Comic zu Miroslav Srnkas "South Pole" Teil 4

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Der Wettlauf von Roald Amundsen und Robert Falcon Scott zum Südpol wurde Geschichte. In dieser Spielzeit wurde die Geschichte zur Oper. Miroslav Srnka komponierte im Auftrag der Bayerischen Staatsoper South Pole, zusammen mit Librettist Tom Holloway. Am 31. Januar 2016 wurde das Werk uraufgeführt, zu den Festspielen kehrt es wieder. MAX JOSEPH begleitete das Ereignis durch die Spielzeit und erzählt in der vierten und letzten Folge von der Nachgeschichte beider Expeditionen.


Was bisher geschah: Ein Wettrennen von epischen Ausmaßen – der Brite Robert Falcon Scott gegen den Norweger Roald Amundsen. Wer von beiden erreicht als erster Mensch den Südpol? Erst beim Zwischenstopp in Australien erfährt Scott per Telegramm, dass Amundsen ihm auf den Fersen ist. Alle hat der Norweger getäuscht, seine Geldgeber, seine Förderer, die Öffentlichkeit – sie alle hat er glauben lassen, er habe sich zu einer mehrjährigen Drift durchs Nordpolarmeer verabschiedet. Und anders als Scott, der mit seinem antarktischen Rekordversuch auch eine weitgefächerte wissenschaftliche Forschungsexpedition verbindet, verzichtet Amundsen auf akademischen Ballast, kommt mit einem guten Dutzend frosterprobter Leute und konzentriert alle Anstrengungen auf das Ziel, Erster zu sein. Am 14. Dezember 1911 hat er es geschafft. Scotts Beharren auf seinen Forscherplänen und einige Fehlkalkulationen führen indes dazu, dass nicht nur das Wettrennen verloren geht, sondern auch die sichere Rückkehr der fünf britischen Südpolstürmer in Gefahr gerät. Als Amundsen schon wieder in See sticht, kämpfen Scott, Wilson, Evans, Bowers und Oates noch um ihr Leben im ewigen Eis. – Gut hundert Jahre später hebt sich der Vorhang des Münchner Nationaltheaters zur Uraufführung von South Pole. Auch eine Oper über die Entdeckung des Südpols ist ein Wagnis. Wie geht es aus, wie geht es weiter? Von diesen letzten Etappen erzählt der vierte und abschließende Teil des MAX JOSEPH-Operncomics.

Team Scott: Nachdem Edgar Evans, von einer Handverletzung zermürbt und seit einem schlimmen Sturz auch nicht mehr Herr seiner Sinne, eines Mor­ gens nicht mehr aufwacht, glauben die vier verbliebenen Briten ihre Chan­ cen auf ein Durchkommen wieder erhöht – ein Mann weniger, mehr Essen für die übrigen, und es geht schneller voran. Doch das Wetter ist unbarmherzig. Ein Schneesturm folgt dem anderen. Die Dichtungen der zwischengelager­ ten Kanister sind bei den tiefen Temperaturen brüchig geworden, der Brenn­ stoff hat sich weitgehend verflüchtigt. Kein warmes Essen also, keine Lin­ derung für die erfrorenen Glieder. Lawrence Oates hat eine Entzündung am Fuß, bei minus 40 Grad Celsius gibt es keine Aussicht auf Heilung. Am Mor­

gen des 16. März steht Oates auf und sagt: „Ich gehe mal raus und bleibe vielleicht eine Weile weg.“ Scott schreibt darüber: „Wir wussten, dass Oates in seinen Tod ging, aber auch wenn wir versuchten, ihn davon abzuhalten, wussten wir, dass es die Tat eines mutigen Mannes und englischen Gentle­ mans war.“ Kein Zweifel: Oates wollte mit seinem Opfer den Kameraden nicht länger zur Last fallen. Der Maler und Illustrator John Charles Dollman bringt 1913, in dem Jahr, in dem die Öffentlichkeit vom Schicksal des britischen Teams erfährt, seine Vision von Oates’ letzten Augenblicken zu Papier. Er nennt sein Bild „A Very Gallant Gentleman“. Die obige Zeichnung lehnt sich an diese legendäre Darstellung an.


„Freitag, 29. März. Seit dem 21. hat es unaufhörlich aus Westsüdwest und Südwest gestürmt. (…) Jeden Tag waren wir bereit, nach unserem nur noch 20 Kilometer entfernten Depot zu marschieren, aber draußen vor der Zelttür ist die ganze Landschaft ein durcheinanderwirbelndes Schneegestöber. Ich glaube nicht, dass wir jetzt irgendwie auf Besserung hoffen können. Aber wir werden bis zum Ende aushalten; freilich werden wir schwächer, und der Tod kann nicht mehr fern sein. Es ist ein Jammer, aber ich glaube nicht, dass ich noch weiter schreiben kann. R. Scott.  Letzter Eintrag  Um Gottes Willen sorgt für unsere Hinterbliebenen“.

Acht Monate später findet ein Suchtrupp das Zelt, in dem Scott, Wilson und Bowers gestorben sind. Man lässt die Leichen unter ihrer Schneedecke lie­ gen, auf das ein Kreuz aus zwei Skiern gesteckt wird. Am Lagerplatz, von dem aus Oates in den Tod gegangen ist, wird ein weiteres Kreuz aufgestellt; seine Leiche bleibt unauffindbar, bis heute. Auch oberhalb ihres Winter­ quartiers am Kap Evans errichten die Briten ein Kreuz. Auf ihm stehen die Namen der fünf Verstorbenen und die letzte Zeile aus Alfred Tennysons ­Gedicht Ulysses: „To strive, to seek, to find and not to yield“ – „Zu streben, zu suchen, zu ­f­inden und nie aufzugeben“.


Zwei Monate zuvor: Als Amundsen zum Winterquartier „Framheim“ in der Walfischbucht zurückkehrt, ist auch gleich die Fram zur Stelle, um die Abenteurer wieder einzusammeln. Am 30. Januar sticht das Schiff mit der norwegischen Südpol-Mannschaft wieder in See. Von Tasmanien aus will Amundsen der Welt seinen Triumph übermitteln. Doch vorher sieht er sich heftigem Gegenwind ausgesetzt – das Fram-Team hat nämlich Zeitungen von der Zivilisation mitgebracht: „Einige Leute scheinen über unsere Ak­ tivitäten hier unten (damit meint Amundsen seine unter Geheimhaltung geplante Südpol-Expedition; d. Red.) empört zu sein. Ein Verstoß gegen die ‚Etikette‘. Sind diese Menschen von Sinnen? Ist denn die Lösung der

Polfrage ausschließlich Scott überlassen? Ich pfeife auf diese ‚Dompfaf­ fen‘.“ In Hobart angelangt lässt Amundsen die Fram zunächst außerhalb des Hafens ankern, damit keiner der wartenden Journalisten Lunte riecht und die Sensationsmeldung vorzeitig hinausposaunt. „Kamen um 11 Uhr vormittags in Hobart an, und ich ging mit dem Doktor und Hafenmeister an Land. Buchte im Orient Hotel. Mit Schirmmütze & blauem Wollpullover hielt man mich für einen Landstreicher, und ich bekam ein schäbiges, kleines Zimmer. (…) Telegrafierte danach an den König, dann an Nansen & Leon. Verbrachte den Tag in Ruhe, bis auf die hitzigen Reporter, die mich bedrängten, doch ohne Erfolg.“ (7. März)


Amundsen behält zunächst im Rennen um den Nachruhm die Nase vorn. Noch auf dem Weg nach Tasmanien hat er begonnen, seine Siegesnach­ richten zu formulieren und aus seinen Aufzeichnungen einen Vortrag zu­ sammenzustellen. Als erstes darf The Daily Chronicle exklusiv berichten: Per Telegramm schickt Amundsen sein Manuskript Stück für Stück von Hobart nach London. Bald erscheint auch das „Buch zum Pol“, unter dem lapidaren Titel The South Pole – im Wesentlichen Amundsens Tagebuch, um einen historischen Rückblick auf die Südpol-Erforschung ergänzt (und im Hinblick auf die Veröffentlichung von allzu unverblümten Kommentaren bereinigt). Vorträge, Einladungen, Empfänge in aller Welt schließen sich

an. Um seine Schulden zu bezahlen, muss Amundsen seinen Sieg zu Geld machen. Im Januar 1913 wird ihm die Goldmedaille der US-amerikani­ schen National Geographic Society in Washington verliehen, und kurz da­ rauf gibt es im Bellevue-Stratford zu Philadelphia ein Gipfeltreffen von drei Polarforschern. Gemeinsam mit Amundsen posieren Ernest Shackleton – der Engländer, der vor Amundsen dem Südpol am nächsten gekommen war – und Robert Peary – der Amerikaner, der damals als erster Bezwinger des Nordpols galt (den er aber vermutlich nie exakt erreicht hat). „Die drei ­Polarsterne“ taufte der Fotograf William H. Rau sein sorgfältig ­inszeniertes Bild.


Amundsen hat es zweifellos getroffen, dass sein Konkurrent umgekommen ist. „Furchtbar, furchtbar“ soll seine erste Reaktion auf die Nachricht gewe­ sen sein. „Kapitän Scott hat ein Beispiel abgegeben, für Ehrlichkeit, Ernst­ haftigkeit, Tapferkeit, für all das, was einen Mann auszeichnet.“ Aber mit dem Bekanntwerden vom tödlichen Ausgang der britischen Mission im ­Februar 1913 gibt es auch einen Meinungsumschwung in der Öffentlichkeit. Nachdem man Amundsen aller Kritik zum Trotz ein Jahr lang gefeiert hat, werden die Stimmen immer lauter, die Scott als aufrechten Helden rühmen und Amundsen als hinterhältigen Taktierer schmähen. Amundsens Sieg wird

im Lichte von Scotts Ende zu einer unbedeutenden Randnotiz – und er selbst dadurch immer dünnhäutiger. Als bei einem zu Amundsens Ehren ausge­ richteten Bankett der britischen Royal Geographical Society ihr Präsident George Curzon einen Toast auf die Schlittenhunde ausbringt („Three cheers for the dogs!“), ohne deren Hilfe die nordische Mannschaft nicht erfolgreich hätte sein können, kommt es zum Eklat. Der britische Humor in Ehren, hier versteht Amundsen keinen Spaß: Er empfindet den Trinkspruch als Affront. Von nun an sind die Briten für ihn schlechte Verlierer, das stolze Empire eine Nation von Feiglingen.


Kathleen Scott bleibt während der Abwesenheit ihres Mannes so aktiv wie zuvor. Sie arbeitet als Künstlerin, tritt in der Gesellschaft auf, kümmert sich um ihren zweijährigen Sohn Peter. Der Doyen der Polarforschung, Fridtjof Nansen, seit fünf Jahren verwitwet, verliebt sich sogar in sie. Als klar wird, dass ihr Mann in diesem Jahr noch nicht aus der Antarktis zurückkehren würde, entschließt sie sich, ihm entgegenzufahren – und zwar über New York, Texas, Mexiko und die Südsee. Am 19. Februar 1913 überbringt der Kapitän des Schiffes, mit dem sie auf dem Weg nach Tahiti ist, Kathleen die furcht­ bare Nachricht. Welch Kontrast zur Nachricht Amundsens, die noch wenige

Wochen zuvor ebenfalls von einem Schiff aus um die Welt ging. Noch wäh­ rend Kathleen auf Reisen ist, wird in der St. Paul’s Cathedral in London der Trauergottesdienst für Robert ­Falcon Scott gefeiert: König George V. kniet im Gedenken an einen Mann, der nicht einmal adlig war; tausende Men­ schen umlagern die überfüllte Kirche; das ganze Land trauert um einen Hel­ den. Noch heute ist Scotts ­Tagebuch, das schon wenig später gedruckt wird, Schulstoff – und dank seiner griffigen Art zu schreiben eine spannende Lek­ türe. Noch heute ranken sich Legenden um den britischen Helden: Scott hat sich als „Entdecker des Südpols“ ins kollektive Gedächtnis eingebrannt.


Schon in den Endproben mit Orchester ist das Fernsehen dabei; Arte will die Premiere zeitversetzt ausstrahlen und muss, gleichzeitig mit den Künstlern auf der Bühne, die Inszenierung mitproben, Kameraeinstellungen festlegen, die Untertitel auf Deutsch und Französisch einrichten – eine knifflige Auf­ gabe bei South Pole, sind doch schon die deutschen Übertitel auf der Bühne zweigeteilt auf der rechten und linken Portalseite projiziert. Viel Tüftelei auch an Stellen, wo man es gar nicht ahnt: Die so schlicht wirkende Bühne ist nicht ohne Tücken im Detail, die Musik hochkomplex, alles erfordert höchste ­Konzentration. Doch das Gesamtwerk gelingt. Nach einer kräftezehrenden

Uraufführung zieht man um zur Premierenfeier im Käfer-Foyer des Natio­ naltheaters. Was für ein Kontrast zur stilisierten Leere auf der Bühne – und wie viel mehr zur tatsächlichen Einsamkeit in der Antarktis! Solisten und ­Orchestermusiker, Regieteam und die Mitwirkenden hinter den Kulissen, ­Publikum und Freunde drängeln sich rund um den Tresen im Souterrain des Staatsopernfoyers. Viele Fachkollegen sind gekommen, Intendanten, Drama­ turgen, ­K­omponisten, und tauschen sich aus über das neue Stück. Natürlich hält Intendant Nikolaus Bachler eine Ansprache, und noch einmal werden die Darsteller gefeiert, noch einmal wird den Autoren Beifall gezollt.


Eine Uraufführung ist immer etwas Außergewöhnliches, aber die Oper South Pole hat auch für Staatsopernmaßstäbe außergewöhnlich viel Aufmerksam­ keit erhalten. Für das Interesse des Publikums an dem Stoff und seinen ­jungen Komponisten, an den Fragen, die sich bis in unsere Zeit an die ­Entdeckung des Südpols anschließen, gibt es ein umfangreiches Begleit­ programm: Ein Internet-Blog bereitet ein Jahr lang auf die Oper vor, in­ ­Filmabenden lassen sich Scott und Amundsen kennenlernen, Publikationen ermöglichen vertiefende Lektüre, in Gesprächsrunden werden Eindrücke ausgetauscht. In den Themenkonzerten berichten Forscher verschiedener Max-Planck-Institute von Klimawandel bis zur Traumaforschung, und es er­

klingen neben Musik von englischen und norwegischen Komponisten viele Werke von Miroslav Srnka. Auf dem Max-Joseph-Platz kündet ein schwarzes Zelt, exakt baugleich dem Südpol-Zelt der Aufführung, von der Geschichte, während unter den Säulen des Haupteingangs eine Klanginstallation von Moritz Gagern Passanten den Südpol vor Ohren führt … und hier in MAX JOSEPH lesen Sie den Begleitcomic zu South Pole. Doch irgendwann kommt die Zeit, diese selbstgeschaffene Welt wieder zu verlassen: Rolando Villa­ zón und Thomas Hampson, die beiden Sänger, für die diese Oper geschrie­ ben wurde und die mit ihrer Hingabe ihren Erfolg erst ermöglicht haben, verabschieden sich voneinander am Tag nach der letzten Vorstellung.


Was nach einer Aufführung hinter dem Hauptvorhang vor sich geht, das bleibt dem Publikum verborgen. Viele dürften verblüfft sein, wie dort, während die Solisten noch einzeln nach vor­ ne „durchtreten“ und sich für den Applaus bedanken, sofort mit jeglicher Illusion aufgeräumt wird. Die Bühnentechniker nehmen das Zepter in die Hand: Die Dekorationen werden abge­ baut, Requisiten eingesammelt, Scheinwerfer abmontiert, Kabel aufgerollt, um die Bühne für die nächste Probe am nächsten Morgen vorzubereiten. An einem Repertoiretheater wie der Bayerischen Staatsoper gehört der ständige Wechsel dazu. Aber bei der letzten Vorstellung einer Aufführungsserie wird doch inmitten dieses Gewusels noch ein bisschen Abschied ­gefeiert, und das Ensemble macht ein Gruppenfoto zur Erinnerung. Im Falle von South Pole wissen alle, dass es bald weitergeht: Zu den Opernfestspielen 2016 wird man sich für eine ­weitere Vorstellung zusammenfinden, und die Wiederaufnahme im Januar 2017 ist ebenfalls schon fest geplant. Inzwischen ist bekanntgeworden, dass South Pole auch außerhalb Mün­ chens zu sehen sein wird. Das Staatstheater Darmstadt will im Mai 2017 eine eigene Insze­ nierung erarbeiten. Für eine Uraufführung ist das im Grunde die schönste Anerkennung. Die Strapazen haben sich gelohnt, die Expedition geht weiter.

Text Malte Krasting


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