sehr gut, dass es eine gewisse Komplexi­ tät der Persönlichkeit gibt, in der das Physische und das Psychische untrennbar miteinander verbunden sind. Dass jede Person daher gemäß ihrer Veranlagung behandelt werden muss. Ich war zum Beispiel nie sport­ lich. Nach meinem Herzeingriff hätte ich zwei Monate in eine Rehaklinik gehen sollen, in der ich gelernt hätte, wieder zu atmen et cetera. Das hätte mich terrorisiert, das wäre mir zu sportlich gewesen. Außerdem im Wald! Die Ärzte konnten das wiederum nachvollziehen. Gut, haben sie gesagt, Sie bleiben zu Hause und kommen alle drei Tage zur Atemlektion. Das hat mir mehr ent­ sprochen. Voilà. Wir sind alle sehr komplex und keine Körper mit Einheitsfunktionen. „Die Seele ist der berührte Körper“, schreiben Sie. Die Körper sind Orte der Ausstellung, auch der Aus­ stellung der Haut, Exposition – Ex­peau­sition. Haut wird erobert, bewohnt, dekoriert. Die Berührung der Haut ist nie nur körperlich. Sie ist immer auch seelisch

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oder spirituell. Vor allem die der nackten Haut. Stellen Sie sich vor, Sie berühren in der Metro eine Hand oder einen Teil eines Gesichts. Das könnte sofort als Beginn eines sexuellen Übergriffs gesehen werden. Wer sagt, was es ist? Der Körper als Seele, die Seele als Körper! MJ

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Sie haben mit Noli me tangere auch ein Buch über das Nicht-Berühren geschrieben. War das eine Antwort auf Derridas monumentales Werk Berühren: Jean-Luc Nancy? Es ist eher ein Buch über eine absolute Trennung, über die Grenze der Berührung: die Sterblichkeit. Wissen Sie, wie schwierig es ist, einen Kadaver zu berühren? Man steht davor, möchte ihn umarmen. Aber es ist schwierig, eine Prüfung. Ein Fühlen eines oder einer anderen, der oder die nicht mehr fühlt. Wir berühren damit die Unmöglichkeit der Berührung und machen uns damit gleichzeitig deutlich, wie sehr es in der Berührung auf eine Antwort des Gegenübers ankommt. Hiermit stellt sich gleichzeitig die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das Christentum hat diesen Sinn in das Jenseits verlagert und sich ein Modell der Auferstehung des Körpers geschaffen. Das ist ein sehr nachvollziehbares Motiv. Als mein Vater starb, sagte mir meine Mutter: Ich möchte mir einen Ort vorstellen, an dem ich ihn wiedertreffen kann. Ein Ort des Wiedertreffens? Was heißt das? Ein Ort, an dem ich ihn berühren kann!

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Eine Repräsentationslogik. Auch ohne dieses Denken der Repräsentationen im christlichen Sinn ist die Bindung an Präsenzen des Körperlichen sehr stark. Wenn ich zum Beispiel an Derrida oder an andere Freunde, an meine Eltern, die gestorben sind, denke, kann ich sie vor mir sehen oder ihre Stimmen hören. Das heißt, im Unberührbaren des Todes besteht eine fühlbare Präsenz des anderen fort. Aber der Anteil des anderen, der vollständig abwesend ist, hat mit dem Berühren zu tun. Ich kann jemanden, der gestorben ist, noch vor mir sehen, aber es würde keinen Sinn ergeben, zu sagen: Ich umarme Derrida. Kommen wir vom Tod zurück zum Leben: In Ihrem jüngsten Buch La Peau fragile du monde benutzen Sie das Bild von der Welt als „Faktorielle all unserer Häute“. Lässt sich daraus auf eine philosophische Mathematik schließen? Also: mehr Sensibilität, mehr Zärtlichkeit gleich eine bessere Welt? Ja, an Ihre Gleichung möchte ich glauben. Es stimmt, das „Faktorielle“ ist ein mathematischer Ausdruck. Nur sprechen wir vielleicht lieber von einer Metamathematik. Es erstaunt mich immer noch, was ausgerechnet Sigmund Freud angesichts der Gewalt des Ersten Weltkriegs schrieb. Er schrieb, die einzig mögliche Antwort sei die christliche Liebe.

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Christliche? Ja, das kommt von Freud! Das christliche Kommando lautet ja, sich gegenseitig zu lieben. Nur leider sei es nicht umsetzbar. Aber Freud rührt damit an eine wesentliche Frage: Warum hat das Christentum beschlossen, sich einen Gott, der Liebe ist, zu schaffen? Von keinem anderen Gott wurde das behauptet. Warum kam es dazu? Ich denke, es hat damit zu tun, dass die antike Welt in dem Moment, als es zu dieser Konstruktion kam, im Verfall war. Weil offenbar wurde, dass das römische Reich mit seiner Technik und seinen Verwaltungsapparaten, seiner strengen Rechtsprechung, das bis dahin – neben dem chinesischen – mächtigste Reich, in seiner Totalität weder aushaltbar noch fortsetzbar war. Es musste also etwas geben, was einerseits die unerreichbare Totalität repräsentiert und andererseits eine Alternative dazu bietet. Was ist die christliche Liebe? Sie ist das, was unerreichbar ist, was nicht da ist. Unsere Situation scheint der römischen in manchem nicht unähnlich. Und wir gehen auch daran kaputt. Wenn wir weiterleben, dann nicht, weil wir alle Teil einer unendlichen (post-)industriellen Maschinerie wären. Nein, wenn wir weiterleben, dann, weil wir es schaffen, in der Organisation unserer menschlichen Gemeinschaften Verbindungen des Affektuösen, der Nähe, der Freundschaft oder der Liebe zu unterhalten. Ohne diese Fähigkeit hätten wir uns alle schon längst umgebracht. Selbst der größte Banker braucht Liebe. Vielleicht gibt es Ausnahmen. Leben, die ganz im Kalkül aufgehen. Das kann sein. Und auch, dass sie in Bedürfnissen enden, die sie letztlich zerreißen – wie jenen unkontrollierter Sexualität. Das ist also nicht, was uns am Leben erhält. Wenn selbst Geflüchtete auf einer Insel in Griechenland noch ans Weiterleben glauben, dann ist das einer großen Menge an positiven affektiven Bezügen geschuldet. Ohne ein Minimum an Vertrauen würde es keine einzige dörfliche oder städtische Gemeinschaft geben. Wenn das Vertrauen fehlt, führt das zum Bürgerkrieg. In einem Artikel über das „Communo“-Virus zweifeln Sie daran, ob wir bereit sind, uns eine andere Gesellschaft vorzustellen. Aber Sie zitieren Karl Marx und seine Idee vom individuellen Eigentum, das heißt, weder Privat- noch Kollektiveigentum. Sehen Sie trotz der Zweifel einen Ansatz in diese Richtung? „Communo“-Virus ist ein Wortspiel, das in Indien entstand. Womit in erster Linie gemeint war: ein kommunistisches, also chinesisches Virus. Ich habe diesen Begriff geentert. Sehe ich einen Ansatz? Nein, ehrlicherweise nicht. Aber was ich feststelle, ist, dass weder privates noch kollektives Eigentum zufriedene Gesell-


„Die Gefahr, sich von der Person ab- und zur Statistik hinzuwenden, besteht. Das hat uns das aktuelle Virus deutlich gezeigt. Wir brauchen nicht nur einen Impfstoff, sondern eine Sorge für das Miteinander.“

schaften zutage bringt. Auch wenn sich Privateigentum im Okzident als am effektivsten herausgestellt hat, bleiben wir in einem simplen Modell gefangen: dem des Besitzes eines Hauses, eines Autos et cetera; gleichzeitig merken wir, dass es Allgemeingüter gibt, deren Zustand beginnt, problematisch zu werden. Wasser. Luft. So versetzt uns die Technoökonomie in Bezug auf die elektrische Energie unfreiwillig in einen Zustand des kollektiven Besitzes, der wiederum schnell in Privatbesitz umschlagen kann, beispielsweise, wenn ein Land mehr Elektrizität erzeugt als ein anderes und mit dem Abschneiden der Lieferungen drohen kann. Was folgt daraus? Das wusste Marx auch nicht, er war nicht mehr in der Lage, seine Idee weiterzuentwickeln. Das bin auch ich nicht wirklich. Aber das Modell, das uns fehlt, ist erwähnenswert: ein Modell, in dem Eigentum und Eigentlichkeit Hand in Hand gehen. MJ JLN

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Das klingt mehr nach Martin Heidegger als nach Marx. In Bezug auf das Denken des Ereignisses hat Heidegger einen Ansatz, den es sich lohnt, weiterzudenken. Ich lasse ein paar Dinge aus, aber erwähne „Ent-eignis“ und „Zu-eignis“ als Anteile des Ereignisses. Das sind Formen der Liebe. Zuwendung. Die Liebe ist vielleicht nicht das große, romantische Abenteuer, sondern einfach die Geste der Zuwendung. Es macht einen Unterschied, ob ich jemandem, der um Geld bittet, eine Münze hinwerfe oder auch Aufmerksamkeit entgegenbringe. Manche bekommen es nicht hin, auf ein „Danke“ ein „Gern geschehen“ zu antworten. Aber ich glaube, das macht einen Unterschied. Was heißt es, man selbst zu werden? Sicherlich nicht, sich zu verwirklichen im Sinn der dominanten Vorstellungen: einen guten Job zu haben, eine repräsentative Familie et cetera. Es heißt, man selbst sein zu können in Bezug auf andere, die sie selbst sein können. Jemand, der diese Beziehung zum anderen Selbst nicht führen kann, ist, denke ich, auch weniger er oder sie selbst. Das individuelle Eigentum kann nie ein Eigentum an sich sein. Schon allein, weil ein Ich immer komplex, multipel und unendlich ist. Ein Stern, der einer Route im Kosmos folgt.

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Der Trost, sich in der Unsicherheit und Unendlichkeit zu treffen? Nietzsches Sternenfreundschaft. Wäre es nicht doch sicherer, wenn wir, statt Sterne, eine programmierbare Maschine oder zumindest Ärzte und Ärztinnen füreinander würden? Ärzte? Sie sind inzwischen auch zu einer Art Maschine geworden. Das wage ich zu sagen, auch wenn sie zum Glück noch besser sind als das. Aber der Begriff der Medizin wird stark mit einer Vorstellung der Technik zur Erhaltung des Lebens verbunden. Was nicht reicht, um dem Leben einen Sinn zu geben. Die Ambivalenz der Medizin ist, dass sie nicht ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, die wir uns, als Einzelne, zu eigen machen können. Wir werden zu sehr generalisiert. Die Gefahr, sich von der Person ab- und zur Statistik hinzuwenden, besteht. Das hat uns das aktuelle Virus deutlich gezeigt. Wir brauchen nicht nur einen Impfstoff, sondern eine Sorge für das Miteinander. Gibt es eine Medizin der Seele? Vielleicht nicht. Eine Medizin der Seele würde eine Gesundheit der Seele voraussetzen. Was heißt das, eine Gesundheit der Seele? Die Seele ist vielleicht immer in einem Zustand, der nicht weit entfernt von einer Verrücktheit ist. Eine gute Psychoanalyse weiß das. So hat Freud in Das Unbehagen in der Kultur formuliert, dass die Psychoanalyse nicht dazu da sei, die Gesellschaft zu heilen. Das bleibt eine Frage des sozialen Kollektivs. Astrid Kaminski publiziert zu Kunst, Kultur und Sozialpolitischem und entwickelt öffentliche und dialogische Formate im Bereich Kreatives Schreiben und kritische Meinungsbildung. Sie pendelte in den vergangenen Jahren zwischen Berlin und Athen.

Jean-Luc Nancy zählt zu den bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Er lehrte bis zu seiner Emeritierung Philosophie an der Université Marc Bloch in Straßburg und hatte zahlreiche Gastprofessuren inne, u. a. in Berkeley, San Diego und Berlin. Er publiziert u. a. über die Begriffe der Seele, des Körpers, der Haut, der Berührung und der Liebe in Werken wie Corpus (2003), Noli me tangere (2008), Ausdehnung der Seele (2010) oder Sexistenz (2019, alle vier Diaphanes). Zuletzt erschien La Peau fragile du monde (Galilee, 2020).

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DER KLINGENDE TAGTRAUM

New Beginnings #29, 2019

Die Studioaufnahme unterscheidet sich wesentlich vom bloßen Mitschnitt. Über das perfekte Hörerlebnis in Shutdown-Zeiten.

Text Martin Elste Foto Yura Taralov 50


Wagner-Freunde schwärmen – zu Recht, wie ich meine – heute noch von Wilhelm Furtwänglers Tristan-Einspielung, die 1952, zweieinhalb Jahre vor dem Tod des Dirigenten, entstand. Eine Interpretation wie aus einem Guss, mit großartigen Sängern, dem fantastischen Londoner Philharmonia Orchestra und einer Intensität, die mich als Hörer die gesamten drei Aufzüge lang in ihren Bann zieht. Als bloßer Mitschnitt einer Aufführung wäre dies so nie entstanden. Schon allein deswegen nicht, weil einige der für die Partie der Isolde erforderlichen Spitzentöne von Elisabeth Schwarzkopf, einer zweiten Sopranistin, eingesungen wurden, da die damals fast 57-jährige Kirsten Flagstad wohl nicht mehr in der Lage war, diese adäquat zu treffen. Welchen Einfluss hat das auf mein ästhetisches Wahrnehmen der Geschlossenheit des Kunstwerks? Keinen! Ich erfahre klangliche Kontinuität in Perfektion. Auch wenn es nur eine Schimäre, ein Tagtraum ist. Vielleicht gerade deswegen. Der rumänische Dirigent Sergiu Celibidache hatte recht: Mit dem Akt des eigentlichen Musizierens im Konzertsaal oder auch im Opernhaus hat die Produktion einer Aufnahme unter Studiobedingungen, wo endlos nachkorrigiert werden kann, wenig zu tun. Aus dieser Perspektive ist das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Tonspeicherung und des Lautsprechers, das bislang unmusikalischste! Als Schallplattenhörer war ich immer auf der Suche nach perfekten Opernaufnahmen. Mir ging es darum, das Beste zu hören. Und meist lief es auf eine Entscheidung zwischen zwei, drei Einspielungen hinaus. Häufig gab ein Protagonist den Ausschlag, eine Sängerinnenpersönlichkeit wie Maria Callas, ein Pultstar wie Herbert von Karajan, eine Schallplattenfirma, mit der man Qualität verband. Etliche Male verließ ich mich auf das Urteil der Kritik. Auch der Preis war ausschlaggebend. Operngesamtaufnahmen waren eigentlich immer teuer. Kein Wunder: Nur wenige Labels hatten die finanziellen Ressourcen für eine kostspielige Studioproduktion. Natürlich gab es Ausnahmen, doch der Idealtyp der Studioaufnahme erfüllte die Kategorien höchster musikalischer und klanglicher Qualität, weshalb einige Erzeugnisse von damals auch heute noch Referenzcharakter haben: Sie sind zwar nicht lebendig, wenn man vom eigentlichen Bühnencharakter ausgeht, aber sie können ein in tatsächliches Klanggeschehen umgesetzter Tagtraum sein. Die große Zeit der Studioaufnahmen begann um 1950, mit der Einführung des Magnettonbandes. Die vermeintliche Kontinuität dessen, was man hörte, konnte nach dem eigentlichen Aufnahmeprozess am Schneidetisch und Mischpult nach Belieben neu zusammengestellt werden. Die Technik vervollkommnete sich im Laufe der Jahrzehnte: Aufnahmesegmente werden seither zusammengemischt, Tempi ohne Auswirkung auf die Tonhöhe verändert, die Balance zwischen den einzelnen Musikern fallweise variiert, ohne dass diese Einflussnahmen dem Hörer tatsächlich bewusst werden. Stattdessen lassen uns Studioaufnahmen träumen. Sie setzen die Fantasievorstellung von Perfektion in Klang um. Kunst ist immer Reduktion des tatsächlichen Lebens,

ist Reduktion auf das Spiel innerhalb definierter Regeln der Begrenzung. Insofern stellt die Studioaufnahme die Reduktion des Musiktheater-Kunstwerks Oper auf das Klangkunstwerk Oper dar, ihre pure Essenz, und damit gewissermaßen die gesteigerte Form des Erlebens von Musiktheater. Was für die Audioaufnahme gilt, trifft indessen nicht auf die Studio-Videoproduktion zu. Und schon gar nicht auf die im Playbackverfahren verfilmten Opern. Deren totale Künstlichkeit zwängt sich dem Zuschauer in jedem Moment auf, in Form der Falschheit ihrer nicht bildraumbezogenen Akustik. Zudem fällt das Auseinanderklaffen zwischen dem „schönen“ Gesichtsausdruck beim filmischen Markieren und dem Gesichtsausdruck beim wahren Singen ins Auge. Die Perfektion des Produktes von Bild und Ton wirkt nicht mehr authentisch. Die an sich großartig konzipierten, in Filmstudios entstandenen Musikfilme von Carl Orffs Carmina Burana und den drei Opern von Claudio Monteverdi aus der Hand des Regisseurs Jean-Pierre Ponnelle leiden beispielsweise darunter. Alles das ist inzwischen Geschichte. Der Mitschnitt, ganz gleich, ob nur Ton oder auch mit Bild, hat die traditionelle Opern-Studioproduktion weitgehend abgelöst. Die großen Schallplattenkonzerne sind geschrumpft oder gar verschwunden, die Tontechnik ist mobil und relativ preisgünstig geworden, die modernen Distributionskanäle ermöglichen eine weltweite Verbreitung ohne oder mit nur geringen Investitionskosten. Und ich, der Hörer? Mir steht zur unmittelbaren Rezeption ein Vielfaches von dem zur Verfügung, was es zu Zeiten der Langspielplatte gab. Bei einer sich so schnell erweiternden Auswahl habe ich längst den einstigen Wunsch nach dem Ideal vergessen. Die vergangenen Monate im Zeichen der Corona-Pandemie haben gezeigt: Vielen Musikliebhabern kommt es gerade nicht darauf an, reine Perfektion zu erleben. Für sie zählt etwas anderes. Mit Begeisterung haben sie vor den Monitoren ihrer Computer, an ihren Laptops, auf ihren Tablets oder gar auf den winzigen Displays ihrer Smartphones über minderwertige Lautsprecher Musiker erlebt, die in Direktübertragung unter gleichfalls suboptimalen Bedingungen ihr Bestes gegeben haben. Wurde bis vor Kurzem der Klang eines Barockorchesters noch als essenzieller Bestandteil jeder ernst zu nehmenden Aufführung einer Barockoper betrachtet, akzeptiert man jetzt stattdessen auch einen Stutzflügel mit all dessen klanglichen Kompromissen. Und ich kann das zusammen mit einer anonymen, weltweiten, in die Tausende gehenden Zuhörerschaft genießen. Irgendwie ist die Kunst ehrlicher geworden, bodenständiger. Und dennoch: Ich möchte meinen eigenen Kanon (nahezu) perfekter Studioproduktionen nicht missen.

Martin Elste, Jahrgang 1952, ist Musikwissenschaftler und Diskologe. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der medialen Gestaltung von klassischer Musik, insbesondere der Geschichte und Ästhetik der Tonträger. Mehr über den Fotografen auf S. 6

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DER WAHRE FEIND Wenn die Welt aus den Fugen gerät, wird nicht zuerst nach einer Lösung gesucht, sondern nach einem Schuldigen. Was das mit Angst und Hass zu tun hat und welche Rolle dabei der Einzelne in der Masse spielt: eine Spurensuche von Ovid bis Elias Canetti.

Text Cécile Wajsbrot Bilder Benedikt Richert 52


Landschaft mit Vögeln, 2011

In der zweiten Szene des ersten Akts von Antonius und Cleopatra zögert der Bote, Antonius die schlechten Nachrich­ ten zu verkünden. „The nature of bad news infects the teller“, sagt er, um sein Zögern zu erklären. Von Natur aus stecken schlechte Nachrichten den an, der sie überbringt. Ich werde es dir nicht übel nehmen, erwidert Marcus Antonius. Ich möchte lieber die Wahrheit hören. Selten haben in einem Stück Boten jedweder Art eine so tragende Rolle gespielt. William Shakespeares Tragödie, uraufgeführt 1607, basiert auf Berichten äußerer und innerer Kämpfe, auf den Prophezeiungen der Wahrsager, den von Gesandten oder Botschaftern überbrachten Nachrichten, zahlreicher Mittelspersonen also, die sich für andere auf den Weg machen und sehen, während die Hauptfiguren sesshaft sind und daheim bleiben, Cleopatra in Ägypten, Cäsar in Rom; nur Antonius unternimmt zwei Reisen, die sich als verhäng­ nisvoll erweisen werden, von Ägypten nach Rom und von Rom

nach Ägypten. Im Gegensatz zu Antonius richtet sich Cleopatras Verhalten gegenüber dem Boten nach den Nachrichten, die er überbringt; sind es schlechte Neuigkeiten, droht sie ihm den Tod an, sind es gute, verspricht sie ihm reiche Belohnung. Die Gesandten sind Zeugen, die von allen, denen die Berichte überbracht werden – beachtenswert die Ausnahme Antonius’ –, mit den Ereignissen, von denen sie berichten, oder mit ihrem Absender gleichgesetzt werden. Der Bote ist kein Individuum, sondern eine Metapher, die Inkarna­ tion eines Ereignisses, einer Stimmung, einer Beziehung. Allerorten reden die Boten heute nicht mehr. Sie schreien, sie brüllen ihre Wut, ihren Hass hinaus. Die einen gegen die anderen. Worte sprechen nicht mehr, sie prangern an, und die, die sie schreiben, in den Zeitungskolumnen, in den sozialen Netzwerken, und die, die sie aussprechen, in den Fernseh­ debatten und Interviews, sind stolz darauf. Es ist höchste Zeit, sagen sie. Zu lange hat uns keiner zugehört, jetzt wird man

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uns endlich hören. Ihre Namen? Sind viele. Sie bleiben ebenso wenig im Gedächtnis wie die Namen der Boten. Diese Men­ schen sind nicht die Hauptfiguren der Geschichte. Sie sind Gesandte der heutigen Zeit, die den Mächtigen, an die sie sich scheinbar wenden – aber tatsächlich wenden sie sich an uns alle – ein neues Zeitalter ankündigen. Beunruhigend. Viel­ gestaltig. Unergründlich. Und diese Worte des Hasses und der Gewalt, die die einen gegen die anderen stellen, kesseln uns ein, dringen in uns, ergreifen von uns Besitz. Ovid erzählt in seinen Metamorphosen von der Nymphe Echo, die immer, wenn eine ihrer Gefährtinnen zu lange bei Jupiter blieb, dessen eifersüchtige Gattin Juno mit ihren Wor­ ten zurückhielt. Nachdem diese die List erkannt hatte, ver­ dammte sie die Nymphe dazu, nicht mehr selbst sprechen zu können, sondern nur noch die Worte anderer zu wieder­ holen, nur die letzten, kurzen. So kann Echo, als sie sich in Narziss verliebt, ihn nicht durch ihre Bitten erweichen, son­ dern nur darauf hoffen, dass er spricht, um seine letzten Worte zu wiederholen und sich auf diese Weise an ihn zu wenden. Als Narziss sich im Wald verirrt, ruft er: „Ist jemand hier?“, worauf eine Stimme „Hier“ erwidert. So beginnt der tragische Wortwechsel zwischen Narziss und Echo, der kein Dialog ist, sondern ein nur von ohnmächtigen Wiederholun­ gen unterbrochener Monolog. Als Echo abgewiesen wird, hört sie auf zu essen, ihr Körper vergeht, bis sie nur noch aus Knochen besteht, die zu Stein werden, heißt es bei Ovid. Übrig bleibt die Stimme, die dazu verdammt ist, kurze Worte aus dem Munde anderer zu wiederholen. Echo – wie oft wir glauben, selbst zu sprechen, obwohl wir nur wiederholen, was andere sagen … Und wie Echo wiederholt sich die Geschichte, oder bes­ ser gesagt, sie wiederholt die Worte anderer Zeiten, kürzer und anders, und doch unverkennbar. Wie das Coronavirus in den vergangenen Monaten breitet sich die Pest, die um 1340 in Asien entsteht, wohl in der Provinz Hubei, nach Zentral­ asien und dann nach Europa aus, über die Häfen, vor allem in Italien, dann über das Mittelmeer bis nach Ägypten, ehe sie den hohen Norden erreicht – Skandinavien und Grönland. In Europa macht man die Juden für die Seuche verantwortlich. Als Vergeltungsmaßnahmen kommt es zu massiven Plünde­ rungen, Massakern und Pogromen in Frankreich, Spanien und Deutschland. So massiv, dass sich 1348 Papst Clemens VI. einschaltet und in einer Bulle versichert, die Pest mache kei­ nen Unterschied zwischen den Religionen, was aber wenig Wirkung zeigt. Im Jahr 2020 kleidet sich die Geschichte in Echos Stimme. Das Coronavirus soll aus Wuhan kommen, aus der nämlichen Provinz Hubei. Anfangs will die Gewalt gegen Menschen asia­ tischen Ursprungs in Europa kein Ende nehmen. Übergriffe, Boykott chinesischer Restaurants und Geschäfte, Abstand­ nahme. Dieselben Reflexe, über die Jahrhunderte hinweg. Die Suche nach einem Schuldigen, einem Sündenbock. Heute wissen wir, dass es sich um ein Virus handelt, und wie es über­ tragen wird, während die Menschen im Mittelalter keine

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Ahnung von den Übertragungswegen der Pest hatten – erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde entdeckt, dass es Bisse von Rattenflöhen waren. Dennoch steigen aus der Tiefe der Zeit die Angst und Grausamkeit auf, die die Krankheit hervor­ bringt. All das kann nicht geschehen ohne jemanden, der es inkarniert, und er muss so schnell wie möglich gefunden wer­ den. Um die eigene Angst abzuladen, aber auch die eigene Ohnmacht – den eigenen Hass. 1807 erscheint Heinrich von Kleists Novelle Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 im Morgenblatt für gebildete Stände, die drei Jahre spä­ ter im ersten Band von Kleists Erzählungen schlicht Das Erdbeben in Chili heißt. Josephe hat mit ihrem Hauslehrer Jeronimo gesündigt und wird von ihrem Vater ins Kloster geschickt. Der Geliebte sucht die Verstoßene dort wieder auf und schwängert sie im Klostergarten. Während der Pro­ zession der Nonnen setzen Josephes Wehen ein. Sie wird zum Tode verurteilt, er zu Gefängnis. Am Tag der Hinrich­ tung werden sie durch ein Erdbeben gerettet. Nach wirrer Flucht finden sich die beiden Liebenden in einem wunder­ samen Tal wieder, wo sie gemeinsam mit ihrem Sohn glück­ liche Stunden erleben, als wären sie gleichsam ins Paradies eingekehrt. Dort treffen sie auch auf Josephes Bekannten Don Fernando und dessen Familie. Als sie hören, dass in der Stadt für die Menschen, die dank Gott verschont wurden, eine Messe vom Prälaten des Klosters gelesen wird, be­ schließen Josephe und Jeronimo, sie mit ihrem Sohn, Don Fernando und dessen Schwägerin zu besuchen. Aber der Prediger kommt gleich zur Sache, das Erdbeben sei eine Strafe Gottes für die Verderbtheit der Einwohner von Santiago. Haben sie nicht sogar im Garten des Klosters gesündigt? Plötzlich verrät eine Stimme: „Weichet fern hin­ weg, ihr Bürger von St. Jago, hier stehen diese gottlosen Menschen!“ Eine andere Stimme fragt: „Wo?“, eine dritte antwortet: „Hier!“, man stürzt sich auf eine Person, aber es ist Don Fernando. Da gibt sich Jeronimo zu erkennen. Ver­ wirrung, Schreie, Waffen. Die Menschen sind körper­ und namenlos, nur Hände, die nach den als schuldig Ausgemach­ ten greifen. Oder Stimmen. Eine Abstraktion aus einer ein­ mütigen Bewegung. Das Individuum ist verschwunden, an seine Stelle die Menge getreten. „Der wütende Haufen, durch die Äußerung Jeronimos verwirrt, stutzte; mehrere Hände ließen Don Fernando los.“ Ein Haufen, eine unför­ mige Masse. Namen, Personen kommen erst hinzu, als sich jemand erhebt, um die Unschuldigen zu verteidigen. Auf diesen wenigen Seiten über das Handgemenge beschreibt Kleist mit erschreckender Präzision das Verhalten der Menge, die nicht ruht, bevor die als schuldig Erachteten hingerichtet werden – womit sich der Kreis auf tragisch­ ironische Weise schließt: Durch das Erdbeben der Hin­ richtung entkommen, werden Josephe und Jeronimo hinge­ richtet –, wohl von derselben Menge, die zuvor angerannt gekommen war, um ihrer Marter beizuwohnen. Zynischer­ weise: Josephes und Jeronimos Sohn, als Feindbild der


Redukt II, 2007

wütenden Menge, überlebt, während Don Fernandos Sohn an einem der Kirchenpfeiler zerschmettert wird. In seinem Hauptwerk Masse und Macht von 1960 verteidigt Elias Canetti die Masse als den Ort, an dem sich alle Unterschiede auflösen und Gleichheit herrscht, aber auch als etwas, das nach Ausdehnung strebt. Als geschlossener Ort braucht die Masse ein Ereignis, einen Ausbruch, sagt Canetti, um sich zu öffnen und auszudehnen. In Kleists Novelle bietet die Anwesenheit der für schuldig Gehaltenen diese Gelegenheit, die die Menge zusammenschweißt, eher als die Worte des Predigers. Hier ist der Feind, inmitten der Menge, mit der er verschmelzen wollte, was ihn umso gefährlicher macht. Die Masse braucht Führung. Und was könnte sie besser führen als Rache, Ausgrenzung, Unterdrückung, die ihr ihren eigenen Fortbestand sichern? Vielleicht könnte man sogar so weit gehen zu sagen, dass die Masse, die Kleist mal als „Haufen“, mal als „Menge“ bezeichnet, nicht nur ein

gemeinsames Ziel braucht, um die eigene Existenz zu sichern – in diesem Fall: sich gegen die Schuldigen der Katastrophe zu stellen –, sondern dass sie darüber hinaus auch das Individuum auslöschen muss, den Begriff des Individuums, alle, die nicht sind wie sie und die deshalb eine Bedrohung darstellen, weil sie damit bezeugen, dass es Individualität überhaupt gibt. Die unsichtbare Masse findet immer einen Weg, sich auszudehnen. Für Canetti waren die Unsichtbaren die Toten, die Engel und Dämonen, dann die Nachkommenschaft und schließlich alles, was man unter dem Mikroskop entdeckte. Heute sind die Unsichtbaren auch die Tweets, die Kommentare, die Boten, die uns umgeben und einkesseln wie die Gläubigen in der Kirche in Santiago. Wir sind, wie Kleists Figuren, Überlebende. Aber im Gegensatz zu ihnen, deren Katastrophe – das Erdbeben – schon stattgefunden hat, liegt unsere noch vor uns. Wir sind im Zustand des Aufschubs. Als

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Interferenzen, 2016

kommende Opfer des Klimawandels, der Pandemie, einer Sache, für die wir noch keinen Namen haben. In Panik versetzt von einer in umstürzlerischem Wandel begriffenen Welt, die ihre Zerbrechlichkeit offenbart, umgeben von winzigen unsichtbaren Wesen, deren Namen sich mit den Jahren ändern: Grippe, H1N1, jetzt Coronavirus … Die Landschaft ist aufgewühlt, die gewohnten Orientierungspunkte überschwemmt, als wären die Flüsse aus ihrem Bett getreten und hätten Land und Häuser überflutet. Überschwemmung der Elemente, der Worte, Angst vor der Überschwemmung durch Migrationswellen. Angst vor der Ansteckung, bei der der andere ein geliebter Mensch sein kann oder derjenige, der die Krankheit, den Tod bringt. Manche klammern sich an eine vergangene Welt, weigern sich weiterzugehen, halten sich an Parolen von Parteien, die den Status quo oder ein Zurück predigen, eine geeinte, einstimmige Menge, die in eine gemeinsame Richtung geht und

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verspricht, das Individuum zu retten, dabei aber alle Unterschiede einebnet. Das ist die Thronbesteigung des Chors, eines undeutlichen Gesangs mit monotoner Melodie und kurzem Text, auf ein paar Klänge reduziert. Die Unbeweglichkeit – die Position des Zuschauers und der Ohnmacht. Echo und Wiederholung. Deklarierung von Ersatzfeinden. Denn der wahre Feind ist die Vereinfachung der Gewalt, sind die einfachen Worte, die das Denken vergiften und die durch ihre Allgegenwart in unser tiefstes Inneres eindringen, bis wir eines Morgens mit einem Gefühl des Hasses aufwachen, von dem wir nicht einmal mehr wissen, woher es kommt, bereit, mit den anderen mitzulaufen. Cécile Wajsbrot, Jahrgang 1954, lebt als Autorin, Essayistin und Übersetzerin (u. a. von Virginia Woolf, Marcel Beyer, Peter Kurzeck) in Paris und Berlin. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Berliner Akademie der Künste und erhielt 2016 den Prix de l’Académie de Berlin. Ihr aktueller Roman, Zerstörung (2020), erschien bei Wallstein.


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„Die SZ Langstrecke ist der größte Luxus, den man sich heutzutage vorstellen kann: komprimierte Zeit – je länger man darin liest, um so mehr hat man davon.“ David Pfeifer, SZ Redaktion

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MAX JOSEPH ONLINE Noch mehr spannende Beiträge, Interviews und Reportagen aus Max Joseph auf dem Blog der Bayerischen Staatsoper.

AM TELEFON: SOPRANISTIN ALEKSANDRA KURZAK Die Premiere von Giuseppe Verdis Falstaff zu den Münchner Opernfestspielen wurde abgesagt. Die Rolle der Mrs Alice Ford wird Aleksandra Kurzak trotzdem spielen – im Herbst, in der neuen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper. Am Telefon erzählt die Sopranistin, warum Einsamkeit für Künstlerinnen und Künstler nichts Neues ist. Sie spricht über die Komödie als Geschenk – und über das Musizieren während des Lockdowns.

THE SHOW MUST GO ON Utopie der Ausgeschlossenen und das Spiel mit Klischees: Die Komponist*innen Lisa Streich und Philip Venables haben für zwei Inszenierungen der Festspiel-Werkstatt sehr unterschiedliche musikalische Wege gefunden, um mit Vorurteilen aufzuräumen. Eine akustische Reise. Von Maria Goeth

Von Sarah-Maria Deckert

DIE REGISSEUR*INNEN DER FESTSPIEL-WERKSTATT Auf der Suche nach Neuem und Ungewöhnlichem: Für das Programm der Festspiel-Werkstatt hatten Thea Reifler, Philipp Bergmann, Sapir Heller und Charlotte Sprenger drei zeitgenössische Musiktheater-Produktionen vorbereitet. Was treibt die jungen Regietalente in diesen ungewissen Zeiten an? Von Lisa Frieda Cossham

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Truth or Consequences war im US-amerikanischen Fernsehen eines der ersten medialen Lagerfeuer. Im Jahr 1950 benannte sich die Kleinstadt Hot Springs in New Mexico nach der Gameshow. Unser Autor hat dort Joe Masterman besucht, um mit ihm über seine 15 Minuten Ruhm zu sprechen – und über das Phänomen der Faszination an flüchtigem, fremdem Glück. Von Nik Afanasjew

Fotos Kasia Pakuda, Stefan Loeber, Harald Hoffmann, Manu Theobald, Nick Waplington, akg-images

WAHRHEIT ODER PFLICHT?


BRUDERHERZ

FRISCH GESTRICHEN

In Jean-Philippe Rameaus Oper Castor et Pollux kehrt ein antiker Mythos zurück. Dieser dreht sich um die dialektische Struktur des Zwillingsprinzips als Verbindung zwischen Himmel und Erde, zwischen Göttlichem und Menschlichem. Was sagt uns die Geschichte der beiden Brüder heute? Eine Spurensuche.

KILL YOUR DARLINGS – das diesjährige Spielzeitthema, das auf eine Phrase des Schriftstellers William Faulkner zurückgeht, meint weit mehr als den kaltblütigen Aufruf zum Mord. Max Joseph hat Schriftstellerinnen und Schriftsteller gebeten, Sätze und Passagen zu schicken, die nach diesem Prinzip aus ihren Büchern getilgt wurden – um sie zu drucken.

Von Martin R. Dean

Alle Texte finden Sie auf www.staatsoper.de/max-joseph-online

UniCredit

FESTSPIELNACHT

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RÜTZEL RÄT

Text Anja Rützel Illustration Dr Julian Gravy 60


Das Leben ist bekanntlich leichter, wenn einem ein Ratgeber sagt, was man tun soll. Deshalb schickt Max Joseph vom Schicksal geplagte Opernfiguren mit ihren Fragen zum Coach.

„Ein maßloser, ziemlich beleibter Adeliger hat meiner Freun­ din und mir einen Streich gespielt: Er hat uns den gleichen Liebesbrief geschrieben. Und offenbar dachte er auch noch, an unser Geld zu kommen. Nun wollen wir uns rächen. Ist es angemessen, den Mann mitsamt unserer schmutzigen Wäsche aus dem Fenster zu werfen? Und wenn ja, aus wel­ Mrs Alice Ford aus Falstaff chem Stock?“

Liebe Doublette, ich kann gut verstehen, dass Sie sich von der fiesen Durch­ pauspoesie verletzt fühlen. Vielleicht tröstet es Sie, dass Sie mit diesem Duplikatsverrat nicht allein dastehen: In der jüngs­ ten Staffel der Frauenaussortiersendung Der Bachelor fiel es dem titelgebenden Stenz sogar ein, einen identischen Brief an drei Herzensanwärterinnen zu verschicken, und sie darin obendrein auch noch zum gleichen, zeitlich streng durchge­ takteten Date zu laden, um sie an demselben Strand zu bezüngeln. Ihr Zorn über diese Form der Liebesschufterei ist deshalb mehr als nachvollziehbar. Tatsächlich finde ich es erfreulich, dass Sie Ihre Enttäu­ schung nicht vor Herzschmerz gelähmt im stillen Kämmer­ chen verschmollen, sondern kreative Heimzahlpläne schmie­ den. „Anger is an energy“, sang schon Sex Pistol John Lydon in seinem Lied Rise, einer erbaulich gebellten Lobeshymne auf die Aufwiegelungskraft rauer Emotionen, die ein passi­ ves Opfer zur aktiven Wutgöttin transformieren kann. Klöp­ peln Sie also weiter an Ihren Vergeltungsfantasien – aber hal­ ten Sie zwischendurch, selbst wenn der Aggroaktionismus noch so heiß aus Ihren Ohren dampft, kurz inne, um sich zu fragen: Warum können Sie den Schnödling nicht achsel­ zuckend vergessen? Den Abschreiber einfach abschreiben? Warum investieren Sie stattdessen immer noch so viel Kraft und Zeit in ihn (wenn freilich auch ex negativo)? Hat er doch etwas an sich, das Sie nachhaltig begeistert? Vielleicht kann es Ihren Wutbrand ein wenig herunterregeln, wenn Sie sich diese Faszination trotz Ihrer Verletzung eingestehen – also alle zarten Blümeleien Ihrer Sinnesvernebelung noch einmal vor sich ausbreiten, um sie dann mit Schmackes und aller Anger­Energy zu zertrampeln. Sollte das Ihren Zorn nicht dämpfen, sage ich: Go for it! Als Fan des Alten Testaments habe ich eine Schwäche für gut gemachte Racheaktionen. Das Problem daran, den Schwarz­ seeligen am Feuer zu rösten – auch wenn das bei seiner Statur

am allernächsten liegt –, kann sein, dass Sie bei zu expressiver Ausführung am Ende mit einem verkohlten Brathähnchen dasitzen. Auch ins Wasser tunken wird bei seiner Masse schwierig: Nur ein falscher Handgriff bei diesem Glitschgelage, und Sie müssen sich nervös vor der Polizei für eine verquollene Wasserleiche rechtfertigen. Das können Sie nicht wollen. Eleganter wäre es, den Schuft, der Sie mit Worten ver­ letzte, durch eine ebenso gepfefferte Nachricht büßen zu las­ sen. Schmuddelwäsche wäscht sich am wirkungsvollsten in aller Öffentlichkeit. Schmieden Sie also eine medienwirksame Seifenoper. Wenden Sie sich an einschlägige Boulevard­ magazine, schluchzen Sie mit roten Äuglein in alle Kameras und Mikrofone, die Ihnen unter die Rotznasen kommen, pos­ ten Sie auf Instagram traurige Selfies und filmen Sie sich dabei, wie Sie Céline Dions All by Myself vom Balkon schmet­ tern, mit überzeugender Gestik (rechte Hand zur Faust bal­ len, auf die Brust schlagen, dort wo das Herz ist, Faust öffnen und mit ausladendem Arm nach außen schwingen, Haare schütteln). Womöglich trifft das die Eitelkeit des Copykaters am empfindlichsten. Der zwangsläufig folgende soziale Sturz dürfte den selbstgerechten Gourmand mehr schmerzen als ein Fensterfall. Allerdings sollten Sie genügend Stil besitzen, ihn bei der Bloßstellung nicht in einem billigen Retourkut­ schen­Manöver wegen seines stelzbockhaften, lüsternen Lebenswandels oder seiner plauzigen Figur zu bodyshamen. Falls Sie dem liederlichen Patron trotz allem eine handfes­ tere Bestrafung angedeihen lassen wollen, spricht nichts gegen Ihren eigentlichen Plan, dem ja auch eine gewisse rus­ tikale Poetik innewohnt: zu den Lumpen mit dem Lump! Fin­ den Ihre rasenden Herzen erst dann wieder Rast, wenn Sie den Delinquenten mit Ihren besudelten Trikotagen aus dem Fenster gekippt haben: nur zu, aber bitte maximal Hochpar­ terre. Es ist ja nicht der physische Knochenbruch, die sicht­ bare Züchtigung, sondern die Geste, auf die es dabei ankommt – wie fast immer im Leben.

Wenn Anja Rützel nicht gerade lebensverwirrten Opernfiguren hilft, hält sich die Autorin meist lieber an Tiere als an Menschen. Gerade ist ihr Buch Schlafende Hunde (KiWi) erschienen, in dem sie erzählt, was die Liebe zu ihren Haustieren über berühmte Menschen wie Wagner, Schopenhauer und Guggenheim verrät.

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VORSCHAU

DER WENDENDE PUNKT

Die neue Spielzeit 2020 / 21 beginnt am 1. September 2020 Marina Abramović 7 Deaths of Maria Callas – Uraufführung Ambroise Thomas Mignon – Premiere, Opernstudio der Bayerischen Staatsoper Weitere Termine und Stücke werden bekannt gegeben auf www.staatsoper.de/september

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Die nächste Ausgabe von Max Joseph erscheint am 23. Oktober 2020. Weitere Informationen finden Sie auf www.staatsoper.de/maxjoseph



GEMEINSAM NEUES ANSTOSSEN

Sie geben den Ton an. Mit Takt und viel Fingerspitzengefühl bringt unser interdisziplinäres Ensemble für Sie Kompositionen aus Rechtsberatung, Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Family Office auf die Bühne. Schnelle Tempi und schwierige Passagen werden ebenso souverän gemeistert wie anspruchsvolle Soli.

PETERS, SCHÖNBERGER & PARTNER RECHTSANWÄLTE WIRTSCHAFTSPRÜFER STEUERBERATER

Schackstraße 2, 80539 München Tel.: +49 89 38172- 0 psp@psp.eu, www.psp.eu

Als Mitglied des Classic Circle unterstützt PSP seit 2005 die Bayerische Staatsoper.


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