Ausgabe März 2014

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Akademie Musikt heater heute

für junge Bühnenbildner, Dirigenten, Dramaturgen, Komponisten, Kulturmanager und Regisseure

NG U B ER B E W VO M UA R N JA 15. BIS 014 2 I MA 31.

DAS MAGA ZIN DER B E R LI N E R PH I LH AR M ON I K E R

Stipendium 2014 – 2016

Nr. 01— 2 014

www.deutsche-bank-stiftung.de

GERAUBTE MUSIK Verboten, beschlagnahmt, zerstört. Die dunklen Kapitel der Musikgeschichte

Wir bieten

Wir suchen junge, musiktheaterbegeisterte, aufgeschlossene Persönlichkeiten, die an Teamarbeit interessiert sind, in der Oper Verantwortung übernehmen und Erfahrungen teilen möchten

Fotograf: Matthias Stutte

interdisziplinären Austausch, Inszenierungsbesuche, Festivalbesuche, ein breites Netzwerk Musiktheaterbegeisterter, Unterstützung bei praktischen Projekten

€ 7,00 (D) € 7,30 (A) € 7,50 (LUX) CHF 12,50 (CH)

Nr. 01— 2 014

REINHARD GOEBEL ÜBER C. P. E. BACH

ELĪNA GARANČA & JONAS KAUFMANN

KLASSISCHE STREETWORKER

Ein Essay zum 300. Geburtstag

Opernstars als Liedsänger

Straßenmusik mit Geige, Cello, Klavier


VORSPIEL — EDITORIAL

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Foyer der Philharmonie Foto: Peter Adamik


12 8 — A U S G A B E N R . 01. 2 014

Liebe Musikfreunde, die Causa Cornelius Gurlitt warf im vergangenen Herbst zwei Fragen auf, die bis dahin weitgehend verdrängt worden waren: die Frage nach dem wahren Umfang des nationalsozialistischen Kunstraubs und die nach dem richtigen Umgang mit dieser Erblast. Im Schwerpunkt dieser Ausgabe von »128« weiten wir diese Fragen auf die Musik aus. Denn im »Dritten Reich« ebenso wie in anderen Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurde auch Musik geraubt: nicht nur materiell in Form wertvoller Instrumente und Handschriften; sondern auch immateriell, indem bestimmte Komponisten und ihre Werke verboten und damit dem Publikum geraubt wurden. Bewusst fassen wir unser Thema »Geraubte Musik« weit: Wir erinnern an den bedeutendsten Fall musikalischer Beutekunst, befragen prominente Künstler zur politischen Bedrohung des Kulturlebens in Ungarn und berichten von den Sparplänen des SWR, denen womöglich ein ganzes Orchester zum Opfer fällt. Im Ressort Berliner Philharmoniker widmen wir uns wie immer dem Geschehen rund ums Orchester. In dieser Frühjahrsausgabe stehen die Osterfestspiele in Baden-Baden im Fokus, mit denen wir an die reiche kulturelle Tradition der einstigen »Sommerhauptstadt Europas« anknüpfen. Daneben konnten wir den Dirigenten Reinhard Goebel für einen so profunden wie unterhaltsamen Essay zum 300. Geburtstag Carl Philipp Emanuel Bachs gewinnen. Mit einem frühlingshaften Thema eröffnen wir auch das Feuilleton: Viele Straßenmusiker bereichern unsere Innenstädte und U-Bahnhöfe mit Musik, einige von ihnen auch mit klassischer Musik. Warum sie die Straße dem Konzertsaal vorziehen und was sie an ihrem Publikum beobachten, das erfahren Sie in unserer Reportage. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre Ihres neuen »128«!

Herzlich, Ihr Martin Hoffmann

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V O R S P I E L — I N H A LT

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INH A LT 16

Schwerpunkt Thema: Geraubte Musik Mit Beiträgen von Volker Hagedorn, Wolfgang Fuhrmann, Misha Aster u. a.

C. P. E. Bach Reinhard Goebel gratuliert dem Komponisten zum 300. Geburtstag

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114 Fragen zur Musikliebhaberei Diesmal an die Schauspielerin Johanna Wokalek

94 Straßenmusik Klassische Musiker bereichern unsere Innenstädte und U-Bahnhöfe


12 8 — A U S G A B E N R . 01. 2 014

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TH E MA: G E R AU B T E M U S I K

B E R LI N E R PH I LHAR MON I KE R

FE U I LLETON

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Vo n Vo l k e r H a g e d o r n

Vo n K a r l D i e t r i c h G r ä w e

Vo n A n n e t t e Z e r p n e r

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Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen Eine kurze Geschichte verbotener, verhinderter, verzögerter Musik

Das Reichsorchester Das Berliner Philharmonische Orchester in der NS-Zeit Vo n M i s h a A s t e r

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Die Groschen der guten Laune Das Ende der Goldenen Zwanziger Vo n K a i L u e h r s - K a i s e r

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Auf der Jagd nach den papiernen Juwelen Beutekunst aus der Sing-Akademie Vo n W o l f g a n g F u h r m a n n

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Die Guarneri von der »Kohleninsel« Kulturgüter-Raub in der DDR

Die Rätsel der Manon Lescaut Der Roman des Abbé Prévost und sein Erfolg in der Musikgeschichte

»Lauter Berge und Königinnen! und Könige! und alle Welt!« Baden-Baden, die Hauptstadt der Salonkultur Vo n S u s a n n e S t ä h r

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Auf der Schnell-Laufbahn Der Dirigent Krzysztof Urbański Vo n Vo l k e r Ta r n o w

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Die Kunst der kleinen Form Elīna Garanča und Jonas Kaufmann: Opernstars als Liedsänger

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Aus zwei mach eins mach keins Die Orchesterfusion des SWR Vo n A l e x a n d e r D i c k

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Sie sind unter uns Instrumentenraub in der NS-Zeit Vo n M a r k W i l h e l m

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Vo n A n n e t t e K u h n

Vo n J ü r g e n O t t e n

Vo n A r n t C o b b e r s

Vo n A g n e s S z a b ó u n d M á r i a G é c z i

David gegen Goliath Wird C3S eine zeitgemäße Alternative zur GEMA?

Mein Instrument als Lebenspartner Manfred Preis und seine Bassklarinette

Schöne Welt, wo bist du? Der Pianist Radu Lupu im Porträt

Vo n U l f B i s c h o f

Der böse Geist ist aus der Flasche Kulturkampf in Ungarn?

Klassische Streetworker Straßenmusik mit Geige, Cello und Klavier

Fenster zur Freiheit Eine kleine Geschichte des »Polski Jazz« Vo n O l i v e r H o c h k e p p e l

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Fragen zur Musikliebhaberei Diesmal an die Schauspielerin Johanna Wokalek

Versuch über die wahre Art, CPE Bach zu porträtieren Ein Essay zum 300. Geburtstag Vo n R e i n h a r d G o e b e l

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Gründungsvater der deutschen Musikbibliotheken Eine Ausstellung zu C. P. E. Bach in der Staatsbibliothek Berlin Vo n Vo l k e r Ta r n o w

VOR S PI E L

02 08 10 12

Vorwort Zahlenspiel Text & Bild In Kürze

NACH S PI E L

116 122 126 128

Bücher und CDs Konzertkalender Ausblick Impressum


VORSPIEL — IN KÜR ZE

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IN KÜR ZE

Christian Gerhaher Foto: Stephan Rabold

NACHTIG ALL IN TIE F E R S TIM M L AG E Der Bariton Christian Gerhaher, in der laufenden Spielzeit Artist in Residence der Berliner Philharmoniker, wurde mit einer hohen Auszeichnung geehrt: Die Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik verlieh dem Sänger den Ehrenpreis »Nachtigall 2014« in Form einer vom Künstler Daniel Richter gestalteten Trophäe. Euphorisch liest sich die Begründung, die Eleonore Büning für die

Jury verfasst hat: »Dieser Sänger ist ein Geschenk. Sobald er singt, versinkt die Welt. Vor allem kann man, was je an Menetekeln über die Krise der Gesangskunst im Zeitalter technischer Reproduzierbarkeit gesagt oder geschrieben wurde, auf der Stelle vergessen, da es durch den Bariton Christian Gerhaher schlechterdings widerlegt, ja, gegenstandslos gemacht wird. Gesangstechnisch kennt sein Können keine Grenzen. Die musikalische Intelligenz, mit der er seine farbenreiche, hell timbrierte

Baritonstimme führt und jede feinste Ton- und Textfaser durchgestaltet, ist überragend.« Im Rahmen seiner Residenz bei den Berliner Philharmoniker ist Gerhaher noch bei zwei besonderen Projekten zu erleben: in Peter Sellars neuer Inszenierung von J. S. Bachs »Johannes-Passion« bei den Osterfestspielen Baden-Baden (13. und 18. April); und in Carl Orffs »Carmina Burana« auf dem großen »Fest am Kulturforum« in Berlin (14. und 15. Juni).


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Foto: Lucarelli Temistocle

Skizze zu Manon Lescaut Abbildung: Asuka Grün

LÄRMSCHUTZ UNTER WA SSE R Ein kurioser Nachtrag zum StilleSchwerpunkt im letzten »128« (3/2013), in dem wir ausführlich über die Umweltverschmutzung durch Lärm berichtet haben. Dieses Problem wird zunehmend auch für die Welt unter Wasser als solches erkannt: Durch den Schiffsverkehr, beim Errichten von Bohrinseln oder Windkraftanlagen auf offener See und vor allem bei der sonargestützten Suche nach Erdölvorkommen im Meeresboden entsteht Lärm mit Spitzenpegeln von bis zu 190 Dezibel und in Frequenzbereichen, die Wale, Delfine, Robben und andere Meeresbewohner massiv in ihrer Kommunikation und Navigation stören und sogar ertauben lassen können – ein sicheres Todesurteil für die Tiere. Auf Druck von Meeresbiologen und Tierschützern sowie nach zahlreichen Gerichtsprozessen lassen die zuständigen US-Behörden nun strengere Richtlinien für den Unterwasser-Lärmschutz erarbeiten, die international Vorbildwirkung haben könnten.

» M A N O N L E S C A U T« AL S G R APH IC NOVE L Längst hat sich der Comic unter dem Begriff Graphic Novel seinen Rang als eigenständige Kunstform gesichert. Er hat es sogar geschafft, sich an Kunst- und Designhochschulen als anerkannter Studiengang zu etablieren. Vor diesem Hintergrund entwickelten Mitarbeiter in der Philharmonie die Idee, Puccinis Oper »Manon Lescaut« – in diesem Jahr das Hauptwerk bei den Osterfestspielen in Baden-Baden – als Graphic Novel zu erzählen. Für die Umsetzung der Geschichte um Manon und den Chevalier des Grieux

konnten kompetente Partner gewonnen werden: Studierende der Fakultät Design, Medien und Information an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften waren begeistert von dem Gedanken, diesen Stoff unter Anleitung der Professorinnen Alexandra Kardinar und Anke Feuchtenberger nach der Romanvorlage aus dem 18. Jahrhundert umzusetzen und auf einer zweiten Erzählebene mit der Entstehungsgeschichte der Oper zu verknüpfen. Eine Veröffentlichung in Buchform ist für die zweite Aprilhälfte geplant, rechtzeitig zur konzertanten Aufführung von Puccinis »Manon Lescaut« in der Berliner Philharmonie.


Foto: plainpicture / Mira


THEMA: G E R AUBTE MUSIK

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Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen

Die Guarneri von der »Kohleninsel«

E i n e k u r ze G e s c h i c h te d e r ve r b o te n e n M u s i k

D i e D D R ve r s i l b e r te b e s c h l a g n a h m te Ku l tu r g ü te r i m We s te n

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Das Reichsorchester

Der böse Geist ist aus der Flasche

Das Berliner Philharmonische O r c h e s te r i n d e r N S -Z e i t

Herrscht in Ungarn e i n Ku l tu r k a m p f ?

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Die Groschen der guten Laune

Aus zwei mach eins mach keins

Das Ende der G o l d e n e n Zwa n z i g e r j a h r e

D e r SW R w i l l s e i n e b e i d e n O r c h e s te r f u s i o n i e r e n

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Auf der Jagd nach den papiernen Juwelen

Sie sind unter uns

Die Odyssee des Archivs der S i n g -A k a d e m i e zu B e r l i n

V i e l e we r t vo l l e I n s t r u m e n te w u r d e n i n d e r N S -Z e i t g e r a u b t


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THEMA: GER AUBTE MUSIK – DDR

Auszug aus dem Übergabeprotokoll an die Tresorverwaltung des Ministeriums für Finanzen der DDR für die im Rahmen der Aktion »Licht« des MfS 1962 sichergestellten Handschriften und historischen Dokumente


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DIE GUARNERI VON DER »KOHLENINSEL« Zur Devisenbeschaffung exportierte die DDR auch beschlagnahmte Kulturgüter privater Sammler in den Westen. Vo n U l f B i s c h o f

D I E FOL G E N D E S Z E N E ist fiktiv, aber sie könnte sich genau so zugetragen haben in der DDR der 1980erJahre: In Uwe Tellkamps Roman »Der Turm« besucht der Romanheld Richard die »Kohleninsel«, eine imaginäre Behördenzentrale in Dresden. Er steht dort in einer Schlange vor der Schätzstelle.

»Über diese Schätzstelle, erinnerte sich Richard, als er sich nach der Bestätigungsprozedur wieder einreihte, waren in jüngster Zeit gewisse Gerüchte aufgekommen. Wernstein hatte ihm einen Fall erzählt, und Wernstein wiederum hatte ihn von der Krankenschwester, die mit dem Assistenzarzt aus der Inneren verlobt war. Dort hatte eine Medizinisch-Technische Assistentin eine GuarneriVioline geerbt, war sich aber über die Echtheit dieser Erbschaft nicht sicher gewesen und hatte sie hier, in der Schätzstelle, prüfen lassen. Die Violine war tatsächlich eine echte Guarneri, eine Kostbarkeit, auf der die verstorbene Tante der Assistentin still und bescheiden jahrzehntelangen Konzertdienst in den II. Geigen der Dresdner Philharmonie abgestrichen hatte; niemand außer dieser Tante, die alleinstehend gewesen war, hatte um die Besonderheit ihres Instruments gewusst; erst im Testament war der Name des italienischen Geigenbauers gefallen. In der Schätzstelle nun hatte neben dem Sachprüfer ein Herr im grauen Anzug gestanden, der, nachdem der Prüfer einige Kataloge gewälzt, immer wieder mittels eines Zahnarztspiegelchens ins Innere der Geige geblickt und zur Sicherheit noch einen Kollegen konsultiert hatte, zum Telefon-

hörer griff und ein längeres Gespräch führte. Die Assistentin, die dachte, nun ausgesorgt zu haben, bekam nach einigen Tagen ein Schriftstück ins Haus, ausgestellt von der Finanzabteilung der Kohleninsel. Die Summe, die darin als Steuerschuld gefordert wurde, konnte die Assistentin nicht aufbringen, und so wurde ihr die Violine weggenommen.« (Uwe Tellkamp: »Der Turm«, 1. Auflage, Frankfurt a. M. 2008, S. 207) »… wurde ihr die Violine weggenommen …« – und exportiert, so müsste die Geschichte weitergehen. Was die Assistentin natürlich nie erfuhr. Konzerte im Westen konnte sie nicht besuchen. Ihre Geige hätte sie nie wiedergesehen. Ob es nun eine Guarneri war oder nur eine gewöhnliche Geige oder ein Klavier eines ostdeutschen Sammlers. Fest steht, dass die »Kohleninsel« DDR über Jahrzehnte eine Vielzahl von Kulturgütern in die Bundesrepublik, nach West-Berlin, Westeuropa und Übersee exportierte; darunter befanden sich auch unzählige alte Instrumente und Noten. Was auch immer in die Fänge der Devisenbeschaffer um Alexander SchalckGolodkowski geriet, wurde im Westen in klingende Münze verwandelt. Schon in den Fünfziger- und Sechzigerjahren führte die DDR Kulturgüter aus. Man suchte auch immer wieder nach noch verborgenen Kunstschätzen. So durchkämmte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Rahmen der Geheimaktion »Licht« verlassene Bergstollen, alte Ruinen und Bunker und öffnete bei 

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THEMA: GER AUBTE MUSIK – DDR

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Der Ministerrat der DDR entschied, die Depots der Museen anzugreifen und im Westen zu versilbern.

Nacht und Nebel auch Bankschließfächer, die seit dem Zweiten Weltkrieg unberührt waren. Dabei sollten auf Anweisung von Minister Mielke ausdrücklich auch solche Objekte einbezogen werden, bei denen keine Klarheit über die Eigentumsverhältnisse bestand. Schon damals wurden auch einige Handschriften von Komponisten erbeutet, darunter Autografen von Berlioz, Bruch, Dvo ák, Reger, Rubinstein, Liszt, MendelssohnBartholdy, Saint-Saëns, Wagner, Strauss, Schumann. Der Verbleib dieser Handschriften ist ungeklärt. S C H A L C K- G O L O D K O W S K I S M O N O P O L

Damals war der Kunstexport noch nicht zentralisiert. Westdeutsche Kunsthändler reisten zu ihren ostdeutschen Kollegen, das heißt zu kleinen privaten Antiquitätenhändlern, und kauften dort ein. Außerdem gab es den sogenannten Staatlichen Kunsthandel der DDR und ab Ende der Sechzigerjahre einige Firmen in Schalck-Golodkowskis geheimem Wirtschaftsbereich »Kommerzielle Koordinierung« (KoKo), die Kunst ausführten. Schon für die frühen Sechziger ist bekannt, dass zumindest im Einzelfall auf Privatsammlungen zugegriffen wurde. Mittel zum Zweck waren – wie in anderen Diktaturen auch – fiskalische Maßnahmen. Anfang 1973 gründete der Bereich KoKo die Kunst und Antiquitäten GmbH. Niemand außer diesem KoKoUnternehmen durfte fortan noch Kunstgegenstände, also vor allem Antiquitäten, exportieren. Schalck-Golodkowski sicherte seiner Firma das Außenhandelsmonopol. Im Vorfeld der Gründung hatte man in Ost-Berlin überlegt, woher das neue Unternehmen ausreichend Ware für den Export nach Westeuropa und Übersee erhalten sollte. Der Ministerrat der DDR entschied sich dazu, die Depots seiner Museen anzugreifen und im Westen zu versilbern. In einer vertraulichen Verfügung vom 18.01.1973 legte der Ministerrat entsprechend fest, dass die Museen dem Bereich Kommerzielle Koordinierung 1973 Museumsbestände im Werte von 55 Millionen »Valutamark« für den Export anbieten sollten. Das war ein schwerer Schlag für die Museumslandschaft und stieß auf wenig Begeisterung. In den einzel-

nen Häusern wurde überlegt, ob man besser ein wertintensives Stück oder mehrere nachrangige Objekte aussondern sollte. Gleichzeitig formierte sich Widerstand. Kurz gesagt, auch weil die verantwortlichen Funktionäre in Ost-Berlin wohl mittlerweile fürchteten, die ganze Angelegenheit könnte in den westdeutschen Medien als Zeichen des auffälligen Niedergangs der DDR ausgeschlachtet werden, blies man den Zugriff auf die eigenen Museen eilends ab. Es zeichnete sich bereits 1973 ab, dass man die Nachfrage des Kunstmarktes nur schwer würde befriedigen können. Der ständige Export nach Westeuropa in den Fünfziger- und Sechzigerjahren hatte eine Unmenge an Kunstgegenständen »aufgesogen«. Deren regulärer Ankauf aus der Bevölkerung wurde immer schwieriger. Perspektivisch war klar, dass man einerseits das Warensortiment ausdehnen und andererseits nach neuen Wegen zur Beschaffung von Kunst und Antiquitäten suchen musste. Man ging deswegen dazu über, die noch verbliebenen Privatsammlungen in staatlichen Besitz zu überführen. Zunehmend planmäßig gerieten die Sammler in das Visier der »Sicherheitsorgane«. Man unterstellte dem betroffenen Sammler, der Wertzuwachs seiner Sammlung über die Jahre sei ein zu versteuernder Gewinn aus Gewerbebetrieb. Er bekam einen Steuerbescheid, der faktisch nur durch die Überführung der Kunstgegenstände in staatlichen Besitz getilgt werden konnte. Es gab – wie in Tellkamps Episode von der GuarneriVioline – auch andere Varianten der konfiskatorischen Besteuerung, beispielsweise im Zusammenhang mit Erbfällen von Sammlern in der DDR, gerade wenn die Erben in Westeuropa oder Übersee lebten. In diesen Fällen wurde staatlicherseits sichergestellt, dass die Erbschaftsteuer dem Wert entsprach, den die DDR-Behörden für die Kunstgegenstände im Nachlass ermittelt hatten. Verbunden mit der Ankündigung gegenüber den ausländischen Erben, dass die entsprechenden Kunstgegenstände mit Rücksicht auf den Kulturgüterschutz der DDR ohnehin nicht ausgeführt werden könnten, wurden diese dann mit der Erbschaftsteuer »verrech-


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net«. Die Höhe der Erbschaftsteuer ließ sich durch entsprechende Schätzungen und Begutachtungen, auf die die Erben keinen Einfluss hatten, leicht steuern. Mitunter taugte daneben auch eine fehlerhaft festgesetzte Vermögenssteuer zur Übernahme größerer Sammlungsteile. Auch im Zuge von Übersiedlungen von DDRBürgern in die Bundesrepublik sind derartige Verfahren bekannt geworden. ZWEITRANGIGE RESTITUTIONEN

Den Betroffenen wurde übel mitgespielt. Hatten sie Glück im Unglück, verloren sie nur ihre Sammlungen. Oft wurden sie zudem auch inhaftiert. Ein Dresdener Sammler fand sich Anfang der Achtzigerjahre in einer psychiatrischen Anstalt wieder, ohne Befund, zwangseingewiesen durch das MfS, während der Bereich KoKo seine Sammlung in München, Zürich und Amsterdam feilbot. Einzelstücke gelangten so auch in die ostdeutschen Museen, weil deren Direktoren von den Raubzügen erfuhren und sich um die zur Ausfuhr bestimmten Stücke – nicht um die verfolgten Sammler – bemühten. Es ist ein dunkles Kapitel deutscher Kulturgeschichte, das auch 25 Jahre nach der Wende noch nicht abschlie-

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ßend aufgearbeitet ist. Die Ablösung totalitärer Systeme ist mit schwierigen gesellschaftlichen Fragen verbunden. Im Vordergrund steht dabei nicht die Kunst, sondern eher der Umgang mit Grundstücken oder Firmenvermögen. Das war schon nach dem Zweiten Weltkrieg so. Es geht in Zeiten des Umbruchs darum, möglichst schnell wieder einen Rechtsfrieden herzustellen, der nach dem Zusammenbruch des Unrechtsstaates das Vertrauen der Wirtschaft in Investitionen stärkt. Die Restitution von beweglichem Hab und Gut an einige Betroffene ist dabei allenfalls zweitrangig, falls man sich des Problems überhaupt bewusst ist. Die Phase der materiellen Wiedergutmachung mittels mehr oder weniger geeigneter juristischer Instrumente fällt also nicht zufällig kurz aus. Es folgt eine Phase der vermeintlichen »Befriedung«. Nur scheinbar hat sich das Problem damit erledigt, denn die Betroffenen und deren Erben erinnern sich an die einstigen Sammlungen, auch wenn die Stücke mittlerweile in aller Welt verstreut sind. Das sprichwörtliche »aus dem Auge, aus dem Sinn« gilt für die Kunst eben nicht. Und so werden die Auseinandersetzungen um abhandengekommene Kunstwerke andauern und auch weiterhin die Gemüter erregen. < Anzeige

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Kammermusiksaal der Philharmonie Foto: Peter Adamik


BERLINER PHILHARMONIKER

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Die Rätsel der Manon Lescaut

Die Kunst der kleinen Form

Vo m R o m a n d e s A b b é P r évo s t b i s zu P u c c i n i u n d H e n ze

Elīna Garanča und Jonas Kaufmann als Liedsänger

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»Lauter Berge und Königinnen! und Könige! und alle Welt!«

Versuch über die wahre Art, CPE Bach zu porträtieren

Baden-Baden, die Hauptstadt d e r S a l o n k u l tu r

R e i n h a r d G o e b e l g r atu l i e r t zu m 3 0 0 . G e b u r t s t a g

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Schöne Welt, wo bist du? Der rumänische Pianist R a d u L u p u i m Po r t r ät

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Auf der Schnell-Laufbahn Der Dirigent K r z y s z to f U r b a ń s k i

Gründungsvater der deutschen Musikbibliotheken E i n e A u s s te l l u n g i n d e r S t a at s b i b l i o t h e k zu C . P. E . B a c h


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Carl Philipp Emanuel Bach, Gottlieb Friedrich Bach zugeschriebenes Pastell, um 1733 Archiv Berliner Philharmoniker


12 8 — A U S G A B E N R . 01. 2 014

VERSUCH ÜBER DIE WAHRE ART, CPE BACH ZU PORTRÄTIEREN Zum 300. Geburtstag des Komponisten Von Reinhard Goebel

hellseherischen Qualitäten, um vorauszusagen, dass das Jahr 2014 keine große Sause wird und es vor lauter Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Niccolò Jommelli und Christoph Willibald Gluck – alle drei erblickten 1714 das Licht der Welt – gar »Land unter« heißen wird. Eher ist zu vermuten, dass dieses Jubeljahr ähnlich verläuft wie das letzte Gedenkjahr für den zweiten Bach-Sohn 1988 – ähnlich und doch anders, denn inzwischen gibt es das wiedervereinte Deutschland und das geschwätzige Internet. Und ohnehin sind jetzt, nach Verdi und Wagner, unsere Blicke erwartungsvoll auf die LutherDekade gerichtet. Ich sage es ohne Häme: Die Musik von Carl Phillip Emanuel Bach wird immer am Rande des Repertoires bleiben, wenn und weil sie bereits halbherzig und unverstanden produziert wird. Sie ist zu reich an Konnotationen aller Arten – hier ein Bezug zum Vater, dort ein Aufschrei gegen Georg Christoph Wagenseil und Johann Andreas Colizzi, E S B E DA R F K E I N E R

hier ein bizarrer Stolper-Akkord, dort ein fast unlösbares bogentechnisches Problem oder ein hingehauchtes Ornament, auf das man sich einlassen muss! Anders aber als die Musik seines 20 Jahre jüngeren Bruders Johann Christian, der der Chef-Dekorateur der letzten glanzvollen Phase des galanten Zeitalters und somit dem Moll äußerst abhold war, stellt die Musik des CPE nichts dar, sie bildet nicht ab, sondern legt Innenleben von Kopf und Herz offen – verlangt gleichermaßen und gleichzeitig distanziert-intellektuelles Verstehen und emotionale Rührung. Nein: CPE war nicht für »leichte und Damensachen« zuständig, sondern schrieb für Kenner, die die Komplexität seiner Musik verstanden und schätzten, und wenn der Vater – so wird es kolportiert – über CPEs Werke wirklich gesagt haben sollte »’s ist Berliner Blau, ’s vergilbt rasch«, so wäre das zum ersten nicht nur falsch (denn diese 1708 erfundene Tinktur galt als besonders licht- und regenbeständig), " sondern auch dumm und nicht zuletzt undankbar.

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B E R L I N E R P H I L H A R M O N I K E R – C . P. E . B A C H

Der pummelige, schielende CPE musste um die Liebe und Anerkennung seines Vaters buhlen.

In eigenartiger Verblendung sah Johann Sebastian Bach nämlich nicht, dass sein Lieblingssohn, der 1710 geborene Wilhelm Friedemann, den an ihn ergangenen Auftrag, das bachsche Erbe weiterzutragen, nicht annahm. Wilhelm Friedemann war eine groß gewachsene, elegante Erscheinung und entwickelte eine derartig flamboyante Arroganz, wie sie nur Kinder großer Eltern haben können und dürfen. Zudem war er derartig mit ihm, dem Vater, verstrickt und auf ihn fixiert, dass er sogar erst nach dessen Tod eine Ehe einging. Verarmt starb Wilhelm Friedemann Bach 1784 in Berlin. Nur mit Widerwillen mag man sich hingegen vorstellen, wie der pummelige, schielende Linkshänder Carl Philipp Emanuel um die Liebe und Anerkennung des Vaters buhlte, alles tat, um diesem zu gefallen – und dabei lebenslange Ehrfurcht nicht nur vor dem geistigen und materiellen Erbe des Vaters entwickelte, sondern auch den familiären Auftrag realisierte, dieses zu erhalten, zu vergrößern, zu verbreiten und notfalls auch zu verteidigen. Dieser Auftrag ließ sich nicht nur vom Vater, sondern auch über die Mutter Maria Barbara herleiten, »jüngste Tochter von Johann Mi-

chael Bachen, einem gründlichen Komponisten«, wie CPE in seiner Autobiografie schreibt. Er war sich mit Stolz bewusst, von beiden Elternteilen das Blut der »musicalischbachischen« Familie bekommen zu haben. Zudem mag man sich nur ungern vorstellen, welche schmerzhafte Zurücksetzung es für CPE bedeutet haben muss, anders als der ältere Bruder, gar auch als die neue »Mutter« Anna Magdalena, zu Beginn der musikalischen Ausbildung kein eigenes »Clavierbüchlein« aus den Händen des Vaters zu erhalten! Auch schrieb der Vater für ihn keine BewerbungsSchreiben, wie er das (mit dem gesamten Gewicht seiner fachlichen Autorität) für den älteren Bruder zu tun pflegte, sondern überließ diesen Sohn sozusagen sich selbst. Und als im bachschen Heim im Gebäude der Thomasschule dann Platz für weiteren Nachwuchs Anna Magdalenas benötigt wurde, verließ CPE 20-jährig die Wohnung des Vaters – und suchte sich seinen Platz in der Welt. 1738 bereits holte ihn der preußische Kurprinz Friedrich an seinen Hof in Ruppin an die Seite eines Janitsch, Benda, der beiden Grauns und Quantz – eines Künstlerkreises also, der zur Keimzelle der 1741 neugegründeten preußischen Hofkapelle wurde. Vom eigenen Vater bereits ausgiebig im klaglosen Ertragen regelmäßiger Zurücksetzung geschult, kam CPE die in seiner Jugend erworbene Fähigkeit im Umgang mit dem eitlen Despoten Friedrich II. sehr zugute: Er ertrug den König stramme drei Jahrzehnte – mit bisweilen subversivem Humor. Als der französische Botschafter nach einer Darbietung Friedrichs auf der Flöte ins Schwärmen geriet und ausrief: »und Majestät, dieser Rhythmus!«, soll CPE deutlich vernehmbar zur Seite gegrummelt haben: »Ryth-MEN!!«

LI N KS

Flötenkonzert in Sanssouci, mit C. P. E. Bach am Cembalo und Friedrich II. an der Flöte. Gemälde von Adolph Menzel, 1850/1852. Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz R E C HTS

C. P. E. Bach (Mitte) in Hamburg, 1784 Kunsthalle Hamburg


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CPE war nach dem Tod seines Paten Georg Philipp Telemann 1767 zu dessen Nachfolger als städtischer Musikdirektor in Hamburg berufen worden, hatte Berlin also längst verlassen, als 1770 im Auftrag der Kaiserin Maria Theresia – vom »brandenburgischen Kurfürsten« Friedrich stets und nur als »Königin von Ungarn« bezeichnet – dort ein Baron van Swieten aufkreuzte, der ein profunder Musikkenner war und von der habsburgischen Geheimdiplomatie quasi als Horchposten in Berlin positioniert wurde. Der auch für die habsburgische Außenpolitik zuständige Staatskanzler der Kaiserin, Wenzel Anton Fürst von Kaunitz-Rietberg, muss über van Swietens Antrittsbesuch bei Friedrich II. begeistert gewesen sein, denn es geschah genau das, was man erhofft hatte: Der König und der Baron unterhielten sich über Kunst und Musik! K E I N E R Ü C K S I C H T AU F S C H W I E R I G K E I T E N

Vermutlich über Johann Philipp Kirnberger, einen jener selbsternannten Nachlassverwalter Johann Sebastian Bachs, von denen es in Berlin nur so wimmelte und die sich mit spitzer Feder gegenseitig blutige Wunden beizubringen pflegten, erhielt van Swieten Kenntnis vom Schaffen des Ex-Berliners Bach und bestellte 1773 sechs Symphonien bei ihm, »in welchen er sich nach van Swietens Wunsch ganz gehen ließ, ohne auf die Schwierigkeiten Rücksicht zu nehmen, die daraus für die Ausübung nothwendig entstehen mußten«. Diesem Zyklus der »Hamburger Sinfonien« folgten kurze Zeit später, 1776, vier

»Er ist der Vater, wir sind die Buben«, soll Mozart über CPE gesagt haben. »große« Orchester-Symphonien, deren Autograf zeitweilig im Besitz des Mozart-Schülers Abbé Maximilian Stadler gewesen ist – sodass auch dieser Zyklus »auf Verlangen« van Swietens entstanden sein könnte. Immerhin erklangen diese Werke wie auch Vokal-Kompositionen Bachs in jenen Konzerten, die der Baron nach

seiner 1776 erfolgten Abberufung von dem Berliner Posten ab 1780 in der kaiserlichen Bibliothek in Wien durchführte – und in denen Mozart, Haydn und Vanhal nicht nur mitwirkten, sondern vermutlich zum ersten Mal überhaupt mit »protestantischer« Musik konfrontiert wurden, von der ein ungeheurer Innovationsschub auf die eher langweilig-unentschiedene Musik des theresianischen Wien ausging und zusammen mit dem, was Mozart mitbrachte und Kaiser Joseph II. erlaubte, die Sturzgeburt der Klassik herbeiführte. »Er ist der Vater, wir sind die Buben. Wer von uns ’was rechtes kann, hat von ihm gelernt«, soll Mozart 1789 in Leipzig gesagt haben, aber anders als man annehmen möchte, bezieht sich dieses Wort keineswegs auf Johann Sebastian Bach, sondern auf seinen Sohn Carl Philipp Emanuel, auch wiederum nicht direkt auf Kompositionen des kurz zuvor Verstorbenen, sondern auf sein 1753 publiziertes Lehrwerk »Versuch über die wahre Art das Clavier " zu spielen«.


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Johann Sebastian Bach mit seinen Söhnen Johann Christian, Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann, um 1730 (Authentizität unsicher)

Leopold Mozart war ein umfassend gebildeter Mann, von steter Neugier getrieben und ganz in der Moderne zu Hause: Friedrich Wilhelm Marpurgs »Historisch-kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik« regten ihn an, die noch fehlende »Anweisung zur Violine« zu schreiben – noch fehlend insofern, als Johann Joachim Quantz 1752 mit seinem »Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen« den Reigen der großen deutschen Instrumentalschulen eröffnet hatte und Bach ihn 1753 sogleich fortsetzte. Beide Bücher werden mit Sicherheit in Leopold Mozarts Bibliothek vorhanden gewesen sein – und mag er auch en détail bisweilen anderer Meinung gewesen sein, so wird er ganz sicher seinen Sohn in der bachschen Applicatur, der neuen Art der Fingersetzung, des Fingersatzes unterrichtet haben – die der junge Wolfgang Amadé wiederum auch bei seinem Londoner Lehrer Johann Christian Bach antreffen sollte. G E N IALI SCH Z E R R I SS E N

Er, der »große Bach« der galanten Musik, dessen Werke in Paris, London, Mailand, Neapel, Mannheim zu Begeisterung hinrissen, gab den Mozarts erstrebenswertes Klangideal und Kompositions-Vorbild – nicht aber die genialischzerrissene Denk- und Schreibweise des CPE! Es war eher Haydn, der sich in seinen späten Symphonien der Manier des für ihn bereits »Hamburger« Bachs annäherte und besonders in den Durchführungen von dessen Erfindungsgabe, dieser unübertrefflichen »ars combinatoria« profitierte. »In der Komposition und im Clavierspielen habe ich nie einen anderen Lehrmeister gehabt, als meinen Vater« – und dennoch komponierte er anders als der ältere Bruder, den der Vater eben nicht an der langen Leine laufen ließ. CPE verabschiedete sich schon früh von den qualvollen

Continuo-Figuren des Spätbarock und wandte sich dem galanten Trommelbass zu, ohne indes den DissonanzenReichtum als Familienerbe zu verleugnen. Hatte der Vater es verstanden, dem fröhlichen Gedudel des italienischen Concertos durch die Ordnung der Gedanken einen rhetorischen Überbau zu geben, so gab CPE den Tönen die Seele – aus der formalen Klangrede wurde die persönliche Tonsprache. Am beeindruckendsten ist dies wohl zu sehen in der Triosonate c-moll Wq 161, dem Schlüsselwerk schlechthin zum Verständnis des empfindsamen Stils. Im Vorbericht der Druckausgabe von 1751 lässt der Komponist dazu wissen: »In dem ersten Trio hat man versucht, durch Instrumente etwas, so viel als möglich ist, auszudrücken, wozu man sonst viel bequemer die Singstimme und Worte brauchet. Es soll gleichsam ein Gespräch zwischen einem Sanguineus und Melancholicus vorstellen [...] Man verbittet zum Voraus, alle Spöttereyen, wenn man für nöthig findet, denjenigen, welche noch nicht genugsam Einsicht in die musicalischen Ausdrücke besitzen, zu gefallen, einige Anmerkungen über alle vorkommende Hauptstellen der ersten zweyen Sätze dieses Trio, hinzu zu fügen […].« Was CPEs Schriftsprache verlangt, gilt auch für seine Kompositionen: Man muss sie mindestens drei Mal lesen, um sie auch nur annähernd zu verstehen – und genau das macht seine zudem noch überaus schwer zu spielenden

CPE machte aus der formalen Klangrede die persönliche Tonsprache. Kompositionen so ungeeignet für den modernen Konzertbetrieb, insonderheit in einem runden Jubeljahr: Erwartet man da nicht eher Eingängiges, beim ersten Hören gleich donnernden Applaus generierende Werke? Wir wüssten da »authentische« Abhilfe: Händels »Messias« beispielsweise, den Bach 1774 in den von seinem Paten und Vorgänger Telemann etablierten öffentlichen Konzerten in Hamburg präsentierte – aber besser noch Jommellis Requiem sowie Glucks »Orfeo«, die er, im Alter berührungsangstfrei, den Hamburger Pfeffersäcken zu Gehör brachte! Ob er wusste, dass diese beiden Kollegen ebenfalls im Jahre 1714 geboren wurden und man 2014 auch deren 300. Geburtstag feiern könnte? Immerhin wissen SIE genau DAS jetzt! <

KO N Z E R T T E R M I N E Berliner Barock Solisten, Kristian Bezuidenhout (Hammerflügel) und Jacques Zoon (Flöte): am 8. März 2014, 20 Uhr, im Kammermusiksaal. Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker, Reinhard Goebel (Leitung): am 12. März 2014, 20 Uhr, im Kammermusiksaal.


t i e z r e d e j t e n r d e t n n u im I

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Klavierhelmut Foto: Stella Marie Hombach


FEUILLETON

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F EU I L L E TO N — I N S T R U M E N T A L S L E B E N S PA R T N E R

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Foto: Sebastian Hänel


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MEIN INSTRUMENT ALS LEBENSPARTNER Diesmal mit Manfred Preis und seiner Bassklarinette

DIE KLARINETTE HAT MICH VERFÜHRT, als ich 15 war. Es gab damals einen Jazz-Klarinettisten namens Mr. Acker Bilk, der hat diese banalen Unterhaltungsmusiken gespielt, mit kuscheligem Ton und viel Vibrato, so wie im Nachtclub. Pubertäre Sehnsuchtsklänge. Das hat mich angemacht. Und ich habe schnell gemerkt, dass mir dieses Instrument einfach liegt: spielerisch, wegen seines Klangs, seiner Vielseitigkeit. Die Klarinette war sozusagen meine erste große Liebe. Aber dann kam die Bassklarinette, und die hat mir gezeigt, was Verführung wirklich heißt! Sie hat mich verführt mit ihrem magischen, manchmal unheimlichen Klang, ihrem Reiz des Geheimnisvollen, wie ein Raunen uralter Mythen, wie das anfangslose So-Sein der Buddhisten. In den Höhen hat sie einen Klang voller Weite und Spiritualität, der die ganze Welt umarmt. Nicht zuletzt durch Herbert von Karajan habe ich gelernt, viel tiefer in den Klang hineinzuhorchen. Man kann die Bassklarinette nicht einfach wie die Klarinette spielen, sie erfordert eine ganz andere Berührung. Sie ist wie ein großer, kuscheliger Hund. Klar, dass der sich anders bewegt als ein kleiner Hund. Viel gemütlicher,

aber auch kraftvoller. In die Bassklarinette muss man schon ganz anders hineinblasen, viel mehr Luft bewegen. Aber das, was du durch das Instrument schickst, musst du vorher schon in dir vorbereitet haben. Das Instrument selbst ist tot, der Ton entsteht nicht, wenn du da reinbläst. Er ist in dir und wird durch das Instrument hörbar. Man muss sich also innerlich viel stärker weiten als bei der Klarinette, eine größere Dimension aufbauen. So hat die Bassklarinette mein Körpergefühl enorm verändert. Man wächst an so einem Instrument, als Bläser und auch, was das klangliche Gestaltungsvermögen angeht. Das ist nicht nur eine körperliche, sondern auch eine mentale Sache. Wenn man so ein großes Instrument zum Klingen bringen möchte, muss man ausloten: Wie viel Druck braucht es? Wie weit kann ich gehen, ohne dass es grell, forciert, gepresst wird? Was mich an der Bassklarinette nervt? Ehrlich gesagt, überhaupt nichts! Das ist wie bei einer idealen Frau: Die hat auch ihre Macken, aber ich mag das und kann gut damit umgehen. Sie ist, wie sie ist – und für mich passt das perfekt! <

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NACHSPIEL — AUSBLICK

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VOK ALHE LDE N Hundert Kinder, drei Berliner Bezirke, ein Ziel. A b b i l d u n g: N a d i a B u d d e

DANIEL BARENBOIM Der Dirigent und Pianist im Gespräch F o t o: E M I C l a s s i c s / Sheila Rock

Die nächste Ausgabe erscheint am 3. Juni

RICHARD STR AUSS Zum 150. Geburtstag des Komponisten F o t o: A r c h i v B e r l i n e r P h i l h a r m o n i k e r


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