MAX JOSEPH #2 Vorsicht Bumerang!

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MAX JOSEPH WAS FOLGT

BAYERISCHE STAATSOPER

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D: 6,00 Euro A: 6,20 Euro CH: 8,00 CHF

Vorsicht Bumerang!

Joyce DiDonato im Interview – Premiere Semiramide Eine Begegnung mit Philipp Stölzl – Premiere Andrea Chénier Das vergessene Glück – Eine Erzählung in Briefen von Katja Petrowskaja



2016

Max Joseph 2 2016 – 2017 Das Magazin der Bayerischen Staatsoper

2017


Illustration Sany

In MAX JOSEPH 1 fragten wir: Was folgt für Andrea Chénier? Hier die Auflösung: Andrea Chénier hat sich entschieden. Er folgt dem Ruf der Unbekannten, die sich als Maddalena entpuppt, und nicht dem dringenden Rat seines Freundes Roucher, aus Paris zu fliehen. Diese und alle weiteren Stationen der Geschichte von Andrea und Maddalena sind ab dem 12. März 2017 in der Neuproduktion von Andrea Chénier an der Bayerischen Staatsoper zu erleben.


EDITORIAL Che penetrai!, ruft Königin Semiramide aus. Was muss ich erfahren! Wir befinden uns im zweiten Akt von Gioachino Rossinis Opera seria Semiramide. Gerade hat General Arsace, den Semiramide heiraten und zum König Babyloniens machen wollte, sich als ihr verschollener Sohn Ninia zu erkennen gegeben. Sohn auch ihres ersten Mannes, des Königs Nino, den sie gemeinsam mit ihrem Geliebten Assur ermordet hat. Plötzlich und unerwartet taucht längst Vergangenes wieder auf. Ereignisse und auch Entscheidungen, die seit Langem vergessen oder zumindest gut verdrängt waren, zeigen nach Jahren ihre Konsequenzen. Semiramide ist nicht vorbereitet darauf, dass die Vergangenheit zu ihr zurückkehrt – wie ein Bumerang. Es sind diese Momente der Wiederkehr, unerwartete, befürchtete, vielleicht aber auch längst ersehnte Momente, die uns in der vorliegenden Ausgabe von MAX JOSEPH beschäftigen. Dass unser Handeln Konsequenzen hat und jedes Handeln die Zukunft beeinflusst, ist eine menschliche Grunderfahrung. „Was folgt?“, fragen wir in Variation des Spielzeitthemas: auf Entscheidungen, Taten, Handlungen, die wir einmal getroffen haben. Und wann folgt es, und wie? Der Semiramis-Mythos, der Rossinis Oper zugrunde liegt, steht im Zentrum unseres Essays. Sein Autor Johan Schloemann nimmt die Verstrickungen zwischen historischer assyrischer Herrscherin und mythischer Figur zum Ausgangspunkt einer Reflexion über die Natur des Mythos. Verschleierung und Verdrängung begegnen ihm in seiner kurzen Kulturgeschichte immer wieder. In der Neuproduktion von Semiramide, deren Premiere die Bayerische Staatsoper am 12. Februar 2017 feiern wird, gestaltet Joyce DiDonato die Titelrolle. MAX JOSEPH traf die gefeierte Mezzosopranistin zu einem Gespräch, das weit über die Vorbereitung dieses Rollendebüts hinausging. Und auch Michele Mariotti, musikalischer Leiter der Produktion, gewährte Einblicke: Beim Spaziergang in der Adriastadt Pesaro, aus der sowohl er selbst als auch Gioachino Rossini stammen, erzählte er von seiner Verbundenheit mit dem Komponisten und seinem Werk. Der Dichter Andrea Chénier, Titelfigur unserer weiteren Neuinszenierung, bekommt die Folgen des Terreurs nach der Französischen Revolution zu spüren – dabei will er doch eigentlich vor allem für die Liebe leben. Philipp Stölzl inszeniert Umberto Giordanos emotionsgeladenes Melodramma, das am 12. März 2017 erstmals im Nationaltheater zu erleben sein wird. Mit C. Bernd Sucher sprach der Regisseur über seine Pläne für die Neuinszenierung. Die Verstrickungen Giordanos und anderer Veristen mit dem italienischen Faschismus analysiert wiederum Bernd Feuchtner in einem kompakten Durchgang durch vier Jahrzehnte von Aufstieg und Fall einer Komponistengeneration. In den Erzählungen auf der Opernbühne wie im Leben kann der „Bumerang“ aus der Vergangenheit verschiedenste Gestalten annehmen. Wir baten zwei Schriftsteller um Gedanken zum Thema und erhielten bemerkenswerte Antworten: Jochen Schmidt beschreibt eindringlich ein Moment der überraschenden Selbsterkenntnis im Umgang mit den eigenen Kindern. Und Katja Petrowskaja entwirft in ihrer Erzählung verschiedene Erinnerungs-Episoden: Einmal lösen vergessene Briefe eine Kette von Assoziationen aus. Dann ist es eine ganze vergessene Stadt, die plötzlich wieder auf der Bildfläche erscheint. Ich wünsche Ihnen anregende Überraschungen bei der Lektüre unseres Magazins und einen souveränen Umgang mit den Wiedergängern aus der Vergangenheit, unerwarteten Wiederbegegnungen, allzu gut bekannten alten Mustern. Und wunderbare Stunden in der Bayerischen Staatsoper.

Nikolaus Bachler, Intendant der Bayerischen Staatsoper


INHALT

MAX JOSEPH 2 Das Magazin der Bayerischen Staatsoper Spielzeit 2016 / 17

Foto Benedetta Ristori

Vorsicht Bumerang!

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Editorial Von Nikolaus Bachler

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Contributors/Impressum

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Was folgt bei Ihnen … ? Conchita Wurst und Fridolin Frost geben Auskunft

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Mythos und Wiederkehr Ein Essay von Johan Schloemann

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„Es geht um ein Gefühl der Zeitenwende“ – PREMIERE Regisseur Philipp Stölzl gibt Einblick in seine Pläne für die Neuinszenierung von Andrea Chénier

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„Von klein auf habe ich Rossini eingeatmet“ – PREMIERE Ein Spaziergang durch Pesaro mit Michele Mariotti, dem Dirigenten der Neuproduktion von Rossinis Semiramide

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Das vergessene Glück Eine Erzählung in drei Briefen von Katja Petrowskaja


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Vom Realismus zur Reaktion Bernd Feuchtner über Glanz und Elend des italienischen Verismo

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Es drückt mich. Es drückt mich nicht. Thomas Östreicher über die Tücken des Gewissens

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Bumerang Eine Erzählung von Jochen Schmidt

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Ein virtuoses Geheimnis 4. Akademiekonzert: Marc-André Hamelin interpretiert Nikolai Medtner

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Eine kurze Flucht? Andrea Jeska berichtet von der türkisch-syrischen Grenze

Kunst ist Liebe – PREMIERE Die Mezzosopranistin und Semiramide-Interpretin Joyce DiDonato im Gespräch

Comic Sergej Prokofjews Der feurige Engel, erzählt von Friederike Hantel

Mitdenken und Mut haben Der Risikoforscher Gerd Gigerenzer plädiert für weniger Panik und mehr Einstein

Illustration Friederike Hantel

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Spielplan

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Was folgt … … auf das Lichtzeichen?

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Vorschau

AGENDA


Erleben Sie Argon. In einer atemberaubenden Inszenierung von Linde. Welches Aussehen hätten Gase, wenn sie sichtbar wären? Und wie würden sie klingen? Wir wollten es wissen und haben typische physikalische Eigenschaften wie Elektronenzahl oder Siedepunkt in Töne und Farben gekleidet. Mehr unter www.fascinating-gases.com. Wir begleiten die Bayerische Staatsoper im Rahmen unseres Kulturengagements als Spielzeitpartner.



Katja Petrowskajas Romandebüt Vielleicht Esther ist eine poetische Recherche, virtuos gebaut aus Bildern, Erinnerungen und Schilderungen einer Spurensuche. Der Text Das vergessene Glück, den sie für diese Ausgabe geschrieben hat, fasziniert mit einer verwandten und doch ganz eigenen Komposition. Katja Petrowskaja wuchs in Kiew auf, studierte in Estland Literaturwissenschaft und promovierte in Moskau, seit 1999 lebt sie in Berlin. Für einen Auszug aus dem Roman Vielleicht Esther erhielt sie 2013 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Magazin der Bayerischen Staatsoper www.staatsoper.de/maxjoseph Max-Joseph-Platz 2 80539 München T 089 – 21 85 10 20 F 089 – 21 85 10 23 maxjoseph@staatsoper.de www.staatsoper.de Herausgeber Staatsintendant Nikolaus Bachler (V.i.S.d.P.)

Bernd Feuchtner Seite 66

Redaktionsleitung Nikolaus Stenitzer Gesamtkoordination Christoph Koch

Bernd Feuchtner ist einer der profiliertesten deutschsprachigen Musik- und Tanzpublizisten. Nach Stationen als Redakteur beim Tagesspiegel und leitender Redakteur der Opernwelt arbeitete er als Operndirektor und Chefdramaturg in Heidelberg, am Salzburger Landestheater und am Badischen Staatstheater Karlsruhe und lehrte an verschiedenen Universitäten. Für MAX JOSEPH hat Bernd Feuchtner eine profunde Auseinandersetzung mit dem italienischen Verismo und dessen Verflechtungen mit dem Faschismus geschrieben.

Redaktion Miron Hakenbeck, Rainer Karlitschek, Malte Krasting, Daniel Menne, Julia Schmitt, Benedikt Stampfli, Mitarbeit: Sabine Voß Bildredaktion Yvonne Gebauer

Foto Petrowskaja Heike Steinweg

Katja Petrowskaja Seite 38

Foto Feuchtner Egbert Baars

CONTRIBUTORS

IMPRESSUM

Gestaltung Bureau Borsche – Mirko Borsche, Moritz Wiegand, Michael Clasen, Fabian Fohrer, Jean-Pierre Meier

Adrian Samsons Fotografien zeigen das scheinbar Vordergründige in seiner Tiefe. Mit seiner Serie One Week of Portrait wurde der in der Slowakei geborene Künstler zum Taylor Wessing Photographic Portrait Prize eingeladen. Adrian Samson wurde in der Slowakei geboren und lebt und arbeitet in London. Seine Arbeit wurde in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Die Bilder, die Thomas Östreichers Reportage zum Topos des Gewissens illustrieren, stammen aus der Serie Interview.

Friederike Hantel Seite 49 Der Comic, den Friederike Hantel zu Sergej Prokofjews Der feurige Engel gezeichnet hat, treibt die unheimliche Sinnlichkeit des Werkes auf die Spitze: In faszinierend schaurigen Bildern entführt uns die Zeichnerin in die Welt von Renata, Ruprecht und Madiel und reizt dabei die Möglichkeiten der graphischen Form aus – mit allen Lust- und Schattenseiten. Friederike Hantel ist freiberufliche Illustratorin, teilweise arbeitet sie auch als Dozentin, Animatorin und Designerin. Momentan lebt und arbeitet sie in Hamburg.

Jochen Schmidt Seite 78 Wenn die Kinder nicht wollen wie die Eltern, kommt es am Abendbrottisch zum Showdown: Wird den Vater der Bumerang seiner eigenen Erziehung im Genick treffen? Oder der Kartoffelbrei vom Kinderlöffel im Gesicht? Aus Jochen Schmidts Erzählung sprechen eigene Erfahrungen: Der 1970 geborene Berliner Schriftsteller ist Vater von drei Kindern. Für seine Werke wurde Schmidt mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt u.a. 2016 mit einem Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Im Frühjahr 2017 erscheint sein Roman Zuckersand.

Autoren Jörg Böckem, Bernd Feuchtner, Florian Heurich, Oliver Jeffers, Andrea Jeska, Carmen Kovacs, Christiane Lutz, Johan Schloemann, Jochen Schmidt, C. Bernd Sucher, Katja Petrowskaja, Thomas Östreicher, Jochen Schmidt, Gregor Willmes Fotografen & Bildende Künstler Rainer Hackenberg, Friederike Hantel, Samuel Henne, Wilfried Hösl, Oliver Jeffers, Gwendal Le Bec, Harriet Lee Merrion, Akira Otsubo, Sami Parkkinen, Benedetta Ristori, Adrian Samson, Sany, George Wylesol Marketing Laura Schieferle T 089 – 21 85 10 27 F 089 – 21 85 10 33 marketing@staatsoper.de Schlussredaktion Clarissa Czöppan Anzeigenleitung Julia Altenberger T 089 – 21 85 10 40 julia.altenberger@staatsoper.de Vertrieb Zeitschriftenhandel DPV Deutscher Pressevertrieb GmbH Am Sandtorkai 74 20457 Hamburg www.dpv.de Lithografie MXM Digital Service, München Druck und Herstellung Gotteswinter und Aumaier GmbH, München ISSN 1867-3260

Foto Schmidt Tim Jockel / Voland & Quist

Adrian Samson Seite 70

Gwendal Le Bec Seite 100 Der französische Illustrator und Autor Gwendal Le Bec begann seine künstlerische Laufbahn mit Kinderbüchern ganz aus eigener Feder. Heute zeichnet er von New York aus für internationale Zeitungen wie Le Monde, oder The New York Times – und ist weiterhin mit Kinderbüchern erfolgreich: Sein Buch Le Roi des Oiseaux erhielt 2011 den Preis für das beste Kinderbuch der Montreuil Children’s Book Fair. In dieser Ausgabe erzeugt er mit seinem Bild einer Szene aus The Consul Cliffhanger-Spannung – Auflösung in MAX JOSEPH 3!

Für die Originalbeiträge und Originalbilder alle Rechte vorbehalten. Urheber, die nicht zu erreichen waren, werden zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung um Nachricht gebeten. Ergänzung zu MAX JOSEPH 2 2016/17: In der letzten Ausgabe von MAX JOSEPH ist ein Bildnachweis verloren gegangen, der hiermit nachgetragen sei: Die wunderbaren Aufnahmen von Elsa Benoit, Goran Jurić und Rachael Wilson machte Saskia Gronenberg.

Foto Le Bec Oscar Lhermitte

Nachdruck nur nach vorheriger Einwilligung.


München Residenzstrasse 6 089 238 88 50 00 Düsseldorf Girardet Haus Königsallee 27-31 0211 730 602 00 Frankfurt Grosse Bockenheimerstr. 13 069 219 96 700 Hamburg Neuer Wall 39 040 430 94 90 Wien Tuchlauben 8 01 535 30 53 Akris Boutique auf www.akris.ch

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Was folgt bei Ihnen … Was folgt in meinem Leben als Nächstes? Welche Ereignisse kommen auf mich zu, auf welche Felder will ich mich als Nächstes wagen?

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In der Spielzeit 2016/17 berichten Persönlichkeiten von ihren Plänen.


Der österreichische Künstler Tom Neuwirth trat erstmals 2011 als Conchita Wurst auf – damals in der Talentshow Die große Chance im österreichischen Fernsehen. Seitdem hat Conchita eine bemerkenswerte Karriere gemacht, in der der Gewinn des Eurovision Song Contest im Jahr 2014 einen der Höhepunkte darstellte. Tom Neuwirth wurde 1989 in Gmunden geboren und wuchs im steirischen Bad Mitterndorf auf. Conchita Wurst ist auch die Konsequenz seiner eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung – die bärtige Schönheit soll die Begriffe „normal“ und „anders“ zur Disposition stellen und eine Botschaft der Toleranz und des gegenseitigen Respekts transportieren. Ein neues Album soll demnächst erscheinen, eine Tournee ist ebenfalls geplant.

Foto Ellen von Unwerth

… Conchita Wurst? Die Designerin Iris Apfel hat einmal gesagt, sie halte nichts von Regeln, sie würde sie nur brechen. Das ist auch mein Motto – ich bin ein vielseitig interessierter Mensch. Nach dem Sieg beim Eurovision Song Contest 2014 habe ich ein Album veröffentlicht, vor dem EU-Parlament gesungen, war bei einer Show von Jean Paul Gaultier auf dem Laufsteg, wurde von Ellen von Unwerth als Gustav Klimts Adele Bloch-Bauer fotografiert, habe Filme synchronisiert und einiges mehr. Im letzten Herbst war ich in Absolutely Fabulous als deutsche Stimme des Models Jourdan Dunn im Kino zu hören. Im vergangenen Jahr habe ich auch viel Zeit damit verbracht, eigene Musik zu schreiben. Das habe ich bisher nie getan, auch nicht für mein erstes Album. Aber mir war klar, dass dies der nächste Schritt sein musste. Viele Songs sind schon fertig, ich habe den Eindruck, mich musikalisch ausgelebt und zu dem Ausdruck gefunden zu haben, der mir und meinen Möglichkeiten entspricht. Es ist wichtig, seine Grenzen zu kennen. Im März 2017 werde ich außerdem im Brucknerhaus in Linz auftreten, zusammen mit dem Bruckner Orchester. Darauf freue ich mich besonders! Mit einem Orchester auf der Bühne zu stehen hat eine Energie, die ich kaum beschreiben kann. Sicher, der Eurovision Song Contest war ein unglaublicher Moment für mich, auf den ich lange hingearbeitet habe. Eine Sendung, die Millionen Menschen in der ganzen Welt verfolgt haben. Aber auch wenn beim ESC die Musik eine große Rolle spielt, ist es letztlich eine Unterhaltungsshow. Im Konzertsaal steht aber die Musik im Mittelpunkt. Dass ich Anfang vergangenen Jahres vom Sydney Opera House eingeladen wurde, mit dessen Orchester einen Konzertabend zu bestreiten, ist für mich, für mein Musikerherz, ehrlich gesagt noch wichtiger gewesen als der Sieg beim ESC.

Einer der besten Momente meines Lebens! Ich habe anfangs immer damit gerechnet, dass das Konzert wieder abgesagt wird und die Oper sich für jemanden entscheidet, der berühmter ist oder erfahrener auf der Opernbühne. Aber es ist tatsächlich passiert! Es war so eine intensive Erfahrung, dass ich es bis heute noch nicht ganz realisiert habe. Wir hatten insgesamt nur fünf Stunden Probezeit, für das Orchester hat das ausgereicht, für mich nicht. Erstaunlich, dass wir den Abend ohne größere Pannen über die Bühne gebracht haben. Und unglaublich, dass ich das erleben durfte! Mit einer Band aufzutreten ist wunderbar, aber die Kraft und Intensität eines Orchesters, die Akustik des Gebäudes, die besondere Stimmung und Konzentration des Publikums zu spüren, das ist einzigartig. Der Abend hat mich mit Demut erfüllt. Und mit der Hoffnung, dass so etwas noch einige Male in anderen Konzertsälen und Opernhäusern zustande kommt! Ich bin sehr dankbar für die unterschiedlichen Möglichkeiten, mich auszudrücken und in der Öffentlichkeit für meine Anliegen Gehör zu finden. Es war mir von Anfang an wichtig, Vorurteile und Klischees abzubauen; allen, die sich als Außenseiter oder andersartig fühlen, Mut zu machen, ihnen zu sagen, dass es völlig in Ordnung ist, anders zu sein.

Ich habe den Eindruck, dass mir das seit dem ESC zumindest in Ansätzen gelungen ist – und sei es nur in Österreich. Der Kampf um Gleichstellung in jeglicher Hinsicht, nicht nur in Sachen sexuelle Orientierung, trägt Früchte. Aber ich bin nicht naiv, ich weiß, es ist noch kein großer Schritt. Es gibt zurzeit auch starke Bewegungen in die andere Richtung, auch und gerade in Österreich. Das Erstarken der Rechtspopulisten und die Entwicklungen in der Flüchtlingskrise in ganz Europa sind erschreckend. Es wäre also blauäugig zu sagen, alles habe sich zum Besseren entwickelt. Deshalb werde ich nicht müde, jede Möglichkeit wahrzunehmen, Gleichberechtigung und Akzeptanz zu thematisieren. Die Kunstfigur Conchita Wurst ist dabei gleichzeitig Sprachrohr und Schutz. Sie verschafft mir Gehör und bietet zugleich Anonymität und die Möglichkeit zum Rückzug aus der Öffentlichkeit, auch wenn ich in Wien natürlich auch als Tom Neuwirth immer mal wieder erkannt werde. Conchita hat sich dabei in den vergangenen Jahren verändert und Tom angenähert. Sie ist ernsthafter, weniger schrill als zu Beginn. Es macht mir großen Spaß, diese Rolle weiterzuentwickeln.

Aufgezeichnet von Jörg Böckem


… Bumerang-Weltmeister Fridolin Frost? Für Fridolin Frost folgt nach dem Wurf ein Wunder. Wenn er seinen Körper verbogen, weit ausgeholt, den Arm beschleunigt und den Bumerang über die Schulter in die Luft geworfen hat, zieht der einen großen Kreis über den Himmel – und kehrt schließlich zurück zu ihm. Immer und immer wieder. Das ist eigentlich völlig wider die Erfahrung, die uns lehrt: Wenn dir etwas runterfällt, bleibt es liegen. Was du wegwirfst, ist weg. „Ist es eben nicht“, sagt Frost. „Es kehrt zu mir zurück.“ Das Ende ist immer wieder auch ein Anfang. Fridolin Frost, 45, ist Bumerangwerfer. Elfmal wurde er Weltmeister. Natürlich könnte Frost das Wunder, die Rückkehr des Bumerangs, einfach mithilfe der Gesetze der Physik entzaubern, über den nötigen Aufwind referieren und erklären, warum es Voraussetzung für die Rückkehr des Bumerangs ist, ihn senkrecht und nicht waagrecht zu werfen. Zweifellos wichtige Aspekte für den richtigen Wurf. Aber für Fridolin Frost ist Bumerangwerfen vor allem: „Poetry in Motion. So, wie es einst der amerikanische Sänger Johnny Tillotson in dem gleichnamigen Lied gesungen hat – Poesie in Bewegung.“ Physikalische Erklärungen reichen nicht aus, diese Poesie zu erklären. Begonnen hat alles mit „Crocodile Dundee“, dem australischen Krokodilzähmer und Bumerangwerfer in der gleichnamigen Filmkomödie aus dem Jahr 1986. Fridolin Frost war 15 Jahre alt, der Film lief in den deutschen Kinos an, und überall wurden kleine Papp-Bumerangs als Werbegeschenke verteilt. Frost fand einen auf dem Lübecker Marktplatz, hob ihn auf, schnipste ihn mit den Fingern. Der winzige Bumerang flog einen kleinen Kreis und kehrte zurück zu ihm. „Das hat mich so begeistert“, sagt er. Er baute sich seinen ersten eigenen Bumerang und nahm 1988 an den norddeutschen Meisterschaften teil. Seither ist er immer wieder bei Wettkämpfen

angetreten, überall auf der Welt. In den Turnieren wird gemessen, wer besonders weit wirft, wer den Bumerang besonders lang in der Luft halten kann, oder wer ihn so werfen kann, dass er an einen bestimmten Punkt zurückkehrt. Auch Trickfangen ist eine Disziplin, also den Bumerang mit nur einer Hand oder den Füßen zu fangen. Vier Dinge würden ihn am Bumerangwerfen begeistern, sagt Fridolin Frost. Erstens: „Wir sind eine weltweite Familie.“ Wer gerade selbst nicht mit Werfen dran ist, gibt den Schiedsrichter für den Konkurrenten, man hilft einander. Zweitens: Bumerang ist ein richtiger Sport, den man überall betreiben kann, wo eine große Fläche ist. Da ist, drittens, das kulturhistorische Element des Sportes. Denn der Bumerang wird seit Jahrtausenden als Wurfwaffe und Sportgerät in verschiedenen Kulturen benutzt. Der älteste Fund stammt

nicht aus Australien, sondern aus Polen. Dieser Bumerang ist etwa 23.000 Jahre alt und wurde aus dem Stoßzahn eines Mammuts gefertigt. Und dann ist da noch die Tatsache, dass sich jeder Bumerangwerfer seinen Bumerang selbst baut. Inzwischen natürlich nicht mehr aus Stoßzähnen, sondern aus Holz und Kunststoffen. Die meisten der Bumerangs sind inzwischen übrigens nicht zwei- sondern dreiblättrig, wie ein Propeller. „Ich kann mir, wenn ich gut im Bauen bin und einen Bumerang genau an meinen Wurf anpasse, einen Vorteil beim Wettkampf verschaffen.“ Diese ungewöhnliche, handwerkliche Beziehung zu seinem Sportgerät mag er. Frost weiß in dem Moment, in dem er den Bumerang loslässt, wie gut er geworfen hat. Dann beobachtet er die Kreisbahn seines Bumerangs und wartet auf die Rückkehr, das kleine Wunder. Im Urlaub lässt er den Bumerang am Strand über die Wellen ziehen. „Das ist dann beinahe so, als flöge ich selbst übers Meer.“

Bei Wettkämpfen hat Fridolin Frost mitunter 50 verschiedene Bumerangs im Gepäck – alle ausgerichtet auf unterschiedliche Bedingungen und Disziplinen, alle selbst gebaut. Der gebürtige Schleswig-Holsteiner wirft seit mittlerweile 30 Jahren Bumerangs, nahm an zahlreichen deutschen und internationalen Meisterschaften teil und wurde unter anderem elfmal Weltmeister. Wenn er nicht gerade mit Werfen und Fangen beschäftigt ist, managt der 45-Jährige einen Lebensmittelkonzern.

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Text Christiane Lutz


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VorstellungsankĂźndigung


Mythos und Wiederkehr In den verschiedenen Varianten des Semiramis-Mythos, auf dem auch Gioachino Rossinis Oper Semiramide beruht, wird die Königin auf unterschiedliche Weise von ihrer Vergangenheit eingeholt. Das Prinzip der Wiederkehr wohnt aber letztlich jedem Mythos inne: als immanentes Thema im Stoff, als Register großer Fragen, die seit Jahrhunderten immer wieder gestellt werden, als Aktualisierung märchenhafter Orte in profanen Kriegsschauplätzen. Eine Geschichte der Verflechtungen. Eine Frau ermordet gemeinsam mit ihrem Geliebten ihren Ehemann, den König, seitdem regiert sie das Land allein. Ihre Tat holt sie aber später wieder ein: Sie verliebt sich in einen jungen Mann, ohne zu wissen, dass es sich bei ihm um ihren seit Langem verschollenen Sohn handelt. Sie will ihn heiraten und auf den Thron setzen. Als der Sohn von seiner wahren Identität erfährt, sinnt er auf Rache an jenem Geliebten der Mutter, der damals an der Ermordung seines Vaters beteiligt war. Irrtümlich sticht er jedoch stattdessen seine eigene Mutter nieder, sie stirbt. Knapp skizziert ist dies die Handlung von Gioachino Rossinis Oper Semiramide aus dem Jahr 1823, deren Titelfigur auf den Mythos um die babylonische Herrscherin Semiramis zurückgeht. Antike Quellen berichten zwar von einem Attentatsversuch an Semiramis durch eben ihren Sohn, mitunter sogar vom Inzest zwischen Mutter und Sohn, wie bei Ödipus. Aber sonst ist dieses ganze tragische Geschehen eine Erfindung späterer Zeiten. Für Rossini bereitete der Librettist Gaetano Rossi den Semiramis-Mythos ausgehend von Voltaires Drama Sémiramis auf, das 75 Jahre zuvor in Paris uraufgeführt worden war. Der Stoff war sehr beliebt, es gab im 18. und 19. Jahrhundert zahlreiche Bearbeitungen, vom Barock-Komponisten Leonardo Vinci (1729) bis zu Giacomo Meyerbeer (1819). Ein Blick in die Geschichte offenbart, dass derartige Bearbeitungen nicht erst in der Neuzeit üblich gewesen sind, im Gegenteil: Sie liegen in der Natur des Mythos selbst begründet. Denn der Mythos hat zwar zum einen ein unerschöpfliches Kraftzentrum in seinen wichtigen Figuren, die auch in den erstaunlichsten Wandlungen ihres Charakters meist sie selbst bleiben; aber die einzelnen Handlungen, Episoden, Verwicklungen, Ereignisse sind andererseits beweglich, jedenfalls so weit, wie die zentralen Figuren und ihre Beziehungen grob wiedererkennbar und damit wiederholbar bleiben. In dieser Hinsicht hat die Oper einiges mit der antiken Literatur gemeinsam: Der Mythos ist hier wie dort ein ständiges Durcharbeiten von Problemen, Fragen, menschlichen Beziehungen, die immer wiederkehren, auch wenn die Deutungen und die Wertesysteme der jeweiligen Zeit sich verändern. Schon die Mythen selbst kreisen inhaltlich ja oft um das Thema der Wiederkehr, um die Enthüllung von Verdrängtem, um die Öffnung von Fässern, die man lieber geschlossen lassen wollte, um ein Brechen des Schweigens oder um die spätere Wiederbegegnung mit Kindern, die die Eltern in der Natur ihrem Schicksal überlassen oder anderen zum Aufziehen gegeben hatten. Solche „Aussetzungsmythen“ kennt man vom Göttervater Zeus, der in einer Höhle in Kreta von Bienen genährt und von Nymphen aufgezogen worden sein soll, wiederum von Ödipus, der als unge-

Essay Johan Schloemann

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In Aristoteles’ Theorie der Tragödie, die er in seiner Poetik entwirft, bekommt denn auch die „Wiedererkennung“ (Anagnorisis) eine wichtige Rolle zugesprochen, sie bewirkt eine plötzliche „Verwandlung von Nichtwissen in Erkenntnis“. Zumindest in weniger dramatischer Form kennen wir fast alle solche Konstruktionen des Selbst – und das Gefühl, wenn sie in sich zusammenfallen. wollter Findling seinen verhängnisvollen Weg bis zur Wiederbegegnung mit Vater und Mutter begann, aber auch von Roms Gründerbrüdern Romulus und Remus, um die sich eine Wölfin kümmerte, sowie von Moses, der als Säugling in einem Körbchen am Ufer des Nils überlebte. So ist es auch in Rossinis Semiramide mit dem verlorenen Sohn der Regentin von Babylon, dessen Identität zunächst nicht offenliegt, weil seine Zieheltern ihm einen anderen Namen gegeben haben. Im antiken Mythos war es Semiramis selbst, die einst als Neugeborene von ihrer Mutter aus Scham über die uneheliche Affäre, aus der das Kind hervorgegangen war, in unwirtlicher Gegend ausgesetzt worden war: Tauben nahmen sich des Säuglings an, sie wärmten die kleine Semiramis mit ihren Federn und versorgten sie mit Milch, bevor sie später zur mächtigen Königin aufstieg. Solche Konstellationen des Verdrängens, Verstoßens, Veschleierns führen, sobald sie entlarvt werden, auch in den griechischen Tragödien oft zum Umschwung der gesamten Handlung. In Aristoteles’ Theorie der Tragödie, die er in seiner Poetik entwirft, bekommt denn auch die „Wiedererkennung“ (Anagnorisis) eine wichtige Rolle zugesprochen, sie bewirkt eine plötzliche „Verwandlung von Nichtwissen in Erkenntnis“. Zumindest in weniger dramatischer Form kennen wir fast alle solche Konstruktionen des Selbst – und das Gefühl, wenn sie in sich zusammenfallen: seien es wohlwollende Formulierungen im Lebenslauf, überspielte Verletzungen von früher oder die geschmeidige Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken im Internet. Vieles taucht aber doch irgendwann wieder auf im Leben, als unerwartete Anagnorisis, etwa in unseren Träumen oder in der digitalen „Timeline“ in sozialen Netzwerken. Doch nicht bloß innerhalb der einzelnen Geschichten mythischer Heldinnen und Helden kommt häufig ein Bumerang zurück. Der Mythos in seiner Gesamtheit, immer wieder neu erzählt, ist eine ständige Retraktation, er behandelt in einem Set von Archetypen Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden. Alte Tabus wie Inzest und Menschenopfer; schöne und schwierige Familien- und Liebesbeziehungen; Mechanismen von Macht, Herrschaft, Krieg und Politik im Verhältnis von Volk, Eliten und Monarchen; Kult und Religion, Erziehung, Geschlechterrollen und Moral; und immer wieder individuelle, oft aber zugleich exemplarische kleinere Charaktere – all das spielt sich um die großen mythischen Figuren herum ab. Sie sind erkennbar von gestern, sie sind nicht unsere Zeitgenossen, und doch haben sie etwas Überzeitliches, sind allgemein gegenwärtig. Und so stellt sich bei dieser – wie bei jeder – narrativen Aufarbeitung immer wieder die Frage nach der Beziehung von Mythos und Menschheitsgeschichte. Manchmal nämlich bekommen mythische Heldinnen oder Helden derart viel Überzeugungskraft, dass sie für historische Persönlichkeiten gehalten werden; manchmal verwandeln sich sterbliche Berühmtheiten in übermenschliche, fiktive Gestalten; und oft greifen diese Vorgänge ineinander. Und dass man bloß nicht meine, so etwas hätte es nur in archaischen Gesellschaften gegeben, in vormodernen Erzählungen, die noch nicht vom Licht der Rationalität und der Wissenschaft erleuchtet waren: Nein, auch in unserer Zeit lösen sich bedeutende Menschen von den nüchternen historischen Fakten und verwandeln sich zu mythischer Größe. Es reichen dafür oft schon ein paar Jahre oder Jahrzehnte zu Lebzeiten –

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man denke nur an den Altkanzler Helmut Schmidt oder an den kürzlich gestorbenen kubanischen Revolutionsführer Fidel Castro. Mythisch werden solche Figuren insofern, als ihre konkreten politischen Leistungen immer weiter in den Hintergrund treten gegenüber einem Gefühl von Verehrung oder Respekt und Bildern von eindrucksvoller Bedeutung, verbunden mit gleichsam unveränderlichen heroischen Attributen wie Zigarette und Zigarre. Und umgekehrt, von der Fiktion zur Geschichte: War James Bond, wenn auch Roman- und Filmfigur, nicht doch einer der ganz großen Agenten des 20. Jahrhunderts, einer, der viel für den Weltfrieden oder wenigstens für die Selbstbestätigung des Westens im Kalten Krieg getan hat? Die Königin Semiramis ist ein Paradefall für diese Verschlungenheit von Mythos und Geschichte. Ihre Übergröße hat seit jeher sagenhafte Dimensionen. Gleich zwei der sieben Weltwunder des Altertums sollen ihr Werk gewesen sein, die Mauern von Babylon und die Hängenden Gärten der Semiramis. Als Frau ist Semiramis in vieler Hinsicht eine Ausnahmegestalt: Sie soll nicht nur halb Asien erobert und beherrscht, sondern auch überhaupt erst erbaut haben; allerorten legte sie neue Städte, Burgen, Straßen, Tempel, Kanäle und Brücken an, in unvorstellbaren Ausmaßen. Und dieser Rolle der respekterheischenden Kriegsherrin und Bauherrin, der starken Frau (femme forte), wurden schon in der Antike noch die Eigenschaften einer Liebesherrin zugeschrieben, eines männerverschlingenden, sexuell zügellosen Monsterweibs (femme fatale). Auch wenn man auf Theater- und auf Opernbühnen der Neuzeit versuchte, die Figur ein wenig sittsamer und weniger monströs zu zeichnen, nach den Gepflogenheiten des klassischen Trauerspiels, so verbanden sich in ihrer Wahrnehmung als mythologische Figur doch stets Zivilisationsstiftung und Exotik, Bewunderung und Abstoßung. In der ausführlichsten antiken Beschreibung der Semiramis-Legende, bei dem Historiker Diodor im ersten Jahrhundert vor Christus, werden diese beiden Seiten der Frau, also ihr imperialer und ihr sexueller Appetit, im Sinne der Herrschaftslegitimation eng miteinander verbunden: Semiramis habe sich aus der Befürchtung heraus, ihre Macht im Falle einer neuerlichen Heirat zu verlieren, immer wieder neue Liebhaber genommen und sie dann nach einer Weile töten lassen. Kein Wunder, dass Semiramis sogar hier und da mit der assyrisch-babylonischen Göttin Ištar gleichgesetzt wurde: Ištar, viel verehrt und hierzulande zumindest vom Namen her bekannt durch das Ištar-Tor im Berliner Pergamonmuseum, tötet im Gilgamesch-Epos ebenfalls ihre Liebhaber oder verwandelt sie in wilde Tiere. In derartigen Geschichten von großen Frauen, so schreibt die feministische Altertumswissenschaftlerin Julia M. Asher-Greve, interessierte man sich „nicht nur für Königinnen, sondern besonders für Männer, die von solchen Frauen abhängig waren. (…) Semiramis wurde nicht nur für schuldig erklärt, weil sie ihre Macht missbrauchte, sondern auch implizit, weil sie sich nicht wie eine Frau und Mutter benahm und ihren Sohn entmännlicht habe.“ So wurde alles, was Männer an überlegenen Frauen fürchterlich, aber auch aufregend fanden, der mythischen Herrscherin zugeschrieben. Wie so oft, wenn patriarchalische Gesellschaften einflussreiche und anziehende Frauen schildern, kommt dabei eine Verstörung über die Rollenverteilung zum Ausdruck, eine Faszination, die mit Gender-Verwirrung einhergeht. Es ist kaum zufällig, dass bei Diodor auch Folgendes über Semiramis berichtet wird: Sie habe den Männern geholfen, eine Stadt zu erobern, die besonders schwer zu belagern war, nämlich Baktra im Norden des heutigen Afghanistan; und für den Weg zu dieser militärischen Mission habe sie eigens eine ganz neue Form von Reise-Gewand entworfen, „das es unmöglich machte zu unterscheiden, ob der Träger ein Mann oder eine Frau war“. Semiramis ist also die Erfinderin des Unisex – und das ist genau das Gegenteil von klassischen Geschlechterund Kleiderordnungen. All diese fantastischen Geschichten nun überlagern die historische Figur, die aller Wahrscheinlichkeit nach ihr realer Ursprung war. Semiramis, den Namen gaben ihr die Griechen, geht zurück auf Šammuramat. Diese war eine Herrscherin im

Bilder Samuel Henne

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VorstellungsankĂźndigung


So wurde alles, was Männer an überlegenen Frauen fürchterlich, aber auch aufregend fanden, der mythischen Herrscherin zugeschrieben. Wie so oft, wenn patriarchalische Gesellschaften einflussreiche und anziehende Frauen schildern, kommt dabei eine Verstörung über die Rollenverteilung zum Ausdruck, eine Faszination, die mit Gender-Verwirrung einhergeht. assyrischen Reich im 9. und frühen 8. Jahrhundert vor Christus, also jenem Weltreich, das vor dem Aufstieg des Perserreiches große Teile des Nahen Ostens beherrschte und das auch im Alten Testament Widerhall gefunden hat. Einen offiziellen Königstitel wird Šammuramat nicht gehabt haben, das war im strengen Herrschaftssystem der Assyrer für Frauen nicht vorgesehen. Aber sie ist eine der wenigen Frauen, die auf Königsinschriften in Assur – im Norden des heutigen Irak – ehrenhaft erwähnt sind. Und sie hat offenkundig eine Zeitlang die Regierungsgeschäfte ihres minderjährigen Sohnes, des Königs Adad-Nirari III., übernommen, als ihr Mann, König Šamši-Adad V., im Jahre 810 v. Chr. gestorben war. Anscheinend war Šammuramat auch maßgeblich an Kriegszügen sowie an Bau- und Infrastrukturprojekten beteiligt. Alles, was man über sie weiß, so schrieb vor gut hundert Jahren der Altorientalist Carl Friedrich Lehmann-Haupt, spreche „für das Vorhandensein und die Fortdauer eines außergewöhnlichen, weit über das Frauengemach hinausreichenden Einflusses auf die eigentlichen Regierungsmaßnahmen“. In dem Versuch der Königin, die Machtsphären Assyrien und Babylon auch durch religionspolitische Maßnahmen zu verbinden, sei „das Wirken einer klugen und umsichtigen, zur Herrscherin geschaffenen Frau schwerlich zu verkennen“. Die Historiker sind allerdings bis heute uneins, was sich über die Herrscherin tatsächlich ermitteln lässt und was von späterer Legende überformt ist. So galt sie später sowohl als Gründerin des assyrischen Reiches wie auch als Erbauerin von Babylon (wofür sie angeblich zwei Millionen Arbeiter anheuerte), was beides historisch völlig unmöglich ist, weil die Anfänge beider Reiche viel weiter zurückliegen. Mythos und Geschichte verschwimmen ineinander, wie so häufig. In jedem Fall aber erinnern die Schauplätze der assyrischen Herrschaft – Assur, sodann Nimrud und Ninive – heute auf geradezu gespenstische Weise an die ständige Wiederkehr von Aufbau und Zerstörung, wie sie im Semiramis-Mythos als Thema zum Ausdruck kommt. Denn an allen drei Orten im Norden des Irak hat zuletzt das Terror-Heer des „Islamischen Staates“ gewütet. In Nimrud (biblisch: „Kallach“) hatte der Sohn der Semiramis/ Šammuramat im Jahr 787 v. Chr. einen Tempel für Nabu gebaut, den Gott der Weisheit und des Schreibens, zusammen mit einem Staatsarchiv. Im Frühjahr 2015 begann der IS, die assyrischen Bauten und Statuen in Nimrud mit schwerem Gerät und Sprengungen zu zerstören, angeblich weil das kulturelle Erbe des Altertums als Abgötterei für den radikalen Islam anstößig sei. Vor Kurzem erst, im November 2016, wurde die Zerstörung der antiken Stätte nach der Rückeroberung durch die irakische Armee bestätigt. Dasselbe gilt für die assyrische Residenz Ninive, heute ein Teil von Mossul, wo die IS-Fanatiker im archäologischen Museum und in der Ausgrabungsstätte Verheerung angerichtet haben. Die Terroristen vernichteten oder verhökerten offenbar in den Jahren 2015 und 2016 Monumente, die noch bei der Eroberung von Ninive durch die Perser und Babylonier im Jahr 606 v. Chr. – dem Ende des assyrischen Reiches – unversehrt geblieben waren. Babylon wiederum war schon in der letzten Phase von Saddam Husseins Herrschaft mit Disney-artigen, pseudohistorischen Palästen überbaut und dann von US-Panzern als Aufmarschgelände missbraucht worden. In Palmyra schließlich hat der IS den spätantiken Tempel des Baal

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in die Luft gesprengt, derselben Gottheit, deren Tempel in Babylon die erste Szenerie in Rossinis Semiramide bildet. Der „Islamische Staat“ ist gewissermaßen der fatalste Bumerang der westlichen Kolonial- und Besatzungsgeschichte im Nahen Osten. Aber auch da, wo die sagenhafte Geschichte der Semiramis nicht durch ihre realen Schauplätze an die Gegenwart – und damit die Zeitgeschichte – gebunden ist, hat sie unvermeidlich ein mythisches Nachleben, und dieses Nachleben bildet auch für die Wahrnehmung von Rossinis tragischer Oper den Hintergrund. So, wie Semiramide innerhalb dieser Oper von ihrer Vergangenheit eingeholt wird, so wird sie es motivgeschichtlich auch außerhalb: Es sind, wie gesehen, gebündelte orientalistische Klischees – Vorstellungen von fremder, östlicher Gigantomanie, von ausschweifender Zügellosigkeit und Buntheit –, durch die die Figur einer starken, ehrfurchtgebietenden Herrscherin kulturell eingefärbt ist; und dieser allgemein verbreitete Orientalismus ist hier seinerseits von immer wiederkehrenden Geschlechtervorstellungen und -ängsten bestimmt. So ist es bemerkenswert, wie changierend Semiramis durch die Zeiten wandert: Für die christlichen Kirchenväter – und nach ihnen auch für Dante im Inferno – war sie eine abnorme, grausame Sünderin. In der Frührenaissance, in Giovanni Boccaccios Frauen-Katalog De mulieribus claris (1361/1374) heißt es über Semiramis, die dort gleich nach Eva steht: „Wie andere ihres Geschlechts brannte diese unglückliche Frau unablässig vor fleischlichem Begehren.“ In Johann Jakob Bachofens extrem wirkungsvoller, umstrittener Studie Das Mutterrecht von 1861 dient Semiramis als Beleg für die Tradition des Matriarchats in Asien, und zwar für „die Verschmelzung des hetärischen Aphroditismus mit kriegerischem Amazonentum“. „Die grosse Fürstin“, so Bachofen, „nahm im Mythus selbst die Göttlichkeit der aphroditischen Naturmutter an, als deren sterbliches Bild sie den Menschen im Leben erschien.“ Und Hugo von Hofmannsthal, der sich in den Jahren 1905 bis 1909 ohne Erfolg an einem Semiramis-Libretto für Richard Strauss versuchte, steigerte all diese Vorstellungen noch einmal, indem er einen Priester Semiramis anrufen ließ: „Du heiliges Gefäss des Lebens, todgebendes, du verschlossener Thurm, Du Jungfrau und Möglichkeit der grossen Hure!“ Aber trotz dieser Stilisierung der Semiramis zur gefährlichen Sexbesessenen haben die Männer sie nicht moralisch kleingekriegt – ihr Ruhm als Kriegerin und Kulturstifterin reichte so weit, dass sich immer wieder große Regentinnen wie Katharina II. von Russland oder Maria Theresia von Österreich mit ihr vergleichen ließen. So war letzterer Glucks Semiramide riconosciuta auf das vielfach vertonte Libretto Metastasios gewidmet, mit deren Uraufführung 1748 das Wiener Burgtheater eröffnet wurde. Und Wilhelmine von Preußen, die Schwester Friedrichs des Großen, ließ sich von dem Maler Anton Raphael Mengs als Semiramis malen, als eine Allegorie ihrer eigenen Bautätigkeit in Bayreuth, wo sie eine neue Residenz errichten ließ, und – ein Opernhaus. So kraftvoll, so wandlungsfähig ist die Macht des Mythos.

Johan Schloemann ist seit 2004 Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung und dort zuständig für Geisteswissenschaften und Debatten. Er studierte Klassische Philologie und Philosophie in Freiburg, Kopenhagen und Berlin und wurde an der HumboldtUniversität mit einer Arbeit zur griechischen Rhetorik promoviert. Bevor er zur SZ nach München kam, war er Visiting Fellow an der School of Advanced Study der University of London, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Berater bei der PR-Agentur Scholz & Friends Agenda.

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Bilder von Samuel Henne Seite 14: untitled (Rodin), aus musée imaginaire, Courtesy Galerie FeldbuschWiesnerRudolph, Berlin und Galerie Karin Sachs, München Seite 18: untitled (Valentiner), aus musée imaginaire, Courtesy Galerie FeldbuschWiesnerRudolph, Berlin und Galerie Karin Sachs, München


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„Es geht um das Gefühl von Zeitenwende“

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An der Bayerischen Staatsoper war Umberto Giordanos erfolgreichste Oper Andrea Chénier bislang noch nicht zu erleben. Die Geschichte um den Dichter, der in die Mühlen der revolutionären Ereignisse gerät, bringt nun Philipp Stölzl auf die Bühne des Nationaltheaters. Der ist für Inszenierungen in großem Format bekannt – auf der Kinoleinwand wie auf der Opernbühne. C. Bernd Sucher traf den Regisseur zum Gespräch über filmische Dramaturgien, historischen Realismus und die Oper als Massenmedium.

„Ich hasse Wien und ich hasse die Wiener. Was ist denn heute in der Oper?“, fragt der Großindustrielle Herrenstein in Thomas Bernhards vorletztem, 1987 erschienenen Theaterstück Elisabeth II. Sein Diener, er heißt Richard, antwortet: „Andrea Chénier“ – und schon legt der Herr los: „Dieser ekelhafte Giordano / mit dem ich übrigens verwandt bin / um drei Ecken / In die Oper gehe ich nicht mehr so bald / dann noch eher ins Burgtheater / in diese permanente Schauerbühne / Wann wird denn Così fan tutte wieder gespielt.“ „Die Musik dieser Oper ist total schön!“, schwärmt Philipp Stölzl. „Je öfter man sie hört, desto schöner wird sie!“ Wir treffen uns in seiner Wohnung in Berlin. „Um ehrlich zu sein, der nette und flamboyante Herr Bachler hat mich ein bisserl dazu verführt“, sagt der Regisseur, der seit zwölf Jahren neben seinen Filmarbeiten auch Opern inszeniert und der gerade einen großen dreiteiligen Winnetou-Film fertiggestellt hat. „Im historischen Kontext? Werden Sie das Indianer-Bild Karl Mays bedienen?“ – „Na klar!“ Stölzl hat auf vielen Gebieten Erfolge gefeiert: Film, Videoclip, Oper. 2014 inszenierte er erstmals ein Schauspiel, am Theater in Basel, heute schreibt er auch noch Theaterstücke. Und nun also Andrea Chénier, Umberto Giordanos Oper in vier Bildern. Was reizt ihn an der von Giordano und seinem Librettisten heftig bearbeiteten und eher verkürzten Geschichte jenes französischen Dichters, der 1794 mit 31 Jahren hingerichtet wurde, auf dem Höhepunkt des Großen Terrors in Frankreich? „Es ist eine Oper, die man ganz schwer aus dem historischen Kontext herauslösen kann; sie ist zum einen in der Zeit der Französischen Revolution angesiedelt – von den Anfängen bis zum Ende der Schreckensherrschaft. Es werden mehrere Dutzend reale historische Figuren er-

Premiere Andrea Chénier

wähnt, konkrete historische Schauplätze. Zum anderen ist es auch eine Schmonzette, wahnsinnig kitschig. Das große Breitwandpanorama einer Epoche und zugleich ein Melodram voller Stereotypen. Ein Historienschinken. Das Bedürfnis nach dem großen Bild wird bedient, es gibt eigentlich kein filigranes Spiel. Mich erinnert das alles an gigantomanische Superfilme wie Gone with the Wind. Dazu eine tolle Musikmischung: Ich höre da Musik des 18. Jahrhunderts, daneben Rokoko-Sachen und so etwas wie spätromantische Kinomusik. Erst war ich abgeschreckt, und dann wusste ich: Ich muss dieses Ding entdecken.“ In seiner Kreuzberger Wohnung, inmitten der Spielsachen seiner Kinder, wird Philipp Stölzl immer enthusiastischer. Die vier Akte oder Bilder stünden zwar auf dem Papier, aber eigentlich seien „es eher dreißig Szenen als vier Akte“. Das Libretto von Luigi Illica, der auch für Giacomo Puccini an den Textbüchern zu La bohème, Tosca und Madama Butterfly schrieb, schätzt Stölzl durchaus, „aber die Musik gibt einen ganz anderen Fluss vor“. Und überhaupt: „In der Oper muss man über Bilder arbeiten und über Emotionen, nicht über das Wort.“ Er arbeite sich gleichwohl an den Libretti immer regelrecht ab, „weil sie oft nicht sehr schlüssig sind. Figuren tauchen auf und gehen dem Librettisten dann wieder verloren. Beim Inszenieren will ich die Dinge auf den Punkt bringen; ich möchte die einzelnen Elemente kraftvoll anordnen.“ Worum geht es? Andrea Chénier, der mit dem historischen Literaten nicht mehr viel gemein hat als Name, Beruf und den Tod durch das Beil der Guillotine, missfällt zwar der dekadente Lebensstil des Adels, aber er ist zugleich Teil dieser Gesellschaft. Mit seiner Lyrik kritisiert er sie, auf ih-

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„Ich versuche, auf der Bühne schlüssig zu erzählen. Das ist das, was ich vom Film mitnehme. Ich glaube an die klassischen Drehbuchstrukturen. Die Narration interessiert mich, das heißt: Man führt Figuren. Es gibt einen Anfang und einen Weg, nur so entstehen Emotionen!“

ren Luxus will er indes nicht verzichten. Stölzls Kommentar: „Er ist so etwas wie ein Salonkommunist!“ Chéniers Gegenspieler ist der Sohn des Schlossgärtners, also ein Typ aus der Unterschicht, Carlo Gérard. Er, der enthusiastisch die Ideen der Revolution teilt, schon vor deren Ausbruch, platzt gleich im ersten Bild in die adlige Gesellschaft und prangert Missstände an. Er sei, so Stölzl, nicht gewalttätig; „der macht erst einmal nur Rabatz“. Dummerweise mag dieser Gérard die Grafentochter Madeleine; doch sie liebt Chénier. Da haben wir die Schmonzette. Natürlich kann das nicht gutgehen – wäre es sonst eine Oper? Der von den Revolutionären für seine aristokratenkritischen Werke gefeierte Dichter gerät wegen seiner Nähe zu just dieser Schicht später, als die Revolution verwirklicht ist, in den Verdacht, nicht linientreu zu sein. Und jetzt vermischen sich die politischen Ereignisse – genau in die Hälfte der Opernhandlung, zwischen zweites und drittes Bild, fällt der Umsturz, die Revolution von 1789 – und die Liebesgeschichte. Das komplizierte Geschehen in Kürze: Gérard, der inzwischen zum Sekretär der Revolution aufgestiegen ist, und Chénier, der inzwischen weiß, dass Madeleine ihn liebt und er sie, duellieren sich, wobei Gérard verletzt wird. Danach wird der geflohene Chénier verhaftet, ihm wird der Prozess gemacht und er wird zum Tode verurteilt. Nun könnte eigentlich mit dem dritten Akt alles zu Ende sein. Ist es aber nicht. Madeleine willigt ein, Gérard zu gehören (nicht ihn zu lieben), um durch dieses Opfer Chénier zu retten. Ihre Beschreibung ihres Schicksals während der Revolution rührt Gérard so sehr, dass er zu Chéniers Fürsprecher wird. Doch er kann das Todesurteil für Chénier nicht mehr rückgängig machen. Madeleine knüpft ihr Schicksal an das des Geliebten: Sie be-

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sticht einen Gefängniswärter und besteigt an der Stelle einer Delinquentin zusammen mit Chénier den Karren, der sie zum Schafott bringt. Die beiden Liebenden sind glücklich, gemeinsam in den Tod zu gehen: „La nostra morte è il trionfo dell’amor“, singen sie, und ihre letzten Worte sind „Gemeinsam umarmen wir den Tod!“ Jonas Kaufmann, der in München die Titelrolle singen wird, meinte 2015 anlässlich seines Rollendebüts in London, dieses „Viva la morte insiem!“ sei die Apotheose einer Liebe, die den Tod als Bestimmung akzeptiere. Diese Oper, leidenschaftlich und lautstark, brächte ihn dazu, sich „die Seele aus dem Leib zu singen“. „Diese Musik ist total schön!“, freut sich Philipp Stölzl zum wiederholten Mal. Und die Handlung? Eine Überfülle an Figuren, eine zum Kitsch neigende Liebesgeschichte – wird das einfach werden? „Wenn man vom Kino kommt und über Erzählbögen nachdenkt, dann ist das natürlich ein Albtraum, einen Helden zu haben, der völlig inaktiv ist.“ Chénier, so sieht ihn Philipp Stölzl, sei der Typ Mensch, der zwar eine Haltung beziehe, aber eigentlich die Geschichte nicht kraftvoll vorantreibe. Was ist dann an so einem heute interessant? Es sei nicht eine einzelne Figur. Stölzl sieht eher in der Gesamtthematik dieser Oper einen „Zeitspiegel für heute“. Gerade im Handlungsgeschehen beim Übergang vom ersten zum zweiten Akt sei ein Phänomen spürbar, das sehr viel mit unseren westlichen Gesellschaften heute zu tun habe: „Da ist so viel Unrecht in der Welt – ich glaube, das kann nicht mehr lange so gutgehen. Die Welt wird sich umstülpen und verändern, so wie sie sich nach 1789 radikal veränderte. Es ist ein Lebensgefühl, wie wir es auch heute haben, im Verhältnis von Industrie- und Entwicklungsländern. Auch unser Wohlstand basiert auf dem Leid und der

Text C. Bernd Sucher


Andrea Chénier: (K)eine Aufführungsgeschichte an der Bayerischen Staatsoper Dem Werkakt „Andrea Chénier“, der im Bayerischen Hauptstaatsarchiv liegt, kann entnommen werden, dass die Bayerische Staatsoper das Werk mehrmals zur Aufführung bringen wollte. Lange Zeit sollte es dazu allerdings nicht kommen. Nachdem Andrea Chénier im Januar 1925 äußerst erfolgreich erstmals in Dresden gegeben worden war, versuchte die Theater-Agentur Norbert Salter aus Berlin, das Werk auch der Bayerischen Staatsoper schmackhaft zu machen. Vergebens – aus einem Brief ist zu schließen, dass den Münchnern das Werk zu „süsslich und veraltet“ erschien. Es gab weitere Anläufe, die aber ebenfalls erfolglos blieben. Erst 1939 interessierte man sich ernsthaft für Andrea Chénier, das Material wurde bestellt (Noten für Orchester und Chor, Klavierauszüge und Textbuch) und eine deutsche Übersetzung angefertigt. Obwohl einer Aufführung grundsätzlich nichts mehr im Wege stand, wurde der Aufführungstermin hinausgezögert. Intendant Clemens Krauss wollte das Werk selbst zur Aufführung bringen und plante dafür eine umfangreiche Ausstattung, die aber wohl an den während des Krieges beschränkten Mitteln scheiterte. Mit der Premiere am 12. März 2017 wird das Werk zum ersten Mal an der Bayerischen Staatsoper gezeigt.

Arbeit der anderen. Wir alle haben doch das Gefühl, dass die Welt in ein paar Jahrzehnten vermutlich anders aussehen wird.“ Die vieldiskutierte Radikalisierung der Gesellschaft ist für Philipp Stölzl dabei allerdings nicht das vordergründige Thema: „Es geht um das Gefühl von Zeitenwende. Es deutet sich, denke ich, eine Umkehrung von Wohlstand und Machtverhältnissen an. Und die, denen es – wie in dieser Oper – an den Kragen geht, die wollen diese Veränderung nicht wahrhaben. Sie werden von ihr überrumpelt. Das ist eine Situation, in der wir uns und unsere Furcht vor Veränderungen wiedererkennen können. Ich mag es, mich in die Oper zu versenken, ihrer habhaft zu werden und zu gucken, was für Elemente darin sind, die auch das Heute spiegeln.“ Läge es bei so vielen gesellschaftlichen Übereinstimmungen zwischen der Umbruchszeit Ende des 18. Jahrhunderts und unseren Verwerfungen zu Beginn des 21. dann nicht sehr nahe, das Geschehen ins Heute zu transponieren? „Ich denke aus dem Stück heraus“, erklärt Philipp Stölzl. Das bedeutet? – „Ich arbeite von innen nach außen. Man muss sich als Regisseur Halt in der Geschichte holen, sonst wird das Ganze total kraftlos. Ich will bar bezahlen, also erzählen, was da ist. Ich muss nichts dazuerfinden. Die Figuren funktionieren, weil sie in fixierten historischen Bildern agieren. Ich möchte als Regisseur dieses Panorama entdecken und präsentieren. Diese Oper ist ganz stark an die historischen Zusammenhänge und Bezüge der Französischen Revolution gebunden.“ Weshalb er die Handlung in seiner Inszenierung auch in den Jahren der Französischen Revolution und der Robespierreschen Gewaltherrschaft belassen will. Das betrifft auch den Bühnenraum, den er zusammen mit Heike Vollmer gestaltet: „Ich denke als Regie-Bühnenbildner immer

Illustration George Wylesol

in Räumen und gleichermaßen in Erzählbögen und Bildern. Ich kann das nicht trennen.“ Historischen Vorbildern so getreu wie möglich sollen auch die Kostüme von Anke Winckler sein. „Jürgen-Rose-mäßig“, meint Philipp Stölzl, der bei Rose, dem Bühnen- und Kostümbildner, sein Studium begann. „Und überhaupt: Die Mode von damals ist ästhetisch großartig!“ Ist so ein Zugriff nicht ein wenig konservativ? – „So ein Urteil fürchte ich nicht! Es hat keinen Sinn, sich zu verbiegen. Man macht doch immer nur das, was einem gefällt.“ Was er schaffen möchte, sei ein „großes Gemälde vom Totentanz des Adels“ und ein Realismus, der viel gemein habe mit einer „filmischen Sinnlichkeit“. „Meine Filmarbeit beeinflusst natürlich meine Arbeiten für die Oper. Ich versuche, auf der Bühne schlüssig zu erzählen. Ich glaube an die klassischen Drehbuchstrukturen. Die Narration interessiert mich, das heißt: Man führt Figuren. Es gibt in ihren Geschichten einen Anfang und einen Weg, nur so entstehen Emotionen!“ Und so kommen wir auf die großen Historienentwürfe Hollywoods zu sprechen, Gone with the Wind und Ben Hur, und landen schließlich bei der TV-Serie Downton Abbey, die in Stölzls Vorbereitungen der Inszenierung vor allem wegen der darin dargestellten Gesellschaftsstruktur „eine ganz große Rolle“ gespielt habe. Da gäbe es die reiche Adelsfamilie und die anderen, die diese umsorgten, „die Diener, die Sklaven, die dauernd warten, die Nachttöpfe bringen und den Laden am Laufen halten“. „Die Reichen“, so Philipp Stölzl, „haben gegessen, geschissen, gevögelt, und die Diener waren immer dabei und wurden als Menschen gar nicht wahrgenommen.“ Deshalb mussten sich die Adeligen auch für ihr Tun weder schämen noch rechtfertigen.

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„In Andrea Chénier wird das Bedürfnis nach dem großen Bild bedient, es gibt eigentlich kein filigranes Spiel. Mich erinnert das alles an gigantomanische Superfilme wie Gone with the Wind.“

Für seine Recherchen besuchte Philipp Stölzl noch einmal das Potsdamer Schloss Sanssouci und die MS Europa 2, Letztere wollte er auch für ein Filmprojekt sehen. Überall, im Preußenrokoko wie auch auf dem Kreuzfahrtschiff, habe er dasselbe Muster wahrgenommen: Oben und unten. Und diese Zweiteilung wird sich auch in Stölzls Räumen für Andrea Chénier erkennen lassen. Oben wird gefeiert und geschlemmt; unten wird gerackert. Oben trinken wenige Menschen Schokolade, und unten hausen viele zusammengepfercht. Auf der Bühne wird es „aufgeschnittene Häuser geben wie die Dioramen im Deutschen Museum. Es gab die Idee, dass die Räume eine Metamorphose durchmachen, dass sie die Partitur mittanzen. Andererseits wollte ich in den Räumen auch den gesellschaftlichen Umsturz deutlich machen.“ Die da oben sind eben sehr bald die da unten; und die Outcasts werden zu Aufsteigern. Sinnbildlich. Diese gesellschaftlichen Umbrüche zeigen Librettist und Komponist durchaus, aber die Politik und der politische Denker Chénier werden seltsam übergangen. Oder? – „Chénier, das stimmt, hat in der Oper etwas durchaus Dandyhaftes, er ist so uneindeutig, so vage“, erklärt Philipp Stölzl und hat für die Vereinfachung der historischen Figur auch eine Erklärung: „Illica und Giordano hatten ein handfestes Interesse: Dass das Ding ein Hit wird! Wir übersehen heute, dass die Oper ein Massenmedium war und dass es dafür keine Subventionen gab. Und immer – auch heute – werden nicht die Opern gespielt, die die besten Libretti haben, sondern die, welche die tollsten musikalischen Würfe sind.“ Hat sich Philipp Stölzl mit dem Werk des Dichters André Chénier befasst, mit dem vergessenen Lyriker, der am 25. Juli 1794 guillotiniert wurde, drei Tage vor Robespierres Hinrich-

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tung, mit der das Ende des Terrors eingeleitet wurde? Und der nur überlebte als der singende Andrea Chénier Giordanos? – „Ein bisschen davon hab ich gelesen. Aber das ist nicht my cup of tea!“ – Eine Herrenstein-Antwort. Prof. Dr. C. Bernd Sucher studierte in Hamburg und München Germanistik, Theaterwissenschaft und Romanistik und promovierte über Martin Luther und die Juden. Von 1980 bis 1997 war er verantwortlicher Redakteur für Sprechtheater bei der Süddeutschen Zeitung. Seither arbeitet er als Theaterkritiker u.a. für Theater heute. Er unterrichtet an der Deutschen Journalistenschule in München und an der Universität Eichstätt. Seit 1998 konzipiert und leitet er den Studiengang Theater-, Film- und Fernsehkritik an der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Mit seiner Reihe von Lesungen Suchers Leidenschaften ist er zudem als Vortragskünstler erfolgreich. Im Sommer 2016 erschien sein Buch Wie es euch gefällt. Der kleine Theaterversteher. Alles, was auf, vor und hinter der Bühne geschieht.

Philipp Stölzl wurde 1967 in München geboren. Er absolvierte eine Ausbildung zum Bühnenbildner an den Münchner Kammerspielen. 1997 drehte er zu dem Stück Du hast der deutschen Band Rammstein sein erstes Musikvideo. Es folgten zahlreiche weitere Videos, unter anderem für Madonna, Garbage oder Die Toten Hosen. Nach seinem Spielfilmdebüt Baby arbeitete Stölzl vermehrt als Filmregisseur und drehte unter anderem die erfolgreichen Produktionen Nordwand, Goethe! und Der Medicus. Im Dezember 2016 wurden seine drei Winnetou-Filme nach Karl May im deutschen Fernsehen ausgestrahlt. Zu seinen Inszenierungen im Sprech- und Musiktheater gehören u.a. Frankenstein am Theater Basel, Cavalleria Rusticana und Pagliacci bei den Salzburger Osterfestspielen, Benvenuto Cellini bei den Salzburger Festspielen sowie Rienzi und Parsifal an der Deutschen Oper Berlin. An der Bayerischen Staatsoper debütiert er mit Umberto Giordanos Andrea Chénier.

Andrea Chénier Dramma di ambiente storico in vier Bildern Von Umberto Giordano Premiere am Sonntag, 12. März 2017, Nationaltheater Weitere Termine im Spielplan ab S. 91


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Kunst ist Liebe

Als Semiramide hat sie mit den Folgen der Vergangenheit zu kämpfen. Im wirklichen Leben will sie der Gegenwart mit Mut begegnen. MAX JOSEPH traf Joyce DiDonato zum Gespräch – wenige Tage vor den US-Präsidentschaftswahlen. 44

Premiere Semiramide


MAX JOSEPH Frau DiDonato, „Was folgt“ ist das Thema der Spielzeit, in der Sie zum ersten Mal Rossinis Semiramide singen werden – eine Figur, die die Folgen ihrer vergangenen Taten zu spüren bekommt. Lassen Sie uns über Konsequenzen sprechen! Joyce DiDonato Wir sollten dieses Gespräch nach den Präsidenschaftswahlen in den USA führen. MJ Das Thema ist gar nicht so weit weg. Für Semiramide steht ja auch eine Art Wahl an. Allerdings muss – oder darf – sie als Königin den zukünftigen Herrscher ihres Landes ganz allein bestimmen. Mit einer folgenschweren Entscheidung muss sie schon leben: 15 Jahre bevor die Handlung der Oper einsetzt, wurde sie mitverantwortlich an dem Mord an ihrem eigenen Mann. So etwas sitzt tief. Wie geht Semiramide mit den Konsequenzen dieser Tat um?

JD Ich glaube, die Last der Schuld liegt schwer auf ihren Schultern. Und Verdrängung ist in so einem Fall eine sehr menschliche Tendenz. Wir tun alles und betreiben einen unglaublichen Aufwand, um die innere Stimme oder die des Gewissens ruhigzustellen. Diese Energie, die zum Verdrängen notwendig ist, ist ja schon Teil des Horrors, der Semiramide folgt, weil sie sich seit so vielen Jahren täglich damit auseinandersetzen muss. In ihrer Position als Repräsentationsfigur muss sowieso immer alles unter der Oberfläche bleiben, und sie kann der Öffentlichkeit nie ihr privates Gesicht zeigen. So ungefähr stelle ich mir das Leben der britischen Königsfamilie vor. Nur selten gibt Semiramide sich und ihre Angst zu erkennen, beispielsweise im Angesicht des Schattens ihres ermordeten Gatten, König Nino, mit dem Ausruf „o ciel“.

Interview Carmen Kovacs

MJ Semiramide geht sogar so weit, ihn darum zu bitten, sie mit ins Grab zu nehmen. Könnte man das Reue nennen? Glauben Sie ihr? JD Das wird das erste Mal sein, dass ich diese Figur auf der Bühne verkörpere, und ich will an diesem Punkt noch nicht über sie urteilen. Natürlich habe ich Ideen und Vermutungen darüber, wer und wie sie ist. Ich gewinne zum Beispiel mehr und mehr die Überzeugung, dass sie glaubt, keine Wahl gehabt zu haben. In ihrer Cavatine „Bel raggio lusinghier“ beispielsweise nehme ich keine Spur von Schuld wahr, und die Welt scheint hoffnungsvoll und heiter zu sein. Aber empfindet sie diese Sorglosigkeit wirklich, oder spielt sie sie bloß ihrem Gefolge vor? Spekulation ist nicht meine Art der Vorbereitung. Klar ist für mich, dass es nicht darum geht, Charaktere zu formen,

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Gioachino Rossini: Semiramide Königin Semiramide wird von den Schatten ihrer Vergangenheit verfolgt: Vor 15 Jahren hat sie gemeinsam mit ihrem damaligen Geliebten Assur ihren Ehemann, König Nino, ermordet. Ihre Schuld lastet seitdem schwer auf ihr. Mit der Zeit gerät sie auch politisch unter Druck, das Volk bedrängt sie, einen neuen König zu küren. Assur reklamiert die Königswürde vehement für sich. Semiramide präferiert den jungen Feldherrn Arsace, den sie heiraten will. Dieser liebt jedoch nicht nur eine andere Frau, sondern ist auch, wie sich herausstellt, Semiramides und Ninos totgeglaubter Sohn, der vom Oberpriester Oroe außer Landes gebracht worden war, um ihn vor einem möglichen Anschlag zu schützen. Als Arsace seine wahre Identität erfährt, erkennt er, dass es an ihm ist, den Königsmord zu sühnen. Er tritt Semiramide gegenüber, und es geschieht das Unerwartete: Arsace tötet Semiramide nicht, sondern vergibt seiner Mutter den Mord an seinem Vater. Er will sich ausschließlich an Assur rächen. Bei seinem Mordanschlag auf diesen trifft sein Dolch jedoch ungewollt Semiramide. Arsace verzweifelt darüber, der Mörder seiner Mutter geworden zu sein. Das Volk feiert indessen in ihm den neuen König.

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die einem Schwarz-Weiß-Schema folgen. Allein der Reichtum der Partitur zeigt uns, dass es viel komplexer sein muss, und das ist ja auch viel interessanter für die Szene und letztlich auch für das Publikum. MJ Sie haben ja schon mit David Alden gearbeitet. Was erwarten Sie von dieser Produktion? Wird David Alden ein guter Partner sein, wenn es darum geht, diese Komplexität der Figuren weiter zu ergründen? JD David Alden kennt die Musik in- und auswendig und ist immer sehr gut vorbereitet. Das ist auch einer der Gründe, warum ich Vieles bezüglich der Interpretation offenlassen möchte. Eine Figur zu entdecken, während man an ihr arbeitet, ist ein wertvoller Prozess für mich. Ich kann mir vorstellen, dass David Alden dafür sorgt, dass sie mich überraschen wird, und das ist auch gut und wichtig! Wenn ich als Darstellerin mit fixen Urteilen an den Charakter herantrete, dann stehe ich neben ihm. Manchmal vergessen wir ja auch, dass die Figuren, die etwas Böses tun, sich darüber gar nicht im Klaren sind und gute Gründe dafür haben, eine bestimmte Entscheidung zu treffen. MJ Aber wenn wir ehrlich sind, haben wir doch meistens – sei es intuitiv oder einfach aus Erfahrung – ein ungefähres Gefühl dafür, was die Konsequenzen unseres Handelns sein könnten. Waren Sie jemals in einer Situation, in der Sie die Folgen nicht im Geringsten kalkulieren konnten? JD Nein … naja, irgendwie schon. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass ein Teil von uns weiß, was eigentlich passieren wird, oder zumindest die Möglichkeit der Konsequenzen abschätzen kann. Andererseits beginnt jeder Tag für mich so, dass ich nicht weiß, was auf mich zukommt – und ich liebe diese Perspektive auf das Leben. Wenn man das Gefühl


hat, alles schon zu wissen, gibt es kein Geheimnis mehr, keine Begeisterung und keine Überraschungen. Ich glaube, es kommt auf die Einstellung an: Ich werde immer wieder Ja sagen zu den Dingen, die auf mich zukommen. Auch, wenn die Konsequenzen nicht immer ganz ersichtlich sind. MJ Was ist, wenn es um wirklich wichtige Entscheidungen geht? Trauen Sie da Ihrer Intuition, oder wägen sie Vor- und Nachteile ab? JD Ich bin eine Person, die nach ihrem Instinkt handelt, und der ist bei mir stark ausgeprägt. Meistens habe ich sofort ein Bauchgefühl. Das heißt nicht, dass ich dem auch sofort folge – ich bin kein voreiliger Mensch. Es gibt diese erste Reaktion, zu der ich dann ein wenig Abstand nehme, sie mir ansehe und über sie nachdenke. Manchmal gehe ich dann ein paar Schritte in eine andere Richtung, die sich als falsch herausstellt. Letztendlich komme ich immer auf das zurück, was mir mein Instinkt ganz am Anfang schon gesagt hat. MJ Und als Sängerin auf der Bühne: Wie weit im Voraus denken Sie an das, was im Verlauf der Handlung folgt? Können Sie überhaupt im Jetzt sein? JD Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Frage zu beantworten. Die eine bezieht sich auf meine Funktion als Sängerin. Semiramide wird beispielsweise, besonders als Rollendebüt, ein großes Unterfangen. Wie bei einem Marathon – nicht, dass ich jemals einen gelaufen wäre oder vorhabe, es zu tun – muss ich einen Gesamtplan vor Augen haben. Ich muss wissen, wann ich es ruhiger angehen lasse und wann ich gegen Ende zum Sprint ansetze. In jedem Moment des Laufes muss ich wach und mir der Schritte bewusst sein, die ich gerade mache. Aber ich muss nach 20 Kilometern gleichzeitig wissen, wie die nächsten 20 Kilometer ungefähr aussehen werden. Um zum

„Es gibt einen Ansatz, zu dem ich immer Zugang finde, wenn ich das Gefühl habe, von Chaos umgeben zu sein: ich liebe.“

Singen auf der Bühne zurückzukommen: Den Barbiere di Siviglia oder La donna del lago kenne ich beispielsweise so gut, dass ich wirklich im Moment sein kann. Ich habe gelernt, an welchen Stellen ich vorsichtig sein muss, wo ich Energie aufwenden kann und muss, und wann das Orchester wie reagiert. Mit Semiramide wird es ähnlich sein, aber es braucht Zeit und man muss erst einmal ins eigentliche Tun kommen. Das ist die Antwort der Sängerin, der es eben auch um Technik und den musikalischen Effekt geht. Als Darstellerin einer Figur allerdings darf ich nicht vorausdenken. Ich muss vollkommen im Moment sein, und zwar ohne zu wissen, was gleich passiert. Auf der Bühne gilt es, beides zusammenzubringen. MJ Wenn Sie auf Ihre bisherige Karriere zurückschauen: Sehen Sie bestimmte Erwartungen, die Sie in der Vergangenheit hatten, heute erfüllt? Haben Sie überhaupt erwartet, so erfolgreich zu werden? JD Manchmal fragen mich die Leute, wo ich mich in fünf Jahren sehe, und ich beantworte diese Frage nie. Wenn man mich vor fünf Jahren gefragt hätte, wäre ich mit meiner Prognose weit unter dem gelegen, was ich mittlerweile erreicht habe. Innerhalb von vier Monaten durfte ich mit Antonio Pappano und Riccardo Muti zusammenarbeiten, ich war in London, Chicago, Istanbul, Seattle und hier in Deutschland, habe ein neues Album herausgebracht, und der Film, in dem ich Florence Foster Jenkins spiele,

Illustration Harriet Lee Merrion

ist auch vor Kurzem rausgekommen. Für mich ist das eine unvorstellbar reiche Kombination von Ereignissen und Möglichkeiten, für die ich das Skript niemals so hätte schreiben können. Nein, ich habe das nicht erwartet. Grundsätzlich glaube ich, dass Erwartungen eher zu Leid und Enttäuschung führen. Was ich allerdings aktiv tue: Ich stecke mir Ziele, auf die ich hinarbeite, ich mache mich verfügbar, bin offen für die Dinge, die auf mich zukommen. Und ich glaube daran, dass nichts unmöglich ist. MJ All diese Überlegungen zu den Folgen vergangener Entscheidungen und Handlungen basieren ja auf der für uns selbstverständlichen Idee von Kausalität. Es gibt eine Ursache, und die hat eine Wirkung. Das hilft uns beispielsweise dabei, verantwortungsbewusst und zuverlässig zu sein. Konzepte und Theorien von Synchronizität bis Fatalismus, von der nichtkausalen Verbindung zwischen Ereignissen bis zur Bestimmung durch ein Schicksal, liefern uns zwar alternative Perspektiven auf die Zusammenhänge des Weltgeschehens. Wir ziehen aber nach wie vor eine Vorstellung von Ethik und Moral vor, die den freien Willen nicht aufgegeben hat. Was glauben Sie, wie frei sind wir wirklich in unseren Entscheidungen? JD Wenn man beispielsweise etwas tut oder nicht tut, weil man sich vor den Konsequenzen fürchtet, dann entspricht das nicht meinem Begriff

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von wahrer Moral. Ich bin katholisch erzogen, und Begriffe wie Schuld und Strafe gehörten da ins Vokabular. Für mich hat es nie Sinn ergeben, moralisch zu handeln, weil es mich vor der Hölle bewahren oder in den Himmel bringen würde. Erst wenn man aus Liebe – oder besser aus einer liebenden Position heraus, einer Grundhaltung, die man internalisiert hat – handelt, fühlt es sich für mich richtig an. Und darin liegt, glaube ich, auch die Möglichkeit von Freiheit. MJ Drei kurze Glaubensfragen. Glauben Sie an Zufälle? JD Eher an die Idee der Synchronizität. MJ Glauben Sie an Schicksal? JD Es gibt so viele Definitionen von Schicksal … aber wenn ich versuche, den Begriff auf mein Leben anzuwenden, dann bin ich überzeugt, dass es einen Grund dafür gibt, warum ich hier bin. Und selbst, wenn das nicht stimmt, dann sorgt diese Vermutung dafür, dass ich mein Leben sinnvoll gestalte. MJ Glauben Sie an Gerechtigkeit? JD Ich spreche lieber von Karma. Auch dabei geht es mir nicht darum, etwas mit Sicherheit zu wissen, sondern dem Verhalten von anderen Menschen und bestimmten Bedingungen auf der Welt Sinn zu geben. Das hilft mir dabei, ein wenig mehr in Frieden mit mir selbst zu sein. MJ Der Suche nach Frieden haben Sie auch Ihr neues Album gewidmet, das letzten November erschienen ist. Mit barocken Arien thematisiert In War & Peace. Harmony through Music die Frage, wie man inmitten von Chaos Frieden finden kann. Sie fordern die Menschen auf der Homepage des Projektes dazu auf, dieser Frage nachzugehen, sie individuell zu beantworten und öffentlich zu machen. Wie antworten Sie? JD Ich beantworte die Frage immer unterschiedlich, denn für mich gibt

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es mehrere Möglichkeiten. Musik ist dabei natürlich ein wichtiger Weg. Aber wenn ich mir all die Antworten anschaue, die sich für mich ergeben haben, dann kann ich eine Gemeinsamkeit erkennen. Es gibt einen Ansatz, zu dem ich immer Zugang finde, wenn ich das Gefühl habe, von Chaos umgeben zu sein: ich liebe. Für mich geht es bei dem Projekt mehr um den inneren Krieg und Frieden – darum, wie wir ständig Kämpfe in uns selber austragen. Liebe verstehe ich in dem Zusammenhang als äußerst aktive Haltung. Wenn ich aus dieser Haltung heraus singe, dann liebe ich. Und anders herum habe ich das Gefühl, von der Musik geliebt zu werden, wenn ich ihr zuhöre. Durch Liebe wird es für mich zu einem zirkulären Prozess. Und die Musik ist in gewisser Weise mein Werkzeug, etwas, wodurch ich handeln und die Menschen daran erinnern kann,

dass wir eine Wahl haben. Gerade in der Kunst liegt dabei ein unglaubliches Potential. Der Schriftsteller John Marsden hat einen für mich sehr wertvollen Gedanken formuliert: „The opposite of war isn’t peace, it’s creation.“ MJ Würden Sie der Musik und dem Theater in diesem Zusammenhang also nachhaltige Wirksamkeit zusprechen? JD Ich würde sagen: ja. Für mich ist mein Album, über das wir gesprochen haben, beispielsweise nicht bloß ein interessantes Konzept, sondern etwas, das mit mir ganz persönlich zu tun hat. Eine Haltung, die ich in mein Leben integriere. Ich werde damit keinen Weltfrieden schaffen, aber ich kann Verantwortung für mein kleines Universum tragen. Das kann jeder Einzelne von uns. Wenn wir über Konsequenzen für die Welt sprechen wollen, müssen wir bei uns selbst anfangen.

Die aus Kansas stammende Mezzosopranistin Joyce DiDonato ist an so renommierten Opernhäusern wie der Metropolitan Opera New York, dem Royal Opera House Covent Garden in London, der Houston Grand Opera, dem Teatro alla Scala in Mailand, den Opernhäusern von Paris, Wien, Tokio, Madrid, Bologna, Berlin sowie bei den Salzburger Festspielen zu erleben. Sie begeistert vor allem in Opern Händels, Mozarts, Rossinis und des frühen Belcanto, aber auch in jenen von Richard Strauss. Der Film The Florence Foster Jenkins Story von Ralf Pieger, in dem sie die Titelrolle spielt, kam Ende 2016 in die deutschen Kinos. Ebenfalls im Herbst 2016 erschien ihr Album In War & Peace – Harmony through Music. An der Bayerischen Staatsoper gibt sie in der Neuinszenierung von Semiramide ihr Rollendebüt in der Titelpartie.

Semiramide Melodramma tragico in zwei Akten Von Gioachino Rossini Premiere am Sonntag, 12. Februar 2017, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag, 26. Februar 2017 Weitere Termine im Spielplan ab S. 91


„VON KLEIN AUF HABE ICH ROSSINI EINGEATMET“

Er wurde wie Gioachino Rossini in Pesaro geboren und lebt noch heute dort. Er erlebte schon als Kind die Aufführungen des Rossini Opera Festivals und studierte später am Conservatorio Gioachino Rossini Komposition und Dirigieren. Nun leitet Michele Mariotti an der Bayerischen Staatsoper Semiramide, die letzte Oper, die Rossini für Italien komponierte. Mit MAX JOSEPH traf sich der Dirigent in Pesaro zur Spurensuche. 30

Premiere Semiramide



Selbst das Einkaufszentrum von Pesaro trägt den Namen des berßhmten Sohnes der Stadt.


Die schicksalhaften Verstrickungen zwischen Vergangenheit und Zukunft faszinieren ihn schon seit Langem an Semiramide, sagt er beim Treffen in einer Bar auf der belebten Piazza vor dem Teatro Rossini in Pesaro. Aus den Lautsprechern tönt zwar die übliche Popmusik, aber dennoch scheint hier Rossini überall in der Luft zu liegen. Michele Mariotti erzählt davon, wie sich die babylonische Königin in einen Mann verliebt und auf eine Zukunft mit ihm hofft, dann aber von der Vergangenheit eingeholt wird, wenn sie erkennt, dass es sich in Wahrheit um ihren verschollenen Sohn handelt. Für Mariotti selbst ist das Adriastädtchen Pesaro auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zugleich. Wie Rossini, der „Schwan von Pesaro“, ist er hier geboren und aufgewachsen. Hier hat er studiert – natürlich am Conservatorio Gioachino Rossini –, hier hat er beim jährlichen Rossini Opera Festival, dessen Intendant sein Vater ist, von Anfang an den Großen dieses Repertoires bei der Arbeit zugeschaut, hier lebt er noch heute und hier dirigiert er immer wieder Opernproduktionen. Im letzten Sommer war es La donna del lago, Rossinis erster Vorstoß in die Romantik. „Von klein auf habe ich Rossini eingeatmet“, sagt er. Doch er will sich keineswegs nur auf dessen Opern festlegen: Rossini werde immer eine zentrale Rolle in seiner Arbeit spielen, er dirigiere aber auch viel symphonisches Repertoire und auch Opern von Verdi, Bellini und Mozart. „Meine Beschäftigung mit anderen Komponisten, insbesondere mit Verdi, hat in letzter Zeit auch meinen Blick auf Rossini verändert.“ So versuche er etwa, dort, wo es passt, insbesondere die vorromantischen Aspekte der Musik herauszuarbeiten, und

bei der Gestaltung der Koloraturen und vokalen Verzierungen sei er sparsamer und subtiler geworden, weniger auf Virtuosität bedacht als auf Ausdrucksstärke. Gerade wegen seiner familiären Beziehungen zum Rossini Opera Festival legt Michele Mariotti großen Wert darauf, dass seine Dirigentenkarriere nicht in Pesaro begonnen hat. Erst nachdem er sich in anderen Theatern einen Namen gemacht hatte und schon Chefdirigent am Teatro Comunale di Bologna war, kam er in seine Heimatstadt zurück. Mit seinen Auftritten beim Rossini-Festival geriet er aber plötzlich ins internationale Rampenlicht. Das war 2010 mit Sigismondo, einer der vielen Raritäten, die in Pesaro – und fast ausnahmslos dort – zu erleben sind. Diese Produktion war aber nicht nur für seine Karriere, sondern auch für ihn persönlich besonders wichtig, da er dabei seine Frau, die Sopranistin Olga Peretyatko, kennenlernte. Und im Rückblick fällt ihm auf, dass auch die Karrieren von Daniela Barcellona, Alex Esposito und Joyce DiDonato erst in Pesaro so richtig in Schwung gekommen sind. Umso mehr freut es ihn, dass er gerade mit diesen Künstlern an der Bayerischen Staatsoper zum ersten Mal Semiramide einstudieren kann, eine Oper, die er zwar sehr gut kennt, aber noch nie dirigiert hat. „Mit diesem Werk hat Rossini eine Kathedrale des Belcanto errichtet.“ Ein Koloss sei diese letzte von Rossini für Italien komponierte und am Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführte Oper, der Höhepunkt einer Gattung, ein finales Aufbäumen von Ziergesang und Schönklang. Auf den ersten Blick scheint dies ein Rückschritt Rossinis gewesen zu sein, eine Flucht in den Klassizismus, in musikalische Formen, die Rossini

„Rossini wollte nie die Realität abbilden wie die Romantiker. Er wollte die Realität durch seine Poetik filtern. Aber er wollte beweisen, dass er trotzdem fähig ist, sich dem Stil der Romantik anzupassen.“ Text Florian Heurich

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In der Casa Rossini: Die MultimediaInstallation bildet das Teatro Rossini ab.



mit seinen revolutionären und zum Teil schon fast expressionistischen Opern, die er zuvor für das Teatro San Carlo in Neapel geschrieben hatte, bereits hinter sich gelassen hatte. Im Schaffen dieses Komponisten könne man jedoch niemals eine einheitliche Linie im Sinne eines künstlerischen Reifeprozesses oder einer konsequenten, folgerichtigen Weiterentwicklung erkennen, erklärt Mariotti. So verwundere es auch nicht, dass Rossini nach dem Psychodrama Otello, dem oratorienhaften Mosè in Egitto oder der radikal avantgardistischen Ermione mit Semiramide noch einmal zum Belcanto in Reinkultur zurückgekehrt sei. Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Zukunft verschwimmen auch in Rossinis Kompositionsweise. So müsse man etwa die Szene Assurs gegen Ende des Werks, die als eine Art Wahnsinnsarie gestaltet ist, bereits als einen Blick in die Zukunft der Operngeschichte verstehen. Hier nehme Rossini schon die großen Wahnsinnsszenen von Donizetti, Bellini und Verdi vorweg. Was kann aber nach einem Monument wie Semiramide im Schaffen eines Komponisten überhaupt noch kommen? „Eben das ist die große Frage“, meint Mariotti. Rossini habe nur wenige Jahre nach Semiramide das Opernschreiben ad acta gelegt, da sich mit dem Aufkommen der Romantik die Musik und die Welt um ihn herum radikal verändert habe. „Rossini wollte nie die Realität abbilden wie die Romantiker. Er wollte die Realität durch seine Poetik filtern. Aber er wollte beweisen, dass er trotzdem fähig ist, sich dem Stil der Romantik anzupassen. Deshalb schrieb er schließlich noch Guillaume Tell und hörte danach auf, Opern zu komponieren.“ Beim Bummel durch Pesaro stößt man überall auf den großen Komponisten, von der Rossini-Statue an der neoklassischen Fassade des Postgebäudes am Hauptplatz über das Hotel Rossini am Strand bis hin zum Rossini-Einkaufszentrum, das mit dem Slogan „Shopping con brio“ wirbt. Die „luoghi rossiniani“, die geschichtsträchtigen Orte, die an den berühmten Sohn der Stadt erinnern, das Geburtshaus, das Konservatorium oder das Theater, liegen in der Altstadt nur wenige Schritte voneinander entfernt. „Natürlich hat Rossini der Stadt einen Stempel aufgedrückt“, sagt Mariotti, „zehn Monate im Jahr spricht man aber viel mehr über Basketball als über Rossini.“ Diesen Sport scheint man hier genauso zu verehren wie den Komponisten, und es gab sogar eine Zeit, zu der Michele Mariotti lieber ins berühmte Basketballteam seiner Stadt eingetreten wäre als ins Konservatorium. Wenn er nun jedoch vor dem altehrwürdigen Palazzo steht, der neben dem Konservatorium auch ein kleines, feines Auditorium sowie die Fondazione Rossini mit ihren Archiven und ihrer musikwissenschaftlichen Forschungsstelle beherbergt, ist er froh, dass die Musik schließlich doch über den Sport gesiegt hat. Obwohl er sich an strapaziöse, schweißtreibende Abschluss-

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prüfungen der Kompositionsklasse erinnert, die drei Mal sechsunddreißig Stunden gedauert haben: „Wir wurden für die ganze Zeit im Gebäude eingeschlossen, hatten dort Schlafplätze und bekamen zu Essen. Ganz oben unterm Dach, mitten in der Hochsommerhitze.“ Im Sommer ändert sich auch plötzlich das Leben in der normalerweise eher ruhigen Stadt, die ansonsten eher auf Badetourismus setzt als auf erstklassig besetzte Kulturveranstaltungen. Wenn im Juli die Proben für das Festival beginnen und im August die Gäste kommen, wird Pesaro plötzlich international: mit einer Mischung aus Musikern, Künstlern, Einheimischen, Besuchern aus der ganzen Welt und einer kleinen, eingeschworenen Belcanto-Gemeinde. Eine Zeit, die Michele Mariotti immer sehr genießt. „Die Atmosphäre ist dann auf einmal ganz anders. Familiär und große Welt zugleich.“ Als Jugendlicher hat er den ganzen Sommer im Theater zugebracht und beobachtet, wie seinerzeit Claudio Abbado, Riccardo Chailly, Daniele Gatti oder Alberto Zedda eine neue Art der Rossini-Interpretation prägten. Heute ist er oft selbst Teil des Festivals und verbringt die Sommermonate mit Partiturstudium, Probenarbeit, Fahrradfahren, Ausflügen an den Strand und Begegnungen mit Künstlerkollegen und Freunden. „So sehen die typischen Festival-Sommer aus. Und als Kind war ich immer traurig, wenn das Festival zu Ende war, alle wieder abgereist waren und ich hierbleiben musste.“ Selbst heute, mit 37 Jahren, sei er noch genauso traurig wie früher, wenn Pesaro Ende August wieder zur Normalität zurückkehrt. Den Musiker und Dirigenten Michele Mariotti hat der Genius Loci Pesaros geprägt. „An Rossini reizt mich vor allem diese einstudierte Ungenauigkeit der Musik, diese Flexibilität des Rhythmus. Man kann im Rhythmus hin und her navigieren, und es kommt etwas heraus, das nicht eindeutig in der Partitur festgelegt ist. Dieser Rhythmus bringt Leben in die Melodie.“ Als Mariotti beim Rundgang durch die Casa Rossini, das Geburtshaus des Komponisten, in dem ein kleines Museum eingerichtet ist, ein Bild der legendären Sängerin und Ehefrau Rossinis, Isabella Colbran, entdeckt, kommt er wieder auf Semiramide zu sprechen. Der Colbran habe Rossini die faszinierende Titelpartie, der etwas Zwielichtiges, Undurchsichtiges anhafte, auf den Leib und in die Stimme geschrieben. Den einzigen Glücksmoment, den einzigen lichten Augenblick erlebe Semiramide in ihrer berühmten Arie Bel raggio lusinghier, in der sie sich eine unbeschwerte Zukunft erträumt. „Ansonsten ist es aber eine düstere Rolle, für die man auch eine dunkle und markante Stimmfarbe braucht.“ Deshalb plädiert Mariotti dafür, dass Semiramide, wie alle Colbran-Rollen Rossinis – von Elisabetta über Desdemona, Elena und Ermione bis hin zu Zelmira – nicht von einem Sopran, sondern von einem Mezzosopran wie Joyce DiDonato gesungen wird.

Fotografie Benedetta Ristori


„Semiramide befindet sich in einem immerwährenden Zustand des Wartens, der Hoffnung auf etwas, das zu kommen scheint, das aber niemals eintrifft.“ Und diese Unruhe, diese bösen Vorahnungen, ja, diese Todesnähe spiegelten sich auch in der Musik wider. Am Ende müsse sie dann die Konsequenzen für ihre in der Vergangenheit begangene Tat, für den Mord an ihrem Ehemann tragen. Es sei Schicksal, dass sie schließlich von ihrem eigenen Sohn umgebracht werde. Überhaupt fasziniert Mariotti an diesem Werk die außergewöhnliche Konstellation der drei Menschen, deren Schicksale eng miteinander verknüpft sind. „Es handelt sich hier nicht um ein gewöhnliches Liebesdreieck mit einem Paar und dem eifersüchtigen anderen. Mit beiden Männern, Arsace und Assur, verbindet Semiramide eine gemeinsame Vergangenheit. Und nun müssen die drei mit diesem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis umgehen.“ Genau solche komplizierten Beziehungsstrukturen haben Rossini für all seine Opernstoffe gereizt, niemals seien seine Werke nur schematische Liebesgeschichten. Wenn Michele Mariotti über den berühmten Komponisten aus seiner Heimatstadt redet, dann spricht aus ihm nicht nur eine große Liebe zu dessen Musik, sondern auch ein tiefes Verständnis. „Auch wenn ich mit Rossini groß geworden bin und mich sehr viel mit ihm beschäftigt habe, würde ich nie behaupten, zu wissen, wie man ihn interpretieren muss. Aber zumindest weiß ich, wie man ihn nicht interpretieren darf.“ Und wenn man mit diesem Dirigenten durch die Altstadt von Pesaro spaziert, dann merkt man, dass die „luoghi rossiniani“, die typischen genauso wie die untypischen und versteckten, die malerischen genauso wie die weniger schönen und profanen, auch seine eigenen Orte sind. Man spürt, wie ihn der Geist dieser seiner Stadt inspiriert und wie Rossini für ihn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist.

Florian Heurich ist Musikjournalist. Für die Bayerische Staatsoper gestaltet er die Videomagazine und Audio-Podcasts zu den Neuproduktionen, für BR-Klassik produziert er Radiofeatures und Reportagen (demnächst etwa España à la française – Luis Mariano, ein Sänger zwischen Bühne und Leinwand; Sendetermin 3.3.2017).

Michele Mariotti, geboren in Pesaro, studierte Komposition am dortigen Conservatorio Gioachino Rossini und machte zusätzlich einen Abschluss als Dirigent an der Accademia Musicale Pescarese. Sein Operndebüt hatte Mariotti mit Il barbiere di Siviglia in Salerno. Von 2008 bis 2014 war er Chefdirigent des Orchestra del Teatro Comunale in Bologna, darüber hinaus dirigierte er Aufführungen an den Opernhäusern von Mailand, Florenz, Parma, New York, London, Paris, Chicago und Los Angeles. Er leitete Konzerte des Gewandhausorchesters Leipzig, des Orchestre National de France, der Münchner Symphoniker und des Italienischen Radio Symphonie Orchesters Turin. An der Bayerischen Staatsoper übernimmt er die musikalische Leitung der Neuinszenierung von Rossinis Semiramide.

Semiramide Melodramma tragico in zwei Akten Von Gioachino Rossini Premiere am Sonntag, 12. Februar 2017, Nationaltheater STAATSOPER.TV: Live-Stream der Vorstellung auf www.staatsoper.de/tv am Sonntag, 26. Februar 2017 Weitere Termine im Spielplan ab S. 91

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Mitdenken und Mut haben

Themenkonzerte


Die Welt ist voller Risiken – für den Psychologen Gerd Gigerenzer kein Anlass zur Panik, sondern zum Nachdenken. In seinen Büchern kritisiert der renommierte Risikoforscher den irrationalen Umgang mit Informationen, der unsere Gesellschaft prägt, und appelliert an die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Das Bayerische Staatsorchester und die Max-PlanckGesellschaft haben ihn eingeladen, seine Theorien bei den diesjährigen Themenkonzerten vorzustellen. Mit MAX JOSEPH sprach er über Statistik im Schulunterricht, Intuition in der Musik und darüber, warum wir es mit Albert Einstein halten sollten.

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MAX JOSEPH Herr Professor Gigerenzer, in der Ankündigung Ihres Vortrages zum zweiten der diesjährigen Themenkonzerte steht das Versprechen „Risikokompetenz kann man lernen!“ Ist die Notwendigkeit einer Risikokompetenz, von der Sie sprechen, etwas Neues? Haben wir heute größere Schwierigkeiten, Risiken realistischer einzuschätzen als noch vor einigen Jahren? Oder sind die Risiken, derer wir Herr werden müssen, deutlich gestiegen? Gerd Gigerenzer Risikokompetenz wird immer wichtiger, weil der technische Fortschritt immer schneller vorangeht. Schneller als je zuvor. Jedes Jahr kommen neue genetische Tests auf den Markt, es eröffnen sich neue Möglichkeiten der Massenüberwachung, Formen der künstlichen Intelligenz und der digitalen Kommunikation. All diese Innovationen dienen scheinbar dazu, unser Alltagsleben besser unter Kontrolle zu bringen. Die neuen Chancen bergen jedoch auch neue Risiken, darum brauchen wir kompetente Bürger, die mitdenken, die mit der Technologie umgehen können und die damit verbundenen Risiken beherrschen. Ein Beispiel ist das Smartphone. In den USA ist die Anzahl der Verkehrstoten in den letzten zehn Jahren immer weiter gesunken, jetzt steigt sie wieder. Warum? Der Grund sind vor allem abgelenkte Fahrer, die am Steuer Texte lesen oder selbst tippen. Die neuen Technologien bringen neue Ablenkungen mit sich, mit denen umzugehen man lernen muss. Manche Menschen können selbst beim Autofahren gar nicht anders, als jede eingehende Nachricht auf ihrem Handy sofort zu lesen – sie werden von der Technologie beherrscht, anstatt sie zu beherrschen. Ein anderer Bereich, in dem viele Menschen Chancen und Risiken der technologischen Entwicklung nicht richtig einschätzen können, ist die Medizin. Werdende Eltern müssen zum Beispiel erst einmal lernen, was die Ergebnisse pränataler Tests genau bedeuten. Tests, mit denen etwa festgestellt werden soll, ob ein Kind das Down-Syndrom oder andere, seltenere genetische Störungen hat, ermitteln Wahrscheinlichkeiten – und keine Sicherheiten. Das ist ein entscheidender Unterschied, den muss man kennen. Und dann muss man verstehen, wie groß diese Wahrscheinlichkeiten sind, wie man sie interpretiert, und wie man sie einordnet. Es gibt also viele Dinge, bei denen man selbst mitdenken muss. MJ Der „mündige Bürger“ ist ein Schlagwort in Ihren Büchern, von denen viele Bestseller sind und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. In ihrem Buch Risiko formulieren Sie den erstaunlichen Satz: „Die Suche nach Gewissheit ist das größte Hindernis auf dem Weg zur Risikokompetenz.“ Es geht also darum, ein gewisses Maß an Ungewissheit in der Welt zu akzeptieren und darauf zu reagieren mit den Mitteln, die Sie Ihren Lesern an die Hand geben. Eine Frage an Sie als Psychologen: Ist es für uns schwieriger, die Ungewissheit in der Welt zu akzeptieren, oder die Regeln der Statistik zu erlernen?

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„Die größten Teile unseres Gehirns sind der Sprache nicht mächtig, und dennoch werden in ihnen Information und Erfahrung gespeichert. Wenn Sie nur an das glauben, was Sie begründen können, dann ignorieren Sie einen riesigen Schatz an Erfahrung.“


GG Ich glaube, dass beides aufeinander aufbaut: Zuerst geht es darum, die Illusion der Gewissheit zu überwinden. Viele Menschen sehnen sich nach Sicherheiten, die es so nicht gibt. Das ist im Grunde ein kindliches Verhalten: Ein Kleinkind braucht Sicherheit durch Eltern und Bezugspersonen. Als Erwachsener sollte man aber irgendwann selbst Verantwortung übernehmen, was eben auch bedeutet, der Ungewissheit ins Auge zu blicken, statt sie zu verdrängen. Denn Risiken sind immer auch Chancen. Wir haben untersucht, welche Tests die Deutschen für absolut sicher halten. Da finden Sie unter anderem folgendes Ergebnis: Vier Prozent der Befragten halten ein Horoskop von einem Astrologie-Experten für absolut sicher. Wenn sie also in ihrem Horoskop lesen, dass sie mit 51 einen Herzinfarkt bekommen, dann zittern sie schon an ihrem 50. Geburtstag. Noch sehr viel mehr Menschen sind davon überzeugt, dass Ergebnisse medizinischer Tests in jedem Fall stimmen: So glauben etwa 40 Prozent der Deutschen, dass ein positives Ergebnis in einem Mammographie-Screening zwangsläufig bedeutet, dass die jeweilige Person tatsächlich Brustkrebs hat. Was nicht der Fall ist. MJ In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, wir sollten unsere Kinder nicht nur in Geometrie unterrichten, sondern auch vermehrt in Statistik. Kann man aber von Menschen, die nicht in Statistik unterrichtet worden sind, erwarten, dass sie Statistiken zu verstehen und zu hinterfragen lernen? GG Statistisches Denken ist einfacher zu erlernen als viele Formen der höheren Mathematik. Es soll ja nicht darum gehen, einen Hochschulabschluss in Statistik zu machen, sondern darum, einfache Fragen und Unterscheidungen zu beherrschen. Wenn man zum Beispiel den Unterschied zwischen einem relativen und einem absoluten Risiko kennt, merkt man, wie man ständig in die Irre geführt wird. Als uns etwa die Weltgesundheitsorganisation vor einiger Zeit warnte, dass der Verzehr von 50 Gramm Wurst pro Tag das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, um 18 Prozent steigert, hätte jeder misstrauisch werden sollen. Denn die WHO nannte ein relatives und nicht das absolute Risiko. Stellt man die Zahlen verständlich dar, sieht das Ergebnis ganz anders aus: Generell bekommen fünf von je 100 Personen irgendwann Darmkrebs – das bedeutet nicht, dass sie daran sterben, sondern nur, dass sie irgendwann daran erkranken, meistens im hohen Alter. Bei einem Verzehr von 50 Gramm Wurst pro Tag steigt diese Quote von fünf auf knapp sechs Prozent – also um 18 Prozent. In unserer Gesellschaft kämpfen viele Organisationen um die Aufmerksamkeit der Medien und damit der Bevölkerung. Darum wird in diesem Fall nicht der absolute, sondern der relative Anstieg des Risikos veröffentlicht: Statt von knapp einem Prozentpunkt berichtet man über „18 Prozent“. Die meisten

Bild Oliver Jeffers

Menschen denken dann: „Von 100 Menschen erkranken 18 an Darmkrebs. Keine Wurst mehr!“ Relative Zahlen machen Angst, absolute sind transparent. Das kann jeder Fünftklässler verstehen. Es geht hier auch um eine intellektuelle Haltung. Statistisches Denken bedeutet, dass man Evidenz einfordert, dass man Dinge nicht einfach glaubt, sondern sie kritisch hinterfragt. MJ Und Sie meinen, auch diese Kompetenzen sind erlernbar? GG Ja. Und dieser Lernprozess ist viel einfacher, als zum Beispiel eine Fremdsprache zu erlernen. MJ Ihre Anleitungen zum Umgang mit Risiken stellen der Statistik die Intuition zur Seite. Dazu haben Sie geschrieben, Intuition beruhe „auf intelligenten Faustregeln und viel Erfahrung, die im Unbewussten verborgen liegt“. Was ist der Unterschied zwischen Faustregeln und Dogmen? Anders formuliert: Müssen wir Faustregeln nicht auch verstehen, wenn wir sie anwenden wollen? GG Intuition ist eine Form von Intelligenz, die auf viel Erfahrung beruht: Wir spüren, was wir tun sollen, können uns das aber nicht erklären. Das wird oft sehr kritisch gesehen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das, was man nicht begründen kann, oft nicht akzeptiert wird. Es geht immer mehr um die Prozedur, die Begründbarkeit, und nicht um das Ergebnis. Man darf ein Unternehmen zu Grunde richten, solange man es begründen kann. Aber Erfolg zu haben, ohne ihn erklären zu können, ist verdächtig. Man kann das auch auf die Oper anwenden: Sie haben eine fantastische Tänzerin oder eine Sängerin, die eine Komposition intuitiv rüberbringt wie kaum eine andere. Und dann sagen Sie: „Erklären Sie uns jetzt, wie Sie das machen, sonst singen Sie nicht mehr bei uns.“ Das ist in etwa die Einstellung, die heute in großen Unternehmen, Behörden und in anderen Bereichen vertreten wird. MJ Gerade bei Sängern und Balletttänzern ist es aber doch so: Ihre besten Momente können sie zwar nicht erklären. Die Grundlage ist aber immer ein gründliches, diszipliniertes Training. GG Experten haben in der Regel ein langes Training hinter sich, und Klavierspielen lernt man auch anhand von Fingersätzen. Dennoch beginnt Musik erst, wenn man nicht mehr weiß, was die eigenen Finger tun. Das heißt, diese Komponenten schließen sich gar nicht aus, sondern beruhen aufeinander. Die Intuition ist am Ende das Produkt jahrelanger Erfahrung – wenn Musik mehr als die Summe der richtig gespielten Töne ist, ohne dass man immer erklären kann, wie das geschieht. Dem Schüler kann man dann nur sagen: „Hör genau zu!“ MJ Noch einmal zu der Erfahrung, die Sie im Unbewussten verorten. In der Psychoanalyse ist das Unbewusste auch der Ort des Verdrängten, der Ängste, der verbotenen Wünsche. Macht uns dieses unbewusste Wissen keine Schwierigkeiten, wenn wir uns auf unsere Intuition verlassen wollen?

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GG Man sollte das Unbewusste nicht mit verdrängten Ängsten gleichsetzen. Die größten Teile unseres Gehirns sind der Sprache nicht mächtig, und dennoch werden in ihnen Information und Erfahrung gespeichert. Wenn Sie nur an das glauben, was Sie begründen können, dann ignorieren Sie einen riesigen Schatz an Erfahrung, der nichts mit Angst zu tun haben muss. Es ist vielmehr ein Zeichen von Expertise, wenn jemand in Bereichen, in denen man genau hinsehen oder hinhören muss – wie in der Musik oder der Malerei – Dinge bemerkt, die dem Normalverbraucher nicht auffallen würden, ohne dies aber immer erklären zu können. Das ist etwa der Fall, wenn ein Experte ein Bild sieht und spürt, dass es nicht von dem ihm zugeordneten Maler stammen kann, er aber keine eindeutige Verifizierung seiner Behauptung geben kann. Das gilt genauso für die Musik. Oder für den Fußball: Es wäre absurd, wenn beispielsweise der Schiedsrichter zu dem Spieler laufen würde, der gerade ein Tor geschossen hat, und zu ihm sagen würde: „Sie müssen mir jetzt erklären, wie Sie das gemacht haben, ansonsten gilt es nicht.“ Weder der Sport noch die Komposition folgen dieser Philosophie, nach der ein Erfolg erst anerkannt wird, wenn er vollständig erklärt wurde. MJ Stichwort Philosophie. Sie eröffnen Ihr Buch Risiko mit einem berühmten Zitat von Immanuel Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ und der dazugehörigen Aufforderung „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“. Bei Kant ist der Verstand aber an die Vernunft gekoppelt, die die spontanen, vielleicht auch intuitiven Begriffsbildungen erst systematisiert. Geht es Ihnen nun darum, den Anspruch der Aufklärung aufrechtzuerhalten und diese Strenge zu lockern, vielleicht sogar den Verstand von der Vernunft abzulösen? GG Hier besteht vielleicht ein Unterschied: Ich liebe den Aufsatz Was ist Aufklärung? von Kant, aus dem das Zitat stammt. Er drückt auf wunderbare Weise aus, worum es geht. Die Aufklärung selbst ist jedoch ein bisschen in die Irre gegangen, indem sie die Intuition vernachlässigt hat. Ich glaube, es ist wichtig, die Bedeutung von Fähigkeiten anzuerkennen, die man in Sprache nicht ausdrücken kann. Einstein hat einmal gesagt: „Der intuitive Geist ist ein Geschenk und der rationale Geist ein treuer Diener. Wir haben eine Gesellschaft erschaffen, die den Diener verehrt und das Geschenk vergessen hat.“ Hier fühle ich mich Einstein viel näher. Solch bahnbrechende Theorien, wie sie Einstein entworfen hat, kann man nicht einfach berechnen. Man kann sich nicht vornehmen: „Ich will jetzt die Relativitätstheorie entwickeln“. Man muss sie erst einmal finden – und sie muss zu einem finden. MJ Noch ein Wort zu der Musik, die wir beim Themenkonzert neben Ihrem Vortrag hören werden: In dem unvollendeten Konzert für Sopran und Kammerorchester La Taille de l‘Homme

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des Komponisten und Dirigenten Igor Markevitch geht es um die Vermessung und die Entwicklungsstadien des Menschen analog zum Lauf der Jahreszeiten. Im Libretto, das der Schweizer Schriftsteller Charles-Ferdinand Ramuz dafür entworfen hat, heißt es an einer Stelle „Il doit s’inventer sans cesse l’étoile que le guide“, frei übersetzt: „Er muss sich seinen Leitstern unaufhörlich selbst erfinden.“ Wäre das vielleicht ein Motto, mit dem man so einen Vortrag überschreiben könnte? GG Ja, das ist ein bisschen kantianisch: mitdenken und den Mut haben, etwas selbst zu entwickeln oder zu verstehen. Selbst, wenn man sich nicht immer sicher ist, ob es gelingt. Interview Nikolaus Stenitzer

Forschung und Musik: Die Themenkonzerte 2017 Anfang 2017 kommen an fünf Abenden führende Wissenschaftler aus verschiedenen Max-Planck-Instituten nach München und berichten aus der Grundlagenforschung ihrer jeweiligen Disziplin. Dazu erklingen musikalische Werke, die zum Spielzeitthema „Was folgt“ ausgewählt wurden – aus musikhistorischen oder inhaltlichen Überlegungen, mal konzentriert auf einen Komponisten, mal abwechslungsreich quer durch die Musikgeschichte. Dabei ergeben sich reizvolle und oft überraschende Kombinationen, die zum Nachdenken anregen mögen. So wird unter anderem der Strafrechtler Hans-Jörg Albrecht schildern, welche Aufgaben Strafen heute erfüllen sollen. Wegsperren für immer? Oder Besserung durch Erziehung? Hugo Siegmeth (Saxophon) und Axel Wolf (Laute) spielen dazu Musik von mordenden Lautenisten und kriminellen Jazzern. Daniel Grossmann entdeckt mit Musikern des Bayerischen Staatsorchesters ein Schlüsselwerk des komponierenden Dirigenten Igor Markevitch neu; zu dessen Schülern gehörte einst auch Wolfgang Sawallisch. Das OperaBrass-Quintett illustriert „Was folgt“ mit der musikalischen Form des Aufeinanderfolgens, nämlich der Fuge. Ein Ensemble um den Cellisten Jakob Spahn wird eine Auswahl aus dem Kammermusikschaffen Krzysztof Pendereckis spielen, mit dessen großem Sextett im Mittelpunkt. Und zwei wichtige Werke Arnold Schönbergs, des wohl folgenreichsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, beschließen die Reihe: seine wegweisende Kammersymphonie und der Vokalzyklus Pierrot lunaire. Dazu spricht der renommierte Hirnforscher Wolf Singer und klärt, wer der Herr im Hause unserer Gedanken ist.

Prof. Gerd Gigerenzer habilitierte 1982 an der Universität München im Fach Psychologie. Nach Professuren in Konstanz, Salzburg und Chicago ist er heute Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, wo er den Bereich „Adaptives Verhalten und Kognition“ leitet, sowie Direktor des 2009 gegründeten Harding-Zentrums für Risikokompetenz. Er erhielt viele internationale Auszeichnungen, zuletzt 2011 den Communicator-Preis und den Deutschen Psychologie-Preis. Seine Bücher wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Sein Bestseller Bauchentscheidungen (2007) wurde in Deutschland als „Wissenschaftsbuch des Jahres“ sowie als „Wirtschaftsbuch des Jahres“ ausgezeichnet.

2. Themenkonzert Vortrag Gerd Gigerenzer: Risikokompetenz: Infomiert und entspannt mit Risiken umgehen Musik von Igor Markevitch Samstag, 28. Januar 2017, Allerheiligen Hofkirche Termine der weiteren Themenkonzerte 2017 im Spielplan auf S. 91


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Die grazilen Lautsprechersäulen aus Nuberts nuLine-Serie stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass großer Klang kein klobiges Boxengehäuse erfordert. Normalerweise gilt für Musikfans die Faustregel: Je größer der Lautsprecher, desto größer der Sound. Den erfahrenen Klangexperten von Nubert ist es aber gelungen, mit der nuLine 264 und der nuLine 284 zwei schlanke Standboxen auszutüfteln, die trotz ihrer wohnraumfreundlichen Abmessungen faszinierend aufspielen. Das Geheimnis liegt in der besonderen Drei-Wege-Technik, verbunden mit den eigens entwickelten Lautsprecherchassis. Erstere gliedert Aufnahmen in Bässe, Mitten und Höhen, die alle von den speziell abgestimmten Chassis bestmöglich wiedergegeben werden. Diese modernen Hochleistungstreiber kompensieren ihre kompakten Größe dank extra starker Magnetsysteme durch besonders weite Auslenkung. So realisieren die nuLine 264 und die nuLine 284 verblüffend hohe Pegel mit LiveCharakter, die man diesen geradezu zierlichen Schallsäulen auf den ersten Blick niemals zutrauen würde. Klassikkonzerte werden hautnah fühlbar, rhythmusbetonte Stücke gehen über mitreißende Bässe direkt in die Beine und selbst oft gehörte Lieblingslieder erstrahlen in neuem Glanz. Wie bei Nubert Boxen üblich, verfügen auch die Modelle der nuLine-Serie über spezielle Klang-

wahlschalter, die es erlauben, den Wiedergabecharakter der Lautsprecher den Raumgegebenheiten oder dem persönlichen Hörgeschmack anzupassen. Die Höhen klingen auf Wunsch sanft, neutral oder brillant, tiefe Töne lassen sich bei wandnaher Aufstellung moderat dämpfen. Das macht die Lautsprecher enorm flexibel in der Aufstellung und erleichtert das Zusammenspiel mit der HiFi- oder Heimkino-Anlage und praktisch jedem Zuspieler. Ob moderne, hochauflösende Audiodateien, CDs oder Schallplatten aus der goldenen Ära der Analogtechnik – die nuLine 264 und 284 verleihen jedem Medium und jeder Aufnahme optimal Gehör. Bei 260 beziehungsweise 450 Watt Spitzenbelastbarkeit vertragen sich die Boxen mit potenten Stereoverstärkern. Natürlich sind die beiden Standlautsprecher auch eine hervorragende Wahl in hochwertigen Heimkinosets. Das Beste zum Schluss: Stolz tragen die Boxen der nuLine-Serie das Qualitätssiegel „Made in Germany“ und wurden dank kostensparendem Direktvetrieb ab Hersteller schon vielfach ausgezeichnet für ihr hervorragendes Preis-Leistungs-Verhältnis.

nuLine 264 Standlautsprecher 3-Wege-Bassreflex · 260/180 Watt · 21 kg H/B/T: 100,5 x 15 x 28,5 cm · 785,- €/Box nuLine 284 Standlautsprecher 3-Wege-Bassreflex · 450/330 Watt · 28,5 kg H/B/T: 113,5 x 18 x 35 cm · 975,- €/Box Preise inkl. 19% MwSt. zzgl. Versand

Günstig, weil nur Direktvertrieb vom Hersteller www.nubert.de Nubert electronic GmbH, Goethestr. 69 D-73525 Schwäbisch Gmünd, 30 Tage Rückgaberecht. Vorführstudios: D-73525 Schwäbisch Gmünd, D-73430 Aalen und D-47249 Duisburg. Gebührenfreie Bestell-Hotline mit Profiberatung in Deutschland 0800-6823780

Ehrliche Lautsprecher

Made in Germany


Sergej Prokofjew

Der feurige Engel

erzählt von Friederike Hantel Der Abenteurer Ruprecht befindet sich auf der Heimreise, nachdem er in Amerika sein Glück gemacht hat. Als er unterwegs in einer Herberge Station macht und sich zur Ruhe legen will, hört er aus dem Nachbarzimmer panisches Flehen. Eine Frau scheint sich gegen jemanden zur Wehr zu setzen. Ruprecht eilt zu Hilfe, er bricht die Tür zu dem Zimmer auf. Dort findet er die Frau vor – alleine, und wie besessen von bösen Erscheinungen! Ruprecht beruhigt sie, sie vertraut sich ihm an.


Braucht dort vielleicht jemand meinen Schutz?

Geh weg von mir, geh weg von mir, ruchloser Peiniger, Dreckskerl! Geh weg! Geh weg! Verschwinde, Verfluchter! Wahnsinnige Dame, verfolgt Euch ein Gespenst?

Da … dort … dort … in dieser Ecke! Und hier... und hier!

Ich war acht Jahre alt, als er mir zum ersten Mal erschien: in einem Sonnenstrahl, in einem schneeweißen Gewand, ein Engel, durch und durch feurig und durchleuchtet. Und er nannte sich selbst Madiel.

Madiel, Madiel, Madiel! Der feurige Engel.

Er beschwor mich, ein asketisches Leben zu führen, zwang mich, mir Martern aufzuerlegen, zu hungern, barfuß in die Kälte hinauszugehen, mir meine Lenden zu geißeln und die Brüste mit Messern zu zerfleischen.

Ihr Name ist Renata, ihr Schicksal der Engel Madiel. Der sei ihr schon in ihrer Kindheit begegnet, habe sie über Jahre immer wieder besucht und sei ihr engster Freund geworden. Als junge Frau aber habe sie ihm ihr sexuelles Verlangen gestanden, er habe sie als sündig zurückgewiesen. Und sie anschließend verlassen – allerdings mit dem Versprechen, ihr eines Tages in einem Menschen zu erscheinen. Im Grafen Heinrich glaubte Renata den Engel wiedergefunden zu haben. Eine Weile hätten die beiden zusammengelebt, er aber habe sich heimlich davongestohlen. Seither, schließt Renata ihre Erzählung, suche sie ihn fieberhaft. Immer wieder werde sie von Dämonen gequält.


Hier sind Handschri magische ften über Beschwör ungen. Abe nicht, dass r sagt Ihr sie vo n mir habt .

Nun sind wir schon eine Woche in Köln. Alle leben wie Menschen, nur wir wie zwei Verdammte. Von morgens bis abends suchen wir Heinrich.

Ich kann keinen einzigen Tag, keine einzige Nacht länger ohne ihn leben. Lieber will ich meine Seele zugrunde richten, indem ich den Menschenfeind um Beistand bitte.

Hörst du das Klopfen? Was kann das sein?

Das ist nichts. Das kommt oft vor. Das sind die Kleinen ...

Ruprecht hat beschlossen, für eine Weile bei Renata zu bleiben und ihr bei der Suche behilflich zu sein. Die beiden haben ein Zimmer gemietet, in Köln, wo Renata Heinrich vermutet. Ruprechts Hilfsbereitschaft ist nicht ohne erotische Hintergedanken, er versucht sich Renata zu nähern. Doch sie weist ihn immer wieder ab: Erbärmlich sei er im Vergleich zu Heinrich! Mit den Mitteln schwarzer Magie will Renata Heinrich aufspüren, sie lässt Ruprecht von der Inquisition verbotene Bücher darüber besorgen. Ruprecht hält das für Aberglauben, doch plötzlich nimmt auch er die mysteriösen Klopfgeräusche aus der Wand wahr. Renata ist sich sicher, dass kleine Dämonen ihr mit dem Klopfen Heinrichs Kommen ankündigen. Doch diese Erwartung erfüllt sich nicht.


Du lügst! Du lügst! Du lügst! Du lügst! Du lügst! Du lügst!

Ich bin kein Magier, ich bin Gelehrter und Philosoph.

Dazu hatte ich gewichtige Gründe. Es wäre unangebracht, sie Euch zu erklären.

Nun, was ist dabei, ich liebe Rassehunde.

All das ist wirres Gefasel von Schwätzern.

Magister doctissime, Ihr seid ein großer Magier, und ich bin zu Euch gekommen, mir einen Rat zu holen.

Ihr habt ein Buch herausgegeben über die Zeremonialmagie.

Und die zottigen Hunde, die Ihr um Euch habt?

Kraft der Beschwörung habt Ihr in ihnen Hausdämonen angesiedelt.

Ruprecht tut alles, um Renata zu helfen. Er sucht den Gelehrten Agrippa auf, der im Ruf steht, sich mit Magie zu beschäftigen. Der streitet dies ab: dass er dämonische Kräfte nutzen würde, sei Geschwätz der Leute. Die Skelette in seiner Studierstube erwachen zum Leben und bezichtigen ihn der Lüge!


Geh weg du Teufelin! Du hast meine schönsten Träume zunichte gemacht!

Heinrich, komm zurück, komm, komm zurück!

Wie hat er mich beleidigt! Wie hat er mich beleidigt! Töte ihn, Ruprecht! Töte Heinrich! Fordere ihn zum Duell heraus.

Schweig, Renata! Ich habe deinen Wunsch erfüllt. Morgen wird Graf Heinrich von mir im Duell getötet.

Ruprecht! Ruprecht! Schwöre mir, dass du ihn nicht anrührst! Stirb lieber, aber rühre Madiel nicht an!

Renata hat Heinrich gefunden, er aber hat sie brüsk abgewiesen. Renata entdeckt ihren Irrtum – Heinrich war zu keiner Zeit ihr Engel Madiel! Wütend verlangt sie von Ruprecht, dass er Heinrich im Duell töten soll. Ruprecht überbringt die Forderung, da sorgt eine Erscheinung für einen Sinneswandel bei Renata: Heinrich erstrahlt im Glanz des feurigen Engels. Renata verbietet Ruprecht, Heinrich etwas anzutun.


Ich liebe dich, Ruprecht! Ich liebe dich, Ruprecht! precht up!recht! h, Ru Ich liebe dic e dich, R Ich lieb

Ich l

iebe

Du hast mich in den sicheren Tod geschickt. ht! prec h, Ru

Ich

dic liebe

Ich liebe dich

, Ruprecht!

precht!

Ich liebe dich, Ru

Ruprecht wird im Duell von Heinrich schwer verwundet. Da zeigt sich Renata erneut gewandelt: Plötzlich beteuert sie, sie würde Ruprecht lieben. Das Duell sei eine Prüfung Gottes für ihre Liebe gewesen. Ruprecht wird die Frau ungeheuer, er verfällt sogar in ein Delirium!

dich

, Rup

rech t!


Ach, Renata, du sagtest, dass du mich liebst. Ich wiederhole vor dir meine Bitte: Sei meine Frau!

Das habe ich im Wahnsinn gesagt, im Wahnsinn und aus Verzweiflung. Was blieb mir denn anderes übrig? Doch ich schüttelte mich vor Ekel, als du mich umarmtest.

Oh weh! Meine Seele ist wie eine verstimmte Bratsche.

Vielleicht können wir helfen, sie Euch zurecht zu stimmen?

Wer weiß! Wer weiß! Fahrt mit uns: Ihr werdet viel kennenlernen ...

Trotz ihres unberechenbaren Verhaltens ist Ruprecht hoffnungslos in Renata verliebt. Er bittet sie, ihn zu heiraten, aber sie weist ihn voller Ekel ab. Sie will nun jeder Sünde entsagen und fortan im Kloster leben. Der verlassene Ruprecht geht in ein Wirtshaus, um seinen Kummer im Wein zu ertränken. Dabei lernt er zwei Durchreisende kennen, einen Wissenschaftler und einen Trickbetrüger: Faust und Mephistopheles. Ruprecht schließt sich ihnen an.


Oh-ah! Oh-ah! Ah! Ah! Ah!

Oh-

ah!

Oh-

ah!

Oh-

ah!

Erbarmen, Schrecklicher! Erbarmen, Grausiger! Erbarmen, Böser! Erbarmen, Erbarmen!

Verneigt euch vor dem Beelzebub, rühmt, Schwestern, den Dämon!

Reißt seine Kleider herunter, Schwestern! Zertretet ihn!

Seit Renatas Eintritt ins Kloster werden die anderen Schwestern des Ordens immer wieder von Erscheinungen heimgesucht. Der Inquisitor soll die bösen Geister austreiben und Renata über ihre Verbindungen zum Teufel verhören. Diese beteuert ihre Unschuld: Sie stehe nur mit Geistern des Lichts in Verbindung. Da ertönen Klopfgeräusche aus Wänden und Boden, und mehr und mehr Nonnen geraten in Ekstase.


Spiriti maligni, damnati interdicti, exterminati, extorsi, jam vobis impero et praecipio, in ictu oculi discedite omnes qui operamini iniquitatem, iniquitatem, iniquitatem!

Diese Frau wird beschuldigt, fleischlichen Verkehr mit dem Teufel zu haben. Sie ist sofort zu foltern, die Hexe ist auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen!

Sie glauben, in dem Inquisitor den Teufel zu erkennen und versuchen, ihn zu zerfleischen! Der Inquisitor ruft seine Wachen zu Hilfe. Der Beweis scheint erbracht: Renata ist eine Ketzerin und mit finsteren Mächten im Bunde. Der Inquisitor verurteilt sie zum Tode. Ruprecht, an der Seite von Mephistopheles und Faust, sieht tatenlos zu.


Schau, hat diese nicht deine Bratsche verstimmt? Diese da! Diese da!

Der feurige Engel von Sergej Prokofjew Nächste Vorstellungen an der Bayerischen Staatsoper: Sonntag, 19. Februar 2017; Mittwoch, 22. Februar 2017; Samstag, 25. Februar 2017, jeweils 19:00 Uhr, Nationaltheater.


ALBERT RENGERPATZSCH Albert Renger-Patzsch, „Eiserne Hand“ in Essen, 1929 © Archiv Ann und Jürgen Wilde, Zülpich / VG Bild-Kunst Bonn, 2016; Gestaltung: Schmid / Widmaier

RUHRGEBIETSLANDSCHAFTEN 16.12.2016 –23.04.2017

STIFTUNG ANN UND JÜRGEN WILDE PINAKOTHEK DER MODERNE www.pinakothek.de #StadtLandBild

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Das vergessene Glück Eine Erzählung von Katja Petrowskaja

I (Briefe werden gefunden. Sonst passiert nichts.) Mon cher, manchmal, wenn man sich selbst verliert, auf halbem Wege, wie Du und ich gerade, wird man völlig von der Vergangenheit verschluckt. Die Erinnerungen strömen durch alle Poren mit allen Gerüchen – erinnerst Du Dich an das Brot in unserer Bäckerei, an die Züge, die an unserem Haus vorbeirauschten –, Insignien der Erinnerung. Hätte ich mich damals umgedreht, hättest Du damals meine Frage nicht überhört, hätte der aufgeblasene Mond nicht auf unsere Köpfe gedrückt … Dann hätten wir das Glück gefunden und hätten lange Zeit glücklich gelebt, vielleicht lebten wir glücklich bis heute, wie in einem Märchen. Nein, es waren die Menschen aus sagenhaften Zeiten, Menschen aus Mythen, die ein vorbestimmtes Schicksal hatten. Wir haben nur Optionen, die wir häufig mit der Freiheit der Wahl verwechseln. Und irren und irren auf zahlreichen Wegen. Als wir klein waren und dann jung, dachte ich, die Vergangenheit sei ein dunkles Zimmer. Ein verbotenes, vielleicht bestraft man dort die Kinder. Man kommt herein und versucht das Licht anzumachen, doch sind nur Kerzen erlaubt, die kleine helle Flecken in die Dunkelheit werfen. Vielleicht liegt dort alles Geschehene in Regalen: hier das antike Forum, da die dampfenden Schlachtfelder, dort die braven Gesichter der Verwandten als Portraits an der Wand (als hätte jemand von uns tatsächlich brave Verwandte). Wer reitet so spät? Ich würde mir so sehr wünschen, dass es Ordnung in der Vergangenheit gäbe. Vergangenheit ist aber nicht vorhersehbar. Die Vergangenheit ruft uns, wenn wir meinen, wir seien sie endlich losgeworden, sie schickt uns längst verlorene Briefe, klingelt an allen unseren Türen, bereit, ein Requiem zu bestellen, gerade, wenn wir an den ewigen Frieden glauben, sie taucht in Form eines Mannes oder einer Frau auf, wenn auch zwanzig Jahre später, und sagt uns, dass alles falsch gewesen sei, mit unserem Leben, unserem Weg, unserer Wahl. Adieu, ich komme wieder. Ich habe etwas anderes gesucht und bin in Deine Arme gefallen.

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Als ich die Briefe wiederfand, konnte ich zuerst nicht glauben, dass sie an mich gerichtet sind. Es sind zu viele, um sie vergessen zu haben, und sie waren zu schön, um sich an sie zu erinnern und dabei weiterzuleben, wie ich gelebt habe. Vielleicht war es einfacher, die Erinnerung an sie auszulöschen, als zu akzeptieren, dass ich etwas verpasst habe. Nach zwanzig Jahren habe ich sie auf einem alten Computer wiederentdeckt – hier könnte eine Geschichte erzählt werden, wie wir unsere Geständnisse der elektronischen Welt anvertrauten. Weißt Du, wie man heute alte Disketten liest? Wenn Deine Briefe vor mir liegen, kann ich keine Grenze zwischen Jetzt und Damals ziehen, doch die Zöllner sind da und verlangen Tribut. Ich habe Deine Briefe nun wieder bekommen, zum zweiten Mal. Ich lese über Deine Lieblingsbücher, Deine Städte, Deine Freunde, Du hast bestimmt viele neue. Über die Empfindungen, an die ich mich nicht mehr erinnere und die ich vielleicht damals gar nicht empfunden habe, sie haben mich jetzt erreicht. Erst jetzt habe ich alles verstanden, als hätten wir damals im gleichen Raum gelebt, aber in unterschiedlichen Zeiten. Meine Briefe an Dich sind verschwunden, nur Deine sind erhalten geblieben, als hättest Du meine nicht aufbewahrt, ich bin in diesem Briefwechsel, in Deiner Geschichte abwesend, obwohl alle Deine Briefe an mich adressiert sind. Wir stehen am Anfang, wir stehen am Ende, es ist die Mitte des Lebens, die uns mit zahlreichen Fragen bewirft. Fragen, die man irgendwann losgeschickt hat, nicht ahnend, dass man sie selbst auffangen soll, dass alles irgendwann zurückkommt, und wenn man sie nicht fängt, können sie einem die Kehle durchschneiden. Der Bumerang trifft Dein Herz, Du bist zum Ersticken verdammt, zum Kummer, denn die Luft bleibt Dir weg, sie ist im Damals geblieben wie auch Dein Gesicht, Deine Stadt, Deine Sprache, die auch mein Leben hätten sein können, aber nicht geworden sind. Die Vergangenheit ist ungezähmt, unerzogen, sie beißt – beiß zurück! –, sie sticht und haut, aber manchmal gießt sie Balsam auf unser Seele, schenkt uns Blumen, wäscht uns die Füße, putzt uns die Zähne, legt uns schlafen, singt uns Lieder, und wünscht uns Gute Nacht, mon cher, wenn es Dich nicht gäbe, hätte ich Dich ausgedacht. Gute Nacht.

Bilder Akira Otsubo

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II (Es ist kein Märchen. Es geht um „eine wahre Geschichte“, wie man mit schmeichelnder Stimme im Radio sagt. Eine kurze, aber nie endende. Sie wurde noch niemals erzählt. Es ist die Geschichte einer Stadt. Die Stadt heißt auf Russisch Счастье (Schastje), was auf Deutsch „Glück“ bedeutet. Die Stadt befindet sich tief im Osten der Ukraine und war noch vor Kurzem ein administrativer Vorort von Lugansk. Sogar ihre Schulen trugen Nummern ab 50 aufwärts, da zuerst alle Lugansker Schulen gezählt wurden. Früher brauchte man zwanzig Minuten von Schastje nach Lugansk mit dem Bus. Jetzt dauert es Stunden um Stunden. Als der Krieg in dieses Gebiet einrückte, blieb Schastje in der Ukraine. Lugansk definierten die Separatisten als unabhängige staatliche Einheit. Jetzt gibt es in Schastje die „Schule Nummer 1“. Schastje oder Glück stellt seine Fragen an uns alle.) The letter is addressed to you and not to „my dear“. Es war einmal eine Stadt, die Glück hieß oder Happiness, man weiß es nicht genau, manche sagten Fortuna. In dieser Stadt sprach man viele Sprachen, aber außerhalb der Stadt wusste niemand davon, dass sie existierte. Die Alten erzählten, dass die Stadt noch vor der großen Revolution entstanden war, von den Menschen gegründet, die von irgendwoher geflohen waren und außerhalb des Gesetzes standen. Sie waren glücklich, eine Stadt zu haben, und nannten ihre Stadt „Glück“. Aber als sie über das Glück sprachen, sagten sie auch einfach „Glück“ ohne „das“, denn in ihrer Sprache gab es keine Artikel. Deswegen waren die Menschen aus dieser Gegend für die Außenwelt schwer zu verstehen, besonders, wenn sie über ihre kleine Heimat sprachen: Meinten sie ihre Stadt oder den Zustand? Vielleicht trug diese unauflösbare grammatikalische Verwirrung zum Konflikt bei? Zum Vergessen? Denn Jahre sind vergangen, und alle haben vergessen, dass eine solch glückliche Stadt existiert. Erst vergaß man die Menschen der Stadt, dann die Stadt und dann das Land, in welchem sich diese Stadt befand, denn dieses Land lag am Rande der Welt, schön und verschlafen, mit Sonnenblumen und Kornfeldern, mit sagenhafter Schwarzerde und großen Flüssen. Und so hieß dieses Land auch „am Rande“. Selbst der Name des Landes verriet viel über den Zustand dieses Landes und seine wirtschaftliche Lage, deswegen schrieben die Zeitungen in der ganzen Welt nichts über dieses Land, trotz der Flüsse, Felder und Menschen, denn es gab nichts, worüber man hätte schreiben können, so sagte man. Das Land war still und weit, weiblich und erschwinglich, von Waffen und von Geld war nichts zu hören. Und weil das Land so weit weg war oder so weit weg schien, als wäre es vergangen, dachte niemand daran, niemand erinnerte sich auch nur vage daran, dass sich in diesem Land eine Stadt befand, die Glück hieß, Glück für alle, das hatte man vergessen. Weißt Du, was passiert, wenn man das Glück vergisst? Man vergisst den Preis des Friedens. Dann zog der Krieg in dieses Land am Rande ein. Man suchte Glück mit der Artillerie heim (von diesem Punkt an ist wirklich nicht mehr klar, ob mit Artikel oder ohne), als wäre die Artillerie die beste Methode, nach dem Glück zu suchen. Man fand das Glück, als Stadt und als Ereignis. Dann trug man Glück in die Karte ein, zum ersten Mal. Und viele schauten auf die Karte, oft und immer wieder, wegen des Krieges, man wurde erst auf die Stadt aufmerksam, dann auf die Menschen, denn sie waren die letzten, die noch im Lande am Rande lebten. Die Menschen in den Nachbarstädten lebten schon in der Galaxie der abtrünnigen Republiken. Glück wurde nicht zerbombt, wie viele Städte in der Nähe, sondern nur ein bisschen ramponiert. Glück blieb ein Vorposten des Friedens. Ich würde hier sagen: Das Glück. Und die Leute dort, sie waren glücklich, glücklicher als wir, da wir das Glück vergessen haben, das ferne und das eigene, mit Artikel und ohne.

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III (Hier wird vor allem gesucht. Etwas geht dabei verloren, vor allem die Logik. Etwas wird gefunden, ohne Plan und Ziel, denn man befindet sich in einer Gegend, die keine Gesetze kennt.) Mein Lieber, die Zone ruft. Du möchtest wieder in die Zone? Die Zone ist unser Erbe, sagtest Du. Manche sagen, es seien Außerirdische gewesen, die uns dieses rätselhafte Gelände hinterlassen haben, sie hätten Picknick gemacht und seien weitergeflogen. Oder war es ein Meteorit? Radioaktive Strahlung? Es ist eine sumpfige Gegend im Nebel, man sagt aber, es gäbe ein Zimmer dort, darin könne man Wünsche aussprechen. Sie würden unbedingt erfüllt. Man verspricht Dir und Du glaubst. Ist es ein Ort unserer Träume? Eine vage Erinnerung an das verlorene Paradies? Warum ist es dann so ungemütlich dort, und warum machen sich nur Wenige auf den Weg? Oder wohnt hier die verwunschene Vergangenheit? Die Vergangenheit ist wohl wie ein Nieselregen, der auf uns fällt, wie giftige Dämpfe über den Sümpfen, und wenn man ausatmet, in der Hoffnung, der Krieg, der Verlust, der Schmerz gingen vorbei, so atmet man sie doch unweigerlich gleich wieder ein. Vergangenheit ist überall. Was hast Du dort gefunden? Gehe nicht so weit. Ich werde warten. Was bringst Du mit? Ist die Zeit gekommen, Steine zu sammeln? Zuerst siehst Du in einem fremden Viertel von New York eine alte Frau, die langsam vor Dir hergeht. Du erkennst in ihr Deine längst verstorbene Großmutter, die aber nicht dunkelhäutig war und nie in Amerika gelebt hat, warum überhaupt Amerika? Aber die Ähnlichkeit ist frappant, wie sie die Hüften wiegt und die Füße abrollt, und von diesem Moment an erkennst Du vieles wieder, alles, was Dir geschieht, erscheint Dir als eine Wiederholung, in einer versetzten Form, mit dem scharfen Geruch der Neuigkeit gewürzt, denn Du folgst einer alten Frau, wohin?

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Wenn Du schon in die Zone gehst, darfst Du Deine Sprache nicht vergessen. Sie ist die einzige, die Erinnerung mit den Erinnyen zusammenbringt, den Göttinnen der Rache, in einer Alliteration, als reimte sich die deutsche Erinnerung dadurch auf Gewissensbisse, die aus mythologischen Zeiten stammen und schon deswegen für die Ewigkeit bestimmt sind. Als wären die Erinnerungen mit einem Krieg verbunden, der tatsächlich nicht vergeht und uns nicht in Ruhe lässt, bis ins zehnte Glied, als wäre der Krieg die Antike mehrerer Nationen, mit seiner Gewalt, seinen Schicksalen und seinen Affekten. Ist die Erinnerung an die Gewalt unser gemeinsames Erbe? Am Ende einer berühmten Familien-Geschichte verfolgen die Erinnyen Orest, der seine Mutter umgebracht hat. Auch Semiramide wurde von ihrem Sohn – wenn auch aus Versehen – erschlagen. Sie waren Könige, es ging um Macht und Staatsgewalt, man braucht eine Familie, einen Stamm, eine kontinuierlich erzählte Geschichte, denn es gibt die Sehnsucht nach einer Logik der Ereignisse. Eine Liebe, ein Mord, ein Krieg. Da waren Könige im Vorteil. Man erzählte von ihnen und schrieb die Oper. In meiner Kindheit wusste ich nicht, dass Semiramide durch die Hände ihres Sohnes gestorben ist. Ich wusste nur von ihren Gärten – den schönen hängenden Gärten der Semiramis, dem siebten Weltwunder. Sie ist damit in die Geschichte eingegangen. Und ich möchte mich nur an ihre Gärten erinnern. In meiner Kindheit stand die Zeit still. Es war die Zeit der Bücher, die Zeit der Liebe, die Zeit, als alles gleichzeitig war. Vielleicht waren wir der Apokalypse schon ganz nah, da es dort heißt, dass die Zeit nicht mehr existieren würde, an ihr Ende kommen würde, in irgendeiner Zukunft, wir aber waren schon in dieser Zukunft. So ist es auch mit den vergangenen Katastrophen, dachte ich, denn sie vergehen nicht, sie bleiben mit uns, seien es die Traumata des längst vergangenen Krieges, sei es, dass die Vergangenheit uns mit jedem neuen Kriegsausbruch einholt, oder mit niemals endenden Katastrophen wie jener von Tschernobyl, – auch dort eine Zone, eine unbekannte und rufende, – als würde die Apokalypse zu unserem ewigen Begleiter. Hast Du auch davon geträumt? Möchtest Du unsere alten Helden treffen? Und Eure? Philosophen? Feldherren? Dichter? Kennst Du dieses Lied über ein Treffen mit Puschkin? Heute klingt es lächerlich, aber damals, als ich jung war, war das auch mein Traum. Viele von uns wollten mit Puschkin in Moskau spazieren gehen, mit ihm reden, wir hatten den Wunsch, in den alten Zeiten zu leben, mit all diesen Dichtern, da damals alles so echt und wahr schien, und sogar die Kutscher noch durch die Stadt fuhren. Eine Komödie geht mir nicht aus dem Kopf. Auch die habe ich als Kind gesehen, die kennst Du nun ganz gewiss nicht. Das königliche Gefolge sitzt während eines Schneesturms in einem Berg-Hotel fest. Eine laute, exaltierte Dame erkennt im Wirt den Mann, in den sie zwanzig Jahre zuvor – oder waren es dreißig? – verliebt gewesen war. – Warum haben Sie einen anderen geheiratet?, fragt der Mann. – Aber Sie haben doch damals mit diesem anderen Mädchen getanzt und ihr leidenschaftlich ins Ohr geflüstert, sagt die Dame. – Ich habe ihr den Takt zugeflüstert, eins, zwei, drei … Sie hat ständig den Rhythmus verloren, sagt der Mann. Dieses „den Rhythmus verloren“ hat mich als Kind fassungslos gemacht, ich hatte nicht gewusst, dass zwei Liebende sich wegen eines Missverständnisses für immer verlieren können. Auch nicht, dass sie irgendwann dennoch zusammenkommen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein Lied zusammen zu singen, etwas über Blumen und die Sonne, trotz des Schneesturms. Sogar, wenn wir jenen Weg gegangen wären, den wir nicht erlebt, nicht erfüllt haben, wären alle anderen Wege abgebrochen, wir hätten etwas anderes bereut und vermisst. Was verloren ist, begehren wir besonders. Vielleicht bleibst Du hier? Mehr über die Autorin auf S. 8

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Vom Realismus zur Reaktion

Während einer kurzen Glanzperiode brachte der Verismo als italienische Variante des Naturalismus Meisterwerke wie Umberto Giordanos Andrea Chénier hervor. Dann versanken seine Protagonisten im faschistischen Dünkel. Eine Bestandsaufnahme. 66


Andrea Chénier ist zweifellos ein Meisterwerk – ein guter Plot, kraftvoll gestaltete Szenen, wirkungsvolle Musik. 1896 landete Umberto Giordano in der Mailänder Scala damit einen Riesenerfolg, und dank der glänzenden Titelpartie verschwand die Oper auch niemals wieder ganz vom Spielplan. Enrico Caruso sang den Andrea Chénier 1907 in London, und nach ihm feierten Tenöre wie Beniamino Gigli, Aureliano Pertile, Giacomo Lauri-Volpi, Mario Del Monaco, Franco Corelli oder Plácido Domingo mit dieser Partie Triumphe. Doch was folgte auf Giordanos Meisterwerk? Die späteren Opern des Komponisten wurden vergessen. Auch für die anderen Meister des Verismo war es bei dem einen großen Erfolg geblieben, der sich nie wiederholen ließ: So war es bei Pietro Mascagnis Cavalleria rusticana, Ruggiero Leoncavallos I Pagliacci, Francesco Cileas Adriana Lecouvreur und Riccardo Zandonais Francesca da Rimini. Nur Kollege Puccini eilte mit La bohème, Tosca und Madama Butterfly von Erfolg zu Erfolg, weil er das Leiden der Menschen nicht nur ausbeutete, sondern eine Haltung dazu einnahm – und weil er die einprägsameren Melodien schrieb. Der italienische Verismo hatte die Opernbühnen der Welt im Sturm erobert. Entstanden war er aus ökonomischem Kalkül: Nur mit neuen Opern ließ sich das Publikum ins Theater locken. Verdi war alt geworden. Was würde folgen? Deshalb schrieb der Verlag Sonzogno 1888 jenen Wettbewerb aus, aus dem Mascagnis Cavalleria rusticana als Siegerin hervorging – und mit ihr der Verismo als neue Opernmode. Die ungeschminkte Brutalität und Sentimentalität bodenständiger Menschen, eingekleidet in musikalische Elementargewalt, kam beim bürgerlichen Opernpublikum gut an. Zudem wurden die neuen Stücke damals sofort nachgespielt. Im Jahr ihrer Uraufführung kam die Cavalleria an mehr als 30 internationalen Bühnen heraus. An deutschsprachigen Bühnen wurde Mascagnis Hit zwischen 1891 und 1921 in ganzen 9.236 Aufführungen gespielt, gefolgt von Ruggiero Leoncavallos I Pagliacci (Der Bajazzo) mit 6.578 Aufführungen. Der Verleger war glücklich, und die Komponisten wussten, was sie zu tun hatten – nun wurden sie alle Veristen. Als Caruso 1902 in Mailand „Ridi, pagliaccio!“ in einen Grammophontrichter schmetterte, wurde die Schallplatte eine Million Mal verkauft. Auch auf der Welle der technischen Reproduktion ritt der Verismo in den Welterfolg, und Caruso wurde der erste Superstar der Schellackplatte: Elementare Wucht statt ästhetischer Feinzeichnung stand diesem Medium in seiner Frühzeit gut zu Gesicht. Ein Jahrzehnt hindurch überrumpelte der Verismo die Welt, doch dann führten seine Komponisten ein seltsames Leben im Schatten einstiger Welterfolge. Vielfach warfen sie sich dem Faschismus regelrecht an den Hals. Umberto Giordano war sich am Ende nicht einmal zu schade, für das Cäsar-Spektakel, an dem Mussolini höchstselbst mitgeschrieben hatte, die musikalischen Einlagen zu komponieren und gemeinsam mit den Kollegen Mascagni, Respighi und Pizzetti Mitglied der vom „Duce“ gegründeten Accademia d’Italia zu werden.

Text Bernd Feuchtner

Woher rührte dieser Opportunismus? War es die Übermacht Puccinis, die die Veristen erdrückt hatte, wie vorher Wagner und Verdi ihre Vorgänger Spontini und Meyerbeer in Vergessenheit hatten versinken lassen? Die Antwort werden wir kaum von der Musikgeschichte allein erhalten. Der Verismo war nicht im luftleeren Raum entstanden. In Paris – und da schaute, wie alle italienischen Künstler und Intellektuellen, auch Giordano vor allem hin – standen damals die Romane von Émile Zola für die naturalistische Beschreibung der Lebenswirklichkeit, und die sah vor allem für die arbeitenden Klassen gar nicht rosig aus. In der Malerei hatte sich Courbet dem Naturalismus zugewandt, und in der Musik war Bizets Carmen das Vorbild, ohne das die naturalistische Cavalleria rusticana nicht denkbar gewesen wäre – „Verismo“ ist der italienische Ausdruck für den Naturalismus. Die Vorlage für seine Oper fand Mascagni in der sizilianischen Novellensammlung Vita dei campi (Landleben) von Giovanni Verga. 1884 hatte Eleonora Duse in der Dramatisierung dieses Dorfdramas einen Sensationserfolg gefeiert – damit war der Verismo auf den italienischen Bühnen angekommen. Der böse Geist der italienischen Künstler: Gabriele d’Annunzio Umberto Giordanos alter Freund Gabriele d’Annunzio – sie kannten sich von Neapel her – war nicht nur der Liebhaber der Duse geworden, sondern hatte eine rasante Karriere zum führenden Dichter des Landes gemacht. D’Annunzio stürzte sich auf alles, was Mode war, so auch auf den Naturalismus, und produzierte eine Reihe reißerischer Romane und Theaterstücke, die von archaischen Riten, tierischer Gewalt, Aberglaube und drastischer Sexualität strotzten, aber sich auch in ihrem Gegenstück, einer verklemmten Sentimentalität, ergingen. Die reale Welt der Bauern kannte er nur aus Gutsherrensicht. Sein blutrünstiges Bauernstück La figlia di Iorio von 1904 (Ricordi druckte es mit einem JugendstilTitelblatt) wurde sogleich von Alberto Franchetti (und später von Ildebrando Pizzetti) veropert. D’Annunzio war ein begnadeter Selbstdarsteller, der umstandslos auch zu den Mitteln des Symbolismus wechselte oder über Gräfinnen in der mondänen Gesellschaft schrieb, nur laut und dekadent musste es sein – ach ja, die Décadence war eine weitere Kunstrichtung, zu der er sich bekannte. Ein Mann, der zahllose Frauen in den Wahnsinn trieb und hemmungslos seine Männlichkeit hinausposaunte. Nach dem Risorgimento suchte das nun zwar vereinte, doch ungleiche Italien nach sich selbst. Die Industrialisierung hatte nur den Norden erfasst, wo die Regierung aber vor allem die Schwerindustrie förderte. Parteien gab es noch nicht, die sozialistische PSI wurde erst 1892 gegründet. Wahlrecht besaß nur die Elite, die politische Verfassung stand auf schwachen Beinen. Die sozialen Spannungen entluden sich 1898 in Demonstrationen, die in einem Massaker mit 300 Toten niedergeschlagen wurden. König Umberto, der 1900 einem

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anarchistischen Attentat zum Opfer fiel, hatte das Parlament aufgelöst, es herrschte praktisch Militärdiktatur. Italien hatte nur eine eingebildete Identität, kulturell wie politisch. Diese Verunsicherung förderte den Nationalismus, der auch im übrigen Europa die Gehirne vernebelte und dem Irrationalismus Tür und Tor öffnete. In Deutschland schrieb Houston Stewart Chamberlain populär-„wissenschaftliche“ Begründungen für die Überlegenheit der germanischen Rasse, bei denen er von Richard Wagner ausging. In Frankreich und Italien behaupteten die Rassisten ihrerseits die Überlegenheit der lateinischen Völker über den Norden. Auch hier standen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche Pate: In seinem Roman Il trionfo della morte feierte D’Annunzio 1894 Nietzsches Übermenschen und ließ den Helden den Selbstmord in einer Meditation über Tristan und Isolde bedenken. D’Annunzios Musikgeschmack war konservativ, Schönberg hielt er für den Tod der Musik. So verwegen seine Männerphantasien waren, so reaktionär war sein Menschenund Gesellschaftsbild: von einer nüchternen Analyse der sozialen Verhältnisse keine Spur, dafür – etwa in den Laudi – Phantasien von amorphen Massen „mit wilden Gesichtern“, die auf Führung warten, „um aus ihrem Kummer eine einzige Wut zu machen“. Das klang nach Verismo und schrie nach musikalischem Ausdruck – die italienischen Komponisten vertonten begierig D’Annunzios Texte und nahmen die politische Realität durch die Brille dieses Populisten wahr. Politische Machtphantasien, künstlerische Schwäche Und darin lag das Problem: Es war das Leben von gestern, dem die italienischen Komponisten sich hingaben, während sie die Moderne verschliefen. Nun machte sich das Fehlen von Substanz bemerkbar, der Verismo wirkte nicht länger authentisch. Die Futuristen, deren Gedankenwelt vom gleichen Irrationalismus gespeist wurde, richteten ihre Projektionen auf die Zukunft. Die Veristen träumten indessen von der heldenhaften Vergangenheit Italiens. Beide Strömungen erfassten allerdings nur die Oberfläche des Lebens und verstanden die sozialen Bewegungen nicht, die in der Realität stattfanden. Darin unterscheiden sich die Veristen fundamental vom Realismus Puccinis, denn dieser nahm eine kritische Haltung zu den sozialen Fragen ein und schuf so Opern mit größerer Gedankentiefe. Während der provinziell verengte Blick der Veristen sie wichtige europäische Entwicklungen übersehen ließ, lagen irrationalistische und dem Faschismus zuneigende Tendenzen zu ihrer Zeit im Trend. Nicht nur der Nationalist D’Annunzio verherrlichte den Krieg als Zeichen von Jugend und Männlichkeit, sondern die künstlerische und intellektuelle Elite ganz Europas dachte bis 1918 zu großen Teilen so. In Frankreich hatte Claude Debussy sich der rechten Action française angenähert und noch 1935 erklärte Igor Strawinsky nach einer Audienz bei Mussolini, er fühle sich als Faschist.

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In der Nacht vom 11. Januar 1908 hallte nach der Uraufführung von D’Annunzios La nave (Das Schiff) mit der Musik von Ildebrando Pizzetti das Motto des Stücks durch die Straßen: „Bewaffne den Bug zum Angriff auf die Welt!“ Auf den Ruinen des alten Roms sollte ein neuer italienischer Imperialismus wachsen. Auf der Flugschau von Brescia unternahm D’Annunzio 1909 seinen ersten Flug – Kafka und Puccini schauten zu. Nun wandelte der Dichter sich zum Politiker. Georges Sorels Réflexions sur la violence (1908) befeuerten auch D’Annunzios Gewaltbereitschaft und Aktionismus. Von 1910 bis 1915 musste der Dandy allerdings – Richard Wagner in so vielem ähnlich – vor seinen Gläubigern vorübergehend nach Paris fliehen, wo er Claude Debussy für die Musik zu seinem Mysterienspektakel Le Martyre de Saint Sébastien gewann. In der Lieblingsmetropole der italienischen Künstler traf D’Annunzio im Salon von Lina Cavalieri auch seinen Intimus Umberto Giordano wieder; sein historisierendes Parisina-Libretto, ein Byron-Stoff, in dem die altitalienischen Kämpfe zwischen Ghibellinen und Guelfen widerhallen, war ursprünglich für Giordano gedacht, wurde dann aber von Mascagni vertont. 1915 reiste D’Annunzio zurück nach Italien und machte in Hetzreden an die Massen Propaganda für den Kriegseintritt. Mitten im Krieg flog er über Wien und warf Flugblätter ab. Italo Montemezzis Vertonung von La nave wurde am 3. November 1918 uraufgeführt, dem Tag der Kapitulation der österreichischen Armee und des Einmarschs der italienischen Truppen in Triest. Für den Komponisten Montemezzi ein gottgewolltes Zusammentreffen, wie er später, am 18. Juli 1930, an Mussolini schrieb: „Es war mein größter Traum, Italien eine im reinsten und höchsten Sinne italienische Oper zu geben, die kein Vorbild hatte.“ D’Annunzio schien jedoch die Kriegsbeute zu klein, er sprach von einem „verstümmelten Sieg“ (ein Schlagwort, das ähnlich Karriere machte wie in Deutschland die „Dolchstoßlegende“), stellte sich an die Spitze eines Freikorps, marschierte in die Hafenstadt Fiume (heute Rijeka) ein und errichtete einen Ständestaat. Toscanini dirigierte dort ein Sonderkonzert für die Söldner. Und Mussolini kam seinen „Rivalen“ besuchen, den er jedoch rasch ausmanövrieren sollte – der Herrenmensch D’Annunzio verstand nämlich die wahre Funktion der Massen in der Hand der totalitären Führer und der staatsgesteuerten Wirtschaft nicht. Der deutsche Schriftsteller Eugen Ortner stellte in seinem Buch Gott Stinnes (der Großindustrielle Hugo Stinnes steht hier als Synonym für den Kapitalisten) hellsichtig fest: „Bei Stinnes und Lenin ist alles aufgebaut auf Massen, ist alles kollektivistisch, gibt es keine persönliche Kultur mehr ... Stinnes vernichtet D’Annunzio, Stinnes vernichtet die Künstler.“ Auch Mussolini vernichtete D’Annunzio, und zwar indem er ihn unter Ehrungen begrub. Doch beerbte er ihn geistig: Die Glorifizierung des bäuerlichen Lebens, der Vitalismus, die Verherrlichung der römischen und mittelalterlichen Wurzeln, der Imperialismus, das alles führte nahtlos in die Propaganda des Faschismus. Die Angst vor einer bolschewistischen Revolution ließ das Bürgertum samt König, Militär,

Kirche und Wirtschaftskapitänen lieber auf den Faschismus setzen, der ihnen dank des auf irrationale Emotionen eingeschränkten Weltbildes D’Annunzios und der Veristen vertraut vorkam. Nach seinem Putsch von 1922 wurde Mussolini bombardiert von Eingaben der Veristen, die um Staatsaufträge bettelten. 1925 war Ildebrando Pizzetti unter den Unterzeichnern des Manifesto degli intellettuali fascisti. Ottorino Respighi ließ in seinem Orchesterstück Pini di Roma die Stiefel der Faschisten auf die antike Via Appia knallen. Pietro Mascagni, ein selbstgefälliger Schatten des Komponisten der Cavalleria rusticana, widmete seine Nero-Oper dem Duce – sie taugte nichts. Und Umberto Giordano, der frühzeitig in das beste Mailänder Hotel eingeheiratet hatte und auf Gelderwerb nicht angewiesen war, stellte schließlich das Komponieren ganz ein. Große Kunst ist weder in faschistisch noch nationalsozialistisch benebelten Köpfen entstanden, das ist eine Tatsache. In Deutschland hatte Hans Pfitzner ein ganz ähnliches Schicksal. Seine Oper Die Rose vom Liebesgarten von 1901 war ebenfalls eine Flucht in den Irrationalismus, hier jedoch in den Ästhetizismus des Jugendstils. Anschließend überließ Pfitzner sich dem Antisemitismus und dem germanischen Größenwahn. Schon 1923 fand seine Begegnung mit Adolf Hitler statt, bei der beide sich über Deutschtum und Judenhass verständigten. Auch Pfitzners Kunst hat daraus keinen Profit ziehen können. Dass in Deutschland auch ein nicht nationalistisch aufgepeitschter Verismo möglich war, hatte Eugen d’Albert 1903 mit Tiefland gezeigt, einer Oper nach einer katalanischen Erzählung. Vielleicht hat die Verbindung von romanischer Dichtung und deutschem Weltbürger mit französischen, englischen und italienischen Vorfahren und britischem Pass von vornherein verhindert, dass Tiefland zur Feier von Blut und Boden wurde. Oder d’Albert hatte einfach einen kühleren Kopf als seine italienischen Kollegen. Mehr über den Autor auf S. 8

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ES DRÜCKT MICH. ES DRÜCKT MICH NICHT. Schwere Schuldgefühle belasten Semiramide, die Titelfigur in Rossinis letzter Opera seria. In der Tragödie spielen Fragen nach Schuld und Reue seit je eine große Rolle. Aber auch der Alltag kann zu einem Drama werden, wenn das berühmte schlechte Gewissen überhandnimmt. Über ein Gefühl, das womöglich gar nicht so schlecht ist wie sein Ruf. 70


Da steht sie, exakt zwölf Minuten nach dem vereinbarten Gesprächstermin, und entschuldigt sich dafür, zu spät gekommen zu sein. Lisa Vogel, 35 Jahre alt, ist eine warmherzige, selbstbewusst wirkende Person. Selbstbewusst? Schon, aber nicht unbedingt selbstsicher, sonst wäre es ihr wohl nicht so furchtbar unangenehm, unpünktlich zu sein. Noch dazu, weil sie direkt vom Krankenlager ihres Lebensgefährten kommt, der erst vorgestern mit einem leichten Schlaganfall ins Klinikum eingeliefert wurde. Würde man da nicht vermuten, es gäbe derzeit in Lisas Leben Wichtigeres als militärische Korrektheit beim Einhalten von Verabredungen? Weit gefehlt. Kaum hat sie sich gesetzt, berichtet sie schon halb zerknirscht, halb belustigt, dass sie dem Mitpatienten ihres Freundes die Tageszeitung heute erst am späten Nachmittag brachte. „Da hatte ich schon wieder ein schlechtes Gewissen. Er hätte sie bestimmt viel lieber schon morgens gelesen.“ Spontan möchte man ihr eine liebevolle therapeutische Begleitung empfehlen. Nur: Lisa Vogel ist selbst Diplom-Psychologin. So viel zur Wirksamkeit der Erkenntnis an sich.

Text Thomas Östreicher

OROE Ja, großer Gott, ich habe dich verstanden. Ich achte deine erhabenen Befehle: Den furchtbaren Augenblick der Gerechtigkeit, der Rache will ich erwarten. Semiramide, 1. Akt, 1. Szene Das Bielefelder Bio-Restaurant jedenfalls stellt sich als besonders geeigneter Ort heraus, um gemeinsam über das schlechte Gewissen nachzudenken, das doch bei vielen Gästen einen Gutteil der Motivation ausmachen mag, überhaupt herzukommen. Und was ist falsch daran? Wäre die Welt nicht eine bessere, äßen alle nur bio, vegetarisch, gar vegan? Dafür spricht einiges, allerdings spricht mindestens ebenso viel gegen ein dauerhaft schlechtes Gewissen als Grundhaltung. Das hebt nicht unbedingt die individuelle Lebensqualität, die durchaus von ein wenig Sorglosigkeit profitieren kann. Und vollkommene Gewissensreinheit bleibt so oder so unerreichbar, selbst bei noch so konsequent eingehaltenen Ernährungsgewohnheiten.

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Für Lisa Vogel zum Beispiel: Was das Essen angeht, lebt sie scheinbar entspannt. Unter der Oberfläche jedoch lauert die flächendeckende Überzeugung, moralisch nicht zu genügen, sich nicht ausreichend für andere einzusetzen, nicht immer an alles gedacht zu haben, nicht perfekt zu sein. Für Menschen wie sie wurde der Begriff Selbstlosigkeit geprägt. Und selbstredend lassen sich Menschen wie sie von ihrer Umwelt ganz hervorragend ausnutzen. Nicht, dass ihr das nicht bewusst wäre, und ja, es gebe sogar kleine Alarmglöckchen für diesen Fall. Aber viel häufiger und lauter meldet sich ihre innere Stimme alle paar Augenblicke: War das okay, was du da getan hast? Wirklich okay? Dem übereifrigen Über-Ich gelegentlich das Maul zu stopfen ist eine Fertigkeit, die Lisa bislang nicht erlernt hat. Das geht so, seit sie ein Kind war, konkret seit ihr ein Kinderspiel entglitt. Aus der zunächst harmlosen gemeinsamen Fantasie mit ihrer Spielkameradin Janina, die Spielzeugfiguren führten ein geheimes Leben auf einem fremden Planeten, wurde der von beiden zunehmend ernster genommene Bluff, Lisa verfüge über eine Art zweites Gesicht. Sie sprach mit verstellter Stimme, garnierte die Märchenvorstellung mit kleinen Taschenspielertricks und überzeugte die Freundin von ihren übersinnlichen Fähigkeiten. „Ich konnte damit irgendwann nicht mehr aufhören und wollte sie auch nicht enttäuschen“, erzählt Lisa und fühlt sich noch immer schlecht dabei. Sie schaut ungläubig: „Selbst als Erwachsene konnte ich das nie ansprechen. Das ist doch wirklich sehr merkwürdig.“ Damals, mit Janina, hatte Lisa Vogel zum ersten Mal ein massiv schlechtes Gewissen. Es ging nie wieder weg. ALLE Was geschieht? Es ist furchtbar! Schon ist das heilige Feuer erloschen. Der zürnende Himmel dröhnt und verfinstert sich. Der Tempel erbebt! Unseliges Ereignis! Welches Unheil droht uns? Ich erstarre vor Angst. Wie wird es uns ergehen? 1. Akt, 3. Szene Es sind die inneren Nöte, die am stärksten drücken. Heute Morgen: dem Bettler am S-Bahnhof kein Geld gegeben. Im Büro den Werbeprospekt in den Restmüll geworfen statt ins Altpapier. Am Abend von Flüchtlingsbildern in der Tagesschau daran erinnert worden, noch immer keine ehrenamtliche Aufgabe übernommen zu haben. Im Internet nach klimaschädlichen Billigflügen Ausschau gehalten. Beim Zähneputzen übermüdet auf Zahnseide verzichtet

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… Lauter kleine Alltagsvergehen, die Sehnsucht nach Vergebung und dem kleinen Satz: Du bist nicht perfekt, aber in Ordnung, wie du bist. Dieses Bedürfnis kennt Lisa Vogel gut. Sie, die sich als mittleres von drei Kindern schon in jungen Jahren tagein, tagaus darin übte, seismografisch-einfühlsam die Stimmungslagen der anderen zu erspüren, um nur ja für Ausgleich sorgen zu können, wenn Streit in der Familie drohte. Sie, die von den anderen gern in die Rolle der Ratgeberin gedrängt wurde – „ich war ja immer die Unkomplizierte“. Noch heute versucht sie engelsgeduldig, in Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter sachlich und konstruktiv zu bleiben, Herabwürdigungen und Unverschämtheiten zu ignorieren. Doch all das Bemühen wird nicht mit dem Gefühl belohnt, ernst genommen oder auch nur gesehen zu werden. Weil dieses Bedürfnis nach Akzeptanz schon nicht in ihrer Ursprungsfamilie befriedigt wird, sorgt Lisa Vogel, die erfahrene und erfolgreiche Psychologin, wenigstens dafür, dass andere sich akzeptiert fühlen können. Ein Trost, gewissermaßen. Und, gibt sie zu, auch eine gewisse Anmaßung: sich nicht nur für das Glück aller zuständig zu fühlen, sondern obendrein zu wissen, was alle brauchen. Aber ihre Hybris hat Lisa Vogel wenigstens beruflich in menschenfreundliche Bahnen gelenkt. Überflüssig zu sagen, dass sie als Psychologin erfolgreich und meist durchaus zufrieden mit sich selbst ist. MITRANE Ich leide mit dir. Und du bist nicht die einzige Beklagenswerte dieses Tages. 2. Akt, 5. Szene „Gewissen ist die jedem Menschen von Gott eingegebene Stimme, welche ihm sagt, ob seine Handlungen gut oder böse sind“, behauptet das Brockhaus ConversationsLexikon in der Ausgabe von 1838. Die großen Denker dagegen verorten schlechtes Gewissen, das Gewissen überhaupt weder religiös noch individualpsychologisch. Immanuel Kant plädiert für „praktische Vernunft“, empfiehlt seinen kategorischen Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“) und benennt das „gute Gewissen“ als notwendige Grundlage für gutes Handeln. Das leuchtet sofort ein und genügt trotzdem nicht immer. Wie verhält es sich mit Gewissenskonflikten angesichts widerstreitender moralischer Verpflichtungen? Wenn ich die alkoholbedingten Ausfälle des ansonsten sympathischen Kollegen gegenüber dem Chef decke, aber beiden Loyalität schulde?


Für den britischen Moralphilosophen R. M. Hare dient das schlechte Gewissen eher als bequeme Hintertür. Auf eigenes moralisches Versagen mit Selbstvorwürfen zu reagieren oder gar mit einer Opfermentalität (nach dem Motto: Es ging nicht anders; oder auch: Die anderen sind schuld) heiße lediglich, die Verantwortung für das eigene Verhalten abzulehnen. Anders ausgedrückt: Jammere nicht über schlechtes Gewissen. Handle einfach anders. Rainer Erlinger schließlich, Experte in Fragen der Alltagsmoral, der als Kolumnist im SZ-Magazin wöchentlich „Gewissensfragen“ beantwortet, sieht ebenfalls jede und jeden Einzelnen in der Pflicht: „Ich wüsste“, schreibt er, „keine Ausbildung, die einen dazu berechtigt, anderen zu sagen, was sie richtig und was sie falsch machen.“ Bleibt als Orientierung somit nur die Stimme des eigenen Gewissens. Und die Angst vor der Schuld. Gibt es einen Unterschied zwischen schlechtem Gewissen und Schuld(gefühl)? Vielleicht diesen: Ein schlechtes Gewissen beinhaltet zumindest gefühlt die Option, noch richtig handeln oder wenigstens das Fehlverhalten korrigieren zu können. Das Gefühl der Schuld wird endgültiger erlebt, als etwas Abgeschlossenes, das auf ewig schwer auf unseren Schultern ruht. OROE Lies dieses, und dir wird schaudern. Du kennst jetzt die Verbrecher … und deine Pflicht. 2. Akt, 4. Szene Frankfurt am Main, am Küchentisch einer geräumigen Altbauwohnung im schönsten Haus der Straße im Stadtteil Ostend: Begegnung mit einem Schuldigen, dem nicht nur seine Schuld schwarz auf weiß bescheinigt, sondern dem die Buße gleich mitgeliefert wurde: Peter Zingler, 72 Jahre alt. Zingler sitzt lässig hinter einer Tonschale mit grünem Tee und Ingwer, „Zingler“ steht darauf, und er sagt: „Reue? Reue hab ich nie empfunden.“ 25 Jahre lang war er Berufseinbrecher, stieg nicht in Privatwohnungen ein, sondern – weil meist deutlich lukrativer – in Pelz- oder Teppichgeschäfte. Da konnten in einer Nacht locker ein paar Hunderttausend rausspringen, womit er sich das Leben leisten konnte, das ihm die Kinofilme der 50er- und 60er-Jahre so verlockend vor Augen geführt hatten: Frauen, schnelle Autos, teure Hotels. Zeitweise lief das gut, aber eben nicht immer. Unterm Strich hat er zwölf Jahre seines Lebens im Knast verbracht, angefangen hat er mit 15. Er erzählt das offen, weniger stolz als fasziniert von der eigenen Biografie. Und er muss sich und anderen dabei nichts mehr vormachen. Denn seinen Wohlstand hat Peter Zingler nicht dem früheren Ganoventum zu

Fotos Adrian Samson

verdanken, sondern dem Schreiben, mit dem er vor 30 Jahren im Gefängnis begann. Zuerst erotische Erzählungen, die er sich von Mitgefangenen bezahlen ließ, dann Storys für Zeitschriften, Kurzgeschichten und Romane, schließlich Dutzende gut bezahlter Krimidrehbücher fürs Fernsehen (Ein Fall für zwei, Tatort), die ihm nicht nur Geld, sondern auch Anerkennung einbrachten, etwa in Gestalt des renommierten Adolf-Grimme-Preises, den er für eines seiner Drehbücher erhielt. Zingler lebt gesellschaftlich anerkannt und seit drei Jahrzehnten unbescholten, darf als optimal resozialisiert gelten. Reue allerdings hat ihm der Rechtsstaat nicht beibringen können. Dafür ist seine Prägung zu stark, die er in seinem autobiografischen Roman Im Tunnel eindrücklich beschreibt: Als Kind, nach dem Krieg, klaute er auf der Straße für sich und andere das Lebensnotwendigste und wurde von der Oma dafür gelobt und angespornt. „Irgendwie ist da der Widerstand dagegen verschwunden“, vermutet er heute. „Zumal zu der Zeit jeder gehamstert, gestohlen, betrogen hat. Ich habe dadurch wirklich so ’ne Art Freibeutergesinnung entwickelt. Wenn ich was nicht kriegen konnte, musste ich einen Weg finden, mir das zu besorgen.“ Ohne schlechtes Gewissen. Schließlich sei die Grenze zur Illegalität fließend: „Viele sagen mir, sie könnten das nicht, irgendwo einbrechen. Stimmt natürlich. Aber ein Uli Hoeneß geht auch nicht einbrechen, der hat andere Wege.“ Zingler lacht. Manch ein bestohlener Pelzhändler habe auch durch Frisieren der Warenbestandsliste ein Vielfaches von dem verdient, was ihm, Zingler, der Hehler nach dem Einbruch für die Ware bezahlt habe. „Deswegen habe ich auch kein schlechtes Gewissen irgendjemandem gegenüber.“ Einmal aber, ein einziges Mal war es anders. Da beleuchtete ein neuer Erfahrungs-Scheinwerfer die Szenerie, und die Straftaten stellten sich ihm in neuem Licht dar: vor Gericht, als er einem Einbruchsopfer gegenüberstand. Weinend zeigte die Galeristin ihre Betroffenheit über den Verlust eines Bildes, das ihr persönlich viel bedeutete – eine Bühnenbild-Skizze ihres Großvaters aus den 30er-Jahren. Zingler selbst war an der Sache unschuldig, ein Kumpan hatte das Bild gestohlen, und vielleicht war genau das der Grund, wieso ihn der Schmerz der Frau so anrührte. Er verpfiff keinen, sorgte aber dafür, dass der Frau ihr Erinnerungsstück wieder zugespielt wurde. Einfühlung in das Opfer, aufflackernde Reue, es gab sie also doch. Aber dieser Moment blieb einmalig – vom gelegentlichen schlechten Gewissen abgesehen, wenn er zum Beispiel fühlt, dass er eine seiner aktuell drei

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Freundinnen mal wieder vernachlässigt. „Das kann einen auch drücken, und wie!“ Das sind dann die wenigen Situationen, in denen er sich für andere verantwortlich fühlt, für sein Tun und sein Lassen. Peter Zingler dagegen befolgte selbst als Krimineller stets seinen persönlichen Anständigkeitskodex: Er habe zum Beispiel niemals Freunde bestohlen und auch nie körperliche Gewalt ausgeübt. Das macht ihm das Gewissen leicht.

Reue, wenigstens jetzt, Jahrzehnte nach seiner Bestrafung? Oder bräche damit sein Lebenskonstrukt zusammen, das ihn leben und überleben ließ? Gibt es am Ende auf die Frage nach dem Umgang mit dem Gewissen wahrhaftig nur individuelle Antworten – so viele, wie es Menschen gibt?

ARSACE Für dich würde ich sterben. SEMIRAMIDE Nein, für mich sollst du leben. 1. Akt, 11. Szene Wie gern würde man Lisa Vogel ein wenig von der Zingler’schen Unbekümmertheit spendieren. Damit sie gemäß Sigmund Freuds Modell von der menschlichen Psyche mehr dem Ich-Kompass folgen könnte, freundlich beraten durch das unbewusst-triebhafte Es anstelle der Mahnungen des Über-Ichs, dessen Stimme bei ihr kaum je verstummt. Und würde es andererseits nicht die Erfahrungswelt des Ex-Kriminellen bereichern, spürte er

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Thomas Östreicher ist im Hauptberuf Journalist und Redenschreiber. Seine Ausbildung in Humanistischer Psychotherapie komme beidem zugute, findet der in Hamburg lebende nebenberufliche Therapeut. Östreichers Texte sind unter anderem in der Frankfurter Rundschau, in der Berliner Zeitung und im Stern erschienen. Mehr über den Bildkünstler auf S. 8


DIE KUNST IST ES, DIE DINGE AUCH MAL ANDERS ZU SEHEN

Fachübergreifendes Denken und interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Bereichen Rechtsberatung, Wirtschaftsprüfung, Steuerberatung und Family Office charakterisieren den Beratungsansatz der Münchner Kanzlei am Siegestor.

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BUMERANG

Was zurückkommt, wenn Eltern Kinder erziehen. Eine Erzählung von Jochen Schmidt.


„Nein, alleine!“ Wir sitzen am verlängerten Esstisch, mein Vater hat Geburtstag. Normalerweise reichen alle ihre Teller zum Kopfende des Tischs, wo ein Erwachsener jedem auftut, so geht es am schnellsten. Aber Fritzchen möchte sich den Kartoffelbrei selbst nehmen. Ich versuche es mit freundlichem Bitten, ich appelliere an seine Vernunft, ich tue so, als würde ich keine Widerrede dulden, aber er antwortet immer ein bisschen lauter und entschlossener. Ich wäre in diesem Moment sehr erleichtert, wenn er machen würde, was ich sage, obwohl ich mir ja wünsche, dass mein Sohn einmal ein Mensch mit eigener Meinung wird. Aber meine Freundin und ich stehen unter Beobachtung, ich habe Angst, dass alle denken, wir erziehen ihn falsch, weil wir auf Druck verzichten und davon ausgehen, dass Kinder im Prinzip kooperieren wollen und die so genannte Trotzphase in Wirklichkeit eine wichtige Zeit ist, in der das Kind lernt, sich abzugrenzen. Ich will ja auch, dass Fritzchen später Nein sagen kann und nicht dem Gruppenzwang nachgibt. Wenn man sein Kind mit Druck erzieht, wird es vielleicht kurzfristig machen, was man will, langfristig aber Strategien entwickeln, einen zu hintergehen. „Der ist ein gefallener Prinz“, sagt meine Schwester, weil Fritzchen seit Neuestem eine kleine Schwester hat und natürlich eifersüchtig ist. „Na, da ist einer müde“, sagt meine Mutter. „Wir durften uns nicht so benehmen am Tisch“, sagt mein Bruder. „Sag mal, wie alt bist du denn?“, fragt mein Onkel, um Fritzchen bei der Ehre zu packen. „Du darfst dir noch nicht alleine auftun“, stichelt die kleine Cousine, die sich freut, dass endlich jemand noch kleiner ist als sie und sie jemanden zum Erziehen hat. Fritzchen weint verzweifelt, gleich wird er seinen Teller runterwerfen, den er nicht loslassen will. Es ist besonders schmerzhaft für mich, wenn er weint, weil er mir so ähnlich sieht, und ich immer das Gefühl habe, mich selbst als Kind weinen zu sehen. Wenn ich aufstehe und um den Tisch gehe, um ihm die schwere Schüssel mit dem Kartoffelbrei zu bringen, wird es so aussehen, als wäre ich vor einem Kleinkind eingeknickt. Später wird er dann drogensüchtig und „ein Tyrann“, weil er sich in der Kindheit vergeblich nach Grenzen gesehnt hat. Angeblich wünschen sich Kinder ja Bestrafung und sind verstört, wenn sie ausbleibt. Als ich Fritzchen doch noch selbst auftun will, schiebt er verzweifelt meine Hand mit der Kelle zur Seite. („Fritzchen! Seinen Papa haut man nicht!“ „Er hat mich nicht gehauen.“ „Doch, hat er, das haben wir alle gesehen. Du verteidigst ihn immer.“ „Besser, er zeigt seine Gefühle, als wenn er sie aus Angst vor mir unterdrückt.“ „Du ziehst dir einen Tyrannen heran.“) Weil ich Angst habe, dass er die Runde jetzt auch noch mit seinem neuen Lieblingswort „Scheiße!“ schockieren könnte (er hat sofort gemerkt, dass er mit einem einzigen Wort ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, was für seine Intelligenz spricht. Und dabei – das verstehen die Erwachsenen aber nicht – weiß er gar nicht, was „Scheiße“ eigentlich ist), trage ich Fritzchen nach nebenan, wo er weint und tobt vor Ärger, was die anderen am Tisch mithören, weil, wie ich später feststelle, das Babyfon noch an war. Wenn meine Freundin mich nicht immer wieder überzeugen würde, mich weiterzubilden und Bücher von Jesper Juul (Aus Erziehung wird Beziehung) oder Alfie Kohn (Liebe und Eigenständigkeit: Die Kunst bedingungsloser Elternschaft jenseits von Belohnung und Bestrafung) zu lesen, würde ich wohl auch denken, ich müsste Fritzchen in solch einer Situation beherrschen, ich müsste es schaffen, dass er nachgibt, weil sich das sonst auswächst, er immer mehr fordern und uns auf der Nase herumtanzen wird und dabei todunglücklich ist und sich verzweifelt nach Autorität und „Grenzen“ sehnt. Als seien Kinder von Natur aus hinterlistig und warteten nur auf eine Gelegenheit, die Schwäche ihrer Eltern auszunutzen und sie zu hintergehen. Wenn ich sage, dass man durch Beziehung erzieht und nicht durch Drohungen, antworten meine Eltern, sie hätten uns erzogen, wie es die Menschheit „seit Millionen Jahren“ gemacht habe. Mein Bruder sagt, ich würde „ein Theoriegebäude“ errichten, man müsse nach seinem Instinkt gehen. Er hat als Kind sehr unter strengen Erzieherinnen im Kindergarten und unter unsensiblen Lehrern gelitten, viel mehr als ich. Und jetzt findet er, dass unsere Kinder genauso streng erzogen werden müssten, denn sonst wachse eine Generation von jungen Leuten heran, die nicht mehr machten, was man von ihnen verlange, Mitarbeiter, die immer erwarteten, dass er ihnen in der Firma alle Anweisungen erkläre (und die nicht bereit sind, sich so ausbeuten zu lassen wie er). Meine Mutter geht noch weiter, sie musste als Kind immer den Riemen

Text Jochen Schmidt

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holen, wenn ihr der Hintern versohlt wurde. „Es hat uns nicht geschadet“, sagt sie. „Wir wussten ja, dass wir was ausgefressen hatten.“ Viel schlimmer sei es gewesen, als ihre Mutter einmal geweint habe, weil ihr Bruder die Lebensmittelmarken verloren hatte. Bei meiner ersten Tochter habe ich noch keine Bücher gelesen. (Der häufigste Rat, den man von Freunden und Bekannten bekommt, ist, sämtliche Bücher über Kinder und Erziehung zu ignorieren.) Ich hörte mich damals oft Sätze sagen, wie „Das ist aber nicht zum so essen!“ (wenn wir bunte Kuchenstreusel gekauft hatten), „Ich hab nur zwei Hände!“ (wenn ich sie gleichzeitig anziehen und ihre Stulle halten sollte), „Mit Essen spielt man nicht!“, „Ich hab’s dir doch gleich gesagt, warum hörst du nicht auf mich!“ (wenn sie gerannt und gestolpert war), „Warum kannst du nicht aufpassen?“ (wenn ihr etwas runtergefallen war), „Wenn Erwachsene reden, redet man nicht dazwischen“ (wenn sie mir und meiner Freundin ständig ins Wort fiel). Ich kam mir dabei immer vor, als würde ich „Vater“ spielen, eine Rolle, die mir nicht fremder hätte sein können. Und der Text dieser Rolle sprach sich irgendwie von selbst, ich hatte diese Sätze längst vergessen gehabt, jetzt kamen sie unbewusst wieder hoch, immer, wenn ich in einer Situation hilflos war, weil ich mir über Erziehung nie Gedanken gemacht hatte und auf meinen „Instinkt“ vertraute. Damals hielt ich es noch für selbstverständlich, dass „die Großen“ Vorrechte hatten, ihr Leben war ja anstrengender als das der Kinder, sie mussten arbeiten gehen. Als sei es keine Arbeit für das Kind, sich an die ihm völlig unverständliche Welt voller Regeln und Verbote der Erwachsenen anzupassen, während es etwas essen soll, was ihm nicht schmeckt, stillsitzen muss (was seiner Natur widerspricht) und nicht einmal machen darf, was die Großen tun, zum Beispiel Kartoffelbrei aus dem Topf auf einen Teller zu schaufeln. Wenn ich Fritzchen diesen Wunsch gewähre, versündige ich mich an meinem Kind. („Wenn er jetzt nicht lernt, sich anzupassen, wird er nicht durchs Leben kommen. Später nimmt nämlich auch keiner Rücksicht auf ihn!“) Wenn meine Tochter wissen wollte, warum sie etwas tun sollte, habe ich oft genug argumentiert: „Weil ich es sage.“ Heute reflektiere ich meine Erziehung, versuche, mich zu verändern, und muss die Verunsicherung aushalten, nicht zu wissen, ob das Experiment (es nicht zu machen, wie es immer gemacht wurde), gelingen wird. Seltsamerweise wird von Außenstehenden eher moniert, dass man bei seinen Kindern zu wenig Druck und Liebesentzug anwendet – ein Euphemismus dafür heißt „Konsequenzen“ –, als dass man es an Liebe und Zuwendung fehlen lässt. Viele denken immer noch, man könnte sein Kind durch Liebe verwöhnen, dabei sind verwöhnte Kinder die, bei denen sich die Eltern durch Geld von Liebe und Aufmerksamkeit freigekauft haben. Wenn ich den Versuch unternehme, meinen Eltern meine Position zu erklären, sagt meine Mutter: „Du wirst schon sehen, wenn deine Kinder dich später auch dauernd kritisieren.“ Ich habe sie noch nie kritisiert, ich verstehe vollkommen, warum sie denken, wie sie denken, ich weiß, dass sie sich aufgeopfert und alles für uns getan haben, was sie konnten, bis zur Erschöpfung, und ich bin ihnen dankbar dafür. Sie haben als Kinder Krieg und Vertreibung erlebt. Die einzige Möglichkeit, nicht daran zu zerbrechen, war, ihr Leid für normal zu halten. („Wir hatten solches Glück, andere haben viel Schlimmeres erlebt.“) Aus Angst, sich Fehler, die jeder macht, eingestehen zu müssen, denken sie, dass sich sowieso alles immer wiederhole. Es muss aber einen Ausweg aus dieser Fatalität des Eltern-Kind-Verhältnisses geben. Die Kinder sollen die Dinge aus Freude tun, nicht, weil sie auf Lob hoffen oder Liebesentzug befürchten. Fritzchen wird seine Kinder hoffentlich nicht mit Druck erziehen, nur, um es anders zu machen als sein Vater. Als das Essen vorbei ist, setzen wir uns wieder an den Tisch und Fritzchen löffelt seinen Kartoffelbrei, den er sich selbst auftun darf. In den Augen der Erwachsenen ein Sieg für ihn und eine Niederlage für uns. Wenn er wider Erwarten eines Tages doch noch „vernünftig“ werden sollte, ein empathischer, sozial eingestellter, selbstbewusster Teenager, werden die Großeltern vielleicht sagen, dass das ihnen zu verdanken sei, weil sie bei seiner Erziehung für uns eingesprungen sind. Mehr über den Autor auf S. 8

Bilder Sami Parkkinen

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EINE KURZE FLUCHT?

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Wer zur Flucht gezwungen ist, will meist alles, was die Flucht notwendig machte, hinter sich lassen. Manchen gelingt es, anderswo neu anzufangen – um später oft von den vergangenen Geschehnissen eingeholt zu werden. Andere wollen trotz allem die Entfernung zwischen sich und dem Ort, den sie verlassen mussten, möglichst gering halten: um irgendwann zum Ausgangspunkt zurückkehren zu können. Eine Reportage aus dem Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei.


Foto AKG Images / Rainer Hackenberg

Blick von der Türkei über den Tigris nach Syrien

Text Andrea Jeska

Das Alte Testament erzählt die Geschichte von Lot und seiner Frau, die aus dem sündigen Sodom flohen, um der Vernichtung der Stadt durch Gott zu entgehen. Lots Frau schaute entgegen dem göttlichen Befehl noch einmal zurück, um einen letzten Blick auf die Heimat zu werfen, und erstarrte zur Salzsäule. Man könnte diese Geschichte auch als Gleichnis lesen: Es ist besser, klaglos aufzugeben, was unwiederbringlich verloren ist. 65 Millionen Menschen, so schätzen es mit diesem Thema befasste Organisationen, sind derzeit weltweit auf der Flucht. Lassen Land und Freunde, Familie, Kultur und Traditionen, lieb gewordene Rituale und ihren Alltag zurück. Die Menschen, von denen im Folgenden erzählt wird, versuchen, einen Mittelweg zu finden: Sie verließen die Heimat, um woanders Sicherheit zu finden, aber sie flohen in eine Fremde, die sich vertraut anfühlt. Dies ist eine Geschichte aus Südostanatolien, ein Landstrich, der an der Grenze liegt zwischen der Türkei und Syrien. Drei Millionen Menschen aus Syrien leben im Jahr fünf nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs in der Türkei, viele in den Städten Istanbul und Ankara, dort, wo es Arbeit für sie gibt, oder in Camps, wo sie versorgt werden. Jene aber, die nicht loslassen können, leben direkt an der Grenze, irgendwo entlang der Linie zwischen der Großstadt Gaziantep und den Kleinstädten Kilis und Elbeyli. Dort, wo nicht mehr Heimat, aber auch noch nicht ganz Fremde ist. So wie Heba, eine sommersprossige Frau Mitte 30, die nicht so heißt, aber in diesem Text so genannt wird, damit sie anonym bleibt. Hebas Mann war ein politisch aktiver Gegner des syrischen Staatspräsidenten Assad. Das Ehepaar floh nicht nur wegen der Bombardierungen seiner Heimatstadt Aleppo, sondern auch, weil Hebas Mann Verhaftung oder Schlimmeres fürchten musste. Sie flohen zusammen mit ihren zwei Kindern und Hebas Eltern, doch weiter als bis Gaziantep, 124 Kilometer entfernt, gut drei Stunden

Fahrtzeit, kamen sie nicht. Es war, sagt Heba heute, die weiteste Entfernung, die sie auf sich zu nehmen bereit war. Nicht nach Europa, nicht in die USA, nur dorthin, wo Syrien nahe ist, wo man auf türkischer Seite stehen und die Hügel der syrischen Grenzebene sehen kann: „Die Heimat im Blick.“ In Gaziantep angekommen, gab Heba ihrem Leben eine neue Zeitrechnung: vor dem Krieg, während des Krieges und nach dem Krieg. Vor dem Krieg arbeitete sie als Anwältin für Arbeitsrecht und Sozialrecht. Ihr Mann hatte ein Unternehmen für Import und Export. Die Kinder gingen in die Schule und in den Kindergarten. Dann begannen die Kämpfe, die Verhaftungen, bald danach fasste die im Irak entstandene Terrorgruppe „Islamischer Staat“ in Syrien Fuß, und Aleppo, dieses bis dahin ganz normale Aleppo, wurde zum Synonym für eine Stadt, in der das Leid und das Sterben kein Ende nehmen. Während des Krieges, in der Gegenwart, müssen Heba und ihre Familie sehen, wie sie überleben, Normalität schaffen. Hebas Anwaltstitel gilt in der Türkei nichts. Sie fand eine Stelle als Dolmetscherin und Koordinatorin in einem Hilfsprojekt für Flüchtlinge, und auch ihr Mann kann von seinen vorherigen Geschäftskontakten profitieren. Unter den über die Welt verstreuten Jüdinnen und Juden gibt es seit Jahrhunderten, bis heute, die Idee einer Schicksalsgemeinschaft, die alle Angehörigen des jüdischen Volkes einschließt. Ihren Ausdruck hat diese Idee auch in der hoffnungsvollen Formel „Nächstes Jahr in Jerusalem“, mit der der Sederabend des Pessachfestes endet. Sie bringt die Sehnsucht zum Ausdruck, dass sich die Gemeinschaft im Gelobten Land Eretz Israel wiedervereinen möge. Doch wie steht es um die Gemeinschaft der syrischen Flüchtlinge, und welche Sehnsuchtsorte teilen sie? Man muss die Tragweite des Verlusts verkennen, den sie erleiden, um glauben zu können, das westliche Europa als Ziel einer Flucht sei allen gemeinsam, sei Grund genug, sich auf eine

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Flucht zu begeben, die durch mehrere Länder, über Gebirge und ein Meer führt. Man muss unwissend gegenüber den damit verbundenen Gefahren und Entbehrungen sein, um zu meinen, einen solchen Weg ginge jemand für ein paar vage Versprechen von Komfort und Sozialhilfe. Die meisten würden wie Heba lieber in der Nähe ihrer Heimat bleiben. Warum tun es dann nicht alle? Weil nicht alle es können. Gaziantep ist eine schnell wachsende Industriestadt. Inzwischen leben dort schätzungsweise 200.000 Syrer, viele haben Arbeit gefunden, Unternehmen gegründet, Restaurants eröffnet. Andere arbeiten als schlecht bezahlte Tagelöhner, selbst Kinder schuften in türkischen Fabriken. Auch die Freie Syrische Armee (FSA), die gegen den syrischen Präsidenten Assad kämpft, hat dort ihr Hauptquartier. Gaziantep und dieser Streifen Südostanatoliens sind den Syrern nie fremd gewesen, viele haben dort Verwandte durch Heirat, betrieben Handel und andere Geschäfte, fuhren von Aleppo dorthin, um einzukaufen oder als Touristen. Von manchen Orten dort ist Syrien nur einen Steinwurf entfernt. So bleibt ständig präsent, wie nah die Heimat doch eigentlich ist. „In den ersten Wochen hier in Gaziantep habe ich mich jeden Tag nach Hause geträumt. Habe gedacht, wenn ich das Heimweh nicht aushalte, dann bin ich ja nicht weit weg.“ Das Haus in Aleppo hat die Familie einfach abgeschlossen, hat alles darin gelassen: die Möbel und die Erinnerungen. In Hebas Gedanken ist alles noch so, wie sie es verließ. Heil und vertraut. An diesen Bildern hält sie fest, nicht nur für sich, sondern auch für die Kinder. „Wenn wir in einer ganz anderen Kultur leben, werden die Kinder sich eines Tages nicht mehr an Syrien erinnern. Sie werden vergessen, wie es dort aussieht, riecht, wie das Essen schmeckt, die Musik sich anhört, wie die Menschen sind.“ Doch inzwischen braucht es Mut und eine Portion Naivität, daran festzuhalten, Syrien könne bald wieder be-

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friedet, die Situation für eine Rückkehr stabil genug sein. Auch wenn sich in Gaziantep neue Unternehmen ansiedeln, die nur auf eines warten: auf die Gelegenheit, in Syrien wieder etwas aufzubauen und damit viel Geld zu verdienen. „Die Kriegsgewinnler“, sagt Heba, „die sitzen schon in den Startlöchern. Aber den anderen fällt es immer schwerer, an eine Zukunft zu glauben.“ Zumindest an eine Zukunft, die mehr ist als Warten, Ausharren und das Bewahren von Erinnerung. Hebas Bruder ist schon lange in Kanada, vor einigen Wochen flogen auch die Eltern dorthin, leben nun irgendwo nördlich von Ontario im kalten kanadischen Winter. Von dort schicken sie täglich Nachrichten, Heba solle ihnen folgen, loslassen, ein neues Leben beginnen. Heba weiß, sie wird nicht mehr lange gute Gründe dafür finden können, an ihrem Grenzleben festzuhalten. Doch Kanada, sagt sie, darunter könnten sie sich nichts vorstellen. Alles, was sie im Fernsehen über das Land gesehen hat, die endlosen Wälder, die gigantischen Berge und die schneebedeckte Landschaft, fügt sich für sie nicht zu einem Bild, in dem sie sich selbst verorten kann. Ihr Bruder rede stets gut von den Kanadiern, er sage, sie seien freundlich und hilfsbereit und für Heba und ihren Mann gebe es Arbeit, für die Kinder gute Schulbildung. „Ich weiß, er hat recht, wir sollten hier fortgehen. Aber noch fürchte ich diesen Schritt.“ Dreißig Kilometer von Gaziantep entfernt, fast direkt an der syrischen Grenze, liegt die Kleinstadt Elbeyli und drum herum winzige Dörfer, Felder, Olivenhaine und Plantagen mit Pistazienbäumen. Auch in diesen kleinen Dörfern leben Flüchtlinge aus Syrien. Die meisten von ihnen sind Kleinbauern, die Hals über Kopf flohen und Hof, Äcker und Tiere zurückließen. Sicher ist das Leben auch in diesen Grenzdörfern nicht. Immer wieder attackiert das türkische Militär die Stellungen des „IS“ gleich hinter der Grenze zu Syrien, und manchmal schießt der „IS“ zurück, wie im Mai 2015, als Raketen auf die Kleinstadt Kilis fielen. Für

„Wenn wir in einer ganz anderen Kultur leben, werden die Kinder sich eines Tages nicht mehr an Syrien erinnern. Sie werden vergessen, wie es dort aussieht, riecht, wie das Essen schmeckt, die Musik sich anhört, wie die Menschen sind.“


die Flüchtlinge aber ist auch die ökonomische Not ein großes Problem. Es gibt keine Arbeit. Die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, ist, als Tagelöhner für die türkischen Bauern auf den Paprikafeldern tätig zu sein. Um wenigstens einigen zu mehr Einkommen zu verhelfen, hat die deutsche Welthungerhilfe hier Land von türkischen Großbauern gepachtet und es an 21 Flüchtlingsfamilien übergeben, die dort im vergangenen Sommer Paprika anbauten und die Einnahmen der Ernte im Herbst behalten konnten. Einer, dem dieses Programm zugutekommt, ist Dawoud Ahmed, Kleinbauer aus einem Dorf in der Nähe von Aleppo, 45 Jahre alt, Vater von sieben Kindern. Ein hagerer Mann mit verarbeiteten Händen und einem gegerbten Gesicht. Gemeinsam mit seinen ältesten Kindern, seiner Frau und einigen anderen syrischen Flüchtlingen, denen er Tagelohn zahlte, hat er eine Ernte eingefahren, die ihm 748 Euro einbrachte, das ist sieben Mal so viel, wie er in derselben Zeit als Lohnarbeiter verdient hätte. Und doch am Ende nicht genug, um den nun kommenden Winter zu überstehen, in dem es in Elbeyli und Umgebung keine Arbeit geben wird. Viele der Menschen, die die türkisch-syrische Grenze überschritten haben, sind – um des wirtschaftlichen Überlebens willen – weitergezogen nach Ankara, Istanbul oder Antalya. Ahmed blieb, weil er gleich hinter der Grenze etwas fand, was ihm zutiefst vertraut ist. Die Paprikafelder, die Beschaffenheit des Bodens, das Klima, die Arbeit eines Bauern und die Landschaft. „Es ist eine Täuschung und fühlt sich an wie Heimat“, schrieb der Schriftsteller Uwe Johnson, ein Heimatflüchtiger aus politischen Gründen, der bis an sein Lebensende

an einer verzweifelten Sehnsucht nach den Seen und dem weiten Himmel seiner Heimat Mecklenburg litt und der meinte, sie in der Themsemündung, an seinem letzten Wohnort Sheernesson-Sea, gespiegelt zu sehen. Auch Ahmed gibt sich solchen Täuschungen hin, sieht in den türkischen Dörfern sein syrisches Dorf. „Wenn ich mich ein bisschen selbst belüge, dann denke ich, ich bin zu Hause.“ Gleich hinter dem Feld, das Ahmed den Sommer über beackerte, liegt eines der größten Flüchtlingslager in der Türkei: 23.000 syrische Flüchtlinge leben dort hinter Mauern und Stacheldraht, an jeder Seite steht ein Wachturm. In diesem Lager haben die Flüchtlinge Container zum Wohnen und täglich Essen, es gibt Ärzte und eine Schule, im Winter sogar eine Heizung. Doch das Lager ist überfüllt, und selbst wenn er einen Container für seine Familie zugewiesen bekäme, kann sich Ahmed nicht vorstellen, dort einzuziehen. „Ich bin in Syrien ein freier Mann gewesen. Ich bin nicht geflohen, um nun wie ein Gefangener zu leben.“ Dennoch ahnt auch Dawoud Ahmed, dass er loslassen muss. In dem Dorf gibt es keine Schule, die Kinder müssen den Bus nach Elbeyli nehmen und das kostet Geld, die Ersparnisse der Familie sind schon im vergangenen Winter aufgebraucht worden. Doch Ahmed fürchtet sich vor der Entfernung zu seiner Heimat aus einem sehr praktischen Grund. „Wenn es sicher ist, zurückzugehen, werden andere meinen Hof plündern und vielleicht besetzen. Von hier kann ich schnell zurückfahren und das vielleicht verhindern. Ziehe ich an einen anderen Ort, muss ich den Gedanken an eine Rückkehr in mein altes Leben wohl aufgeben. Dann werde ich vielleicht eines Tages in mein Land als ein Mann zurückkehren, der nichts mehr hat.“

Flucht und Migration sind Themen, die die Journalistin und Buchautorin Andrea Jeska besonders beschäftigen. Für ihre Reportagen, die u.a. in GEO, Nido und DIE ZEIT erschienen sind, ist sie in der ganzen Welt unterwegs. Sie erhielt für ihre Arbeit zahlreiche Preise, darunter den Medienethik-Award META (2011), den Theodor-WolffPreis (2013) und den Zürcher Journalistenpreis (2015).

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OPER a u f B R-KL ASSI K

Oper

Con passione

Samstags, 19.05 Uhr

Montags, 19.05 – 20.00 Uhr

Gesamtaufnahmen

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Highlights weltweit


Ein virtuoses Geheimnis Marc-André Hamelin spielt beim 4. Akademiekonzert des Bayerischen Staatsorchesters unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko das zweite Klavierkonzert von Nikolai Medtner. Ein kaum bekannter Komponist, interpretiert von einem Pianisten, der seit Jahrzehnten als Geheimtipp, aber nie als „Star“ gehandelt wird. Zwei große Unbekannte? Eher zwei Große, die es verdienen, endlich als solche gewürdigt zu werden.

„Sie sind meines Erachtens der größte Komponist unserer Zeit.“ Das Urteil, das Sergej Rachmaninoff am 29. Oktober 1921 über Nikolai Medtner fällte, überrascht. Denn obwohl Medtners Musik vor allem in den Schallplattenstudios seit einigen Jahren eine kleine Renaissance erlebt, dürfte sein Name dem großen Publikum kaum geläufig sein. Ein wesentlicher Fürsprecher der Musik Medtners ist Marc-André Hamelin. Doch obwohl Hamelin von Kritikern seit zwei Jahrzehnten als „Supervirtuose“ gefeiert wird, serienweise den Preis der Deutschen Schallplattenkritik gewinnt und gerade in München regelmäßig Recitals gibt, besitzt auch der 1961 in Montréal geborene Pianist längst nicht jenen Bekanntheitsgrad, der ihm zusteht. Vereinigt er doch in seinem Spiel die Virtuosität eines Vladimir Horowitz, den goldenen Ton eines Arthur Rubinstein und die musikalische Intelligenz eines Alfred Brendel. Und warum taugt Marc-André Hamelin trotzdem nicht zum Star? Ein Grund ist sicherlich, dass Hamelin sich jeder

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Show verweigert und am Klavier die schwierigsten Werke des Repertoires mit einer körperlichen Gelassenheit, einer manuellen Überlegenheit und strukturierenden Übersicht interpretiert, als seien es einfache Kinderstücke. Er spielt atemberaubend, aber er bietet dem Publikum kein Schauspiel. Der zweite Grund dürfte sein, dass er sich der gängigen Vermarktung durch große Plattenfirmen entzieht und stattdessen seit mehr als zwei Jahrzehnten im Durchschnitt drei neue CDs pro Jahr beim kleinen, feinen britischen Label Hyperion veröffentlicht. Und drittens setzt sich Hamelin für Komponisten wie Nikolai Medtner, Charles-Valentin Alkan, Leopold Godowsky, Xaver Scharwenka, Adolf Henselt, Georgi Catoire, Percy Grainger und andere ein, die in den großen Konzertsälen nur selten zu hören sind. „Die Leute sollen verstehen, dass die Klavierliteratur hundertmal größer ist, als sie denken.“ So hat Marc-André Hamelin einmal den Antrieb für seine Beharrlichkeit beschrieben. Im Konzertsaal seien fast immer dieselben Werke zu hören. „Aber es kann verschiedene Gründe geben, warum ein Stück nicht gespielt wird“, sagt Hamelin, „die technischen Schwierigkeiten des Werkes können eine Ursache sein. Oder es gibt beispielsweise nur eine einzige Aufnahme von dem Stück. Und wenn diese nicht besonders gut ist, denken die Leute, dass das Werk nichts tauge.“ Hamelin bekräftigt: „Es ist mein Auftrag, dem Publikum zu zeigen, dass es auch ein Werk genießen kann, das es noch nie zuvor gehört hat.“ Nikolai Medtners zweites Klavierkonzert ist solch ein Werk. 1927 vollendet und vom Komponisten unter der Leitung seines Bruders Alexander in Moskau zur Uraufführung gebracht, hielt das Werk nie Einzug ins Standardrepertoire. Immerhin hat Medtner sein Opus 50 im Jahr 1940 noch für die Schallplattenfirma His Master’s Voice aufzeichnen können. Jedoch erschien die Aufnahme in den letzten Jahren der Schellackplatten mit 78 Umdrehungen pro Minute, und mit dem Aufkommen der Langspielplatte aus Vinyl verschwanden die Schellacks bald vom Markt. Nikolai Medtner (1880–1951) ist eine tragische Gestalt der russischen Musikgeschichte. Er selbst sah das auch so: „Ich wurde 1879 (nach dem julianischen Kalender, d. Red.) mit einem Jahrhundert Verspätung geboren, was ich daraus schließe, dass mich keine Umstände dazu bringen können, mit den gegenwärtigen Strömungen der Musik zu schwimmen, sondern ich immer gegen den Strom schwimmen muss“, bemerkte er in einem Brief. Dabei begann sein Weg sehr vielversprechend: Am Moskauer Konservatorium wurde er von

4. Akademiekonzert Vorstellungsankündigung


Text Gregor Willmes

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dem legendären Klavierprofessor Wassilij Safonow, zu dessen Schülern auch Alexander Skrjabin und Josef Lhévinne zählten, bestens ausgebildet. Er graduierte 1900 mit der Goldmedaille des Instituts und wurde im selben Jahr beim Anton-Rubinstein-Wettbewerb in Wien lobend erwähnt. Doch anstatt eine glänzende Karriere als Pianist zu starten, widmete sich Medtner lieber dem Komponieren und interpretierte – wenn er denn einmal auftrat – bevorzugt seine eigenen Werke, zumal er wie Chopin ausschließlich Werke schuf, in denen das Klavier eine Hauptrolle spielt. Als Komponist wurde Medtner unter anderem von Anton Arensky und Sergei Tanejew unterrichtet, fand schnell einen Verleger für seine ersten Kompositionen und erlangte durch den angesehenen Glinka-Preis 1909 für drei Gruppen von Goethe-Liedern und 1916 für zwei seiner Klaviersonaten (op. 25 Nr. 2 und op. 27) auch einige Reputation. Allerdings erreichte er nie die Popularität seiner älteren Kollegen Alexander Skrjabin und Sergei Rachmaninoff. Und nachdem er 1921 das bolschewistische Russland verlassen hatte, zuerst in Berlin, dann in Paris und schließlich in Großbritannien lebte, konnte er sich trotz einzelner Erfolge nicht international als Pianist und Komponist durchsetzen. Das lag sicherlich nicht nur an äußeren Einflüssen wie der Russischen Revolution und den beiden Weltkriegen. Denn Medtner war schon zu Lebzeiten ein Unzeitgemäßer. Zu einer Zeit, als die Komponisten der Zweiten Wiener Schule längst die Grenzen der Tonalität durchbrochen und Igor Strawinsky und Béla Bartók die Kraft des Rhythmus emanzipiert hatten, hielt Nikolai Medtner eisern an den Werten der Klassik und Romantik fest. Sein zweites Klavierkonzert in c-Moll beispielsweise ist ein dreisätziges, fast 40-minütiges spätromantisches Mammutwerk. Es entstand gleichzeitig mit Rachmaninoffs viertem Konzert, und die befreundeten Komponisten widmeten einander gegenseitig ihre Werke. Medtners Konzert weist durchaus eine Nähe zu Rachmaninoffs Musik auf, sodass man die gegenseitige Bewunderung der beiden Komponisten verstehen kann; dennoch ist es Medtner in Reinform. Die eigene Handschrift lässt sich gleich am für Medtner typischen Rhythmus des ersten Themas ablesen: Die umfangreiche Toccata beginnt „Allegro risoluto“ mit einem pulsierend-virtuosen Klavierthema. Auch das lyrische Seitenthema wird vom Pianisten vorgestellt. Eine von Medtners großen Stärken, das Schreiben von Melodien, die sich sofort ins Gedächtnis des Hörers einbrennen (eine deutliche Parallele zu Rachmaninoff), kommt wunderschön zum Tragen. Das dritte Thema ist schnell und heiter. Und wie Medtner diese drei Themen sonatenartig verwebt, das zeigt den Beethoven-Verehrer im Zenit seiner Kunst. Die anschließende dreiteilige Romanze beginnt „dolce cantabile legatissimo“ und wird im zweiten Teil kontrastiert von einem rhapsodischen Agitato. Das Finale ist ein unterhaltsames und wiederum hochvirtuoses „Divertissement“, das nicht nur auf die vorherigen Sätze, sondern auch auf Werke Rachmaninoffs, vor

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allem auf dessen Konzerte, verweist. Das Werk besitzt eigentlich alles, was ein romantisches Klavierkonzert braucht, um beim Publikum Erfolg zu haben. Marc-André Hamelin hat Medtners zweites Klavierkonzert bisher nicht eingespielt. Aber er hat mit seiner Gesamtaufnahme der Sonaten Medtners und der ersten beiden Zyklen der Vergessenen Weisen (insgesamt sind das drei Klavierzyklen mit Sonaten, Tänzen und romantischen Charakterstücken, die auf Ideen aus Medtners Skizzenbüchern basieren) sehr viel für die (Wieder-)Entdeckung von dessen Musik getan. Hamelin findet Medtners Werke „faszinierend, weil sie nicht alles beim ersten Hören preisgeben. Aber je öfter man diese Musik hört, desto reicher erscheint sie.“ Das zweite Klavierkonzert wird Marc-André Hamelin mit dem Bayerischen Staatsorchester nun an zwei aufeinanderfolgenden Konzerttagen spielen – die Möglichkeit, es öfter zu hören, ist also gegeben. Die Gelegenheit zur Begegnung mit dem großen Unbekannten sollte man sich jedenfalls nicht entgehen lassen.

Der kanadische Pianist Marc-André Hamelin ist auch als Komponist und Bearbeiter erfolgreich. Zuletzt war er zum Beispiel mit der Weltpremiere seines eigenen Streichquintetts auf Tournee. Als Konzertsolist arbeitet er u.a. mit dem New York Philharmonic, dem Chicago Symphony Orchestra, dem London Philharmonic Orchestra und dem Bayerischen Staatsorchester zuammen. Mit den Werken Nikolai Medtners machte ihn schon als junger Mann sein Vater, ein begabter Amateurpianist, bekannt.

Gregor Willmes studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Bochum und war neben dem Studium als Organist tätig. Seit 1989 schreibt er für Tageszeitungen und Fachmagazine über Musik. Er arbeitete ab 1997 als Redakteur für die Musikzeitschrift Fono Forum, deren Chefredakteur er von November 2003 bis März 2008 war. Seit 2000 gehört er außerdem der Klavierjury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik an.

4. Akademiekonzert 2016/17 Nikolai Medtner Klavierkonzert Nr. 2 c-Moll op. 50 Sergej Rachmaninoff Symphonische Tänze op. 45 Musikalische Leitung Kirill Petrenko Solist Marc-André Hamelin Montag, 20. und Dienstag, 21. Februar 2017, Nationaltheater

Vorstellungsankündigung


WERTHER

Musikalische Leitung: Cornelius Meister Inszenierung: Tatjana Gürbaca mit Juan Diego Flórez, Anna Stéphany, Mélissa Petit u.a.

PR EMIER E 2 APR IL 2O17


SPIELPLAN

26.01.2017 23.03.2017

KARTEN Tageskasse der Bayerischen Staatsoper Marstallplatz 5 80539 München T 089 – 21 85 19 20 tickets@staatsoper.de www.staatsoper.de Sofern nicht anders angegeben, finden alle Veranstaltungen auf der Großen Bühne im Nationaltheater statt.

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OPER

Sergej Prokofjew

Der feurige Engel Musikalische Leitung Michail Jurowski Inszenierung Barrie Kosky

Modest Mussorgsky

Boris Godunow Musikalische Leitung Marko Letonja Inszenierung Calixto Bieito Dmitry Belosselskiy, Rachael Wilson, Anna El-Khashem, Heike Grötzinger, Maxim Paster, Markus Eiche, Maxim Kuzmin-Karavaev, Dmytro Popov, Vladimir Matorin, Ulrich Reß, Helena Zubanovich, Kevin Conners, Igor Tsarkov, Galeano Salas, Andreas Wolf, Christian Rieger Do So Mi

26.01.17 29.01.17 01.02.17

Evgeny Nikitin, Ausrine Stundyte, Heike Grötzinger, Helena Zubanovich, Vladimir Galouzine, Kevin Conners, Okka von der Damerau, Igor Tsarkov, Peter Lobert, Ulrich Reß, Sean Michael Plumb, Matthew Grills, Christian Rieger, Andrea Borghini, Alyona Abramowa, Selene Zanetti So Mi Sa

19.02.17 22.02.17 25.02.17

19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr

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20.00 Uhr 18.00 Uhr 20.00 Uhr Leoš Janáček

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Jenůfa Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Barbara Frey

Richard Strauss

Der Rosenkavalier Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Otto Schenk Anne Schwanewilms, Günther Groissböck, Angela Brower, Markus Eiche, Hanna-Elisabeth Müller, Christiane Kohl, Ulrich Reß, Heike Grötzinger, Peter Lobert, Matthew Grills, Kevin Conners, Christian Rieger, Dean Power, Andrej Dunaev, Anna El-Khashem, Niamh O’Sullivan, Alyona Abramowa, Selene Zanetti, Joshua Owen Mills So Mi Sa

05.02.17 08.02.17 11.02.17

05.03.17 08.03.17 11.03.17

18.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Umberto Giordano

Andrea Chénier Jonas Kaufmann, Luca Salsi, Anja Harteros, J‘Nai Bridges, Doris Soffel, Elena Zilio, Andrea Borghini, Nathaniel Webster, Christian Rieger, Tim Kuypers, Kevin Conners, Ulrich Reß, Anatoli Sivko, Kristof Klorek

Elektra Musikalische Leitung Simone Young Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht Herbert Wernicke Doris Soffel, Nina Stemme, Ricarda Merbeth, Ulrich Reß, Johan Reuter, Kristof Klorek, Alyona Abramowa, Paula Iancic, Matthew Grills, Peter Lobert, Helena Zubanovich, Okka von der Damerau, Rachael Wilson, Heike Grötzinger, Daniela Köhler, Golda Schultz 10.02.17 13.02.17 17.02.17

So Mi Sa

Musikalische Leitung Omer Meir Wellber Inszenierung Philipp Stölzl

17.00 Uhr 18.00 Uhr 16.00 Uhr

Richard Strauss

Fr Mo Fr

Hanna Schwarz, Stuart Skelton, Pavol Breslik, Karita Mattila, Sally Matthews, Christian Rieger, Kristof Klorek, Heike Grötzinger, Laura Tatulescu, Alyona Abramowa, Niamh O’Sullivan, Elsa Benoit, Anna El-Khashem, Milan Siljanov

So Mi Sa Mi Do So

12.03.17 15.03.17 18.03.17 22.03.17 30.03.17 02.04.17

19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 18:00 Uhr

Premiere

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19.30 Uhr 19.30 Uhr 20.00 Uhr Giuseppe Verdi

Gioachino Rossini

Falstaff

Semiramide

Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Eike Gramss

Musikalische Leitung Michele Mariotti Inszenierung David Alden Joyce DiDonato, Alex Esposito, Daniela Barcellona, Lawrence Brownlee, Elsa Benoit, Christophoros Stamboglis, Galeano Salas, Igor Tsarkov So Mi Sa Do So Fr

12.02.17 15.02.17 18.02.17 23.02.17 26.02.17 03.03.17

18.00 Uhr 18.00 Uhr 18.00 Uhr 18.00 Uhr 17.00 Uhr 18.30 Uhr

Premiere

auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv

Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London

Ambrogio Maestri, Franco Vassallo, Pavol Breslik, Riccardo Botta, Kevin Conners, Véronique Gens, Ekaterina Siurina, Daniela Barcellona, Daniela Pini, Alin Anca Mo Fr So

13.03.17 17.03.17 19.03.17

19.00 Uhr 19.30 Uhr 17.00 Uhr


BALLETT Partner des Bayerischen Staatsballetts

Yuri Grigorovich

Spartacus Musik Aram Chatschaturjan Musikalische Leitung Karen Durgaryan Sa Mo Fr

04.03.17 06.03.17 10.03.17

19.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Ballett extra: Proben zur Premiere „Alice im Wunderland“ Do

23.03.17

20.00 Uhr

Ballett-Probenhaus Platzl 7

Frederick Ashton

La Fille mal gardée Musik Ferdinand Hérold, arrangiert von John Lanchbery Musikalische Leitung Myron Romanul Fr Sa Fr Sa Di

27.01.17 28.01.17 03.02.17 04.02.17 07.02.17

19.30 Uhr 18.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Von 16. bis 22.02. befindet sich das Bayerische Staatsballett auf Gastspiel beim Hong Kong Arts Festival und tanzt La Bayadère und Das Triadische Ballett.

Ludwig Minkus

La Bayadère Musikalische Leitung N.N. Choreographie Marius Petipa und Patrice Bart Do

16.02.17

Hong Kong Arts Festival

Das Triadische Ballett Choreographie Oskar Schlemmer Rekonstruktion, Neufassung und Choreographie Gerhard Bohner Musik Hans-Joachim Hespos Di Mi Mi

21.02.17 22.02.17 22.02.17

Hong Kong Arts Festival Hong Kong Arts Festival Hong Kong Arts Festival

www.hk.artsfestival.org

LIED Porträtkonzert des Opernstudios Anna El-Khashem / Joshua Owen Mills Klavier Olga Fedorova Fr

10.02.17

19.30 Uhr

Millerzimmer im Künstlerhaus

John Cranko

Romeo und Julia Musik Sergej Prokofjew Musikalische Leitung Robertas Šervenikas Mo Di

94

27.02.17 28.02.17

19.30 Uhr 19.30 Uhr

Ensemble-Liederabend Tara Erraught Klavier Henning Ruhe Di

14.02.17

20.00 Uhr

Wernicke-Saal


OPER

Sergej Prokofjew

Der feurige Engel Musikalische Leitung Michail Jurowski Inszenierung Barrie Kosky

Modest Mussorgsky

Boris Godunow Musikalische Leitung Marko Letonja Inszenierung Calixto Bieito Dmitry Belosselskiy, Rachael Wilson, Anna El-Khashem, Heike Grötzinger, Maxim Paster, Markus Eiche, Maxim Kuzmin-Karavaev, Dmytro Popov, Vladimir Matorin, Ulrich Reß, Helena Zubanovich, Kevin Conners, Igor Tsarkov, Galeano Salas, Andreas Wolf, Christian Rieger Do So Mi

26.01.17 29.01.17 01.02.17

Evgeny Nikitin, Ausrine Stundyte, Heike Grötzinger, Helena Zubanovich, Vladimir Galouzine, Kevin Conners, Okka von der Damerau, Igor Tsarkov, Peter Lobert, Ulrich Reß, Sean Michael Plumb, Matthew Grills, Christian Rieger, Andrea Borghini, Alyona Abramowa, Selene Zanetti So Mi Sa

19.02.17 22.02.17 25.02.17

19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr

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20.00 Uhr 18.00 Uhr 20.00 Uhr Leoš Janáček

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Jenůfa Musikalische Leitung Tomáš Hanus Inszenierung Barbara Frey

Richard Strauss

Der Rosenkavalier Musikalische Leitung Kirill Petrenko Inszenierung Otto Schenk Anne Schwanewilms, Günther Groissböck, Angela Brower, Markus Eiche, Hanna-Elisabeth Müller, Christiane Kohl, Ulrich Reß, Heike Grötzinger, Peter Lobert, Matthew Grills, Kevin Conners, Christian Rieger, Dean Power, Andrej Dunaev, Anna El-Khashem, Niamh O’Sullivan, Alyona Abramowa, Selene Zanetti, Joshua Owen Mills So Mi Sa

05.02.17 08.02.17 11.02.17

05.03.17 08.03.17 11.03.17

18.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Umberto Giordano

Andrea Chénier Jonas Kaufmann, Luca Salsi, Anja Harteros, J‘Nai Bridges, Doris Soffel, Elena Zilio, Andrea Borghini, Nathaniel Webster, Christian Rieger, Tim Kuypers, Kevin Conners, Ulrich Reß, Anatoli Sivko, Kristof Klorek

Elektra Musikalische Leitung Simone Young Inszenierung, Bühne, Kostüme und Licht Herbert Wernicke Doris Soffel, Nina Stemme, Ricarda Merbeth, Ulrich Reß, Johan Reuter, Kristof Klorek, Alyona Abramowa, Paula Iancic, Matthew Grills, Peter Lobert, Helena Zubanovich, Okka von der Damerau, Rachael Wilson, Heike Grötzinger, Daniela Köhler, Golda Schultz 10.02.17 13.02.17 17.02.17

So Mi Sa

Musikalische Leitung Omer Meir Wellber Inszenierung Philipp Stölzl

17.00 Uhr 18.00 Uhr 16.00 Uhr

Richard Strauss

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So Mi Sa Mi Do So

12.03.17 15.03.17 18.03.17 22.03.17 30.03.17 02.04.17

19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 19.00 Uhr 18:00 Uhr

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Gioachino Rossini

Falstaff

Semiramide

Musikalische Leitung Asher Fisch Inszenierung Eike Gramss

Musikalische Leitung Michele Mariotti Inszenierung David Alden Joyce DiDonato, Alex Esposito, Daniela Barcellona, Lawrence Brownlee, Elsa Benoit, Christophoros Stamboglis, Galeano Salas, Igor Tsarkov So Mi Sa Do So Fr

12.02.17 15.02.17 18.02.17 23.02.17 26.02.17 03.03.17

18.00 Uhr 18.00 Uhr 18.00 Uhr 18.00 Uhr 17.00 Uhr 18.30 Uhr

Premiere

auch im Live-Stream auf www.staatsoper.de/tv

Koproduktion mit dem Royal Opera House Covent Garden, London

Ambrogio Maestri, Franco Vassallo, Pavol Breslik, Riccardo Botta, Kevin Conners, Véronique Gens, Ekaterina Siurina, Daniela Barcellona, Daniela Pini, Alin Anca Mo Fr So

13.03.17 17.03.17 19.03.17

19.00 Uhr 19.30 Uhr 17.00 Uhr


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BALLETT Partner des Bayerischen Staatsballetts

Yuri Grigorovich

Spartacus Musik Aram Chatschaturjan Musikalische Leitung Karen Durgaryan Sa Mo Fr

04.03.17 06.03.17 10.03.17

19.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Ballett extra: Proben zur Premiere „Alice im Wunderland“ Do

23.03.17

20.00 Uhr

Ballett-Probenhaus Platzl 7

Frederick Ashton

La Fille mal gardée Musik Ferdinand Hérold, arrangiert von John Lanchbery Musikalische Leitung Myron Romanul Fr Sa Fr Sa Di

27.01.17 28.01.17 03.02.17 04.02.17 07.02.17

19.30 Uhr 18.00 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr 19.30 Uhr

Von 16. bis 22.02. befindet sich das Bayerische Staatsballett auf Gastspiel beim Hong Kong Arts Festival und tanzt La Bayadère und Das Triadische Ballett.

Ludwig Minkus

La Bayadère Musikalische Leitung N.N. Choreographie Marius Petipa und Patrice Bart Do

16.02.17

Hong Kong Arts Festival

Das Triadische Ballett Choreographie Oskar Schlemmer Rekonstruktion, Neufassung und Choreographie Gerhard Bohner Musik Hans-Joachim Hespos Di Mi Mi

21.02.17 22.02.17 22.02.17

Hong Kong Arts Festival Hong Kong Arts Festival Hong Kong Arts Festival

www.hk.artsfestival.org

LIED Porträtkonzert des Opernstudios Anna El-Khashem / Joshua Owen Mills Klavier Olga Fedorova Fr

10.02.17

19.30 Uhr

Millerzimmer im Künstlerhaus

John Cranko

Romeo und Julia Musik Sergej Prokofjew Musikalische Leitung Robertas Šervenikas Mo Di

94

27.02.17 28.02.17

19.30 Uhr 19.30 Uhr

Ensemble-Liederabend Tara Erraught Klavier Henning Ruhe Di

14.02.17

20.00 Uhr

Wernicke-Saal


ORCHESTER

4. Akademiekonzert Nikolai Medtner / Sergej Rachmaninow Musikalische Leitung Kirill Petrenko Klavier Marc-André Hamelin

Themenkonzerte 2017 Konzerte und Vorträge in Kooperation mit der Max-Planck-Gesellschaft

Mo Di

20.02.17 21.02.17

20.00 Uhr 20.00 Uhr

4. Kammerkonzert Ludwig van Beethoven / Béla Bartók / Johannes Brahms So

12.03.17

11.00 Uhr

Allerheiligen Hofkirche

5. Akademiekonzert 1. Themenkonzert Vortrag Hans-Jörg Albrecht: Verbrechen, Strafe und ihre Folgen

David Philip Hefti / Ludwig van Beethoven / Richard Strauss Musikalische Leitung Cornelius Meister Violine David Schultheiß Violoncello Yves Savary Klavier Maria Mazo

Musik für Saxophon und Laute von Bellerofonte Castaldi bis Charlie Parker Fr

27.01.17

19.00 Uhr

Max-Planck-Haus am Hofgarten

Mo Di

20.03.17 21.03.17

20.00 Uhr 20.00 Uhr

2. Themenkonzert Vortrag Gerd Gigerenzer: Risikokompetenz: Informiert und entspannt mit Risiken umgehen Musik von Igor Markevitch Sa

28.01.17

19.00 Uhr

Allerheiligen Hofkirche

3. Themenkonzert Vortrag Svitlana Zhukovska: Die Astronomie der kommenden Jahre Musik für Blechbläserquintett von Johann Sebastian Bach bis Samuel Barber Di

31.01.17

19.00 Uhr

Hörsaal des Max-Planck-Instituts für extraterrestrische Physik

4. Themenkonzert Vortrag Ralph Bock: Wie Gene auf die Reise gehen und Mutter Natur Gentechnik betreibt Musik von Krzysztof Penderecki Fr

03.02.17

19.00 Uhr

Deutsches Jagd- und Fischereimuseum München

5. Themenkonzert Vortrag Wolf Singer: Ethische Konflikte in der Grundlagenforschung – Beispiele aus der Hirnforschung Musik von Arnold Schönberg Sa

04.02.17

19.00 Uhr

Großer Anatomie-Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität

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CAMPUS

EXTRA

Darius Milhaud / Erik Satie

Premierenmatineen

Der kleine Prinz

Semiramide

Konzept und Choreographie Maged Mohamed Do Fr Sa So Mo Mi

23.03.17 24.03.17 25.03.17 26.03.17 27.03.17 29.03.17

18.00 Uhr 18.00 Uhr 15.00 Uhr 15.00 Uhr 18.00 Uhr 18.00 Uhr

Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal Rennert-Saal

So

29.01.17

11.00 Uhr

Premiere Andrea Chénier So

26.02.17

11.00 Uhr

The Consul

Sitzkissenkonzerte Oh, du lieber Augustin Sa Sa

28.01.17 04.02.17

14.30 Uhr 14.30 Uhr

Parkett, Garderobe Parkett, Garderobe

18.02.17 25.02.17

14.30 Uhr 14.30 Uhr

Parkett, Garderobe Parkett, Garderobe

Die Entführung aus dem Serail Sa So

18.03.17 19.03.17

10.00 Uhr 11.00 Uhr

Große Probebühne Große Probebühne

12.00 Uhr

Wernicke-Saal

Semiramide 12.02.17 13.02.17

10.00 Uhr 18.00 Uhr

Capriccio-Saal Capriccio-Saal

10.00 Uhr 10.00 Uhr

Capriccio-Saal Capriccio-Saal

Andrea Chénier Sa So

SpielOper

19.03.17

Operndialog So Mo

Momo, der kleine Zirkusjunge Sa Sa

So

18.03.17 19.03.17

Semiramis, Cleopatra, Berenike Eine Führung durch das Staatliche Museum Ägyptischer Kunst Mi Mi Sa Sa So So Fr Fr

15.02.17 15.02.17 18.02.17 18.02.17 26.02.17 26.02.17 03.03.17 03.03.17

14.00 Uhr 15.30 Uhr 14.00 Uhr 15.30 Uhr 14.00 Uhr 15.30 Uhr 14.00 Uhr 15.30 Uhr

* * * * * * * *

* Staatliches Museum Ägyptischer Kunst, Karten: buchungen@smaek.de

Prozessor II Musiktheaterkollektiv Agora Fr

03.03.17

20.00 Uhr

Probebühne in der McGraw-Kaserne, Soyerhofstr. 11

Montagsrunde Semiramide Mo

06.03.17

20.00 Uhr

Capriccio-Saal

20.00 Uhr

Capriccio-Saal

Andrea Chénier Mo

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03.04.17


Danach schlafen Sie besser als Dornröschen: Melden Sie Ihre Gartenhilfe einfach an. Nicht angemeldete Haushaltshilfen rauben Ihnen vor Sorge nicht nur den Schlaf, sondern auch traumhafte Steuervorteile. Und wenn etwas passiert, schützt Sie keine Fee vor hohen Krankenhauskosten. Melden Sie Ihre Haushaltshilfe lieber an und schlafen Sie wie eine Prinzessin. Märchenhaft einfach unter www.minijob-zentrale.de oder telefonisch unter 0355 2902 70799.


WAS FOLGT …

Wie die Zahnräder eines Uhrwerks müssen die Abläufe einer Opernaufführung ineinandergreifen. Nur so kann gelingen, was organisch und mühelos wirken soll. In dieser Spielzeit blickt MAX JOSEPH auf einzelne Abläufe im Räderwerk, die dem Zuschauer sonst verborgen bleiben.

Zeichen, Magie und ein unsichtbarer Engel – mit diesen Motiven aus Sergej Prokofjews Der feurige Engel lässt sich auch die Tätigkeit der Inspizientin beschreiben, die von ihrem Pult hinter der Bühne aus, die Partitur vor sich, den Ablauf der Aufführung koordiniert. So auch die vielen Vorgänge einer der kompliziertesten Verwandlungen des Bühnenbildes. Wir steigen im 2. Akt der Oper ein, kurz vor Ende des ersten Bildes: Die Bühne verdunkelt sich. Der unheimliche Buchhändler Jakob Glock ist soeben aus den aufgetürmten Kissen des prächtigen Hotelbetts hochgefahren. Ruprecht, der Geliebte der obsessiven Renata, hält ihn für eine Erscheinung und bedroht ihn mit einer Pistole. Zur selben Zeit hinter der Bühne: Die Inspizientin schickt per Funk ihre Kommandos – bühnensprachlich „Cues“ – an die Technik („Rückwand schnell zurückfahren“) und dann an die Auftrittstür („Tür auf, Auftritt acht Damenstatisten“). Schnitt. Das luxuriöse Hotelzimmer, in dem Renata und Ruprecht logieren (Rebecca Ringst hat es entworfen), vergrößert sich nach hinten. Glock zieht ein Buch aus der Jackett-Tasche, es ist ein Traktat des Magiers Agrippa von Nettesheim. Ruprecht schlägt es begierig auf. Er scheint nicht zu bemerken, wie hinter ihm acht Kammerzofen nacheinander hereintrippeln und um ihn, Glock, und die verzweifelte Renata herum das gesamte Mobiliar der Suite in eine Ecke im Hintergrund des Zimmers räumen und dort aufeinandertürmen. 15 Sekunden später verschwinden die Zimmermädchen wieder, wie sie gekommen waren. Wie berauscht lässt Ruprecht sich aufs Bett fallen. Glock stellt ihm ein Treffen mit Agrippa in Aussicht, mit dessen Hilfe er Renatas Dämonen bezwingen will. Schnitt. Hinter der Bühne gibt die Inspizientin nun parallel verschiedene Kommandos. Sie sendet per Knopfdruck Lichtzeichen Nr. 6 an die Techniker der Obermaschinerie auf der Galerie, wo zeitgleich ein Schalter aufleuchtet und mehrere Abläufe in Gang gesetzt

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werden: Plafond und Passepartout* sollen auf neun Meter über dem Bühnenboden hochgefahren werden. Die Videoabteilung muss zur selben Zeit im exakt gleichen Tempo, in dem das Passepartout größer wird, den projizierten Leuchtrahmen vergrößern, der das Passepartout weiß aufleuchten lässt. Und schon geht der nächste Cue per Funk an die Auftrittstür: „Auftritt 18 Tänzer!“ Schnitt. Aus dem Orchestergraben erklingt jetzt das furiose Zwischenspiel. Die Bühne wird hell erleuchtet. Die 18 männlichen Tänzer und Statisten kommen zur Verwandlungsmusik in Ballkleidern durch die Auftrittstür und besetzen in unheilvoller Verzückung langsam den Raum. Von der Galerie aus bringen nun innerhalb von 33 Sekunden 13 Züge** die Bühnenteile in die neuen Positionen. Damit der Plafond hochgefahren werden kann und kein Spalt dabei sichtbar ist, muss zuvor per Zug auch der Kranz*** abgefahren werden. Wenn alle Teile angekommen sind, leitet die Inspizientin auch schon die nächste Verwandlung ein. Während nun das technische Räderwerk auf Hochtouren läuft, tritt auf der Bühne Agrippa durch die Tür. Erschüttert beobachtet Ruprecht den Magier und sein bedrohliches Gefolge. Schnitt. Gleichzeitig geht jetzt Lichtzeichen Nr. 7 an die Techniker. „Roter Vorhang ab!“ Per Funk erhält die Galerie das Kommando „Kranz auf!“ Die Züge 115 und 116 fahren den Kranz nach oben, es entsteht eine Lücke, die den Weg freigibt für den schweren roten Vorhang. Zugleich geht ein Funksignal an den Bühnenmeister: „Bett und Wand in Ausweichstellung!“ Schnitt. Auf der Bühne schreitet Agrippa weiter Richtung Vorderbühne, ihm folgen weitere Tänzer und Ruprechts Blick. Da ergießt sich ein roter Vorhang wie ein Schwall Blut auf ganzer Bühnenbreite die hohen Wände herab und gleitet exakt zwischen Baldachin und Bett zu Boden. Der Raum gehört jetzt Agrippa. Beginn Zweites Bild.

* Rahmen, der den Bühnenausschnitt verkleinert oder vergrößert ** computergesteuerte Stangen mit Seilen, um Bauteile und Requisiten zu bewegen *** eine Art beweglicher Rahmen, der die obere Lücke zwischen Wänden und Plafond schließt oder freigibt, je nach benötigter Höhe


Text Sabine Voss

Rechts im Bild Vladimir Galouzine

Fotografie Wilfried Hösl

… auf das Lichtzeichen?

Ein „Cue“ vom Inspizientenpult, und der Raum gehört Agrippa. 99


Illustration Gwendal Le Bec

Was folgt in Menottis The Consul (Opernstudio-Premiere am Dienstag, 28. März 2017)? Der Freiheitskämpfer John ist auf der Flucht vor der Polizei angeschossen worden und hat sich in seine Wohnung gerettet, seine Frau Magda und seine Mutter haben seine Wunde versorgt. Als die Polizei vor der Tür steht, versteckt sich John. Die Polizei, angeführt von einem Agenten der Geheimpolizei, stürmt die Wohnung, Magda wird gefragt, ob ihr Mann da sei. Wird John in seinem Versteck entdeckt werden, oder wird es Magda gelingen, die Polizei abzulenken? Und was hat es eigentlich mit diesem geheimnisvollen Konsul auf sich?

Die Auflösung ab 24.3.2017 in MAX JOSEPH 3 2016-17.

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Außerdem in der nächsten Ausgabe von MAX JOSEPH: Romeo Castellucci im Porträt – Premiere Tannhäuser Zukunftsmusik: Was erwarten wir von der heutigen Musik für morgen?


S I E G E H Ö R E N Z U D E N M E N S C H E N, D I E M E H R E RWA RT E N ?

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