MAX JOSEPH Nr. 1 2012/13 "We are the world"

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Max Joseph Vox populi Bayerische staatsoper

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Indigo O‘Rourke, Fifteen Smiles, 2011


Würde man alle Klänge, Melodien und Geräusche der Welt auf einem Tonträger versammeln, wie würde das wohl klingen? Vielstimmig und vielfältig. Jeder einzeln in seiner Stimme und doch wäre es ein Klang, aber kein Einklang. Dem Geheimnis dieses Klangs widmet sich diese erste MAX JOSEPH-Ausgabe der Spielzeit 2012 / 13, welche unter dem Motto „Vox Populi“, Stimme des Volkes, steht. Für die erste Uraufführung dieser Spielzeit hat Jörg Widmann den Klang des antiken Babylon als große Oper neu komponiert, mit dem Philosophen Peter Sloterdijk als Librettisten. Die babylonische Vielfalt ist darin nicht Fluch, sondern Segen. Im großen MAX JOSEPH-Gespräch erläutert Peter Sloterdijk, dass wir von einer gewissen kulturellen Hintergrundstrahlung umgeben sind, von kulturellen Werken aus tiefsten Schichten, die uns umrahmen, ohne dass uns dies bewusst ist – die babylonische Sieben-Tage-Woche etwa gehört dazu. Die vielen Schichten an Bildern verarbeitet der Künstler Dominic McGill zu riesigen Zeichnungen und zeigt so in seinen Arbeiten eine detailliert monströse Welt, die dennoch auf eine offene Zukunft weist. Einen zeitgenössischen Kommentar zum Thema Vielfalt, der über das Kurzsichtige mancher Diskussion hierzu hinausweist, gibt Marcel Hénaff. Er erklärt, dass die Vielfalt der Sprachen Teil unseres Menschseins ist und wir uns zugleich genau darin von den Tieren unterscheiden: Unsere Sprachen sind so ausdifferenziert, dass wir Gefahr laufen, einander als Fremde zu sehen. Die gedankliche Einteilung in Mehr- und Minderheiten aufzuheben, ist auch das Thema von Regisseur Árpád Schilling, der im Dezember an der Bayerischen Staatsoper Giuseppe Verdis Rigoletto auf die Bühne bringen wird. Der OsteuropaKorrespondent Kilian Kirchgeßner hat ihn in Ungarn an derzeitiger Wirkungsstätte besucht und diesen faszinierenden Theaterkünstler porträtiert. Und in ein weiteres Land hat uns Verdi geführt – natürlich Italien, dem Mutterland der Oper, mit der Frage, ob die Oper in Italien nach wie vor Vox Populi ist, populär wie zu Verdis Zeiten – mit kontroversem Ergebnis. Was aber ist genau das Populäre, das früher auch einmal ein subversives Moment hatte? Nur das Weitverbreitete, das Beliebte? Pop ist heute alles und nichts, sagt der Essayist Bernd Graff. Seinen Text begleiten die Arbeiten von Geoffrey Farmer, der – als Publikumsliebling der diesjährigen Documenta 13 – ­unzählige Cut-Outs aus dem LIFE Magazine zu einer gigantischen Collage des letzten Jahrhunderts zusammengesetzt hat. Also doch babylonisches Stimmengewirr? Auch das nicht. Es sind die großen Werke und Kontrapunkte, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Stimmungen und Stimmen von mehreren bündeln können, so dass sie bleiben. Dies ist mit Sicherheit Giuseppe Verdi gelungen, dies mag im Jahr 1985 Michael Jackson gelungen sein mit dem Song We Are The World, dem „Titelsong“ dieser MAX JOSEPHAusgabe. Die Zeit ist etwas, das sich durch Schichtung in räumliche Verhältnisse übersetzt, sagt Sloterdijk – und auch in musikalische, wie man als Opernhaus hinzufügen darf. Hören wir also hin.

Nikolaus Bachler, Staatsintendant

Editorial 3


Essay Bernd Graff

Pop Egal

Das Populäre war früher eine ­und Konvention. Die Öffentlic nach dem Anderen zu ­der von geprägten Kultur. H ­ eute ist di Bereiche d ­ es A­lltäglichen hine Schlagkraft verloren. ­Was ist 12


Bilder Geoffrey Farmer

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Essay Bernd Graff

Es gab einmal eine Zeit, da war das Populäre unmittelbar assoziiert mit Protest. Das Populäre war die Alternative zum bekannten, gepflegten, auch vorgezeichneten und als dumpf erdrückend empfundenen Leben. Das Populäre gehörte der Jugend, die entdeckte, dass es lustig sein kann, die Spießer zu reizen, indem sie aus der Reihe zu tanzen beginnt, dass es aber gefährlich für sie werden kann, gegen die falsche Autorität der Alten aufzubegehren, und sei es, dass sie ein Open-Air-Festival in Woodstock ausrichtete, sich verrückt kleidete, Drogen nahm und freie Liebe praktizierte. Denn immer dann, wenn die Jugendkultur des Populären politisch wurde, bei der Civil-Rights-Bewegung, bei den Studentenprotesten gegen den Muff der tausend Jahre, dann schlugen diese Autoritäten unbarmherzig zurück. Im Mai 1971 wurden auf dem Campus der Kent State University in Ohio vier Studenten von der Nationalgarde erschossen. Es war also eine Zeit, in der wiederum das Populäre, vor allem die populäre Musik diese Jugendbewegung aufgriff und thematisierte. Es gab da etwa den Film Easy Rider, der nicht als unterhaltende Hollywood-Produktion wahrgenommen wurde, sondern als Fanal eines Lebensgefühls. Neil Young hat das Lied Ohio zu dem Kent-State-Massaker komponiert. Selbst Mick Jagger hat vor einer Viertelmillion junger Leute im Londoner Hyde Park einmal gesungen: „Cause summer’s here and the time is right for fighting in the streets, boy! The time is right for palace revolution.“ Der Popjournalist Helmut Salzinger hat diese Phänomene ein Kritikerleben lang begleitet. Aber irgendwann, gewissermaßen „fünf nach Woodstock“, kam ihm zu Beginn der Siebzigerjahre dieser erstaunliche Gedanke: Der Begriff Rock-Power enthalte die Behauptung, dass diese Musik etwas mit Politik zu tun habe, und zwar so, dass die gestandenen Politiker und gesellschaftlichen Systeme dazu neigten, ihr das Prädikat des Politischen ab- und das des Träumerisch-Utopischen oder gar des Kriminellen zuzusprechen. Und er stellt weiter fest: „Sicher ist jedenfalls, dass die Rock-Musik gerade dann, wenn sie politisch zu werden sucht, sich als ein widersprüchliches Phänomen offenbart. Ihr Widerspruch besteht darin, dass sie die Abschaffung von Zuständen verlangt, denen sie ihre Existenz verdankt, ohne zugleich mit deren Abschaffung die eigene Abschaffung zu propagieren. Dieser Widerspruch gilt jedoch nicht allein für politische Rock-Musik, sondern für jedes Kunstwerk, das im Kapitalismus am Kapitalismus Kritik übt.“ Salzinger hat hier beschrieben, was es heißt, Kunst in Lebenspraxis überführt zu sehen. Heißen wir ihn willkommen im endgültigen Post-Pop! Denn beginnt man heute, über das Populäre nachzudenken, dann kann einen das Grauen überkommen. Das Populäre ist inzwischen zu so einem wolkig-luftigen Phänomen geworden, sein Begriff zu einem so weichgespülten, dass nahezu alles damit belegt werden kann, was öffentliche Hervorbringung ist. Das ist deswegen so grausam, weil das Populäre etwa ab dem 15. Jahrhundert in Europa als diese

Gegenform und Antithese zu Obrigkeit und Konvention das einzig subversive Momentum innerhalb der zivilisierten Gesellschaften war. Die Theaterformen der Commedia dell’Arte zeigten als Volksschauspiele Alternativen auf, die Schauspiele strebten keine Belehrung mehr an, waren moralisch indifferent und vermittelten keine Werte mehr. In einer sonst erstarrten Welt des Alltäglichen schafften sie plötzlich und spontan Raum für Befreiung. Befreiung durch Humor, Groteske und Chaos, aber auch durch freiere Rede. Der russische Literaturwissenschaftler Michail Michailowitsch Bachtin entwickelte in den 1940er-Jahren dafür die These vom „Konzept der Karnevalisierung“. Der Freiraum des Karnevals, als eine der grellsten Formen von Volkskultur, sei das notwendige Ventil einer Gesellschaft, ein Tabubruch, ja, aber notwendig, weil die Öffentlichkeit nach dem Anderen zu der von festen Verhaltensmustern und Konventionen geprägten Kultur verlange. Die eben alle Schichten erfassende Feier des Gewöhnlichen trage dazu bei, dass die etablierte, genehmigte Hochkultur wenigstens auf Zeit aufgehoben werde. Und das notwendigerweise, um die Gesellschaft als solche zu erhalten. Zwar steckt dieser Konventionsbruch in einem abgesteckten Rahmen. Das aber mache ihn darum nicht unbedeutend, sondern als Alternative erkennbar. Tempi passati. Es scheint dagegen, man kann heute das Populäre nicht mehr erkennen, und zwar nicht deshalb, weil es untergegangen ist, wie man meinen könnte, sondern weil es auf ganzer Linie gesiegt hat. Das Populäre, der Pop, ist inzwischen Musik, Sport, Oper für alle, Massenmedien wie das Internet und Fernsehen, Trivialliteratur und Werbung, virale Aktionen und Facebook-Partys – Pop ist überall. Pop ist, so furchtbar es klingen mag: Dieter Bohlen und der Papst, der ja jetzt wir sind. Pop ist Udo Jürgens und Beethoven, der inzwischen zurückgetretene Bundespräsident Wulff, der dem Chefredakteur eines Boulevardblatts „Ich bin auf dem Weg zum Emir“ auf Band spricht. Aber auch dessen Frau, die eine Autocomplete-Funktion von Google populär gemacht hat. Pop ist auch eine Fußball-Europameisterschaft und Public Viewing, Olympische Spiele in Hochsicherheitstrakten, ein Madonna-Konzert und eines von Rammstein. Pop ist dann auch Jonathan Meese, der den Parsifal in Bayreuth auf die Bühne bringen soll und dessen medienverliebtes Werk, wie die Süddeutsche Zeitung schrieb, sich immer so aufführt, „dass Interviews noch gedruckt, Ausstellungen nicht geschlossen und Performances nicht etwa polizeilich beendet werden, sondern sich vor Kameras, Sammlern und Kritikern provozierend entfalten. Auf Johnny Meese ist Verlass, er wird Bayreuth beliefern.“ Pop ist das Unkonventionelle für den Moment. Pop ist nichts. Halt! Halt! Halt! So stimmt das ja auch wieder nicht. Aber irgendetwas ist passiert. Pop, das Populäre, die Kultur des Populären sind heute so diffus, weil sie dauerhaft hineindiffundiert sind in alle Bereiche des Alltäglichen. Oder umgekehrt: In allen Bereichen des Alltäglichen ist


Pop, der ursprĂźngliche Pop des Theaters im 15. Jahrhundert und der eines Mick Jagger im Hyde Park benĂśtigen das offensichtliche Anderssein, den auch sichtbaren Widerstand gegen etwas, sie sind Opposition. Heute sind sie Regierung. 15


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Bilder Geoffrey Farmer, Leaves of Grass, 2012

heute Pop. Und alltäglich ist alles. Darum ist Pop nichts. Um das nachvollziehen zu können, um die Bewegung dieser Auflösung des Populären begreifen zu können, muss man die betrachten, die Pop und das Populäre zu dem gemacht haben, was es jetzt ist: uns. Denn es ist immer schon eine Frage der Haltung gewesen, die man dem Populären entgegengebracht hat, um es zu erkennen und einzuschätzen. Wenn man Pop nicht mehr klar sehen kann, nur noch Nebel des Populären wahrnimmt, dann liegt es an uns, denen sich der Begriff verflüchtigt hat, weil uns die Definitionslust fehlt. Lust. Das ist das Wort. Und was genau ist passiert? Pop, der ursprüngliche Pop des Theaters im 15. Jahrhundert und der eines Mick Jagger im Hyde Park benötigen das offensichtliche Anderssein, den auch sichtbaren Widerstand gegen etwas, sie sind Opposition. Heute sind sie Regierung. Denn es hat in der Kultur und den Subkulturen westlich-zivilisierter Gesellschaften im 20. Jahrhundert zwei bedeutende Brüche gegeben, die für die Geschichte unseres Denkens interessant sind. Einmal die Auflösung von Kunst ins Leben zur Jahrhundertwende um 1900. Und einmal die veränderte Perspektive auf dieses Leben durch uns nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Künstler des beginnenden 20. Jahrhunderts spürten, dass der tradierte Formen-Kanon des Schönen, Wahren und Guten nicht mehr hinreichte, ihr Lebensgefühl und ihre Lebenserfahrung auszudrücken. An eine „ästhetische Erziehung des Menschen“, wie Schiller noch glaubte, war da nicht mehr zu denken. Die zweite Erfahrung, jene, die der Rock-Power die Macht genommen hat, ist, dass am Ende von Systemen und Geschichte kein Widerstand gegen irgendetwas mehr möglich ist: Alles ist schon geschehen. Und alles ist gleichzeitig da. Diese beiden Brüche haben jedenfalls Wirkung gezeigt, und es scheint auf Anhieb nicht ganz einfach zu sagen, was nun was bedingt: Haben sich die Menschen verändert oder hat sich ihre Kultur verändert? Die Antwort: Leider ist beides dasselbe. Jede Kulturhervorbringung, die relevant ist, verdankt ihre Relevanz einer Zuschreibung, einer Anerkenntnis, dass sie ein Lebensgefühl ausdrückt, eine Haltung zur Welt und zum Menschen. Eines der hervorragenden Residuen, in dem Menschen sich seit je gespiegelt und erkannt haben, war die Kunst. War. Denn innerhalb der Kunst haben sich mit der Wende zum 20. Jahrhundert folgenschwere Wandlungen vollzogen. Diese mittlerweile „Die Avantgarde“ genannten Veränderungen haben nach und nach alle Teile der Bildenden, Literarischen und Darstellenden Künste erfasst. Was war geschehen? Die Blase der Kunst musste platzen. Das haben Künstler so empfunden. Die tradierten Formen der Kunst genügten nicht mehr, das Lebensgefühl von Auflösung und Sinnverlust zu artikulieren. Am Ende der industriellen Revolution, mit dem unmittelbaren Erleben von Beschleunigung und Gleichzeitigkeit des Ungleich-

zeitigen, fand das, was gesagt werden wollte, keine adäquate Sprache mehr. Stellvertretend für alle Kunstbehelligten sagt Hugo von Hofmannsthal in seinem berühmten ChandosBrief: „Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgendetwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen. […] Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte ‚Geist‘, ‚Seele‘ oder ‚Körper‘ nur auszusprechen, denn die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muss, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze“. Wie aber reagierte die Kunst auf ihre Sprachlosigkeit? Schwieg sie fortan? Nein – sie überführte sich gewaltsam in das Leben. Raus aus dem behaglichen Elfenbeinturm reiner Ästhetik also. Charakteristika sind: Man gibt sich vor allem antibürgerlich, bewusst provokant, betont innovativ sowie stark selbstreflexiv. Kunst implodiert, indem sie ins Leben explodiert, heißt das. Am Anfang war das ein großer experimenteller Spaß! Jede der sich im Stakkato ablösenden Avantgarden trat mit dem großen Selbstbewusstsein der Überwinder und Schockierer auf. Es war die Zeit der Nabelschau also, des Kunst-Narzissmus. In der Malerei entstanden so: Kubismus, Konstruktivismus, Dadaismus, Expressionismus, Minimal Art, Op-Art, Pop-Art, der Wiener Aktionismus und die sogenannte Konzeptkunst. Und, und, und. Im Theater: Die Abkehr von Psychologie und Innerlichkeit, die Idee von „Über-Marionetten“ statt Schauspielern, Bert Brecht zerlegte die Illusion, der Ausdruckstanz von Isadora Duncan schleifte die Disziplinar-Anstalt des klassischen Balletts. In der Musik tauchte die Zwölftonmusik auf, die Serielle Musik, der Free Jazz, die Minimal Music, die Elektronische Musik. In der Literatur begann die Moderne mit Stéphane Mallarmé, Charles Baudelaire und Arthur Rimbaud, im deutschsprachigen Raum neben Hofmannsthal mit Stefan George und den Dichtern des Expressionismus. Es blieb also kein Stein mehr auf dem anderen. Und als Marcel Duchamp mit seinen Readymades, dem bereits industriell gefertigten: Fahrrad-Rad, Flaschentrockner und Urinal, auf den Plan trat, war der Kunstskandal perfekt. Nicht mehr das Objekt innerhalb der Kunst war nun noch wichtig, sondern die Geste, mit der es zu Kunst erklärt wird. Man mag es als Verdienst der Avantgarden des 20. Jahrhunderts begreifen, dass mit jedem ihrer Akte nun die Frage aufgeworfen war, warum etwas überhaupt noch Kunst war. Allein: Darauf konnte es keine verbindliche Antwort mehr geben. Denn damit hatte sich die Kraft der Kunst, in Werken zu sprechen, endgültig erledigt. Denn alles, was banal war, vom Feuerlöscher bis zur Tapete, konnte nun Kunst sein. Aber wozu eigentlich noch? Joseph Beuys hat dann irgendwann noch einen 10-Mark-Schein signiert. Das war`s. Damit ist der erste Schritt des Verwachsens von ästhetischem Ausdruck mit dem Leben getan. Der zweite liegt unausgesprochen in der Luft. Nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem Holocaust, nach Hiroshima und Nagasaki, erlo-


Pop ist dank der Massenmedien der Erlebnisbereich des Globus schlechthin, in den man eingetaucht bleibt, wo immer man sich auch befindet. Und genau daran ist Pop als gesellschaftlich akzeptierte, praktikable Umgangsform der Rebellion gescheitert. 17


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Pop Egal

schen die Ausdrucksformen der Kunst endgültig in Unverbindlichkeit. Die Haltungen der Künstler waren noch jeweils idiosynkratrisch zu nennen, das ja. Aber Kunst konnte kein Konsensangebot mehr machen. Man hatte den Common Ground verloren, auf dem so etwas wie selbstverständliche Verständigung noch möglich war. Und der Schock? Er hatte sich verschlissen. Was jetzt geschah, war die endgültige Assimilation der Kunst an die Warenwelt. Einerseits. Andererseits war es die Verlagerung von Rebellion, Protest und gesellschaftlichem Unbehagen der Jugend: dem Gefühl, Außenseiter zu sein, eben in die Subkulturen des Populären, vornehmlich der Rockmusik. Man muss nur diese Linie sehen, um das zu begreifen: Andy Warhol – dessen Siebdruck einer Campbell`s-Dose Tomatensuppe – Velvet Underground und Lou Reed. Alles vermischt sich. Alles drängt auf den Markt. Wie Waren. Pop-Art meets Pop. And Pop sells. Warum? Die Jugendkultur, sie musste aufkommen, da die Generation der Väter und Großväter sich in den beiden furchtbarsten Kriegen der Menschheitsgeschichte aufgerieben hatte und keine Glaubwürdigkeit und keine adäquat erscheinende Kunstform mehr besaß. Diese Jugendkultur erkennt im Rock immer den Ausdruck der Aggression. „Ein Gitarrensolo von Keith Richards oder Ron Wood vermag ein Maß an Trauer und Aggression, Dynamik und Melancholie im Hörer freizusetzen, das mehr bewirken kann als jeder noch so aktivistische Text. Rockmusik kann [...] ein Klima schaffen, in dem Befreiung eher möglich wird“, so damals der Popkritiker Franz Schöler. Warum aber Rockmusik – und nicht Theater? Wie konnte sich der Diskurs des Unbehagens nur an vornehmlich amerikanische Bands (und das britische Gehampel eines bizarr ausstaffierten Mick Jagger), an einen Bob Dylan, an ein Woodstock und an ein Musical mit Namen Hair, an ein wildes Mit- und Durcheinander der populären Ausdrucksformen hängen – und nicht an deutsches Regietheater, das zur selben Zeit aufkam? Denn es formte sich ja zumindest hier in Deutschland eine klarere Position, die sich vor allem im Sprechtheater des Peter Stein, Peter Zadek, Wilfried Minks und Claus Peymann artikuliert. Das ist ja doch auch in darstellender Kunst gebündelte Rebellion gewesen: Angefangen von den Anti-Vietnam-Aktionen Steins bis zum Sammeln für Zahnersatz für die inhaftierten RAFTerroristen durch Peymann. Von Zadeks Film Ich bin ein Elefant, Madame, der unter anderem auch die Musik von Lou Reed verwendet (den Dealer-Song I’m Waiting For My Man), muss man gar nicht reden. Warum spielte das wesentlich reflektiertere Theater nicht die Rolle, die ihm eigentlich zustand? Die Antwort ist so banal wie plausibel. Die dominanten Formen des Pop verdanken ihre Dominanz den aufgekommenen und immer noch aufkommenden Massenmedien. Während Theater stets lokales Ereignis auf Zeit bleibt, mag es auch durch die Feuilletons auf größere Kreisbahnen ge-

bracht werden, verlängert sich eine durch und durch kommerzialisierte Popmusik mit Radio, LP, CD, TV, Kino, inzwischen auch Youtube, dem neuen kollektiven Gedächtnis der Jugendkultur, in nahezu alle Lebenswirklichkeiten des Globus hinein. Pop, das Populäre, ist der Erlebnisbereich des Globus schlechthin, in den man eingetaucht bleibt, wo immer man sich auch befindet. Und genau daran ist Pop, genauer gesagt: der klassische Pop, als gesellschaftlich akzeptierte, praktikable Umgangs- und Verständigungsplattform der Jugend, der Rebellion, des Andersseins mittlerweile gescheitert. Der Begriff hier lautet „hochpromotet“. Pop heute ist ausdifferenziert in die unterschiedlichsten, oft kurzlebigen Stile, die von der Kreativindustrie wie Mode auf den Markt geworfen werden. Zielgruppen (die Jugend ehedem) werden in Nischen gesucht und entsprechend bedient. Gesucht und besetzt werden Trends. Bedient wird aber vor allem der Mainstream. Der aber war nie politisch, gar rebellisch. Pop ist so zur Geschmacksfrage geronnen, er ist keine Haltung mehr, kein Ausdruck von Verweigerung und Untergrund, sondern von lebensbegleitendem Genuss. Man nippt am Pop, wie es gerade passt. Das Populäre, die Kunst – aber ist das nicht eigentlich inzwischen dasselbe? – zucken noch ein wenig in eklektizistischen Konvulsionen, aber sie befriedigen den Wunsch nach Einheit, Identität, Sicherheit, nach Popularität, im Sinne von verbindender Öffentlichkeit, nicht mehr. Für den französischen Philosophen Jean-François Lyotard ist es in „Ermangelung ästhetischer Kriterien […] möglich und nutzbringend, den Wert der Werke am Profit zu messen, den sie erbringen. Dieser Realismus passt sich allen Tendenzen an, wie das Kapital, das sich allen ‚Bedürfnissen’ anpasst, unter der alleinigen Voraussetzung, dass Tendenzen und Bedürfnisse über die nötige Kaufkraft verfügen.“ Ja, vielleicht ermöglicht auch nur die Freiheit des Geldes, dass man sich das noch leisten möchte. Vielleicht erleben wir das Populäre als einen Narzissmus: Wir finden uns als Publikum nur in den Themen wieder, die jeweils unsere Aufmerksamkeit binden, und die so sauber vorgetragen werden, dass wir gerade noch erkennen, um was es sich handelt. Das mag im Documenta-Jahr 2012 jetzt auch die Kunst für Schmetterlinge und Hunde wie das Wahlrecht für Erdbeeren sein. Wie gesagt: Wenn Kunst und Populärkultur ihre Relevanz für die Menschen eingebüßt haben, mag man – wie die Documenta-Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev – von Posthumanismus sprechen. Bereiten wir uns darauf vor! Und lassen die Erdbeeren wählen, was sie wollen. Bitte!

Bernd Graff ist seit 1992 Autor u ­ nd Redakteur der Süddeutschen ­Zeitung – nach einem Jahrzehnt für deren Online-Auftritt nunmehr wieder für die Ressorts Feuilleton und Medien. Mehr über den Künstler Geoffrey Farmer auf S. 8 Farmers Collage wurde fotografiert von Rosa Maria Rühling.


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Priesterin der Lieder Sie singt in mehr als sechs Sprachen und würde am liebsten in einer Metal-Band mitwirken. In der Uraufführung von Jörg Widmanns Oper Babylon wird sie die Priesterin Inanna verkörpern. Eine Begegnung mit der so außergewöhnlichen wie lebhaften Sopranistin Anna Prohaska.

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Text und Interview Daniel Ender

Babel Das bunte Stimmengewirr von den anderen Tischen dringt gedämpft herüber. In der ruhigen Ecke eines belebten Restaurants neben der Bayerischen Staatsoper hat sich Anna Prohaska nach einer intensiven Probenphase für Jörg Widmanns neue Oper Babylon mit einer Pasta g ­ estärkt, trinkt gleichzeitig Tee und naturtrüben ­Apfelsaft und hat ein paar freie Tage vor sich. „Ich bin die Anna“, lautet ihr fröhlicher Gruß. Das Gespräch wird um Sprache im engeren und im weiteren Sinne kreisen, um die Wortsprache ebenso wie die Stile der Musik. In beidem ist die Sopranistin denkbar viel­seitig. Was denkt Anna Prohaska über Vielfalt – s ­owohl allgemein als auch in der Kultur? Anna Prohaska holt tief Luft: „Für mich ist beim Multikulturellen ganz wichtig, sei es in der Politik, im Privatleben oder in der Kunst, dass jeder seine eigene Identität wahrt. In meiner Familie leben einige europäische Kulturen nebeneinander, und jeder hat sein Eigenes beibehalten. Meine Mutter ist durch und durch Britin geblieben, obwohl sie seit Ende der 1960er-Jahre in Österreich und Deutschland ist. Mein Vater, obwohl er viel herumgezogen ist und auch lange in Deutschland gelebt hat, ist Österreicher. Der Hintergrund bei meinem Vater ist tschechisch, bei meiner Mutter irisch, das heißt, es ist wirklich ein europäischer Mischmasch.“ Wie sehen Sie innerhalb dessen Ihre eigene Identität? „Ich kann nicht wirklich bezeichnen, als was ich mich fühle. Ich fühle mich wohl am ehesten als Europäerin. Auf der anderen Seite ist schon auch unser Haus bei Salzburg meine Heimat. Da fühle ich mich sehr zuhause. Das ist ein 400 Jahre altes Fischerhäusl, wo ich auch ganz viel Inspiration fürs Singen herbekomme, wo ich gut üben und wo ich auch toll laut Musik hören kann, weil es mitten auf dem Land ist.“ Welche Sprache war für Sie prägend? „Wir sind mit der Familie sehr oft umgezogen, und ich bin daher viel mit verschiedenen Sprachen aufgewachsen, vor allem aber mit Englisch. Mein Bruder und ich sprechen nur Englisch miteinander, obwohl wir nie in England gelebt haben. Die Sprache ist ja auch das, was am meisten für Multikulturalität steht, dass man sozusagen nicht ein Sprachenwirrwar spricht wie in Babylon, sondern dass man jede Sprache, die man sprechen will, gut beherrscht.“ Wenn Sie deutsch sprechen, klingen Sie wie eine ­Berlinerin. „Diese Stadt reizt mich auch nach den 18 Jahren, die ich da schon lebe, sehr. Ich entdecke immer wieder neue Ecken, neue Kieze, je nachdem wohin die Freunde ziehen oder wohin man selber zieht. Es ist eine sehr weitläufige Stadt, und ich habe mir hier in Mün-

chen gedacht, wie angenehm es ist, in zehn Minuten drei Bezirke zu durchfahren. Wien und München ­haben beide dieses Kompakte, sie haben ein Zentrum in der Mitte – anders als Berlin, was dort auch an der Geschichte der Stadt liegt.“ Sie haben nicht nur ein breit gefächertes Repertoire, sondern singen auch in etlichen Sprachen. Auf Ihrer CD Sirène aus dem Jahr 2011 sind das Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch und Tschechisch – und dann noch, für einen Gregorianischen Choral, Latein. Fällt Ihnen da der Wechsel leicht? „Ich bin nicht so puristisch wie manche Kollegen, dass ich eine Sprache fließend beherrschen müsste, bevor ich in ihr singe. Viele Sänger sind sehr streng mit sich, wie etwa Erwin Schrott, der sagt, er will erst in das deutsche Fach hinein, wenn er die Sprache wirklich kann. Ich arbeite immer gerne mit Sprachcoaches oder Freunden zusammen, die die Sprache sprechen. Für Polnisch zum Beispiel habe ich eine sehr gute Freundin, die mir geholfen hat. Wenn wir daran gearbeitet haben, meint sie, das spreche ich sehr gut oder fast muttersprachlich aus. Wenn ich weiß, was die Worte bedeuten, muss ich ja nicht unbedingt die polnischen Grammatiktabellen auswendig wissen, um ein Lied schön zu singen. Allerdings muss man, gerade wenn man in einer Sprache wie Tschechisch singt – Janáček zum Beispiel, der sehr syllabisch auf den Sprachfluss, auf die Sprachmelodie schreibt – natürlich schon sehr gut vorbereitet sein. Aber mit einem gewissen Sprachgefühl kann man das gut lernen.“ Weltmusik Die Behauptung, jemand entspreche nicht dem Klischee einer Opernsängerin, ist in den letzten Jahren selbst zu einem Klischee geworden. „Sie ist keine Diva“ – das trifft auch auf Anna Prohaska zu. Aber noch etwas anderes unterscheidet sie vom öffentlichen Bild ihres Berufes: ein weiter musikalischer ­Horizont, der auch vor Exotischem nicht Halt macht. Sie erzählt, dass auch das auf ihre Familie, aber auch auf ihren ersten Lehrer zurückgeht: „Ich wurde schon sehr früh in meinem privaten ­Unterricht bei Eberhard Kloke darauf getrimmt, zwischen den Genres hin- und herzuwechseln, zwischen Lied und Oper, alter und moderner Musik. Gerade weil wir zuhause keine Vorurteile gegenüber Musical, Pop oder Rockmusik haben und auch viele aus meinem Bekanntenkreis das gerne hören, habe ich da keine Berührungsängste. Daher kann ich, glaube ich, auch mit einer Popstimme singen und klinge dann nicht wie eine Opernsängerin, und auch Folkmusic kann ich gut nachmachen. Ich glaube, es kommt immer darauf an, womit man in Berührung gekommen

Uraufführung Babylon 27


Fotografie Hadley Hudson

ist und wie tolerant das Umfeld ist. Wenn man mit rein klassischen Musikern aufwächst, die wirklich nur Mozart, Bach und Brahms zuhause hören und dort niemals ein Beatles-Lied erklungen ist, ist es natürlich etwas schwieriger, sich in einer lockeren, souligen Richtung auszudrücken.“ Die Beatles sind inzwischen auch schon Klassiker. „Das stimmt. Sie sind für mich die Nachfolger von Schubert. Wenn man nur überlegt, wie viele Lieder sie geschrieben haben, die hohe Qualität der Songs, und auch dieses Umschwenken von Moll zu Dur. Letztens habe ich wieder einmal die Winterreise, diesmal mit Jonas Kaufmann, gehört: Dieses unglaubliche Zwischenspiel im Wegweiser – genau das haben die Beatles etwa bei Because auch gemacht. Diese zweieinhalbminütigen Songs sind kleine Juwele, für die andere Leute zehn Minuten brauchen, um so viel musikalische Entwicklung unterzubringen.“ Sie erzählen ja immer, dass Sie privat alles andere als Oper hören. „Ja, das stimmt. Das ist mir zu viel mit Arbeit verbunden. Ich bin zwar nicht so eine Musikerin, die zuhause nie Musik hört – es muss immer etwas laufen, entweder im Hintergrund oder am besten im Vordergrund ganz laut, aber Oper nie. Wenn klassisch, dann alte Musik, Mittelalter und Renaissance. Das ist schon meine große Leidenschaft, und da gibt

es auch einen Übergang zur Folkmusic, die ich sehr liebe, aus den verschiedensten Ländern, aus dem Baltikum, aus Skandinavien – das ist so schön, vielfältig, das haben wir im Alpenland gar nicht. Für österreichische oder bayrische Volksmusik interessiere ich mich nicht so sehr.“ Warum? „Mir ist das zu durig. Ich mag an der irischen, skandinavischen oder baltischen Volksmusik diese Traurigkeit, diese Sprödheit sehr gern, auch dass es in Moll oder in Kirchentonarten ist, das berührt mich mehr. Ich liebe einfach melancholische Musik. Eine meiner Lieblingsbands heißt Gjallarhorn – das sind Skandinavier, eine Mischung aus Finnen und Schweden, die australische und afrikanische Perkussionsinstrumente von Ureinwohnern benutzen, aus der Tradition zweier vollkommen unterschiedlicher Kontinente. Das ist so eine geile Mischung – das ist für mich wahres Crossover, weil sich jedes einzelne Element treu bleibt und die Instrumente in ihrem Stil gespielt werden und die werden zusammengebracht. Ich mag kein wischiwaschi Crossover mit Weichspüler, wenn die Ecken und Kanten des ­jeweiligen abgeschliffen werden und man überhaupt keine eigene Identität mehr hört.“ Das klingt so, als hätten Sie hier ebenfalls Ambitionen.


„Mein lang ersehnter Traum ist es, eine CD mit einer Metal-Band aufzunehmen, bei der ich wirklich mit meinem Operngesang oder auch mit einer experimentellen Gesangsart dabei bin. In der Schule hatte ich einmal Kontakt zu Bands, aber das hat sich leider verlaufen. Es ist natürlich schwierig, eine Opernkarriere zu verfolgen und gleichzeitig in einer Band zu singen, weil das zwei vollkommen andere Arten der Arbeit sind. Bei einer Opern- und Konzertkarriere widmet man sich einem Projekt vollkommen und nicht über mehrere Jahre einer Gruppe. Das sich das nicht vereinbaren lässt, ist schon schade.“ Inanna Das Projekt, auf das sich Anna Prohaska in den letzten Monaten ganz und gar konzentriert hat, ist auch der Anlass für unseren Termin: Babylon, die neue Oper von Jörg Widmann nach einem Libretto von Peter Sloterdijk; es dirigiert Kent Nagano, und für die Szene sorgt die Theatergruppe La Fura dels Baus. Bei den Proben erlebte die Sängerin die verschiedensten kulturellen Hintergründe aller Beteiligten als überaus anregend: „Regisseur Carlus Padrissa und einige aus seiner Truppe La Fura dels Baus sind Katalanen, es wurde also viel Katalanisch gesprochen, außerdem Spanisch, weil wir Spanisch sprechende Assistenten und einen Choreographen haben, das wird auch als Mischmasch gesprochen, Englisch wird manchmal als Hilfsmittel benutzt. Außerdem wird Französisch gesprochen, ich rede Italienisch mit dem Regisseur, der antwortet dann langsam auf Spanisch oder Katalanisch oder in einer Mischung aus Italienisch und Spanisch. Es ist wirklich die babylonische Sprachverwirrung auf unseren Proben: Ich finde es fantastisch! Es ist so lustig und toll, dass wir mit Händen und Füßen und allen Sprachen, die uns zur Verfügung stehen, versuchen zu kommunizieren. Manchmal ist es auch so, dass man etwas genau anders herum versteht. Aber das lässt sich meistens in ein paar Sekunden klären.“ Was sind für Sie bei Babylon sängerisch die größten Herausforderungen? „Ich fand es ziemlich schwer, die Vokalisen zu singen, bei denen die Laute ganz genau festgelegt sind – a-e-i-o-u-ä-i. Mit atonalen Tonfolgen ist das fast schwerer zu lernen als eine Sprache, als ob es computergeneriert wäre. Das liegt vielleicht daran, dass Inanna, diese Göttin der Liebe und des Krieges, aus einer Ursuppe kommt. Ich glaube, wenn Vokalisen in diesem Zusammenhang benutzt werden, geht es auch immer darum, dass es aus etwas Urigem kommt.“

Anna Prohaska

„Ich mag kein wischiwaschi Crossover mit Weichspüler, wenn die Ecken und Kanten des jeweiligen abgeschliffen werden und man überhaupt keine eigene Identität mehr hört.“ Widmanns Musik bedeutet beim Hören geringere Schwierigkeiten als bei anderen Zeitgenossen, weil sie immer auch relativ eingängige Elemente enthält. Ist das hier auch so? „Die Musik mag leicht zu hören sein, aber zu singen ist sie sehr schwer, etwa, weil es so viele Temposchwankungen gibt. Etwa jeder zweite Takt hat ein anderes Tempo. Und das Krasse ist, wenn man glaubt, eine leichte Melodielinie vor sich zu haben, dann ist sie so rasend schnell, dass das wiederum die Schwierigkeit ist. Das heißt, es kommt immer wieder ein neuer Parameter dazu, der einen herausfordert. Es ist ganz anders, aber doch wieder ähnlich wie bei Bernd Alois Zimmermann, der Agogik, Tempo, Rhythmus, Tonhöhen, Akzentuierungen usw. immer wieder verändert – bei jedem Ton ist das anders.“ Ist bei Widmann die Überforderung der Sänger eine Strategie, um sie zu extremen Ausdruckswerten zu bringen? „Ich glaube, er hat es sehr gerne, Grenzen auszureizen: diese Grenzübertretung, dass es wirklich angestrengt klingt. Ich bin gerade dabei, mir so einen Weg zu bahnen, dass ich das für mich gesund singen kann, mir aber vielleicht trotzdem etwas Kratziges selber einbauen kann, was aber meine Stimme nicht total fertig macht. Es hat auch keinen Sinn, sich total zu versingen und dann für drei Monate nicht mehr singen zu können. Man muss sich manchmal selber kleine Eselsbrücken bauen, sozusagen zuerst rein das üben, was notiert ist, und dann die Farben und die skurrilen Stimmarten draufsetzen.“ Widmann schreibt ja Musik, die durchaus Brücken zu traditionellen Hörgewohnheiten enthält. Überschreitet er damit auch die üblichen Grenzen der Neuen Musik? „Ja, man könnte den Lernprozess von Jörgs Musik manchmal, und das meine ich weder negativ noch komisch, mit dem der Musik von Richard Strauss ver-

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gleichen, weil man denkt, das geht in eine bestimmte Richtung, aber dann kommt plötzlich eine andere Harmonie – ein Umschwenken, das man gar nicht erwartet hätte. Weil Widmanns Musik am Anfang so tonal klingt, birgt sie ihre Tücken. Wenn man sich von Anfang an in einer atonalen und dissonanten Welt befindet, ist es fast leichter, Tonreihen einfach mechanisch auswendig zu lernen. Aber wenn man sich in einem gewissen tonalen Feld wohl fühlt, und plötzlich schwankt es um – das ist viel schwerer. Das merke ich auch gerade, weil ich die Sophie im Rosenkavalier lerne. Das ist gar nicht so leicht, wie ich gedacht habe, obwohl ich schon Feldman, Boulez und Ruzicka gesungen habe. Jörg sind so wunderschöne Melodien eingefallen und zwar so schamlos tonal und teilweise konsonant. Er sagt zwar selber, er macht sich damit angreifbar – aber na und? Man muss auch nicht immer alles so dissonant klingen lassen, um es für eine gewisse Adorno’sche Richtung akzeptabel zu machen. Das haben wir inzwischen ja schon wieder verlassen, da braucht sich niemand mehr für Konsonanzen zu schämen.“

Anna Prohaska studierte an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin und ­wurde 2006 Ensemblemitglied an der Staatsoper Unter den Linden Berlin, wo sie in ­Rollen wie Blonde (Die Entführung aus dem Serail) und Anne (The Rake’s Progress) auf der Bühne stand. Gastengagements führten sie u.a.­­­zu den Innsbrucker Festtagen für Alte Musik, nach Cleveland und Tokio. Bei den Salzburger Festspielen war sie ­als Zerlina (Don Giovanni) und ferner in Luigi Nonos Al gran sole carico d’amore zu erleben. Kaum eine junge Sängerin ist mit Neuer Musik s ­o vertraut wie sie: Fachgrenzen spielen für sie keine Rolle. I­ n der Uraufführung von Babylon zur Eröffnung der Spielzeit 2012/13 wird sie die Rolle der Priesterin Inanna singen.

Daniel Ender ist Chef­ redakteur der Österreichischen Musikzeitschrift und ständ­­iger freier Mitarbeiter des Standard (Wien) und der Neuen Zürcher Zeitung. Der promovierte Musikwissenschaftler lehrt an der Musik­ universität Wien sowie an den Universitäten Wien, Salzburg und Klagenfurt.

Babylon Oper in sieben Bildern Von Jörg Widmann, Libretto Peter Sloterdijk Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper Uraufführung am Samstag, 27. Oktober 2012, Nationaltheater

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STAATSOPER.TV: Livestream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 3. November 2012 Weitere Termine im Spielplan ab S. 95



»Es gibt nicht die eine Mehrheit«

Árpád Schilling


Irgendwo in den Ruinen müsste Árpád Schilling sein. Es ist fünf Uhr morgens, der Himmel graut allmählich, aber die Geisterstadt ist von so gewaltigen Ausmaßen, dass er nicht zu finden ist. „Wir sehen uns da vorne“, hatte er noch gerufen, die Hand unbestimmt in eine Häuserflucht deutend, und war verschwunden. Árpád Schilling ist in Eile an diesem Morgen, er muss die eine Szene noch schnell drehen, bevor die Sonne ihre Strahlen auf die nackten Wände wirft und die ganze Kulisse damit unbrauchbar wird. Die Umgebung hier draußen vor den Toren Budapests ist wahnwitzig; sie ist wie geschaffen für Árpád Schilling. Der Fahrer hatte in der ersten Morgendämmerung eine Ausfahrt genommen auf der Autobahn in Richtung Balaton, ist eingebogen in einen staubigen Feldweg voller Schlaglöcher, und auf einmal tauchte am Horizont diese Silhouette auf. Eine riesige Häuserfront, gewiss einen halben Kilometer breit, die Gebäude fünfstöckig aufragend mit riesigen Portalen und Torbögen, mit den gewundenen Auffahrten für die Parkhäuser und den Geländern für die Dachterrassen. Mit jedem Meter, den der Wagen über den holprigen Weg näher heranschwankt, sind mehr Details erkennbar: die klaffenden Höhlen in der Wand ohne Fenster, tausende Krater nebenund übereinander. Die Wände nur aus Betonteilen zusammengeschachtelt, ohne Putz, ohne Schmuck, ohne Fassade. Eine kleine Auffahrt führt von der Seite heran an diese menschenleere Megacity, die von den Bauarbeitern über Nacht verlassen worden sein muss. Jetzt taucht Árpád Schilling wieder auf, mit seiner Filmcrew wirkt er verloren in dem hunderte Meter langen Atrium zwischen den Gebäuden. Der Kameramann ist auf den Boden gekauert, vor seinem Objektiv liegt eine Elendsgestalt auf dem nackten Boden, eingehüllt bloß in eine Decke. Eine junge Frau kniet davor, auch sie ärmlich gekleidet, und rüttelt an den Schultern der Liegenden. Schilling schaut auf den Monitor, der ihm das Kamerabild vergrößert. Was er in dieser einen Szene einfängt, ist eine Essenz seiner großen Themen: im Vordergrund das menschliche Schicksal, die Flucht, die Kälte. Im Hintergrund die Geisterstadt, dieses Gerippe, das der Krise zum Opfer gefallen ist und wie ein Sinnbild wirkt für das Scheitern von maßlosen Plänen; es wird wohl noch hundert Jahre vor sich hin rotten.

Text Kilian Kirchgeßner

Die Frage nach dem Dazugehören und Ausgeschlossensein, nach der Gesellschaft – das ist das Thema von Árpád Schilling. Im Herbst ­wird der weltweit gefeierte Theaterkünstler an der Bayerischen Staatsoper Giuseppe Verdis Rigoletto inszenieren. Ein Besuch am Filmset des Künstlers in Budapest. In diese Szenerie ist Árpád Schilling als Beobachter eingetaucht. Von seinem Gesicht sind der Dreitagebart zu sehen und die dunklen Augen, über die Haare hat er eine schwarze Wollmütze gezogen. Seine Anweisungen gibt er mit ruhiger, sonorer Stimme, die Hände gestikulieren dazu. Die Schauspieler, die Tontechniker und der Kameramann, sie alle folgen jedem seiner Fingerzeige. Natürlich ist er der Regisseur, aber es ist zu spüren, dass er für alle am Set mehr bedeutet: Árpád Schilling ist ihr Vorbild. Seine Stücke werden in Paris gespielt und in Wien, in München und in Klagenfurt, er bekommt Preise und Auszeichnungen in ganz Europa. Er hat es geschafft, mit seinem Werk das kleine Ungarn zu verlassen. Das kleine Wunder des Árpád Schilling beginnt in Cegléd, einem kleinen Ort östlich von Budapest. Als er jung ist, kennt er den Glanz des Theaters noch nicht und auch nicht die Lockungen der weiten Welt dort draußen. „Ich bin ein Einzelkind und so habe ich in der Schule immer Anschluss gesucht“, erzählt er. Ein gewinnendes Kind muss er gewesen sein, ein lebendiger Junge, der sich einmischt und engagiert. So rezitierte er denn zu den großen Feiertagen und Schulfesten die sowjetischen Gedichte und die Lobeshymnen auf die Arbeiterklasse, wie sie damals eben noch vorgesehen waren. Er verstand nicht, was er da sagte, aber offenbar hatte er Charisma: Er spürte, wie das Publikum an seinen Lippen hing. Árpád Schilling entschied sich, Schauspieler zu werden, und spielte nach dem Abitur in Budapest in der Untergrund-Szene. Auf der Bühne war er derjenige, der die Kollegen organisierte und den Überblick behielt. „Willst Du nicht lieber Regisseur werden“, fragte ihn da jemand, „das könntest Du gut.“ Heute sitzt Árpád Schilling auf einem Klappstuhl, wenn er von den Anfängen erzählt, er beugt sich vor und lacht viel. Er sitzt vor einer der großen Fassadenöffnungen in der Geisterstadt, in die wohl einmal eine Balkontür eingesetzt worden wäre. So gründete er mit 21 Jahren, es war das Jahr 1995, seine eigene Theatergruppe. Er nannte sie Krétakör, Kreidekreis, und studierte ein Stück nach dem nächsten ein. Die Truppe tourte erst durch Ungarn, wurde später unter Eingeweihten im Ausland ein Geheimtipp und wuchs und wuchs. „35 Leute waren zu den besten Zeiten

Premiere Rigoletto 43


„Schon einige Wochen nach der Wahl in Ungarn bin ich aufgewacht mit dem Gefühl, kein Bürger mehr zu sein, nicht mehr dazuzugehören. Das ist es, was die Nationalisten wollen. Niemand sucht mehr nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner.“ bei Krétakör, wir hatten pro Jahr zwei bis drei Premieren und viele Dutzend Aufführungen“, sagt Árpád Schilling. Es war diese Konstellation, in der er sein großes Thema entdeckte, die Gesellschaft. „Als Schauspieler bin ich Einzelkämpfer, es geht um meine Leistung, um meinen Ausdruck. Aber als Regisseur bin ich für die Gruppe verantwortlich. Ich muss die Leute um etwas bitten, nach etwas fragen, ihnen für etwas danken. Bei Krétakör hatte ich eine Gruppe von älteren Leuten um mich versammelt, ich musste zugleich von außen Geld auftreiben für unsere Projekte; das alles hat mich dazu gebracht, mich mit Gemeinschaft, mit Gesellschaft auseinanderzusetzen.“ Auf der Bühne konnte Árpád Schilling die großen Fragen nicht nur theoretisch erörtern; in seinen Stücken ließ er sie lebendig werden. Er inszenierte einen Drei-Personen-Hamlet und Die Möwe von Anton Tschechow; etliche Preise gewann allein diese Aufführung, und Schilling tourte mit seinen Leuten in der Folge durch Nordamerika, Südkorea und China. Und dann, es war das Jahr 2008 und Krétakör stand auf der Höhe des Erfolgs, löste er die Gruppe auf. „Ich habe überlegt, wie ich der Gesellschaft dienen kann“, sagt Árpád Schilling. Er nahm seine Erfahrungen aus dem Theater und seinen Kurzfilmen und wechselte das Feld. In Schulen arbeitete er und in sozial ausgegrenzten Stadtvierteln, er kümmerte sich um die Roma-Minderheit und verband immer wieder Kultur und Bildung, Theater und Integration. Seine Gruppe Krétakör hat aufgehört, eine Schauspielkompagnie zu sein; er baute sie um zu einer Art mobiler Sozialarbeitstheaterkurzfilmwerkstatt. Derzeit ist Árpád Schilling in seiner dritten Phase: Er ist wieder zurückgekommen auf die klassischen Bühnen, bereichert um die Erfahrungen aus seinen Sozialprojekten. Krétakör ist wieder eine Truppe von Schauspielern und Kreativen, fünf oder sechs Köpfe klein, und unterwegs überall in Europa. Jetzt zeigt Schilling im Pariser ChaillotTheater ein Drama, das er selbst geschrieben und insze-

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niert hat – ein Drama, das auf zwei Ebenen spielt: auf der Bühne und auf der Leinwand, die Szenen von außen ins Theater bringt. Die Szenen, die in der bizarren Bauruine vor den Toren Budapests spielen. Um das Chaos in der Kulisse zu perfektionieren, braucht Árpád Schilling fast eine halbe Stunde. Mit seinem Filmteam ist er von der Geisterstadt aus ein paar hundert Meter weitergezogen, sie lagern jetzt unter einer Brücke, die eigens für die riesige Siedlung gebaut worden ist. Eine eigene Autobahnabfahrt sollte die tausenden Büros und Appartments, die mitten im Nirgendwo liegen, an die Zivilisation anschließen. Jetzt ist die Brücke ohne Funktion, hinter ihr erheben sich die ebenso nutzlosen Betonskelette der Häuserblocks. In den Schatten unter der Brücke hat Schilling einen Wohnwagen schieben lassen, ihn arrangiert er jetzt. Der alte Caravan sieht schon gut aus, die Außenwand vergilbt und die Fensterscheibe herausgefallen. Schilling schleppt noch eine alte Holzpalette heran, einen Waschzuber, eine Blechtonne und einen wackeligen Campingstuhl und wirft alles scheinbar achtlos in die Landschaft. Läuft zurück zur Kamera und schaut sich alles an. Spannt noch eine gelbe Wäscheleine durchs Bild und verschiebt die verrostete Tonne ein paar Zentimeter nach links. Dann ist das Chaos perfekt. Auf sein Kommando hin rollt ein junger Mann von oben einen alten Reifen die Brückenböschung hinunter, sammelt ihn unten auf und trägt ihn vor den Wohnwagen. Er wäscht sich an der Schüssel, setzt sich auf den Stuhl und packt eine Mahlzeit aus. Und dann sitzt er und isst, er sitzt und isst, minutenlang. Die Kamera hat keine einzige Bewegung gemacht, die ganze Szene fängt sie starr ein. Worum es in dem Film eigentlich geht? Árpád Schilling lacht, dann sagt er: „Das wissen nicht einmal die Schauspieler.“ Für ihn ist das ein entscheidender Faktor: Er erklärt den Darstellern, was sie in einer Szene tun sollen – warum sie es tun und wo in der Handlung diese Szene stehen wird, verrät er nicht. „Die Schauspieler“, sagt Árpád Schilling, „sollen authentisch sein, sie sollen nicht anfangen zu interpretieren.“ In diesem Satz steckt eine Menge von seinen Prinzipien. Er will keine prätentiösen Kunstwerke abliefern, die bis ins kleinste Detail durchgestaltet wirken. Seine Stücke sollen

„Ich kenne keine Gesellschaft, in der es die eine Mehrheit gibt. Jede Gesellschaft besteht aus lauter Minderheiten, und die Frage ist, welche Minderheit damit anfängt, die Mehrheit für sich zu deklarieren.“


Árpád Schilling

Fotografie Peter Puklus

ungekünstelt wirken, sollen ohne Umwege funktionieren – und im Idealfall weiß nur er selbst um die Mühen, die zu einem solchen Ergebnis führen. Für seine direkte Art muss er bisweilen kämpfen: Im Drehbuch zu seinem Film etwa hat er auf Namen für seine Charaktere verzichtet, er nennt sie einfach „asiatisches Mädchen“, „schwarze Frau“ oder „ungarischer Zigeuner“. Dass er dafür schief angeschaut wird, kennt er inzwischen. Dabei will er einen besonderen Effekt erzielen: In seiner Sprache und damit schließlich auf der Bühne soll nichts verstellt oder versteckt werden. Eine Person soll aus sich selbst heraus wirken – und nicht aufgrund eines Rollennamens. Also gibt es ein asiatisches Mädchen, eine schwarze Frau und einen ungarischen Zigeuner, die gemeinsam Árpád Schillings Inszenierung bestreiten; in Paris auf der Bühne und im Niemandsland zwischen Budapest und Balaton in den Bauruinen. Letztlich spiegelt diese Direktheit sein zentrales Anliegen wider: Die Frage, wie wir mit vermeintlichen Außenseitern umgehen. Und was wir mit denen machen, die sich verloren haben in den Randbereichen, in den Ruinen. „Ich kenne keine Gesellschaft, in der es die eine Mehrheit gibt“, sagt er: „Jede Gesellschaft besteht aus lauter Minderheiten, und die Frage ist einfach, welche Minderheit damit anfängt, die Mehrheit für sich zu deklarieren.“ Wie so etwas ausgehen kann, sieht Árpád Schilling derzeit in Ungarn. Da gibt es einen Regierungschef, der mit großer Mehrheit seiner Fidesz-Partei und der verbündeten rechtsextremen Propagandagruppe Jobbik das Land führt – „und er bedient nur seine eigene Zielgruppe, nur diejenigen, die ihn mögen. Das ist eine starke Diskriminierung“. Viktor Orbán heißt der Regierungschef, der europaweit mit seiner Politik für Unruhe sorgt; der scham- und schrankenlos seine absolute Mehrheit ausnutzt, um Politikfelder zu besetzen, um bis in die Arbeitsebene hinein unliebsame Personen abzuberufen, um das ganze Land nach seinem Gusto zu verändern. Dabei gehe es nicht nur um Nationalismus, befürchtet Árpád Schilling: „Das tiefere Problem dahinter entsteht, wenn jemand in einer solchen Position keine Verantwortung für die gesamte Gesellschaft übernehmen will, sondern nur für eine Gruppe. Dann spürt man im Alltag: Wer nicht mit ihm übereinstimmt, ist out.“ Out und abgeschrieben wie so viele – Künstler und Theaterdirektoren mussten gehen, ganze Spielzeiten und Programme in den öffentlichen Einrichtungen werden umgebaut. „Man kann keine Sprache finden, um seine Gedanken zu den Leuten zu transportieren“, sagt Árpád Schilling: „Schon einige Wochen nach der Wahl bin ich aufgewacht mit dem Gefühl, kein Bürger mehr zu sein, nicht mehr dazuzugehören. Das ist es, was die Nationalisten wollen. Niemand sucht mehr nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner in der Gesellschaft. Es gibt nur eine Richtung, und die ist vorgegeben.“ Das ist nicht etwa nur eine theoretische Erwägung, ein Gedankenspiel für Empfindsame. Die Ent-

fremdung zwischen Minderheit und Mehrheit wirke sich auf den Alltag aus, sagt Árpád Schilling: „Wenn ich über die Straße gehe oder in ein Geschäft, kann ich nicht mehr einfach mit jemandem ins Gespräch kommen. Es ist ein ständiges Abklopfen, auf welcher Seite das Gegenüber steht. Man kann nicht mehr reden, ohne zu grübeln.“ Auf tragische Weise spitzt sich damit in Ungarn das zu, was Árpád Schilling schon seit Jahren in seinen Stücken verarbeitet – die Frage nach dem Draußen und Drinnen, nach dem Dazugehören und Ausgeschlossensein. Es ist kein Sozialkitsch, den er inszeniert; er durchleuchtet das klassische Bühnenrepertoire auf alles, was darin über die Gesellschaft gesagt wird. Der Rigoletto zum Beispiel, seine Inszenierung für die Bayerische Staatsoper: Wie der Herzog von Mantua über seinen Hof herrscht, wie alle um die Gunst des Mächtigen buhlen, wie Rigoletto die Rolle des Narren bekommt – sind das nicht alles Parabeln, die auch heute noch ihre Gültigkeit haben, 161 Jahre nach der Entstehung der Oper? Und irgendwann kommt der Moment, in dem Rigoletto in der Falle sitzt; in dem er Witze macht über die Geliebten des Mächtigen, und alle außer ihm wissen, dass Rigolettos eigene Tochter Gilda eine dieser Geliebten ist. Man lacht über ihn, den Toren, und er kriegt es nicht mit. „Haben Sie schon einmal gemerkt“, fragt Árpád Schilling, „was für eine herrliche Musik Verdi ausgerechnet dem Herzog gegeben hat, dem Bösen? Man sitzt da und will ihn hassen, aber doch fasziniert uns diese Schönheit, diese Perfektion.“ Man kann sich der Macht nicht entziehen – das ist die Lehre, die Schilling aus Verdis

Fortsetzung auf S. 48


Die menschenleere Ruine einer Megacity vor den Toren Budapests. Die Umgebung ist wahnwitzig; sie ist wie geschaffen für Árpád Schilling, ­der Szenen für seine Theaterarbeit mit Roma in Paris filmt.

Der ungarische Regisseur Árpád Schilling gründete 1995 das Ensemble Krétakör, mit dem er zu einer der innovativsten Stimmen in der ungarischen Theaterlandschaft wurde. Schillings Krétakör-Inszenierungen wie W-Arbeiterzirkus nach Büchners Woyzeck oder von Tschechows Die Möwe weckten auch international auf Gastspielen und Festivals große Aufmerksamkeit. 2008 verwandelte Schilling Krétakör in ein Produktionsteam junger kreativer Köpfe, um mit interaktiven dramenpädagogischen Projekten und Interventionen im öffentlichen Raum ungarischer Städte, aber auch mit Inszenierungen und Filmen stärker und schärfer auf soziale und politische Konflikte in Ungarn reagieren zu können, als es mit Klassiker-Inszenierungen möglich war. Schillings Die Priesterin mit 15 Jugendlichen aus einem Dorf Transsylvaniens war zuletzt bei den Wiener Festwochen und auf Kampnagel (Hamburg) zu sehen. Im Pariser Théâtre National de Chaillot kommt Ende Oktober Noéplanète (Noahs Planet) zur Premiere. 2010 erarbeitete Schilling mit Sängern des Opernstudios der Bayerischen Staatsoper Rossinis La Cenerentola, auf dem Programm der Opernfestspiele 2011 stand die von ihm mitentwickelte Oper Undankbare Biester. 2009 erhielt Árpád Schilling den Europäischen Theaterpreis für Neue Realitäten im Theater.

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Premiere Rigoletto

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„Haben Sie schon einmal gemerkt“, fragt Árpád Schilling, „was für eine herrliche Musik Verdi ausgerechnet dem Herzog gegeben hat, dem Bösen?“ Rigoletto zieht. „Nach der Hälfte der Oper weiß man, dass Rigoletto nicht gewinnen kann. Es ist ein zu ungleiches Rennen; es gelingt ihm schlussendlich ja nicht einmal die Rache.“ „Die Kraft der Kunstform Oper“, sagt Árpád Schilling, liege darin, „dass über die Musik eine zweite Ebene auf die Bühne kommen und so auch das Böse anziehend machen kann. Das fehlt dem Theater.“ Die Parallele zwischen Rigoletto und der Welt von heute ist offenkundig; die diabolische Verführungskraft des Simplen und Dumpfen zeigt sich gerade in Ungarn. Dort wirkt sie auf viele wie ein Déjà-Vu, schließlich hat schon der Kommunismus in Sachen Uniformität geprägt. Dabei ist gerade Mitteleuropa ein Paradebeispiel für eine historisch entstandene Verschmelzung. So wie bei Árpád Schilling selbst: Väterlicherseits stammt seine Familie von Deutschen ab, die sich in Ungarn niedergelassen haben; daher stammt der Nachname. Mütterlicherseits reichen die Wurzeln in die heutige Slowakei. Ganz Mitteleuropa ist voll von solchen Familiengeschichten und Verflechtungen, die zurückreichen in die Jahrhunderte der Vielvölkermonarchie. Prägt so eine Erfahrung nicht auch das Europabild? Árpád Schilling nickt. Die zwei Jahrzehnte seit der Wende haben seinen Blick auf Europa verändert – und den Blick Europas auf Ungarn. Gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war der Westen hungrig nach Leuten wie Árpád Schilling: nach Künstlern, die aus dem Osten kommen und über ihr Leben erzählen, über ihren Blick auf das alte Europa und die als Suchende, als Neulinge dem Westen den Spiegel vorhalten. Und was konnte man alles erzählen aus diesem geheimnisvertrauten Mitteleuropa, das gerade wieder auf den Landkarten aufgetaucht war: über die Prägungen der Vergangenheit, über die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, über Verfall und Aufbruch. Árpád Schilling rannte mit seinem Krétakör-Ensemble offene Türen ein. „In den 1990er-Jahren“, sagt er, „haben sich alle für uns interessiert. Inzwischen spielen andere Regionen und Themen eine Rolle: Indien, China, Iran, die afrikanischen Flüchtlinge, das ist doch viel interessanter.“ Die Frage nach Ost- und Westeuropa sei nicht mehr relevant; er selbst sehe sich in erster Linie als Europäer und erst danach als Ungar. „Das ist eine Entwicklung der vielen Jahre. Europa muss beisammen sein. Wir haben so viele ge-

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meinsame Erinnerungen und Wurzeln. Ich will keine Insel sein. Ich gehöre zu diesem Club.“ Viele Geschichten, die von diesem Club handeln, spielen in Budapest. Hier verteidigte sich Europa gegen die Türken, hier waltete die k.u.k-Monarchie, hier wurde viel später der Eiserne Vorhang zum ersten Mal löchrig. Dieses umtoste Budapest ist der Standort von Árpád Schilling. Sein Krétakör-Ensemble hat sein Hauptquartier in einem der Gründerzeitbauten, an dem sich die Stadtgeschichte ablesen lässt. Der Stuck rund um die Fenster und die Säulen am Eingang zeugen von der einstigen Wohlhabenheit, die grau-verwaschene Farbe zeigt die jahrzehntelange Vernachlässigung. Und jetzt startet hier die Zukunft des Theaters; sie ist das Thema, mit dem sich Árpád Schilling derzeit am meisten beschäftigt. „Vor 1989 konnte man politisches Theater in traditioneller Ästhetik machen“, sagt er. „Heute ist das nicht mehr genug: Man braucht mehr Interaktion, man muss zu den Leuten sprechen, die Probleme direkt thematisieren, ein Forum aufbauen.“ Das will er jetzt mit Krétakör angehen. Die Leute, mit denen er sich in der Gruppe umgibt, sind durchweg jünger als er – die meisten Anfang, Mitte 20. Er selbst, sagt Schilling ohne Ironie, sei mit seinen 38 Jahren schließlich schon viel zu alt, um ein vernetztes und innovatives Theater zu prägen: „Das ist eine Sache für die neue Generation.“ Und er selbst? Er hat wieder einmal seine nächste Aufgabe gefunden: Er wird sich mit dem Nachwuchs beschäftigen, hat Árpád Schilling beschlossen, und fängt mit seinem Krétakör-Ensemble schon einmal an. Wenn alles glatt geht, wird er wieder einmal die europäische Theaterlandschaft aufrollen, hier von seinem geschichtsträchtigen Standort aus, mitten in der Altstadt von Budapest.

Mehr über den Autor auf S. 8

Rigoletto Oper in drei Akten Von Giuseppe Verdi Premiere am Samstag, 15. Dezember 2012, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Livestream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag, 30. Dezember 2012 Weitere Termine im Spielplan ab S. 95



#babelfail Für MAX JOSEPH führte Autor Michael Seemann ein Experiment durch: Er rief auf dem Internetdienst Twitter mit „#babelfail“ zu wörtlichen Übersetzungen auf. Ein Spiel über den Sinn und Unsinn von Übersetzung, eingebettet in eine Erklärung darüber, wie sich Sprache im Internet verbreitet. 86


„Die Zeit schwingt sich wie eine Brezel durch die Natur. Die Feder malt die Landschaft, und entsteht eine Pause, so wird sie mit Regen ausgefüllt. Man hört keine Klage, denn es gibt keinen Firlefanz.“ Dies ist das Ergebnis eines Kinderspiels, wie Walter Benjamin es in einer Passage seiner Denkbilder erzählt. ­Die Worte „Brezel“, „Feder“, „Pause“, „Klage“ und „Firlefanz“ sollten in dieser Reihenfolge in einem sinnvollen, möglichst kurzen Text münden. Benjamin ist voller Bewunderung für diese Zeilen, vergleicht sie mit den Texten der heiligen Schriften, bei denen ebenfalls „der Sinn nur Hintergrund [ist], auf dem der Schatten ruht, den [die Worte] wie Relieffiguren werfen.“ Regeln, Vorgaben, ein Kind, ein Spiel; schreiben kann so einfach sein.

Dies ist ein Tweet, also eine Statusnachricht aus dem Internetdienst Twitter. Auf Twitter (zu deutsch „Zwitschern“) unterhalten sich Menschen in Textform in „Echtzeit“ miteinander. Jeder hat ein eigenes Profil und man kann die Mitteilungen des jeweils anderen abonnieren. Wenn ich Abonnent von den Statusnachrichten eines anderen bin, heißt das aber nicht unbedingt, dass ­er meine Nachrichten ebenfalls abonniert hat. Es entstehen dadurch eigensinnige Formen von vernetzter Öffentlichkeit, bei denen manche Leute viele, andere weniger Leser erreichen. Ein Tweet hat wenig Regeln, eigentlich nur eine: Fasse dich kurz, verwende weniger als 140 Zeichen.

In dem Text Die Aufgabe des Übersetzers aus dem Jahr 1921 bezeichnet Benjamin eben jenen heiligen Text als „übersetzbar schlechthin“. Die Frage der Übersetzbarkeit eines Textes bedeute, „ ob es seinem Wesen nach Übersetzung zulasse und demnach – der Bedeutung dieser Form gemäß – auch verlange.“ Ein Text ist eine Aufforderung zur Übersetzung, sagt Benjamin. Imperativ! Übersetze!

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Wenn man auf einen Tweet stößt, den man lustig findet, kann man versuchen, auf den Witz einzugehen, ihn zu variieren, vielleicht in die eine oder andere Richtung weiterzuspinnen. Manche Tweets tragen ihre eigene Konstruktionsanleitung in sich, die die Leser zum Spiel auffordert. Wenn dies gelingt und viele mitmachen, so das Konstruktionsprinzip weitertragen und wiederum andere damit infizieren, nennt man das ein „Mem“. Auf Twitter „ereignen sich“ des Öfteren solche Meme. Doch was ist denn nun die Aufgabe des Übersetzers? Benjamin verwehrt sich dagegen, dass es darum gehe, einen eventuellen Sinn aus dem Original in die Zielsprache zu transferieren. Vielmehr gehe es um den Dienst am Werk. „Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original.“

Das Wort „Mem“ brachte ursprünglich der Evolutionsbiologe Richard

Dawkins auf. In seinem Buch Das Egoistische Gen stellt er gegen Ende fest, dass es kulturelle Artefakte gibt, die sich ähnlich wie Gene verhalten. Genau wie sich die DNA vermittels der RNA immer wieder selbst repliziert, erschaffen, kopieren und verwandeln sich die Meme mittels unserer Gehirne. Demokratie wäre so ein Mem oder der Monotheismus, aber auch Ohrwürmer, die man immer wieder summt, der Kategorische Imperativ, die Zentralperspektive und sogar der Rassismus. Was Dawkins nicht vorhersah: Er schuf die Grundlagen zu einer Theorie über die soziale Verbreitung von Informationen im Internet. Die wichtigste Kulturtheorie des Netzes. „Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft“, stellt Benjamin klar. Das Übersetzersubjekt hat in der Übersetzung keine Rolle ­ zu spielen. „Die wahre Übersetzung ­ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, ­wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur umso voller aufs Original fallen.“ Der Übersetzer als schöpferisches Subjekt verunreinigt diesen Vorgang nur.

Das Wort mit dem vorangestellten Rautezeichen, „#babelfail“, ist die Konstante in diesem Twittermem. Es versammelt alle Tweets dieses Mems, wie Scherben eines zerbrochenen Gefäßes. Das Wort „Fail“ ist von „Failure“ (Versagen) abgeleitet und selbst ein Internet-Mem. In dem Forum 4chan wurde das „Fail“-Mem geboren und hat bis heute eine beachtliche Karriere gemacht; im Internet wird es seither an alle möglichen Ereignisse geknüpft, die

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irgendwie mit Versagen oder auch lustigen Unfällen zu tun haben. Niemand weiß, wer es erfand, aber darauf kommt es auch nicht an. Meme ereignen sich und sie schreiben sich selbst immer weiter fort. Sein Autor ist das Konstruktionsprinzip, seine Identität das Schlagwort, Gehirnmasse ist nur das Trägermedium. Die Übersetzung hat nach Benjamin nur ein Ziel: „Wie nämlich Scherben eines Gefäßes, um sich zusammenfügen zu lassen, in den kleinsten Einzelheiten einander zu folgen, doch nicht so zu gleichen haben, so muss, anstatt dem Sinn des Originals sich ähnlich zu machen, die Übersetzung liebend vielmehr und bis ins Einzelne hinein dessen Art des Meinens in der eigenen Sprache sich anbinden, um so beide wie Scherben als Bruchstück eines Gefäßes, als Bruchstück einer größeren Sprache erkennbar zu machen.“

Der Reiz eines Mems liegt in dessen Variationsbreite. Es braucht neben einem wiedererkennbaren Kern immer auch alternierende Elemente. Das geht so: Jeder neue Tweet muss zu den bisherigen Tweets seine Anschlussfähigkeit behalten und gleichzeitig so originell rüberkommen, dass er erneut eine Irritation auslöst. Denn es geht nicht um den einzelnen Tweet, sondern um das Ganze, das Mem, das versucht, sich immer wieder zu replizieren. Jede Wendung, jede Neuerung ist eine Hypothese, die einen neuen evolutionären Sprung verspricht oder in einer Sackgasse endet. Die Vielheit durch Einheit, Einheit durch Vielheit und der unbedingte Wille zu überleben, das zeichnet das Mem aus.

Wörtlichkeit in der Übersetzung ­ kann zu lustigen Tweets führen. In unserem, extra für diesen Text gestarteten Twittermem „#babelfail“ entspringt aus der Interlinear-Übersetzung geflügelter englischer Worte ein eigenwilliger Dialog der Sprachen. Dem des Englischen mächtigen Leser kommt die Syntax und Grammatik zwar bekannt vor, doch wirkt dies in der Kombination mit den deutschen Begriffen irritierend. Das Konstruktionsprinzip ist leicht zu verstehen und lädt unterbeschäftigte Gehirne ein, nach ähnlichen Beispielen zu fahnden. In dem früheren Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen beschreibt Benjamin seine Vorstellung vom Ursprung der Sprachen. Seiner Ansicht nach drücken die Dinge in der Welt ihr Wesen in ihrer jeweils ei­genen Sprache aus. Der Mensch ist nun das Geschöpf, das diese Sprache zu vernehmen vermag und sogleich übersetzt. Die Übersetzung dieses „Sich-Mitteilen-der-Dinge“ ergibt eine universellere, höhere Sprache, die menschliche.

Im Gegensatz zur Sprache findet die Übersetzungsleistung bei Memen nicht auf der wörtlichen Ebene statt. Statt Worten wird eine Handlungsanleitung übersetzt. In unserem Beispiel: „Nimm englische Phrase, übersetze sie wörtlich, prüfe ihre humoristische Qualität, twittere sie mit dem Schlagwort ‚#babelfail‘.“ Eine Art Algorithmus ist es, der übersetzt, jedes Mem ist eine Maschine. Und gleichzeitig können Internet-Meme als eigene Form von Sprache aufgefasst werden. Eine Metasprache, die sich statt aus Worten aus abstrakten Strukturelementen zusammensetzt, die eine ungekannte Komplexität erreicht, aber im Endeffekt ähnlichen Regeln gehorcht. Der übersetzbare Text nach Benjamin ist – wie der heilige Text – ein Text jenseits des Sinns. „Wo der Text unmittelbar, ohne vermittelnden Sinn, in seiner Wörtlichkeit der wahren Sprache, der Wahrheit oder der Lehre angehört, ist er übersetzbar schlechthin.“ Wie das Kinderspiel am Anfang des Textes aus den Elementarteilchen der Wortwahl, so erschafft die treue Wort-für-WortÜbersetzung ein quasi-algorithmisches Satzformungsschema, das den Sinn „von Abgrund zu Abgrund“ stürzen lässt. Ich habe mir erlaubt, dieses Satzformungsschema in ein Twittermem zu übersetzen. Warum? Walter Benjamins Memmaschine verlangte es von mir.

Michael Seemann ist Kulturwissenschaftler und seit 2005 mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv. Er gründete u. a. twitkrit.de und die „Twitterlesung“. Er ist häufig Gastredner zu Internet-Themen und schreibt u. a. für RollingStone, ZEIT Online und das Computermagazin c't.

Die „übersetzten“ Tweets aus dem Text entsprechen folgenden Ausdrücken – vermutlich (Reihenfolge wie im Text): Twitter, anyway! Slowly I get used to it / ­Lost in translation? Deal with it / I guess, this mem doesn’t work / Don’t let me be misunderstood. It’s all up to you / Dieses #babelfail könnte vielleicht durchhalten, aber ich bin jetzt zu fertig / #babelfail works out. prove me wrong! / A no-brainer!

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Doch wie kann der Aufgabe des Übersetzers überhaupt entsprochen werden? Wie kann das Fortleben des Werkes einerseits und das übergeordnete Ziel – das Fügen der Bruchstücke dieser größeren Sprache – vonstatten gehen? Benjamin überrascht: „Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.“


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Kann man neben dem Studium schon an seiner Karriere arbeiten? Nur wer Fragen stellt, findet Antworten. So wie Melanie Hartwig.

Melanie Hartwig hat viel vor: Darum engagiert sie sich auch außerhalb des Hörsaals für ihre berufliche Zukunft. Bei Siemens arbeitet sie als Werkstudentin an vielen spannenden Projekten. Mal eigenverantwortlich, mal im Team. Mal international, mal interdisziplinär. Aber immer mit dem nötigen Rückhalt. Wie etwa bei ihrem mehrmonatigen

Aufenthalt in Dubai oder als Regionalsprecherin im Siemens Förderprogramm TOPAZ für die besten Praktikanten und Werkstudenten. Unser Unternehmen ist immer auf der Suche nach Studenten, die gedanklich neue Wege gehen. Denn vor großen Antworten stehen stets große Fragen. Wohin Sie Ihre Neugier führen kann? Finden Sie’s heraus.

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