MAX JOSEPH
BAYERISCHE STAATSOPER 1943 1963 2013
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ICH KANN AUCH ANDERS
Macht und Milde – Regisseur Jan Bosse über Mozarts La clemenza di Tito Mysterium und Opulenz – Europapremiere von Matthew Barneys Film River of Fundament Platz ist noch im kleinsten Boot – die Fischer von Lampedusa erzählen
D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF
Max Joseph 2
2013 2014
Editorial Ein Regisseur, ein Soziologe, ein Psychoanalytiker, eine Schriftstellerin, ein Mitglied des UN-Menschenrechtsrats und zahlreiche Fischer aus Lampedusa – sie alle stehen in dieser neuen Ausgabe von MAX JOSEPH für ein emphatisches Bekenntnis: „Ich kann auch anders.“ Sie zeigen auf ganz unterschiedliche Weise, dass wir weit weniger fremdbestimmt sind, als wir oft glauben – bei allem Wissen auch um Unveränderliches. Dass wir frei sind, uns Alternativen nicht nur auszudenken, sondern sie auch zu leben, dass wir frei sind, gegen scheinbar unentrinnbare Ströme zu schwimmen – wie man wird, was man ist. Nietzsches Zitat, mit dem sich die Bayerische Staatsoper in dieser Spielzeit auseinandersetzt, provoziert geradezu die optimistische Antwort: indem man sich seiner Freiheiten bewusst wird. Kaiser Tito in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper La clemenza di Tito scheint es vorzumachen: Wider jede Erwartung zeigt er Milde und begnadigt diejenigen, die einen Mordanschlag auf ihn planten. Zugleich liegt in diesem Gnadenakt eine Machtdemonstration, wie Jan Bosse, der das Werk an der Bayerischen Staatsoper inszeniert, im Gespräch mit Armin Nassehi herausarbeitet. Der langjährige UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler führt im Interview mit Werner Wunderlich aus, dass sich am Beispiel von Tito eine wesentliche Veränderung zu unserer Gegenwart zeigt. Denn die Machthaber von heute seien Konzernchefs und agierten im System des globalen Kapitalismus nicht mehr als Individuen, sondern als ersetzbare Funktionsträger. Umso eindringlicher tritt Mozarts Figur des Sesto hervor, der sich gegen den Kaiser auflehnt und deutlich macht, dass bei „Ich kann auch anders“ auch eine die Herrschaft bedrohende Subversion mitklingt. Für die Freiheit aber, wir selbst zu werden, brauchen wir die Fähigkeit zur Identifikation und zum Mitgefühl mit anderen, wie Arno Gruen in seinem Essay schreibt. Nietzsche wusste dies, so Gruen, wenn er die Lüge des Idealismus und die zu allem Jasagenden, die Zukunftsgewissen und die superb Angepassten beklagte. All dies kann man nun von den Protagonisten dieser Ausgabe nicht behaupten, seien es ihre Autoren, die Menschen, über die sie schreiben, oder die bildenden Künstler – wie der Fotograf Luca Zanier, der in die abgeschirmten Räume der Macht eingedrungen ist oder Dennis Busch, der die Zeitgeschichte wie in einem Kinderspiel auseinandergebaut und wieder neu zusammengesetzt hat. Im besten Fall lassen wir uns inspirieren von ihrer Neugier und ihrem Mut.
Nikolaus Bachler Staatsintendant
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Fotografie Robert Fischer
Die Macht des Kaisers La clemenza di Tito – der Titel von Wolfgang A madeus Mozarts Oper legt nahe, das Stück handle von Milde – aber es geht um Macht. Der Regisseur Jan Bosse inszeniert das Werk an der Bayerischen Staatsoper neu und traf für MAX JOSEPH auf den Sozio logen Armin Nassehi. Ein gedanklicher Austausch über die Machtmechanis men des K aisers Tito, Tyrannenmorde und Paral lelen zum Regieberuf. Premiere La clemenza di Tito
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ARMIN NASSEHI Wolfgang Amadeus Mozarts La clemenza di Tito wird üblicherweise entweder als affirmative Fürstenpropaganda gescholten oder als subtile aufklärerische Kritik an absoluter Herrschaft verstanden. In beiden Interpretationen hat der böse Herrscher abgedankt, und an seine Stelle tritt der gute Herrscher, analog zum lieben Gott, der seinerseits den deus revelatus abgelöst hat. Aber beide Interpretationen interessieren sich gar nicht für das Problem der Herrschaft selbst. Dabei macht Mozart, denke ich, in der Figur des Tito das Herrschaftsproblem auf dreifache Weise zum Thema: Zunächst lässt sich an Tito ablesen, dass er tun und lassen kann, was er will, alles wird ihm als Machtausübung zugerechnet. Ob er nun Gewalt anwendet oder nicht, ob er Macht ausübt oder nicht, ob er begnadigt oder nicht – alles wird ihm als souveräner Akt eines Herrschers zugerechnet. Aus dieser merkwürdigen Lage kommt er nicht heraus, was eine Parabel ist auf die auch heute eigentümliche Indizierung von Politik: Egal was ein Politiker sagt, jede Einlassung, jede Idee, jede Entscheidung wird ihm als politische Strategie zugerechnet, als etwas, das als Spielzug im Spiel um den Erwerb oder die Sicherung von Macht angesehen wird – wie zutreffend oder klug die Sache auch sein mag, um die es geht. Das zweite, was mich eigentlich am meisten fasziniert, ist, dass da jemand in einem souveränen Akt zwei Personen begnadigt und eine von beiden am Ende sinngemäß sagt: Du kannst mich begnadigen, aber mein Herz kann mir nicht verzeihen. Das ist ja eine sehr moderne Geschichte. Vorher hat man die Köpfe abgeschlagen, und jetzt denken sie selber, weil man sie dran lässt, und indem man sie dran lässt, entsteht ein Bereich, der für den souveränen Herrscher nicht mehr erreichbar ist. Das heißt, der Herrscher kann zwar das Leben geben, aber nicht die Vergebung. Das muss ein in diesem Sinne fast schon bürgerliches Subjekt selber machen, das ein Gewissen in sich entdeckt und so den Souverän auf die Begrenztheit seiner Souveränität hinweist. In Mozarts Musik wird der souveräne Akt des Tito nicht mit pomp and circumstance erzählt, sondern geradezu melancholisch. Für den Soziologen ist hier interessant: Machtbeziehungen sind stets wechselseitige Beziehungen, das heißt, wer die Macht hat, der ist auch abhängig von dem, über den er die Macht ausübt. Der dritte Aspekt verweist auf die Herrschaftsquelle. Auch der „gute“ Herrscher muss an die Macht kommen. Und es ist kein Zufall, dass Titos Herrschaft auf der Gewaltherrschaft seines Vaters und der eigenen militärischen Geschichte basiert. In demokratischen Zeiten vergessen wir oft, dass jegliche politische Herrschaft darauf basiert, im Konfliktfall Gewalt ausüben zu können, und dass staatliche Herrschaft stets auf der Möglichkeit der Gewaltanwendung beruht. Tito kann auf Gewalt nur verzichten, weil er sie hat. Selbst wenn in der Demokratie
die Gewaltanwendung stark reglementiert ist und wenig dezisionistische Aspekte hat, so basiert Herrschaft am Ende auf der Möglichkeit der Gewalt – und nur deshalb kann der demokratische Rechtsstaat, durchaus ähnlich wie Tito, auf Gewalt verzichten und zivilisatorisch mit Zivilisationsbrüchen umgehen. Aber Staatlichkeit kann auch anders, wie wir wissen. Aber diese dritte Interpretation geht vielleicht ein bisschen zu weit. JAN BOSSE Nein, dieser dritte Punkt ist sehr interessant, weil es sehr schwer ist, ihn aus dieser Oper herauszukitzeln. Er kommt in der Oper eher wie ein Untertext vor, der aus der Vorgeschichte der Handlung mitschwingt. Wenn Tito anfängt, sein Konzept der Milde zu entwickeln und die größtmögliche Kehrtwendung in seinem Herrscherleben vollzieht, klebt an ihm immer noch literweise das Blut, das in seinem Feldzug gegen Jerusalem vergossen wurde. Wie sehr das tatsächlich eine Kehrtwendung ist, wie sehr hier jemand sein Leben wirklich umkrempelt, ob es Sehnsucht nach Absolution ist oder ob es nur ein politisches Konzept ist, lässt sich nicht eindeutig sagen – ganz in dem Sinne Ihrer ersten Bemerkung zur Widersprüchlichkeit von Herrschaft. Diese Uneindeutigkeit verweist auf eine zerrissene Herrschergestalt, Stichwort: Überforderung. Und hier wären wir wirklich bei einem modernen, aktuellen Politikerthema. Was geschieht mit Macht unter Druck? Und der Druck ist immens. Da gibt es eine Verschwörung und einen Mordanschlag gegen ihn, denn er ist ja doch ein Tyrann. Dramaturgisch geschieht nun Folgendes: Komponist und Librettist, aber auch der Regisseur lassen den Zuschauer im Unklaren darüber, ob der Anschlag nicht doch gelungen ist. Was wäre, wenn der Tyrannenmord tatsächlich geklappt hätte? Und einen Moment lang bietet Mozart das an, am Schluss des 1. Akts höre ich Mozarts Requiem durch, ein Trauermarsch, der Chor tritt auf. Der Attentäter, die Mitverschwörerin, die anderen P rotagonisten und auch der Chor, als Vertreter des Volkes, sind total betroffen, und jeder, aus seiner Geschichte, aus seiner Figur heraus, muss sich dazu verhalten: Was wäre, wenn der Staat plötzlich ohne Kopf ist? Und dann ist erstmal Pause. Im 2. Akt der Oper wird bei uns das Bühnenbild sehr verändert sein, man sieht die Folgen der Katastrophe, des Brandanschlags, des Terroranschlags, der von dem Attentäter ja sogar in letzter Minute noch verhindert werden sollte. Leider denkt Sesto zu lange nach, er singt sozusagen zu lange, um den ins Rollen gebrachten Aufruhr noch stoppen zu können.
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„Was wäre, wenn der Tyrannenmord tatsächlich geklappt hätte? Und einen Moment lang bietet Mozart das an, am Schluss des 1. Akts höre ich Mozarts Requiem durch.“ – Jan Bosse, Regisseur
AN Nicht nur auf der Seite des Tyrannen geht es also um Entscheidungen, geht es um Dezisionismus, sondern auch auf der Seite der Verschwörer. Wobei doch auffällt, dass die Oper letztlich ohne Gründe für Entscheidungen auskommt. Es geht nicht um politische Inhalte. Es geht im Prinzip nur um den Machtmechanismus selbst. JB … ohne die politischen Inhalte der Handelnden. Es geht letztlich nur um Zweideutigkeiten, um das Dilemma des Herrschens und der Machtausübung bei jeder Aktion. Es gibt keine private Handlung, und das wird hier sehr genau durchgeführt, wie bei Shakespeare. So ist die Wahl der Ehefrau der politischste Akt überhaupt und der privateste zugleich. Toll wäre natürlich, wenn das auch der Zuschauer empfindet. Es bleibt ein Rätsel, ob Titos rascher Wechsel der Kandidatinnen zur Ehefrau reine Willkür oder zutiefste Überforderung ist und aus der Überforderung heraus Entscheidungen getroffen werden müssen. Letztendlich erklärt Tito am Schluss seine ärgste Feindin zu seiner Frau. Was natürlich die größte Umarmungstaktik ist, die man einem Feind antun kann – die Entmachtung von Vitellia, indem man sie an die Macht hebt, an die Seite des Throns. Das finde ich irre, perfide. AN Der höchste Akt der Souveränität ist der Dezisionismus: Entscheiden ohne Gründe, nur weil man es kann. Und da ist es natürlich besonders cool, wenn man aus der archaischen Homöostase des Gebens und Nehmens heraustritt, also aus der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zwischen beidem. Im archaischen Kontext ist der Herrscher nicht souverän – er muss töten, um das Gleichgewicht wieder herzustellen. Tito aber unterbricht diese Notwendigkeit. Deshalb ist ja der Gnadenakt auch etwas, das den Begnadigten beschämt. Auf einmal ist sein ganzes Leben von einer konkreten Person abhängig. Dieser Gnadenakt als Akt eines Souveräns ist wirklich dezisionistisch, ohne Gründe. Sie haben ja gerade nach der Aktualität gefragt. Auch heutige, demokratische Politik kennt manchmal Dezisionismus als Demonstration von Macht. Nehmen wir Horst Seehofer. Warum hat er die Autobahnmaut in den großen Koalitionsvertrag reinschreiben lassen? Nur weil er es konnte und dieses Können vorführen wollte. Um die Maut geht es nicht, auch wenn allerlei Grün-
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de genannt wurden, damit der Herrschaftsmechanismus nicht zu deutlich zum Tragen kommt. Der entscheidende Unterschied zu Mozarts Zeiten ist vielleicht: Asymmetrie und Herrschaft waren damals noch absolute Selbstverständlichkeiten. Heute wird Symmetrie erwartet. Man muss heute erklären, warum überhaupt jemand herrscht oder herrschen will. Damals musste man erklären, warum jemand auf Herrschaft verzichtet. JB In dem Dilemma stehen wir doch auch. Im Regieberuf etwa – also nicht, dass ich ein Tyrann wäre, ich verstehe mich ja eher als antiautoritären Vertreter meines Berufs – da ist es schon interessant: In dem Moment, in dem man Jobs zu vergeben hat, hat man Macht, und Macht korrumpiert, oben und unten. Man kann natürlich nicht vergleichen, ob ich jetzt einen Schauspieler oder einen Sänger besetze, oder ob jemand die Todesstrafe verhängt – aber dennoch: Wie geht man damit um, zu herrschen und in einem Herrschaftssystem zu stecken? Am stärksten kann man es bei Sesto sehen. Er ist eigentlich eine Hamlet-Figur, ein junger Mann, der in diesem System wirklich in eine Krise gerät, der zerrissen ist durch eine fast hörige Liebe, total abhängig von einer älteren Frau, für die er bereit ist, alles zu tun. Zugleich wird er von seinem großen Vorbild und dieser Vaterfigur Tito – und auch das geschieht nicht ganz naiv – zum Nachfolger ernannt. Er wird wie bei Hamlet einerseits Thron nachfolger, andererseits hasst er dieses ganze System, und dieser Hass wird aufgestachelt in ganz fieser Verquickung mit den privaten Gefühlen, Liebe oder sexueller Hörigkeit. Es ist die totale Überforderung: Sesto ist zwischen den Stühlen, ist Anführer einer Terrorgruppe, versucht, alles im letzten Moment rückgängig zu machen, zwecklos, und muss sich dann mit den Konsequenzen seines Handelns auseinandersetzen. Der Zorn ist aber ja nicht weg. Das Verrückte ist doch, wie sowohl Vitellia als auch Sesto, Annio wie auch Servilia mit ihren durchaus sehr vitalen und mutigen Versuchen, sich zu verhalten, in diesem Korsett des Systems am Schluss wie erstickt wirken. Ist nicht sogar die Begnadigung Teil des Korsetts? Es geht dann doch um Machterhalt. Am Schluss jedenfalls kriegt sich das Liebes-
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„Der höchste Akt der Souveränität ist der Dezisionismus: Entscheiden ohne Gründe, nur weil man es kann.“ – Armin Nassehi, Soziologe
paar sogar, die große Todfeindin wird die Ehefrau, der Königsmörder und Sohn bleibt potenzieller Nachfolger, ihm wird alles vergeben – und so stehen sie alle da am Schluss, das Personal dieser Oper. Tito zementiert dadurch, dass er alles verzeiht, seine Macht stärker denn je. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er ganz am Ende Sesto seinen Königsmantel umhängt und in letzter Sekunde grinsend abgeht – und als Zuschauer fragst du dich dann, ob du wirklich Sesto als Kaiser dieses Reiches sehen willst. AN Sie haben vorhin die Situation am Ende des 1. Aktes angesprochen – jene Schwebesituation, in der man sich fragt, was denn wohl wäre, wäre das Attentat gelungen. Das ist für die Diskussion des Tyrannenmordes die entscheidende Frage. Was ändert sich eigentlich? Es gibt eindeutige Situationen, wenn man etwa an die Ermordung Hitlers denken würde – da sind die Verhältnisse klar. Nur die deutsche Wehrmachtsführung war allzu lange in der archaischen Homöostase von Eid und Gehorsam dem „Führer“ gegenüber gefangen. Der Eid war für diese Leute von höherem Wert als noch ein paar Hunderttausend Tote, was die Lage für die Verschwörer um Graf Stauffenberg besonders ausweglos machte. Aber selten sind die Verhältnisse so klar. Wenn man jedoch an die terroristischen Morde in den 1970er Jahren denkt, in Deutschland an die RAF, dann ist das eine Parabel darauf, dass sich meistens gar keine Person ausmachen lässt, deren Tod tatsächlich etwas ändern würde. An der Sinnlosigkeit der RAF-Morde, die auf konkrete, „herrschende“ Personen zielten, lässt sich viel über die Komplexität der modernen Gesellschaft lernen – insofern waren die unpersönlichen, eher an der Infrastruktur und an der Symbolik ansetzenden Morde von 9/11 viel moderner, weil sie gerade mit der Komplexität der Reaktionen auf die Anschläge gerechnet haben. Die RAF-Morde haben sich als Tyrannenmorde verstanden, waren aber gerade darin völlig sinnlos – böse, aber sinnlos. Es änderte sich gar nichts, im Gegenteil. Der Adressat des Terrors saß noch fester im Sattel als vorher. Es ist ganz ähnlich wie bei Tito: auf der einen Seite seine Macht zeigen zu können, auf der anderen Seite zivilisatorisch mit dem Zivilisationsbruch umzugehen, das heißt mit dem Recht und nicht mit Gegengewalt zu reagieren und am Ende sogar Begnadigungen aussprechen zu können.
Das sind letztlich die größten Ohrfeigen. Gerade deshalb wollten die RAF-Mörder ihren eigenen Tod in Stammheim auch als Rache des Staates an ihnen inszenieren, weil nur ein seinerseits mordender Staat sie vor dem vernichtenden Urteil der Sinnlosigkeit ihres Tuns geschützt hätte. Zurückbezogen auf Tito: Hätte sich etwas geändert, wenn man den Tyrannen gemeuchelt hätte? Was Sie vorhin gesagt haben, finde ich sehr, sehr spannend: Am Ende lösen sich diese ganzen Motive auf, die vorher da waren, und am Ende ist es womöglich ganz gut, dass Tito weitermacht. Am Ende ist der Mordanschlag von Sesto, Vitellia und den anderen genauso sinnlos, wie es die Morde der RAF waren – und am Ende wird ihnen das mit ihrer Begnadigung beziehungsweise ihrer Ehelichung auch noch gnadenlos vorgeführt. Für mich spielt dabei eine besondere Rolle, dass Tito selbst darüber enttäuscht ist, dass sein Gnadenakt wieder neue politische Probleme auslöst, denn seine Vergebung bringt Sesto nicht dazu, sich selbst vergeben zu können. Also nicht nur für den Attentäter ist die Welt zu komplex. Wie dieser mit einem Mord nicht die Verhältnisse ändern kann, findet die Herrschaft des Herrschers ihre Grenzen in der Komplexität der Reaktion der Beherrschten. Gnade: ja; Vergebung: nein! Es ist eine Entscheidung da, damit ist aber nicht alles aufgelöst. Das heißt, er ist kein Souverän im klassischen Sinne mehr, das kann man nur sein, wenn man tötet. Denn das ist die letztgültige, irreversible dezisionistische Entscheidung. JB Es ist ja auch unglaublich stark ausgedrückt, wenn Tito sinngemäß zu Sesto sagt: Du wirst nicht zum Tode verurteilt, weil du mich umbringen wolltest, sondern weil du an der Aufrichtigkeit meiner Gnade zweifelst. Es gibt also eine tatsächliche Übertretung: Die Macht an sich, die Überzeugung der Rechtmäßigkeit von Titos Macht wird angezweifelt. Vielleicht denkt Tito genau so, wie Sie es beschrieben haben: Es ist egal, ich bin König, und natürlich wollen mich Leute umbringen, und dann käme halt der Nächste dran im Shakespeare’schen Sinne, als der große Mechanismus der Geschichte. Ich finde interessant, dass sich das 18. Jahrhundert in der römischen Epoche und im Heute spiegelt. Wir versuchen, da auch mit der Architektur der Oper umzugehen, dieser repräsentativen Architektur des Logentheaters; und die Königsloge
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ist quasi Titos Thron. Ich habe ja nur diese paar Figuren, die ein kleines gesellschaftliches System in sich sind. Und zu diesem gehört natürlich auch der Chor, aber eben auch das Orchester, das ist ja Titos Staatsorchester. Herauszufinden, wie man das konzeptionell und sinnlich auf die Bühne bringt, wird Teil unseres hoffentlich spannenden Probenprozesses. Ich bin vielleicht genauso fremd in der Oper wie Sie, ich bin ja eigentlich noch ein Opernanfänger. Aber ich hoffe, dass mir diese Fremdheit eher nutzt, einen kritischen Blick darauf zu behalten, wie man das Machtsystem ästhetisch darstellen kann, damit Tito das in seiner Jovialität dann wiederum unterlaufen kann. Ich finde es wichtig zu erzählen, dass Tito ein volksnaher und jovialer Typ ist, dass er eher über Understatement arbeitet. Trotz seiner groß inszenierten Auftritte. Ich stelle mir das so vor: Erst kommt diese repräsentative Ouvertüre, und man denkt, es müsste darauf die erste große Kaiserarie folgen; aber Tito singt erst einmal gar nicht, sondern begrüßt alle und setzt sich zu den Zuschauern oder zu seinen Musikern. Und wir erfahren über ihn etwas durch seine Widersacher. Die Herrschaftsmechanismen kommen sozusagen eher durch die Hintertüren. Wir müssen bei den Proben alles tun, um diese Ambivalenz einzufangen zwischen Willkür, Demonstration und ernsthaftem Herrschaftskonzept. Eher sind die Reaktionen der anderen das, was die Macht produziert, und nicht die tatsächliche eiserne Faust. AN Genau, denn der Mächtige ist von denen abhängig, über die er die Macht ausübt. Das Maß der Macht ist das Tun der Beherrschten, deshalb kann sich der Mächtige auch so schnell lächerlich machen, wenn er bloßgestellt wird – und deshalb neigt unsichere Macht auch zur Gewalt, weil sie dann selbst dafür sorgen kann, dass der Beherrschte tut wie ihm geheißen. Das bedeutet aber, dass ein Herrscher, der auf Herrschaftssymbole verzichtet und die Machtmittel nicht zeigt, besonders fest im Sattel sitzt. Das kann man sich nur erlauben, wenn die Dinge besonders gut funktionieren, und wenn man sicher sein kann, dass Gefolgschaft tatsächlich funktioniert. Titos erster Auftritt weist also bereits auf den späteren Verzicht auf Gewalt hin – was in beiden Fällen gerade im Verzicht auf äußere Machtmittel ein Zeichen großer Macht ist. Und das ist eine Parabel auf die moderne Demokratie, die üblicherweise darauf verzichtet, die Mittel zu zeigen. Deshalb wundern wir uns immer, dass auch die moderne Demokratie auf der Möglichkeit von Gewaltanwendung aufgebaut ist – im potentialis, nicht im realis – also der Möglichkeit einer Gewaltanwendung, aber eben nicht mehr unter allen Umständen.
Der Regisseur Jan Bosse wurde nach seinem Studium an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ 1998 von Dieter Dorn für die Münchner Kammerspiele engagiert. Im Jahr 2000 ging er für fünf Jahre als Hausregisseur ans Schauspielhaus Hamburg. Von 2007 bis 2013 war er Hausregisseur am Maxim Gorki Theater Berlin. Er inszeniert am Schauspielhaus Zürich und regelmäßig am Burgtheater in Wien, am Thalia Theater in Hamburg sowie am Schauspiel Stuttgart, zuletzt Szenen einer Ehe nach Ingmar Bergmans gleichnamigem Film. Seine Inszenierungen wurden mehrfach zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Nach ersten Opernerfahrungen am Theater Basel, an der Oper Frankfurt und an der Deutschen Oper Berlin mit Monteverdis L’Orfeo, Cavallis La Calisto und Verdis Rigoletto inszeniert er an der Bayerischen Staatsoper Mozarts La clemenza di Tito.
Armin Nassehi ist Inhaber des Lehrstuhls I für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als Wissenschaftler forscht er darüber, wie in komplexen Situationen Entscheidungen generiert werden und wie unterschiedliche Perspektiven der Gesellschaft in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Medien und Kultur aufeinander treffen. Vor seiner Berufung 1998 war er Privatdozent an der Universität Münster, wo er zuvor auch studiert, promoviert und sich habilitiert hatte. Seit 2001 ist Armin Nassehi, der in Gelsenkirchen, Bayern und Teheran aufwuchs, auch als Redner und Berater in Wirtschaft und Kultur t ätig. Im Sommer 2010 verpflichtete ihn der Fernsehsender BR-alpha für eine Sendereihe, die sich mit zentralen Fragestellungen unserer Gesellschaft befasst. Seit 2012 ist Nassehi Herausgeber der Zeitschrift Kursbuch.
La clemenza di Tito Opera seria in zwei Akten Von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere am Montag, 10. Februar 2014, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 15. Februar 2014 Weitere Termine im Spielplan ab S. 88
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MYSTERIUM UND OPULENZ Der amerikanische Bildk端nstler Matthew Barney zeigt seinen symphonischen Film River of Fundament als Europapremiere an der Bayerischen Staatsoper. Er entstand in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Jonathan Bepler und wurde eigens f端r einen Theaterraum entwickelt. Der Film ist Teil eines Kunstprojekts, dessen足 anderer Teil als Ausstellung im M端nchner Haus der Kunst zu sehen sein wird.
Matthew Barney and Jonathan Bepler, River of Fundament, 2014, Production Still. Foto Hugo Glendinning
Matthew Barney and Jonathan Bepler, River of Fundament, 2014, Production Still. Foto Hugo Glendinning
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In diesem Frühjahr präsentieren der Künstler Matthew Barney und der Komponist Jonathan Bepler ihr Gesamtkunstwerk Ancient Evenings in München. Das Projekt basiert auf dem gleichnamigen Roman von Norman Mailer. Es ist Matthew Barneys bisher ehrgeizigstes episches Projekt und besteht aus einer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst mit neuen Skulpturen, Zeichnungen und Storyboards und der Premiere des symphonischen Films River of Fundament in der Bayerischen Staatsoper, der im Vorfeld der Ausstellung gezeigt wird. Matthew Barneys Werk stellt ein komplexes Erzählsystem aus persönlichen, historischen und modernen Mythologien dar. Der Künstler ist einem breiteren Publikum vor allem bekannt durch seine autobiografische Kunstfilm-Serie Cremaster Cycle. Hier begann auch die Zusammenarbeit mit dem Musiker, Sänger und Komponisten Jonathan Bepler, der die musikalische Gestaltung dreier Filme der Reihe übernahm. Auch Norman Mailer, der für Matthew Barney seit jeher eine wichtige Inspirationsquelle ist, hat noch im Jahr 1999 im zweiten Teil dieser Serie als Schauspieler mitgewirkt. River of Fundament ist nun das erste gemeinsame Filmprojekt Barneys und Beplers. Schon 2007 – in dem Jahr, in dem Norman Mailer starb – begannen sie ihre Arbeit an einer Serie von multidisziplinären Projekten, die sich immer jeweils auf einen bestimmten Ort bezogen und lose auf Norman Mailers Roman Ancient Evenings basierten. Mailers Text aus dem Jahr 1983 erzählt nach der ägyptischen Mythologie von den sieben Stufen der Reise der menschlichen Seele, die nach dem Tod den Körper verlässt und aufsteigt zu ihrer Wiedergeburt. River of Fundament ist ein technisch hochanspruchsvoller, symphonischer Film, der sich mit den thematischen Unterströmungen sowohl von Mailers Roman als auch von dessen Leben beschäftigt. Die zentrale Szene dreht sich in abstrakter Form um die Totenwache für den verstorbenen Norman Mailer in einem Nachbau seines Apartments im New Yorker Stadtteil Brooklyn Heights. Eine große Zahl von fiktiven und realen Gästen ist anwesend – Mitglieder von Mailers Freundeskreis, Stars der New Yorker Literaturszene und Figuren aus Barneys Cremaster-Filmen. Liveperformances in amerikanischen Großstädten wie Los Angeles, Detroit und New York als Teil früherer Arbeiten am Ancient Evenings-Projekt sind in Zwischenschnitten zu sehen.
Der Film kombiniert auf elegante Weise traditionelles opulentes Erzählkino mit Elementen aus Performancekunst und Bildhauerei. Wie in seinen früheren Filmen bezieht sich Barney hier stark auf die Operntradition, um verschiedene Erzählformen innerhalb der narrativen Struktur des Films zu verbinden. Nach seiner Premiere im Nationaltheater wird River of Fundament in weiteren internationalen Opernhäusern und Theatern gezeigt. Beteiligt sind Schauspieler, Sänger und Musiker wie Maggie Gyllenhaal, Debbie Harry sowie die Mystic River Native American Pow Wow Group. Die besondere Gelegenheit in München ist, das gesamte Ancient Evenings-Projekt zu sehen – Ausstellung und Film. Wer Matthew Barneys Werk nicht kennt, sieht hier einige der mysteriösesten und schönsten Bilder unserer Zeit. Es verspricht ein aufregendes Erlebnis für alle zu werden. – SV Mit bestem Dank an das Matthew Barney Studio, New York Copyright aller Bilder: Matthew Barney, Courtesy Gladstone Gallery, New York und Brüssel
Matthew Barney verbindet in seinem interdisziplinären Schaffen Film, Bildhauerei, Performance und Zeichnung. Barney lebt und arbeitet in New York. Sein bekanntestes Werk ist die Kunstfilm-Serie Cremaster Cycle (1994-2002). Jonathan Bepler ist Komponist, Gitarrist, Sänger und Installationskünstler aus den USA. Er inszeniert weltweit genreübergreifende Projekte, Installationen und Konzerte.
River of Fundament Filmpremiere Sonntag, 16. März 2014, Nationaltheater Matthew Barney: River of Fundament Ausstellung 17. März – 17. August 2014 Haus der Kunst
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Die Auflösung der Herrschergnade oder: Musealisierungsprozesse in der Oper Münchner Rezeptionsstationen von La clemenza di Tito 1936 und 1962.
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Kaiser Tito in Wolfgang Amadeus Mozarts Oper La clemenza di Tito hätte auch anders gekonnt. Er hätte seinen verräterischen Vertrauten Sesto, der sich dazu verleiten ließ, einen Aufruhr gegen den Herrscher Roms anzuzetteln, bei dem dieser hätte ums Leben kommen sollen, nach der Praxis der römischen Kaiserzeit in den Zirkus werfen können – oder zumindest in die Verbannung schicken. Was Tito stattdessen macht, ist hinlänglich bekannt: Er vergibt Sesto ebenso wie den anderen Verschwörern und Verschwörerinnen, wofür er vom Volk bejubelt wird. Mozart inszeniert in La clemenza di Tito damit eine beispiellose Herrschergnade, die es so zweifelsohne nie gegeben hat. Zur Zeit der Uraufführung der Oper 1791 erinnerte sie allerdings an aktuelle politische Umwälzungen. In den Reformideen Leopolds II., für dessen Krönung als König von Böhmen die Oper geschrieben wurde, bildeten sich zumindest Ansätze einer solchen fürstlichen Milde ab: Als Großherzog von Toskana verfügte Leopold noch vor Übernahme der Kaiserkrone bedeutende Milderungen des Strafrechts und schaffte Mitte der 1780er Jahre als einer der ersten neuzeitlichen europäischen Fürsten sowohl die Todesstrafe als auch die Folter ab. Insofern erweist Mozarts musikalische Darstellung des gnädigen, vergebenden Herrschers, obschon stofflich in der Antike angesiedelt, einem aufgeklärten zeitgenössischen Fürsten die Referenz, die zugleich als Mahnung zu verstehen wäre: Leopold II. solle auch als oberster Regent des Heiligen Römischen Reiches und frischgekrönter König von Böhmen seine gnädigen Tugenden beibehalten. An der Rezeptionsgeschichte von Mozarts Oper zeigt sich, wie sehr ihre Konjunktur vom Zeitcharakter geprägt war. Das lag vor allem am Stoff selbst. Pietro Metastasios Libretto La clemenza di Tito wurde ab 1734 nachgewiesenermaßen 45 Mal vertont und war damit der Bühnenrenner des aufgeklärten Absolutismus. Im Falle der Vertonung durch Mozart schadete es der Beliebtheit des Werks nicht, dass sich dieser der damals bereits veralteten Form der opera seria bediente: seine Clemenza di Tito wurde am Beginn des 19. Jahrhunderts zum wahrscheinlich beliebtesten Bühnenwerk des Komponisten. Doch mit dem Ende des wie auch immer aufgeklärten oder restaurativen Absolutismus begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Begeisterung für diesen Opernstoff nachzulassen: Mit dem ökonomischen wie gesellschaftlichen Aufstieg des Bürgertums verloren der absolute Herrscher und dessen auf Gnade gebaute Regentschaft ihren gesellschaftlichen Sinn, und Mozarts Oper wurde nun jenseits ihrer als veraltet geltenden formalen Gestalt der opera seria auch inhaltlich zum Anachronismus.
Text Fritz Trümpi
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Anachronistische Opernformen und deren Inhalte haben jedoch nur in einer zeitgenössisch orientierten Spielplanpraxis einen schweren Stand. Schon ab dem späten 19. Jahrhundert begann sich das Repertoire an Opernhäusern zusehends zu fixieren. Seither vergrößert es sich vor allem seitwärts, zumeist entlang wenig gespielter Werke von zu Großmeistern erklärten Komponisten. Kurz: Der Opernbetrieb ist seither als solcher anachronistisch, ja museal ausgerichtet, wie dies etwa die Opernforscher Carolyn Abbate und Roger Parker in ihrer unlängst auf deutsch erschienenen Operngeschichte deutlich machten. Werke, die einst als veraltet galten, erhalten dadurch allerdings wieder eine Chance, auf die Bühne zurückzukehren. Sogar im Nationalsozialismus wandte man sich in München dem stofflich vom Anachronismus der Herrschergnade durchdrungenen „Titus“ zu – so die eingedeutschteBezeichnung von Mozarts La clemenza di Tito. Deren Aufführung müsste im totalitären Staat eigentlich als politisch nicht opportun gegolten haben. Allerdings herrschte zwischen 1933 und 1945, als sowohl staatliche Verfügungen als auch die selbstanpassende Praxis zahlreicher Opernintendanten in ganz Deutschland für eine krasse Beschneidung des Repertoires sorgten, gewissermaßen ein Notstand. Die Staatstheater waren auf emsiger Suche nach Ersatz für Opern, die aus dem Spielplan verbannt wurden, weil sie als „entartet“ gebrandmarkt waren oder aber von jüdischen Komponisten stammten. Der Rückgriff auf den Tito war deshalb trotz seines für den Nationalsozialismus unkommoden Gehalts naheliegend, zumal die letzte Münchner Neuinszenierung zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre zurücklag. Dass die Bayerische Staatsoper im Juni 1936 den Tito auf die Bühne brachte, deckt sich mit dem für den Nationalsozialismus durchaus typischen kulturpolitischen Pragmatismus. Die Lösung der stoffl ichen Problemlage fand sich einerseits in Umdeutungen und Bearbeitungen der Libretti, andererseits aber auch in der Herauslösung der Opernwerke aus einem realpolitischen Kontext, die durch die zunehmende Musealisierung des Opernbetriebs umso einfacher gelang.
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Doch wie auch immer: Die Bearbeitung eines aufklärerisch-humanistischen Stoffes wie jenes des Tito durch kulturpolitische Aktivisten und Nutz nießer eines totalitären Massenvernichtungsregimes hat von vornherein eine perverse Dimension.
Für die Rezeptionsentwicklung von La clemenza di Tito ist auch ein Blick auf die Münchner Neuinszenierung von 1962 aufschlussreich, zumal der Musealisierungsprozess in den 1960er Jahren bereits weit fortgeschritten war. Was die Proponenten der Inszenierung betrifft, waren es großteils Künstler und Kunstverwalter, die ihre Dienste knappe 30 Jahre zuvor bereits dem nationalsozialistischen Staat zur Verfügung gestellt hatten – wenn auch nicht für den Tito von 1936. Rudolf Hartmann etwa, in dessen Ära die 1962er Premiere von Mozarts Oper fiel, kam erst 1937 nach München, wo er als Oberspielleiter der Bayerischen Staatsoper fortan gemeinsam mit Clemens Krauss die Münchner Opernagenda bestimmte. Außerdem war Hartmann seit 1933 NSDAP-Mitglied und gehörte einer SA-Theatergruppe sowie dem Reichskolonialbund an, wie Andreas Backöfer schon 1992 publik machte. Doch seine Karriere hatte nach 1945 einen fast ungehinderten Fortbestand, was zweifellos der Milde und Gnade der (bundesrepublikanischen) Herrschaft geschuldet war: Für die Nachkriegsjustiz war er nichts weiter als ein harmloser „Mitläufer“. Ähnlich gnädig verfuhr die Justiz beim Übertritt des Tito-Dirigenten der 1962er-Produktion, Meinhard von Zallinger, vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik. Der gebürtige Österreicher gehörte ebenfalls der NSDAP an und kam 1935 nach München, wo er bis 1944 als „Staatskapellmeister“ seinen Dienst versah. 1944 betreute Zallinger außerdem kurzzeitig die nach Prag evakuierte Oper Duisburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er zunächst Anstellungen in Salzburg und Graz und gelangte von dort 1950 nach Wien, wo er zum Leiter der Volksoper ernannt wurde. Doch schon 1953 ging er für drei J ahre nach Ostberlin, wo er die Komische Oper leitete. 1956 kehrte er schließlich nach München an die Bayerische Staatsoper zurück, wo er bis 1973 als „erster Staatskapellmeister“ wirkte. Man könnte nun außerdem näher auf Hans Hartleb eingehen, der den Münchner Tito von 1962 inszenierte: Er praktizierte sein Handwerk ab 1935 an der Volksoper Berlin, wo er 1942 zum Oberspielleiter aufstieg. Oder auf Richard Holm, der 1962 die Titelrolle des Tito sang, nachdem er 1937 in Kiel debütiert hatte und von 1942 bis 1944 am Opernhaus Nürnberg tätig gewesen war, bevor er 1948 Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper wurde. Details zur Tätigkeit der Tito-Proponenten von 1962 dürften bald vom derzeit laufenden Forschungsprojekt zur Bayerischen Staatsoper im Nationalsozialismus zu erwarten sein – so das Forschungsteam denn Zugang zu den verschiedenen Nachlässen erhält, die derzeit noch unter privater Abgeschlossenheit stehen. „Ich kann auch anders“ könnte diesbezüglich eine Motivationslage der Nachkommen und Nachlassverwalter bilden, um die forschungsrelevanten Dokumente der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.
La clemenza di Tito
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Doch wie auch immer: Die Bearbeitung eines aufklärerisch-humanistischen Stoffes wie jenes des Tito durch kulturpolitische Aktivisten und Nutznießer eines totalitären Massenvernichtungsregimes hat zweifellos von vornherein eine perverse Dimension. Dies schlug sich auch in der medialen Vermittlung des Stoffes durch den Regisseur Hans Hartleb nieder, wie ein Blick in das von ihm gestaltete Programmheft der Tito-Premiere von 1962 deutlich macht: Aufklärerischen Gesten wie jener der Herrschermilde gegenüber zeigte man sich im München der 1960er Jahre nach wie vor misstrauisch. Die Akteure im Tito seien, so wird dort betont, kaum noch Individuen, sondern Träger und Verkünder moralischer Maximen. Ganz im Sinn der immer objektivierenden, jeden Realismus meidenden opera seria seien auch zwei wichtige männliche Partien (Sesto und Annio) für Frauenstimmen geschrieben, so Hartleb im Programmheft. Titos Entscheidung, Gnade walten zu lassen, sieht der Programmtext denn auch nicht als Gestus eines aufgeklärten, sondern eines kalkulierenden Herrschers: „Titus handelt zwar nicht selbst, aber er bewirkt die Handlungen der Anderen. Und was ihn passiv sein läßt, ist nicht Schwäche, sondern innere Kraft: die höhere Einsicht, die in der verzeihenden Güte ein echtes Wirkungsmittel erkennt.“ Nun liegt zwar auf der Hand, dass eine solche Güte 20 Jahre nach der Wannsee konferenz nicht mehr als reale Herrschertugend angesprochen werden kann. Dass der Text sie aber zum bloßen Kalkül und Wirkungsmittel von Herrschaft umfunktionalisiert, zeigt den geschichtslosen Kontext an, in den die Oper zwischenzeitlich gestellt wurde. Einer anderen als der instrumentellen Vernunft zeigt sich Hartlebs Programmtext nicht mehr zugänglich: Der Handlungsspielraum von Herrschaft, so wie er in Mozarts La clemenza di Tito geradezu idealtypisch aufscheint, löst sich angesichts dieser zweckorientierten Umfunktionalisierung endgültig in Luft auf – nolens volens ein Meilenstein im Musealisierungsprozess des Opernbetriebs.
Fritz Trümpi ist Musikhistoriker und Kulturjournalist. Er lebt in Wien und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des FWF-Forschungsprojekts „Eine politische Geschichte der Wiener Oper, 1869 bis 1955“. 2011 erschien von ihm Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus. Literaturhinweise: Andreas Backöfer: „Intendant zu sein ist eine Zumutung. Über die Regisseure Günther Rennert, Rudolf Hartmann und August Everding“. In: Hans Zehetmair / Jürgen Schläder: Nationaltheater. Die Bayerische Staatsoper. München 1992. S. 132–155. Carolyn Abbate / Roger Parker: Eine Geschichte der Oper. Die letzten 400 Jahre. München 2013. Die Fotografien zeigen Szenen aus der Münchner Tito-Inszenierung von Kurt Barré aus dem Jahr 1936, entnommen aus Das Programm. Blätter der Bayerischen Staatstheater in München. Nr. 19, 1936.
La clemenza di Tito Opera seria in zwei Akten Von Wolfgang Amadeus Mozart Premiere am Montag, 10. Februar 2014, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Samstag, 15. Februar 2014 Weitere Termine im Spielplan ab S. 88
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ManchMal ist das leben ein solo.
Zeit für Musik.
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So Text Barbara Vinken 96
Viele Herren, alle in nachtblau. Von Kopf bis Fuß korrekt angezogen. Eine Art Frankfurter Uniform: dunkler Anzug, Krawatte, weißes Hemd oder weißer Rollkragen. Alles tadellos, fleckenlos, gut sitzend, gut gebügelt. Gut rasiert, gut frisiert. Die unauffällige Uniform von Macht und Geld, die neue Ziviluniform der Herrschenden. An deren nüchterner Funktionalität perlt alles ab. Die Körper werden durch die Anzüge fast entkörpert, in einen Kollektivkörper aufgehoben. Sie verschmelzen dunkel mit dem Hintergrund. Die Herren stehen um einen Vorstandstisch herum; einzig die üppig verzierten Stuhllehnen haben einen Hauch Barock. Sonst strikteste Moderne. Einer, der im weißen Rollkragen, setzt einen schmalen, schwarzen Lederkoffer auf den Tisch. Das Leder glänzt so dezent diskret wie die Sitze der Stühle. So war das früher bei der Mafia; und so stellt man sich die Situation heute im internationalen Finanzgeschäft vor, das die Politik lenkt. Aus dem Koffer kommen wie erwartet Bündel von Banknoten, viele Bündel von Banknoten. Der Herr mit dem weißen Rollkragen verteilt sie an die Herren um sich herum. Das hat nichts von der Sinnlichkeit eines Goldregens; hier geht es einfach um Noten, um Papier. Die Gier auf das Geld greift um sich. Dann passiert etwas vollkommen Unvorhergesehenes. Ein Mann, auf allen vieren, kriecht unter dem Tisch hervor. Es ist vermutlich der Mann, der gewöhnlich die Sitzungen an diesem Tisch präsidiert. Aber diese Zeiten sind vorbei: Er kommt wie ein Tier aus einer Höhle. Er gehört hier nicht mehr hin. Er richtet sich auf, aber er steht im unvermutet hohen Raum zuerst noch schief verzerrt. Er ist barfuß. Sein Anzug, auch nachtblau, ist zerknittert und befleckt. Er lässt mit dem zerfetzten, verschmierten T-Shirt viel Haut sehen, wie mit einem Dekolleté. Sein Körper ist in diesem Anzug nicht mehr aufgehoben; seine Fleischlichkeit und Verletzlichkeit liegen unübersehbar bloß. Auch seine Hände und Füße sind beschmutzt. Der hier, der ins Licht taumelt, ist aus dem Männerkollektiv, das sich die Hände nicht schmutzig macht und stattdessen für das schmutzige Geschäft Geld, das ja bekanntlich nicht stinkt, verteilt, ausgeschlossen. Er ist auf die Seite der Opfer gewandert. Wie ein Opfertier, das geschlachtet werden soll, liegt er auch für einen kurzen Moment auf dem Verhandlungstisch. Anders als das Männerkollektiv, das unberührbar die Macht ungerührt unter sich verteilt, ist dieser hier sichtbar angegriffen. Inmitten der ihn umgebenden Herzlosigkeit wird es dann auch nicht mehr lange dauern, bis er am Herzen stirbt. Das ist kein klassischer Liebestod; vielmehr zeigt es die gefährliche Unfähigkeit, die eigene Herzlosigkeit und die der anderen weiterzutragen, länger zu ertragen. Deshalb muss so einer entsorgt wer-
In der Textreihe So gesehen beschreiben Autoren für MAX J OSEPH, was sie in einer Szene aus einer besonders streitbaren Inszenierung wahrgenommen haben.
gesehen den. Mit ihm ist in einem politischen Zustand, in dem jeder im Krieg mit jedem liegt, kein Staat mehr zu machen. So einer muss verrecken. Der Herr, der unter dem Tisch auf allen Vieren hervorkroch, stirbt coram publico auf der Bühne. Das verstößt natürlich gegen die Regeln der bienséance, zumal es sich hier auch nicht um einen dekorativen Tod, sondern um ein Verröcheln handelt, fast so viehisch brutal wie der Mord an seinen beiden Kindern, die von einem Schergen ohne große Zeremonie im Hintergrund erwürgt und erstickt werden. Ein obszöner Tod, der da vor aller Augen von dem einzigen gestorben wird, der in der kalten Brutalität, die alle in Vieh verwandelt, in seiner Zerrissenheit etwas Menschliches behält. In jedem Sinne stirbt er an einem gebrochenen, an einem zerrissenen Herzen.
Barbara Vinken ist Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuletzt veröffentlichte sie das Buch Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Ein Foto aus der beschriebenen Inszenierung finden Sie unten.
Schule der Wahrnehmung Mit C. Bernd Sucher und der Dramaturgie der Bayerischen Staatsoper In der Schule der Wahrnehmung können Zuschauer miteinander ihre persönlichen Eindrücke, Wahrnehmungen und Fragen zu ausgewählten Inszenierungen des Spielplans diskutieren. Man sucht gemeinsam nach genaueren Beschreibungen eines erlebten Opernabends, die über verallgemeinernde Kategorien wie „schön“ und „hässlich“, „klassisch“ oder „modern“ hinausgehen.
Szene aus Boris Godunow (Inszenierung Calixto Bieito, 2013)
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Foto Wilfried Hösl
Termine im Spielplan ab S. 88