Ausgabe Dezember 2018

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Nr. 04 — 2 018

27.9.2018 – 7. 1. 2019 Mi – Mo 10 – 19 Uhr, Do bis 21 Uhr Unter den Linden 5, 10117 Berlin db-palaispopulaire.de

DAS MAGA ZIN DER B E R LI N E R PH I LH AR M ON I K E R

The World on Paper

Raqib Shaw: Untitled, 2003 (Detail) ©Raqib Shaw

Deutsche Bank Collection

€ 7,00 (D)

Nr. 04 — 2 018

CLAUDIO ABBADO LEBENSWEGE

VÍKINGUR ÓLAFSSON IM INTERVIEW

ZEITENWENDE DER UMBRUCH 1918

Erinnerungen an den Dirigenten

Eine Begegnung mit »Islands Glenn Gould«

Vor 100 Jahren endete das Kaiserreich


VORSPIEL — EDITORIAL

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»128« heißt dieses Magazin der Berliner Philharmoniker, abgeleitet von der Anzahl der Mitglieder des Orchesters (wenn es voll besetzt ist). Mit diesem Namen und dem Seitenumfang des Hefts wollen wir betonen, woraus die Besonderheit dieses Kollektivs erwächst: aus den ganz individuellen Qualitäten jedes einzelnen Musikers, jeder einzelnen Musikerin, die schließlich im Spiel einen einzigartigen Ensemblegeist prägen.


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Liebe Musikfreunde, als Claudio Abbado am Abend des 21. Mai 2013 vor die Berliner Philharmoniker trat und zu Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik »Ein Sommernachtstraum« den Einsatz gab, ahnte wohl niemand, dass soeben das letzte Konzert der Philharmoniker unter seiner Leitung begonnen hatte. Acht Monate später – am 20. Januar 2014 – starb Claudio Abbado im Alter von 80 Jahren in Bologna. Aus Anlass seines fünften Todestages erinnern wir mit einer Konzertreihe und einer Ausstellung an den ehemaligen Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker. Doch damit nicht genug: Wir widmen ihm auch den Schwerpunkt dieser »128«-Ausgabe. Darin ziehen wir eine Bilanz seines künstlerischen Wirkens, besuchen die Staatsbibliothek zu Berlin, in der Abbados Nachlass aufbewahrt wird und lassen Freunde und Zeitgenossen des Musikers zu Wort kommen. Im Ressort Berliner Philharmoniker wenden wir uns wie immer dem Orchester und seinem Haus zu. Der junge Pianist Víkingur Ólafsson erzählt »128« von seinem bevorstehenden Solo-Debüt im Kammermusiksaal der Philharmonie, seiner isländischen Heimat, den Wikingern und seinen pianistischen Vorbildern. Darüber hinaus verfolgen wir Spaniens Sonderweg in der Musikgeschichte – ans Herz legen möchte ich Ihnen das Konzert von Al Ayre Español in der Reihe Originalklang –, und wir lassen uns erläutern, warum Klavierbegleiter ganz besondere Musiker sind. Im Feuilleton schließlich werfen wir zunächst einen Blick genau einhundert Jahre zurück. Ende 1918 befand sich Europa in einem grundlegenden Wandel: Deutschland hatte den Krieg verloren, die Revolution war ausgebrochen und das Kaiserreich passé. Doch zeitgleich setzte der Untergang der alten Welt enorme künstlerische Energien frei. Außerdem begegnen wir dem renommierten Maler und Illustrator Olaf Hajek, von dem das Bild auf dem Cover dieses Magazins stammt. Ich wünsche Ihnen wie immer eine anregende und unterhaltsame Lektüre Ihres »128« und viele unvergessliche Konzerte mit den Berliner Philharmonikern.

Herzlich, Ihre Andrea Zietzschmann

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V O R S P I E L — I N H A LT

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INH A LT Thema: Claudio Abbado Ein Schwerpunkt

Víkingur Ólafsson Der isländische Pianist im Gespräch über Bach und die Wikinger

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78 Bin ich zu laut? Warum Klavierbegleiter besondere Musiker sind

Olaf Hajek Wie klingen die Bilder des Berliner Malers?

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Fotos: Cordula Groth (oben links), Ari Magg / DG (oben rechts); Bridgeman Images (unten links); Olaf Hajek (unten rechts)

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TH E MA: C L AU D I O A B B A D O

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Dirigent für eine neue Zeit Erinnerungen an Claudio Abbado. Vo n P e t e r H a g m a n n

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Der Unermüdliche Claudio Abbado als Orchestergründer. Vo n A r n t C o b b e r s

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Von der Magie der Vergangenheit Claudio Abbados Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin.

B E R LI N E R PH I LHAR MON I KE R

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Auf der hellen Seite des Mondes Eine Begegnung mit dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson. Vo n J ü r g e n O t t e n

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Der Klang einer fernen Zeit Über den Gesang der russischen Ostkirche.

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Zeitenwende: Der Umbruch 1918 Kunst, Kultur und Revolution. Vo n M a n f r e d G ö r t e m a k e r

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Vom Klang der Bilder Der Maler Olaf Hajek. Vo n O l i v e r H i l m e s

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Tempelglocken, Löwengebrüll und Sirenen Das sogenannte Schlagzeug. Vo n S u s a n n e S t ä h r

Block H links Porträt einer Passion.

Mein Begleiter, der Virtuose Liederabende mit Starpianisten.

78

Vo n O l i v e r H i l m e s

Vo n W o l f g a n g S t ä h r

Abbado und ich Freunde und Zeitgenossen erinnern sich an Claudio Abbado.

Triste España Spaniens Sonderweg in der Musik.

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FE U I LLETON

Vo n B j ø r n W o l l

Vo n O l i v e r H i l m e s

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Vo n Vo l k e r Ta r n o w

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»Dunkel ist das Leben, ist der Tod.« Ein Porträt des Komponisten Louis Vierne. Vo n M i c h a e l S t e g e m a n n

VOR S PI E L

03 Vorwort 06 Text & Bild 08 Nachrichten 12 Zahlenspiel NACH S PI E L

112 Bücher und CDs 122 Konzertkalender 126 Ausblick 126 Impressum 127 Fragebogen 128 Cartoon


VORSPIEL — TE XT & BILD

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TEXT & BILD

Oliver Hilmes ist gebürtiger Rheinländer. Zum Studium der Geschichte, Politik und Psychologie zog er zunächst nach Marburg, dann nach Paris und schließlich nach Berlin. Mit Gustav Mahlers Fünfter Symphonie hatte er sein musikalisches Erweckungserlebnis, folgerichtig schrieb er als Historiker seine Doktorarbeit über Mahler. Im Zuge der Recherchen wertete Oliver Hilmes in Philadelphia den Nachlass von Mahlers Witwe Alma aus. In einem der 46 Archivkartons entdeckte er Almas unveröffentlichte Tagebücher. Die Geschichte der Alma Mahler-Werfel hat ihn so fasziniert, dass er darüber ein Buch schrieb: »Witwe im Wahn«. Danach wandte er sich einer anderen Künstlerwitwe zu: Cosima Wagner. Als ein Literaturkritiker meinte, dass Oliver Hilmes der Experte für berühmtberüchtigte Witwen sei, schrieb er danach lieber über Männer. 2011 erschien seine Biografie über Franz Liszt, zwei Jahre später ein Buch über

König Ludwig II. von Bayern. Oliver Hilmes´ letztes Buch »Berlin 1936« erzählt von den Olympischen Spielen in Berlin. Er begleitet Sportler, Künstler, Restaurantbesitzer, Transvestiten und NS-Größen durch die sechzehn Tage der Olympiade und verknüpft die Ereignisse zum Porträt einer Stadt und ihrer Bewohner, die wild entschlossen sind, das Leben noch einmal voll auszukosten. Für die Stiftung Berliner Philharmoniker ist Oliver Hilmes schon lange tätig. Neben der Orgelkonzertreihe, dem »Philharmonischen Diskurs«, den Foyerausstellungen sowie manchen spannenden Sonderprojekten verantwortet er seit dieser Ausgabe auch das Magazin »128« als Chefredakteur. Für seine erste Ausgabe begab er sich auf die Suche nach Claudio Abbado. Er traf eine beeindruckende Frau, die alles über den Dirigenten weiß und begegnete einem faszinierenden Künstler, der Abbado für »128« malte. S.40, 46, 104 "

P E T E R H AG M A N N Peter Hagmann ist seit 1972 als Musikkritiker tätig. 1950 in Basel geboren, erhielt er 1978 sein Diplom als Organist; 1982 wurde er in Musikwissenschaft promoviert. Zunächst als freier Mitarbeiter für verschiedene Medien tätig, ging er 1986 als Musikkritiker zur »Neuen Zürcher Zeitung«, deren Feuilleton er von 1989 bis 2015 als Redakteur mitgestaltete. Daneben wurde er zu Lehraufträgen und in Jurys eingeladen. Heute widmet er sich als Musikkritiker einer Fülle unterschiedlicher Aktivitäten – als Autor, als Gast in Rundfunksendungen, als Experte an der Musikhochschule Zürich und als musikalischer Berater. Im Vordergrund steht aber sein Blog für klassische Musik, den er unter dem Titel »Mittwochs um zwölf« auf www.peS.16 terhagmann.com betreibt. "

Fotos: NZZ (P. Hagmann); Maximilian Lautenschläger (O. Hilmes); privat (J. Otten); Karla Frtitze, Universität Potsdam (M. Görtemaker); Privat (O. Hajek)

OLIVER HILMES


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JÜRGEN OT TEN

MANFRED GÖRTEMAKER

OLAF HAJEK

Jürgen Otten, 1964 in Meppen/ Ems geboren, studierte Schulmusik, Klavier und Germanistik in Detmold, Würzburg und Frankfurt am Main. Er war Mitherausgeber eines literarischen Kneipenführers und arbeitete seit 1992 als Musik- und Theaterjournalist für verschiedene Medien, darunter die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, die »Süddeutsche Zeitung«, »Musik & Theater«, »Theater der Zeit«, »Opernwelt« und »DeutschlandRadio Kultur«. Von 2005 bis 2007 war er Theater-Redakteur der »Leipziger Volkszeitung«, danach freischaffender Journalist, Publizist und Autor. Zu seinen Publikationen zählen: »Herbert von Karajan. Bilder eines Lebens« (2007), »Große Pianisten der Gegenwart« (2009), »Fazil Say: Pianist, Komponist, Weltbürger« (2011). In den Jahren 2011 bis 2016 war Jürgen Otten als Dramaturg in Weimar und Kassel tätig, seither ist er Redakteur bei S.62 der Zeitschrift »Opernwelt«. "

Manfred Görtemaker, geboren 1951, studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Publizistik in Münster und Berlin. Seit 1992 ist er ordentlicher Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam. Gastprofessuren an der Duke University und am Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, sowie am St Antony’s College der University of Oxford und an der Università di Bologna. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter: »Unifying Germany 1989–1990« (1994); »Geschichte der Bundesrepublik Deutschland« (1999); »Weimar in Berlin. Porträt einer Ära« (2002); »Geschichte Europas 1850–1918« (2002); »Thomas Mann und die Politik« (2005); »Die Berliner Republik. Wiedervereinigung und Neuorientierung« (2009); »Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NSS.96 Zeit« (2016). "

Olaf Hajek wurde 1965 in Düsseldorf geboren und schloss sein Grafikdesign-Studium an der dortigen Fachhochschule ab. Hajek gehört zu den international bekanntesten Illustratoren. Man findet seine Arbeiten in Zeitungen und Zeitschriften wie »The New York Times« und »Rolling Stone«, in Anzeigen renommierter Unternehmen oder auch schon einmal auf einer Briefmarke der britischen Royal Mail. In der Tradition von André Bretons Essay »Le Surréalisme et la peinture« erschafft Olaf Hajek farbenprächtige Traumwelten, die oft von folkloristischer Naivität und Frische geprägt sind. Hajeks bildnerisches Werk wurde in vielbeachteten Einzelausstellungen in Hamburg, München, Berlin, Atlanta und Kapstadt gezeigt. Das Porträt von Claudio Abbado entstand exkluS.104 siv für »128«. "


VORSPIEL — NACHRICHTEN

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PHILH A R MONISCHE NACHR ICHTEN

35 JAHRE SCHAROUN ENSEMBLE BERLIN Das 1983 gegründete Scharoun Ensemble behauptet nun schon seit dreieinhalb Jahrzehnten einen festen Platz im internationalen Konzertleben. Seine Mitglieder laden zu ihrem eigenen Festival vor schneebedeckten Gipfeln ins schweizerische Zermatt, residieren alljährlich bei der American Academy in Rom und widmen sich im Europäischen Krzysztof-Penderecki-Musikzentrum in Lusławice der Förderung junger Musiktalente. Dabei gestalteten sich die Anfänge der Formation durchaus verhalten. Kontrabassist Peter Riegelbauer, seit der Gründung dabei, erinnert sich: »Wir haben wochenlang nur geübt, an die Öffentlichkeit haben wir uns eher vorsichtig herangetastet. Unser erstes Konzert fand

in einem Steglitzer Gemeindehaus statt, also an einem Ort, der nicht so im Rampenlicht stand.« Es folgten einige Hauskonzerte, dann ein Auftritt bei einer Veranstaltung im Max-Planck-Institut, und allmählich wurden Berliner Konzertveranstalter auf das neu gegründete Ensemble aufmerksam. Bereits bei seinem ersten öffentlichen Auftritt konnte das Ensemble beim inspirierten Spiel von Franz Schuberts berühmtem Oktett durch »ausgefeilte Klangschönheit« und »eine Geschlossenheit und Intensität, die auf ein hohes Maß an Verständigung und Einverständnis aller beteiligten Musiker hindeutet«, brillieren (»Der Tagesspiegel«). Was folgte, waren unzählige Konzerte, in denen die Musiker immer wieder begeistern konnten: mit erlesenen Programmen, in denen Raritäten und Entdeckungen vertreten waren – wie

etwa Louise Farrencs Septett oder ihr Nonett, wobei die Bezüge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hör- und erlebbar wurden. Mit Klarinette, Fagott, Horn, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass orientiert sich das Scharoun Ensemble zwar an der klassischen Oktettformation, doch wurde die Stammbesetzung aufgrund der vielen terminlichen Engpässe inzwischen von acht auf neun erhöht: Wolfram Brandl, Rachel Schmidt und Christophe Horak nehmen abwechselnd an den beiden Geigenpulten Platz. Hinzu kommen Micha Afkham (Viola), Claudio Bohórquez (Cello), Peter Riegelbauer (Kontrabass) sowie die philharmonischen Bläser Alexander Bader (Klarinette), Markus Weidmann (Fagott) und Stefan de Leval Jezierski (Horn). Die Konzerte werden regelmäßig durch die

Fotos: © Felix Broede (links); Peter Adamik (rechts)

M. Afkham, C. Bohórquez, A. Bader, R. Schmidt, W. Brandl, S. de Leval Jezierski, C. Horák, M. Weidmann, P. Riegelbauer


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Mitwirkung weiterer Musiker bereichert, da das umfangreiche Repertoire des Scharoun Ensembles über das eines Oktetts hinausgeht. So musizierte es etwa mit Sängerinnen und Sängern wie Thomas Quasthoff, Annette Dasch, Simon Keenlyside und Barbara Hannigan, aber auch mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Pierre Boulez, Peter Eötvös sowie Simon Rattle. Zudem realisierte es spartenübergreifende Projekte mit Künstlerinnen und Künstler wie Fanny Ardant, Dominique Horwitz oder Loriot. Mit ihrer Orientierung am Vermächtnis des visionären Architekten Hans Scharoun, der mit der Berliner Philharmonie weltweit Maßstäbe setzte, folgen die Mitglieder der Kammermusikgruppe einem künstlerischen Selbstverständnis, das dem Erbe der Vergangenheit ebenso verpflichtet ist wie den Herausforderungen der Gegenwart. Kein Wunder also, dass das Scharoun Ensemble zahlreiche Werke uraufgeführt hat, Kompositionen von Thomas Adès, Hans Werner Henze, György Kurtág, György Ligeti, Matthias Pintscher, Wolfgang Rihm, Jörg Widmann, Isang Yun und vielen anderen. Im Jubiläumskonzert, das am 16. Februar 2019 im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie stattfindet, zeigt das Ensemble gemeinsam mit weiteren Musikerkollegen einmal mehr seine stilistische Bandbreite. Eingeleitet wird der Abend mit einem effektvollen Oktett, das der philharmonische Composer in Residence George Benjamin im Alter von 18 Jahren geschrieben hat. Es folgt Arnold Schönbergs Zweites Streichquartett, in dessen viertem Satz die israelische Sopranistin Rinnat Moriah Stefan Georges berühmte Zeile »Ich fühle Luft von anderem Planeten« zu Gehör bringt. Nach der Premiere einer Neukomposition von Mark Andre endet der Abend mit Sofia Gubaidulinas »Hommage à T. S. Eliot« für Sopran und Oktett. H.H.

30 JAHRE PHILHARMONISCHES BLÄSERQUINTETT Das Bläserquintett gehört wie das Streichquartett zur Königsdisziplin der Kammermusik. »Als Orchestermusiker empfinden wir es als großen Gewinn, im Bläserquintett zu spielen – weil wir gelernt haben, ganz anders aufeinander zu hören«, meint Walter Seyfarth, Klarinettist der Berliner Philharmoniker. Er weiß, wovon er spricht. Seit 30 Jahren ist er Mitglied des Philharmonischen Bläserquintetts Berlin, ein Ensemble, das durch seine Initiative ins Leben gerufen wurde: 1988 erhielt Walter Seyfarth die Einladung, in Quintettformation im Café Einstein aufzutreten. Für dieses Ereignis konnte er seine philharmonischen Kollegen, den Flötisten Michael Hasel, den Oboisten Andreas Wittmann, den Hornisten Fergus McWilliam und den

M. Reinhard, F. McWilliam, W. Seyfarth, M. Hasel, A. Wittmann

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Fagottisten Henning Trog, begeistern. Der große Erfolg ihres Konzerts ermutigte die Musiker, weiterhin in dieser Besetzung zusammenzuarbeiten. Nur einmal kam es in all der Zeit zu einem Wechsel: Als Henning Trog in den Ruhestand ging, übernahm die Fagottistin Marion Reinhard seine Position. Anders als beim Streichquartett ist das Instrumentarium mit vier verschiedenen Holzbläsern und einem Blechblasinstrument sehr heterogen. Darin liegt die Herausforderung, aber auch der Reiz. »Wir haben in den 30 Jahren versucht, klanglich über das, was man normalerweise von einem Bläserquintett kennt, hinauszugehen«, erklärt Andreas Wittmann. »Uns war wichtig, mehr Klangfarben zu finden und Mischfarben zu kreieren. Das Publikum soll den Eindruck haben, dass ein größeres Ensemble spielt.« Im Gegensatz zum Streichquartett ist die Literatur für "


VORSPIEL — NACHRICHTEN

die Bläserbesetzung überschaubar, zumal sich die Musiker von Anfang an einig waren, nur Originalwerke, keine Bearbeitungen zu spielen. »Das schränkt die Repertoireauswahl schon sehr ein«, schmunzelt Michael Hasel. »Wir spielen oft die gleichen Stücke. Aber dadurch kennen wir sie immer besser und intensiver. Wir haben das Repertoire richtig verinnerlicht.« Ein großer Teil der Kompositionen stammt aus dem 20. Jahrhundert, in dem das Bläserquintett eine Renaissance erlebte. Außerdem entstand für das Ensemble eine Reihe zeitgenössischer Stücke. Für die Musiker sind diese Werke oftmals physisch sehr herausfordernd. »Wir kommen uns manchmal wie Marathonläufer vor. Im Quintett sind wir permanent gefordert, nicht nur als Tuttist, sondern als Solist«, erklärt Andreas Wittmann. Zum Jubiläumskonzert laden die fünf Musiker am 15. Januar 2019 in den Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie. Auf dem Programm stehen Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Pavel Haas, György Ligeti und Carl Nielsen. Im Februar 2019 gehen die Musiker dann auf ihre 18. Amerikatournee; es wird die letzte sein. Denn die Zeichen stehen auf Diminuendo, nachdem Marion Reinhard vor ein paar Jahren an die Mailänder Scala wechselte und Fergus McWilliam und Walter Seyfarth bald in den Ruhestand gehen. Die fünf Bläser sind sehr dankbar für die gemeinsame Zeit, die sie menschlich zusammenwachsen und künstlerisch reifen ließ. Wesentlich für die Entwicklung des Ensembles waren auch die über 20 CD-Einspielungen, die im Laufe der Jahre entstanden. »Das Wunderbare nach all den Jahrzehnten ist, dass wir gar nicht mehr viel reden müssen. Wir sind aufeinander eingespielt und kennen die Reaktion der anderen«, freut sich Walter Seyfarth. Die anderen nicken zustimmend: »Das verhält sich wie mit einem guten Rotwein: Er wird über die Jahre immer besser.« N.R.

IN MEMORIAM GÜNTER PIESK Er hat noch unter Wilhelm Furtwängler gespielt: Günter Piesk, von 1947 bis 1987 Fagottist der Berliner Philharmoniker, starb im Juli 2018 im Alter von 97 Jahren. »Er war ein prägendes Mitglied der Holzbläsergruppe der Karajan-Zeit, die bis heute einen legendären Ruf genießt«, würdigt Alexander Bader, Klarinettist und Mitglied des Orchestervorstands der Berliner Philharmoniker, den Verstorbenen. »Sein Wissen gab er mit großem Engagement weiter, sowohl als Herausgeber von Orchesterstudien wie auch als Lehrer zahlloser Fagottisten aus aller Welt. Wir trauern um einen großartigen Musiker, mit dem uns zugleich einer der letzten Philharmoniker der Furtwängler-Ära verlässt.« Günter Piesk, 1921 in Görlitz geboren, stammte aus einer Musikerfamilie: Der Vater war Trompeter, der Großvater Fagottist. Er selbst träumte davon Cellist zu werden. »Aber wenn man so’n Piefke is’, dann ist das nicht das Richtige«, bekannte der Musiker einmal gegenüber dem Magazin der Berliner Philharmoniker. Er studierte zwar an der Berliner Musikhochschule zunächst Cello, wechselte jedoch bald zum Fagott. Seine musikalische Ausbildung wurde durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft unterbrochen. Nach seiner

Rückkehr übte er hart, um an seine früheren Leistungen anzuknüpfen. Der Lohn seiner Mühe: 1947 stellten ihn die Berliner Philharmoniker als Zweiten Fagottisten ein. Ab 1956 kam zusätzlich die Position als Kontrafagottist hinzu, 1962 schließlich wurde er Solofagottist. Unermüdlich feilte er gemeinsam mit seinen Kollegen an dem besonderen Klang der philharmonischen Holzbläser. Als begeisterter Kammermusiker gehörte er zum Ensemble der 13 Bläser der Berliner Philharmoniker. Darüber hinaus engagierte er sich in verschiedenen Orchestergremien, so war er u. a. Vorsitzender des Personalrats sowie von 1970 bis zu seiner Pensionierung 1987 Mitglied des Fünferrats und setzte sich in diesen Funktionen maßgeblich dafür ein, dass sich die Bedingungen für die Musiker bei den Konzertreisen verbesserten. Voller Leidenschaft und bis ins hohe Alter widmete sich Günter Piesk als Lehrer der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker und als Professor an der Hochschule (heute: Universität) der Künste Berlin der Ausbildung junger Musiker. Für seinen Einsatz erhielt der Fagottist das Bundesverdienstkreuz am Bande. N.R.

TR AUE R UM MARTIN FISCHER »Es war für mich immer ein Erlebnis, in diesem Orchester zu spielen und meinen Bratschenton und Ausdruck dazuzugeben. Ein bloßes Mitspielen und Anpassen an das Spiel der Kollegen genügte nicht«, schrieb Martin Fischer in seinen 2016 veröffentlichten Lebenserinnerungen. Nun ist der Musiker, der 36 Jahre lang, von 1960 bis 1996, Mitglied der Bratschengruppe der Berliner Philharmoniker war, im Juni 2018 gestorben. Das Orchester trauert nicht nur um einen exzellenten Musiker, der seinen Beruf mit großer Leidenschaft und Begeisterung

Fotos: Reinhard Friedrich (links), G. Zimmerman (rechts)

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ausübte, sondern auch um eine Persönlichkeit, die sich als Vorstand der Kameradschaft (heute: Gemeinschaft) der Berliner Philharmoniker von 1981 bis zur Pensionierung für den menschlichen Zusammenhalt im Orchester engagiert hat. Für diesen Einsatz wurde Martin Fischer 1996 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 1931 als Sohn eines Organisten und Musiklehrers in Königsberg geboren, begann er als Neunjähriger mit dem Geigenspiel. Kindheit und Jugend waren geprägt von der Nazi-Diktatur, von Krieg und Flucht. In Berlin gelang der Neuanfang: Während der Gymnasialzeit bekam Martin Fischer die Gelegenheit, im RIAS-Schulfunkorchester mitzuwirken. Von da an wusste er, dass er die Musik zum Beruf machen wollte,

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und er begann ein Musikstudium in Berlin. Weil es an der Hochschule keine Geigenlehrer gab, entschloss er sich, auf das tiefere Streichinstrument umzusteigen. »Ich merkte, dass der ernste, dunkle Klangcharakter der Bratsche zu meinem ostpreußisch-melancholischen Erbteil passte.« Der Studienzeit in Berlin und Freiburg folgten berufliche Anfänge als Kammermusiker und Mitglied der Festival Strings Lucerne, ehe er 1960 seine Stelle bei den Berliner Philharmonikern bekam. Die Zeit in diesem Orchester empfand der Bratscher, der lange Jahre auch Mitglied des Böttger-Quartetts war, als eine Zeit voller Höhepunkte. Immer wieder brachte Martin Fischer seine tiefe Dankbarkeit für ein Schicksal zum Ausdruck, das ihn beruflich wie privat reich beschenkt hat. N.R.

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VORSPIEL — Z AHLENSPIEL

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ZA HLENSPIEL Die Welt des Claudio Abbado in Zahlen

Von Claudio Abbado geleitete Orchester

688 Berliner Philharmoniker

544 Orchestra & Filarmonica della Scala

529 Wiener Philharmoniker & Wiener Staatsoper

357 London Symphony Orchestra

191 Chamber Orchestra of Europe

147 Chicago Symphony Orchestra

127 Orchestra Mozart 109 Gustav Mahler Jugendorchester 91 Mahler Chamber Orchestra 76 Lucerne Festival Orchestra 73 Israel Philharmonic 64 Philadelphia Orchestra 63 European Community Youth Orchestra 40 New York Philharmonic


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Claudio Abbados letztes Konzert fand am 26. August 2013 mit dem Lucerne Festival Orchestra statt. Auf dem Programm stand an jenem Montag Anton Bruckners Neunte Symphonie. Dazwischen liegen gut 60 Jahre, in denen Abbado knapp 3500 Auftritte absolvierte. »128«

hat nachgerechnet und diese enorme Bilanz weiter aufgeschlüsselt: Links sind die von Claudio Abbado geleiteten Orchester dokumentiert, rechts die von ihm aufgeführten Komponisten. Und wer steht an der Spitze? – Die Berliner Philharmoniker und Ludwig van Beethoven.

Von Claudio Abbado aufgeführte Komponisten

712 Ludwig van Beethoven

623 Wolfgang Amadeus Mozart

449 Gustav Mahler

398 Johannes Brahms

309 Franz Schubert

223 Giuseppe Verdi

197 Johann Sebastian Bach

174 Igor Strawinsky

165 Sergej Prokofjew 123 Alban Berg 115 Anton Bruckner 107 Richard Wagner 105 Richard Strauss 104 Robert Schumann 83 Claude Debussy 83 Béla Bartók 80 Felix Mendelssohn Bartholdy

Foto: Marco Caselli

Claudio Abbados erster öffentlicher Auftritt, der aktenkundig wurde, datiert vom 22. Dezember 1953. Damals trat er aber nicht als Dirigent in Erscheinung, sondern als Pianist. Unter Carlo Maria Giulinis Leitung spielte der 20-Jährige ein Klavierkonzert Johann Sebastian Bachs.


Ein musikalischer GruĂ&#x; Wolfgang Rihms an Claudio Abbado


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VON DER MAGIE DER VERGANGENHEIT Claudio Abbados Nachlass in der Staatsbibliothek zu Berlin Vo n O l i ve r H i l m e s

Abbildungen: SBB-PK

E S G I B T M A G I S C H E Orte, von denen

eine eigene Kraft ausgeht. Das sind häufig Gebäude oder Plätze, die über eine schöpferische Atmosphäre verfügen, die durch den Geist der dort tätigen Menschen geprägt sind. Die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin ist so ein magischer Ort, zumindest für Wissenschaftler, Musiker und Musikliebhaber. Wer sich ernsthaft mit Musik beschäftigt, wird früher oder später einmal dieses Eldorado aufsuchen. Manche Besucher kommen nur wenige Male, andere kehren für den Rest ihres Lebens immer wieder dorthin zurück. Dafür gibt es gute Gründe. Die Bestände der Musikabteilung umfassen derzeit etwa 500.000 Notendrucke, 120.000 Bücher, 68.000 Musikautografen, 80.000 Briefe, 8000 Bilder und Porträts, 20.000 Libretti und 43.000 Tonträger. In Berlin werden etwa 80 Prozent aller Handschriften Johann Sebastian Bachs aufbewahrt, darüber hinaus besitzt die Bibliothek die größten Sammlungen mit Autografen von Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Maria von Weber. Last, but not least darf man in dem Prachtbau auf dem Boulevard Unter den Linden die Originale von Ludwig van Beethovens Symphonien mit den Nummern Vier, Fünf, Acht und Neun

sein Eigen nennen – letztere ist sogar Weltkulturerbe. Der Geist dieser Einrichtung wird auch durch rund 450 Nachlässe bestimmt. Darunter befinden sich die Hinterlassenschaften von Ferruccio Busoni, Peter Cornelius, Dietrich Fischer-Dieskau, der Familie Mendelssohn sowie Ruth Zechlin, um nur einige wenige zu nennen. Außerdem besitzt die »Stabi« seit geraumer Zeit die Nachlässe der ersten drei Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker – Hans von Bülow, Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler; nun wurde die Sammlung kürzlich um das musikalische Erbe eines anderen Chefdirigenten erweitert: Claudio Abbado. U M F A N G R E I C H E R B E S TA N D

Es ist ein großzügiges Geschenk, das die von den Erben in Mailand gegründete Fondazione Claudio Abbado der Staatsbibliothek machte. Zum Nachlass gehören rund 1700 Partituren, handschriftliche Aufzeichnungen, zahlreiche Audio- und Videoveröffentlichungen, musikwissenschaftliche Fachliteratur sowie ein umfangreicher Briefbestand. Die Berliner Philharmoniker werden den Nachlass inhaltlich kuratieren. Eine entsprechende Vereinbarung haben Paolo Lazzati, "

Die »Stabi« besitzt die Nachlässe von vier Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker.


THEMA: CL AUDIO ABBADO — NACHL ASS

Präsident der Fondazione Claudio Abbado, Barbara Schneider-Kempf, Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin, und Martin Hoffmann, damaliger Intendant der Stiftung Berliner Philharmoniker, am 3. März 2016 in der Berliner Philharmonie feierlich unterzeichnet. Meine Suche nach Claudio Abbado begann in einem der schicken Lesesäle der »Stabi« im Gebäude Unter den Linden. An einem heißen Sommertag nahm ich erstmals jenen grauen Aktenordner in die Hand, auf dessen Rücken »Nachlass Abbado« steht. Der Bestand sei noch nicht in allen Einzelheiten verzeichnet, hieß es, sodass ich mich dazu entschloss, Archivbox für Archivbox durchzusehen. Aufmerksame Aufsichtspersonen brachten mir der Reihe nach jene Kartons, die – Sarkophagen gleich – Claudio Abbados musikalisches Vermächtnis umschließen. Zahllose Briefe fielen mir in die Hände, darunter Schreiben von Giorgio Armani, Leonard Bernstein, Renzo Piano, Luigi Nono, Giorgio Napolitano, Pierre Boulez, Bernard Haitink, Roberto Benigni, Mirella Freni, George Benjamin, György Kurtág, György Ligeti, um nur einige zu nennen. ZAHLREICHE BRIEFE

Zu den ältesten Dokumenten gehört die Kopie eines Empfehlungsschreibens Herbert von Karajans vom August 1965 an den Intendanten der Hamburgischen Staatsoper Rolf Liebermann. »Ich fühle die Verpflichtung in mir, Sie über den jungen italienischen Dirigenten Claudio Abbado zu informieren«, beginnt Karajan. »Es ist außer Zweifel, dass er die größte Begabung ist, die es meines Wissens heute gibt. Vor dem Orchester ist er derart sicher als würde er schon 20 Jahre dirigieren.« Ebenso amüsant wie bewegend ist Abbados Briefwechsel mit seinem Kollegen Carlos Kleiber. Im Mai 1976 schrieb Kleiber aus München an den »lieben Claudio«: »Hier sitze ich in einem Hotel gegenüber dem Bürgerbräu, wo Hitler seine Bomben-Sache hatte. Darin machen wir ›Traviata‹-Aufnahme, molto merdoso. Claudio, ich wollte mich bei Dir nochmals bedanken, und auch bei Gabriella, für Deine Gastfreundschaft und Güte in Mailand;

und dafür, dass Du mich nicht hast lassen abreisen beim Rosenkavalier. Dein Vertrauen ist etwas ganz Großes für mich.« Claudio Abbado hat sich wiederholt für Carlos Kleiber eingesetzt. Im Herbst 1995 wollte er den kapriziösen Freund als »Conductor in Residence« an das Wissenschaftskolleg zu Berlin vermitteln. Wolf Lepenies, der Rektor der Einrichtung, schickte Kleiber auf Abbados Bitte hin eine reizende Einladung, erhielt aber eine deutliche Absage: »Da ich absolut nichts beizusteuern habe – abgesehen davon, anderen Menschen zuhören zu können –, muss ich definitiv ablehnen.« Der Briefwechsel mit Rudolf Serkin ist von wechselseitiger Verehrung geprägt, immer wieder bedankte sich der gut 30 Jahre ältere Pianist bei Abbado für die gemeinsamen Konzerte und für das freundschaftliche Miteinander. Abbado antwortete nicht minder emotional – Kopien dieser Briefe befinden sich ebenfalls im Nachlass. Gleich mehrere Mappen beinhalten die Zuschriften von Fans aus aller Welt. Mancher Zeitgenosse dankte überschwänglich für ein bestimmtes Konzert unter Abbados Leitung, andere Briefe haben hingegen einen kuriosen Charakter. Die Highschool-Schülerin Tammy Clark aus Wisconsin (USA) schrieb selbstbewusst: »Dear Claudio, wir beschäftigen uns im Musikunterricht gerade mit der Musikindustrie. Es wäre nett, wenn Du mir die folgenden Fragen beantworten könntest. Welche Jobs hattest Du, bevor Du zum Musikbusiness kamst? Was machst Du in Deiner Freizeit?« Und schließlich: »Kannst Du mir bitte einen alten Dirigierstab schicken?« Dieser Brief wurde von Abbados Sekretariat ebenso beantwortet wie die Zuschrift eines »Bewunderers« aus Süddeutschland: »Bei einem Stammtisch mit Freunden kamen wir vor Kurzem auch auf Ihre Person zu sprechen. Einer meiner Bekannten meinte, bei einer Karriere wie der Ihren komme es weniger auf Talent und Können als auf Beziehungen und Ellenbogenmentalität an. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass Sie auf diese Art und Weise Ihren Weg gegangen " sind. Um die anhaltende

Abbados Nachlass erlaubt tiefe Einblicke in die Werkstatt eines genialen Musikers.

Abbildungen: SBB-PK

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Claudio Abbados Notizen zu Béla Bartóks Divertimento für Streichorchester


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Diskussion in meinem Freundeskreis zu beenden, bitte ich höflichst um Auskunft, ob die o. g. Behauptung meines Freundes zutrifft.« W E R T V O L L E PA R T I T U R E N

V E R A N S TA LT U N G S H I N W E I S Philharmonie Foyer 20. Januar 2019 11 Uhr Vernissage der Ausstellung in Memoriam Claudio Abbado

Fotos: SBB-PK

Claudio Abbados »Dirigierzettel« zu Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe

In einer Kiste entdeckte ich sechs Poesiealben. Zwischen den hochwertig gestalteten Buchdeckeln hat ein anonymer Fan mit schöner Handschrift Gedichte und Texte von Friedrich Hölderlin, Marcel Proust und Ernst Wiechert abgeschrieben. Wie lange mag die Person für diese Fleißarbeit benötigt haben? Tage? Oder gar Wochen? Wiecherts Text trägt den Titel »Von den treuen Begleitern«. Während ich das Poesiealbum in den Händen hielt, beschlich mich das Gefühl, dass hier jemand sich selbst meinte. Nachdenklich legte ich die Alben in die Kiste zurück und schloss den Deckel. Den für Musiker interessantesten Teil der Sammlung bilden Claudio Abbados Dirigierpartituren. Auf der Innenseite eines jeden Bandes vermerkte Abbado mit Bleistift fein säuberlich alle Aufführungsorte und -daten. Die Partituren selbst hat Abbado mit ungezählten handschriftlichen Angaben zu Dynamik, Tempo und Artikulation versehen. Von erheblichem Wert sind auch die kleinen »Dirigierzettel«, die der Maestro zu jedem Stück angefertigt hat. Kaum größer als eine Zigarettenschachtel, enthalten sie mit wenigen Worten, Strichen und Symbolen Abbados Grundidee der jeweiligen Komposition. Es bleibt allerdings zu vermuten, dass nur Musiker, die ihn sehr gut kannten, auf Anhieb verstehen, was dort gemeint ist. »Bibliotheken sind das Gedächtnis der Menschheit«, lautet ein geflügeltes Wort. Claudio Abbados Nachlass ist nun ein Teil dieser geistigen Erinnerung, die die Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zu einem wahrhaft magischen Ort macht. <


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T H E M A : C L A U D I O A B B A D O — R E P O R TA G E

BLOCK H LINKS Porträt einer Passion Vo n O l i ve r H i l m e s F o to s vo n S te f a n H ö d e r at h


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A N E I N E M D E R wenigen Regentage des endlosen Sommers 2018 besteige ich am Potsdamer Platz die S-Bahn und beginne meine Wallfahrt zu Claudio Abbado. Der Maestro ist zwar seit mehreren Jahren tot, doch in Berlin lebe eine Dame, sagte man mir, die alles über Abbado wisse. Seit Jahren sammle sie jede noch so kleine Notiz über den verehrten Musiker, ja, sie sei ein wandelndes Lexikon in Sachen Abbado. Bei einer Wallfahrt hat man Zeit zum Nachdenken, zur Kontemplation und zum Gebet. Mir bleiben gerade einmal dreißig Minuten, in denen ich meine Notizen studieren und in Gedanken meine vorbereiteten Fragen Revue passieren lassen kann. Unterbrochen wird meine Besinnung nur durch das regelmäßige Halten der S-Bahn. Menschen steigen zu, andere verlassen den Waggon. Die Fahrscheine werden kontrolliert. Ein junger Mann isst Döner Kebab. Mittlerweile haben wir den S-Bahn-Ring überquert. Die Bahnhofsnamen, die nun aufgerufen werden, klingen wie die berühmten böhmischen Dörfer. Befinde ich mich wirklich noch in Berlin? An der Endstation verlasse ich das Gebäude und gehe durch die regennassen Straßen einer schmucken Villengegend. Man sieht nur wenige Menschen. Die Erde dampft, und es riecht nach Natur. Ich biege links ab, dann nach rechts, kurze Zeit später wieder nach links. Dann habe ich mein Ziel erreicht. Auf der Klingel steht Schneider. Ich könnte auch Müller, Meier, Berger oder Schmitz schreiben. Namen tun nichts zur Sache. Wenn man sich mit einem so großen Menschen wie Claudio Abbado beschäftigt, wird vieles andere ganz nebensächlich.

Foto: Stefan Hoederath

A M A N FA N G WA R K A R A JA N

Elisabeth Schneider heißt mich herzlich willkommen. Ich überreiche Blumen. Nach kurzer Zeit sind wir bereits mitten im Gespräch. Ob sie Claudio Abbados Stellvertreterin auf Erden sei, will ich augenzwinkernd wissen. Frau Schneider lacht und winkt ab. Ihre Musikbegeisterung habe ja gar nicht mit Abbado begonnen, erzählt sie. Am Anfang sei vielmehr Herbert von Karajan gewesen. Die Geschichte beginnt Mitte der 1950er-Jahre. Ihr Vater ist Beamter eines Bonner Ministeriums und erhält die Möglichkeit, sich ins europäische Ausland versetzen zu lassen. Zu einer Zeit, als die meisten Deutschen von einer Fernreise nur träumen können, lebt die Familie zunächst in London und dann ab 1959 in Paris. Die Stadt an der Seine verfügt damals über einen juwelenartigen Glanz. Überall ist Kultur, überall ist Musik. Alles, was Rang und Namen hat, macht mindestens einmal im Jahr Station in Paris. Die junge Elisabeth ist von dieser Vielfalt fasziniert. In Saint-Germain-en-Laye, wo sie das renommierte »Lycée international« besucht, hört sie die berühmte Marie-Claire Alain an der Orgel, in der Pariser Salle Pleyel Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore.

»Ich bin eine 68erin, doch aus der Art geschlagen. Mein Schwarm war Karajan – und nicht die Beatles.«

Im Frühjahr 1963 ist es dann so weit. Die Berliner Philharmoniker sind unter der Leitung ihres Chefdirigenten Herbert von Karajan im Théâtre des Champs-Élysées zu Gast. Auf dem Programm stehen das Violinkonzert sowie die Vierte Symphonie von Johannes Brahms. Elisabeth und ihre Mutter sitzen im Publikum in der Avenue Montaigne. Diese Klänge, diese Kraft. Elisabeth erlebt das abschließende »Allegro energico e passionato« der Symphonie wie in einem Rausch. Doch auch die Erscheinung des Dirigenten spricht sie an. Karajans noble Eleganz, das Weltmännische und die adlige Herkunft aus Salzburg – das alles wirkt auf sie anziehend. »Ich bin eine Achtundsechzigerin, doch aus der Art geschlagen«, lacht sie, wenn sie sich heute an jene Zeit erinnert. »Mein Schwarm war Karajan – und nicht die Beatles.« Karajan hat sie zeitlebens wohl um die Hundert Mal gehört. Als Elisabeth 1966 das Abitur besteht, will der Vater ihr Karten für die Bayreuther Festspiele schenken. Doch die Tochter möchte lieber nach Salzburg, wo ihr Idol Karajan im nächsten Jahr erstmals Osterfestspiele veranstalten wird. Am 19. März 1967 sitzt sie im Großen Festspielhaus, als sich um 17 Uhr der Vorhang zu Wagners »Walküre« hebt. Elisabeth ist ein treuer Mensch. In den folgenden Jahrzehnten wird sie jedes Jahr zu Ostern an die Salzach reisen. V O N M A I N Z I N D I E W E LT

Zurück in Deutschland, studiert Elisabeth Anglistik und Romanistik, wird in Mainz sesshaft, heiratet und arbeitet als Bibliothekarin. Ein paar Jahre später – 1978 – berichtet ihr eine Freundin von einem Dirigenten, der noch besser als Karajan sei: Claudio Abbado. Das ist für Elisabeth zunächst kaum vorstellbar, doch als sie eine Schallplatte mit Gustav Mahlers Vierter Symphonie auflegt, bekommt sie Gänsehaut. »Es hat mich gepackt«, weiß sie zu berichten. »Diese Spannung! Ja, es war ein tranceähnlicher Zustand.« Es vergehen weitere vier Jahre, bis sie Abbado das erste Mal in einem Konzert erlebt. Derweil hält sie "

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T H E M A : C L A U D I O A B B A D O — R E P O R TA G E

»In diesem Gesicht hat sich alles widergespiegelt. Die Trauer, die Freude, das Entsetzen, die Begeisterung.«

Karajan die Treue. Im Oktober 1982 zerbricht in Bonn die sozialliberale Koalition, und Helmut Kohl wird neuer Bundeskanzler, in der Royal Festival Hall in London dirigiert Claudio Abbado Hector Berlioz´ »Te Deum«. Elisabeth ist wie elektrisiert. Dass in seiner Frau etwas vor sich geht, bemerkt auch der Gatte, der an jenem Abend neben ihr sitzt. In den nächsten Jahrzehnten reist Frau Schneider zu möglichst vielen Konzerten ihres neuen Idols. Wien, Salzburg, Luzern, Bologna, Ferrara und Berlin sind die Fixpunkte. Nicht selten nimmt sie nach einem Konzert den Nachtzug, um am nächsten Morgen pünktlich zum Dienst erscheinen zu können. Das Sammeln beginnt nach und nach, hier ein Zeitungsartikel, dort ein Konzertprogramm. Als Abbado Chefdirigent der Berliner Philharmoniker wird, professionalisiert Frau Schneider ihre Passion. Freunde und Bekannte aus halb Europa senden ihr zu, was irgendwie mit Abbado zu tun hat. Im Laufe der Zeit entsteht ein richtiges Recherchenetzwerk aus Zeitungshändlern, Bibliotheksmitarbeitern und anderen hilfsbereiten Zeitgenossen. V E R E H R U N G A U F D I S TA N Z

Auf das Sammeln angesprochen, zuckt sie mit den Schultern. »Ich habe schon immer gesammelt«, erläutert sie. »Wenn mich ein Zeitungsartikel interessiert, schneide ich ihn aus.« Dass sie damit ein höheres Ziel verfolgt haben könnte, stellt sie vehement in Abrede: »Ich mache das nur für mich!« Wie ein Kunstsammler seine Kollektion erweitern will, freut sie sich über das Anwachsen ihrer Abbado-Sammlung, die mittlerweile aus 65 Aktenordnern besteht. Als sich 1995 die »Abbadiani Itineranti« gründen, der Club der reisenden Abbado-Anhänger, ist Frau Schneider mit von der Partie. Es entstehen neue Freundschaften, die die Jahre überdauern, was ihrer Ehe nicht vergönnt ist. Doch das ist ein anderes Thema. »Ich wollte nie ein Groupie sein«, gesteht sie in erfrischender Ehrlichkeit. Man glaubt es ihr gerne, denn bei aller Verehrung hat sie sich eine gewisse Distanz zu Abbado bewahrt. Dass dem Maestro in ihren Augen auch mal etwas misslang, gibt sie freimütig zu. So erinnert sie sich an Anton Bruckners Siebte Symphonie, die ihr unter Abbados Stabführung gar nicht zusagte. Doch andere Kompositionen wie etwa Gustav Mahlers Neunte Symphonie klangen bei Abbado einfach nur himmlisch. Bis heute kann sie Mahlers Spätwerk nur in Abbados Interpretation hören. Nach ihrer Pensionierung verlässt Frau Schneider Mainz und zieht nach Berlin. Bei der Wohnungssuche legt sie großen Wert darauf, dass man von ihrer neuen Wohngegend den Potsdamer Platz mit der Philharmonie erreichen kann, ohne Umsteigen zu müssen.


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»Die Konzerte der letzten 13 Jahre waren die Intensivsten und Besten.«

Der Scharoun-Bau wird dann auch ihr zweites Zuhause. Wenn Abbado dirigiert, sitzt Frau Schneider immer in Block H, links, erste Reihe. Dieser Teil des Auditoriums befindet sich zwar hinter dem Orchester, verfügt aber über einen entscheidenden Vorteil: Von dort kann sie Abbado ins Gesicht sehen. »In diesem Gesicht hat sich alles widergespiegelt«, schwärmt sie, »die Trauer, die Freude, das Entsetzen, die Begeisterung.«

Fotos: Stefan Hoederath

DAS Z WE ITE LEBEN

Im Jahr 2000 erkrankt Claudio Abbado an Magenkrebs und muss sich einer großen Operation unterziehen. Als er am 3. Oktober wieder vor sein Orchester tritt, sieht man ihm sein schweres Leiden deutlich an. »Die Hand war durchsichtig«, erinnert sich Frau Schneider, »wie Pergament. Das war schon sehr schlimm.« Doch Abbado gewinnt den Kampf gegen den Krebs, und ihm wird ein zweites Leben geschenkt. Zwei Jahre später gibt er den Posten als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auf, sein Nachfolger wird Simon Rattle. Fortan kehrt Abbado einmal im Jahr nach Berlin zurück, wo er jedes Mal frenetische Erfolge feiert. Sonst dirigiert er fast nur noch in Luzern, in Italien sowie an einigen wenigen anderen Orten. Frau Schneider ist immer dabei. »Die Konzerte

der letzten 13 Jahre waren die Intensivsten und Besten«, weiß sie zu berichten. Im Juni 2013 hört Frau Schneider das von Abbado gegründete Orchestra Mozart unter seiner Leitung in Paris. »Da war er noch das blühende Leben. Und Prokofjews ›Symphonie classique‹ klang einfach umwerfend.« Doch aus den anschließenden Sommerferien kommt Abbado deutlich verändert zurück. Als er am 26. August 2013 vor sein Lucerne Festival Orchestra tritt, um Anton Bruckners Neunte Symphonie zu dirigieren, erschrickt Frau Schneider. »Das war schrecklich! Nur unter äußerster Kraftanstrengung hat er das Konzert durchgestanden.« In den folgenden Monaten sagt Abbado nach und nach alle Termine ab. Elisabeth Schneider und die »Abbadiani« sind alarmiert. »Wir vermuteten, dass es zu Ende ging.« Am Morgen des 20. Januar 2014 klingelt das Telefon. Claudio Abbado ist tot. »Ich war völlig zerstört«, so Elisabeth Schneider. »Doch sogleich begannen die Überlegungen: Wie komme ich nach Bologna?« Wie so oft zuvor nimmt sie den Nachtzug, der am nächsten Morgen um 4 Uhr sein Ziel erreicht. Abbados Sarg ist in einer Kapelle der Basilika Santo Stefano aufgebahrt, wo die Menschen Abschied von dem Verstorbenen nehmen können. Und sie kommen in so großer Zahl, dass sich vor der Kirche auf der Piazza Santo Stefano lange Schlangen bilden. In den nächsten zwei Tagen kehrt Frau Schneider immer wieder zur Basilika zurück. Mal bleibt sie nur ein paar Minuten, mal eine Stunde. Es sind intime Momente der Trauer, aber auch der Dankbarkeit. Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit drängt. Zuletzt noch eine Frage, die mich seit Beginn unseres Gespräches beschäftigt: Hatte sie nie den Wunsch, Abbado einmal persönlich zu treffen? Ihn kennenzulernen? Vielleicht sogar mit ihm ein wenig Zeit zu verbringen? Frau Schneider schüttelt den Kopf. »Nein, wirklich nicht!« Dass sich Fans beispielsweise in der Nähe von Abbados Haus im Fextal einquartiert und ihm aufgelauert haben, dafür hat sie kein Verständnis. »Das hätte ich niemals gemacht!« Erst in den letzten Jahren stellte sie sich nach einem Konzert in die Reihe der Gratulanten. Sie wollte sich bei Abbado für alles bedanken, was er ihr in den zurückliegenden Jahrzehnten geschenkt hat. »Das war mir sehr wichtig«, gesteht sie heute. Abbado lächelte dann sein umwerfendes Lächeln. Ein Händedruck, ein flüchtiger Blick. Nach gut vier Stunden sitze ich wieder in der S-Bahn, ordne meine Notizen und denke an das Gespräch zurück. Ich habe viel über Claudio Abbado gelernt, über die Kraft der Musik, über Charisma und über Hingabe. Mir wird aber auch klar, dass ich heute einen sehr glücklichen und dankbaren Menschen getroffen habe. <

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THEMA: CL AUDIO ABBADO — ERINNERUNGEN

»128« hat Freunde und Zeitgenossen Claudio Abbados gebeten, ihre Erinnerungen an ihn mit uns zu teilen. Entstanden sind kurze Geschichten, die gleichermaßen berühren und faszinieren. Man erfährt von graugrünen Telefonen, von Mandelbäumen und Kunstausstellungen, von unorthodoxen Honorarverhandlungen und einzigartigen musikalischen Erlebnissen. So unterschiedlich diese Texte auch sind – sie alle erzählen von Liebe und Verehrung, von Bewunderung und Leidenschaft, kurzum: von Claudio Abbado.


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G I US EP P E V I TA A U F S I C H T S R AT S V O R S I T Z E N D E R D E R AXEL SPRINGER SE

Fotos: Axel Springer, SE (G. Vita); Bodo Vitus (C. Schäfer)

VO N C L AU D I O A B B A D O sind mir viele Abende in

der Philharmonie gut in Erinnerung geblieben, denn ich war während seiner gesamten Zeit als Dirigent der Berliner Philharmoniker auch in Berlin. In dieser Zeit hat sich zwischen Claudio Abbado und mir eine aufrichtige Freundschaft entwickelt. Eines Abends dirigierte er eine konzertante Aufführung von Rossinis Oper »Il viaggio a Reims«. Wie immer bei Claudio Abbado war alles perfekt, und der Erfolg ließ nicht auf sich warten. Bereits nach dem Ende des ersten Teils gab es tosenden Applaus und begeisterte Standing Ovations, sodass viele Besucher dachten, die Oper sei bereits zu Ende, und die Philharmonie verließen. Claudio Abbado dirigierte den zweiten Teil nach der Pause genauso amüsant und erfolgreich, und die Zuhörer, die die Philharmonie zu früh verlassen hatten, erfuhren davon aus den Zeitungen. Einige waren so erbost, dass sie einen Teil des Ticketpreises zurückforderten. Meine zweite Erinnerung gilt dem Film »King Lear«, zu dem Claudio Abbado 2002 die Originalmusik von Schostakowitsch dirigierte. Dieses überwältigende Konzertereignis werde ich nie vergessen: Es war Claudio Abbados Abschied als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Die dritte und letzte Erinnerung gilt einer Begegnung bei der Trauerfeier für Claudio Abbado in Bologna, wohin ich von Mailand aus mit meiner Frau Cristiana fuhr. Nach seinem Wunsch spielten jede volle Stunde Musiker, mit denen er zusammenarbeitet hatte, ein Musikstück, um dem Maestro ihre letzte Ehre zu erweisen. Bis in den späten Abend hinein defilierten die Menschen in einer langen Schlange an seinem Sarg vorbei; wir hatten das Glück, genau in den Momenten, in denen wir in der Kirche waren, die Berliner Philharmoniker zu Ehren ihres langjährigen Dirigenten spielen zu hören.

CH R IS T I N E S CH Ä F ER SÄNGERIN

C L AU D I O A B B A D O U N D die Berliner Philharmo-

niker. Bei unserer CD-Produktion mit Konzertarien von Wolfgang Amadeus Mozart für die Deutsche Grammophon gab es zum Aufwärmen zunächst eine kurze Anspielprobe. Dann ging auch schon das Rotlicht an, und die Aufnahme begann. Es gab damals noch dieses berühmte, altmodische, graugrüne Telefon, das direkt am Dirigentenpult stand und das der Tonmeister anrufen konnte, um Korrekturen zu besprechen. Ich erinnere mich, wie Claudio meistens mit einem Schmunzeln abnahm. Einmal hatte der Tonmeister offensichtlich besonders viel mitzuteilen. Das Gespräch dauerte eine kleine Ewigkeit, wobei Claudio immer nur »Ja aha … ja? Ach ja? Hm ja … « antwortete. Dann legte er auf und sagte zu uns: »Noch mal.«


THEMA: CL AUDIO ABBADO — ERINNERUNGEN

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K N U T W EB ER MITGLIED DER BERLINER PHILHARMONIKER UND O R C H E S T E R V O R S TA N D

P E T ER R AU E R E C H T S A N W A LT

2 0 0 4 , S O M M E R . E I N I G E hundert Meter entfernt

von der Philharmonie feiert die Ausstellung »MoMa in Berlin« Triumphe. Warteschlangen um diese Ikone der Moderne. Claudio Abbados Wunsch, diese Ausstellung an einem Schließtag zu sehen, war uns schönster Befehl. Interessierter, aufgeschlossener, kenntnisreicher Besuch! Angela Schneider, Kuratorin dieser Ausstellung, kommt zu einem Bild des großen amerikanischen Farbfeldmalers Ad Rainhardt. Das Bild ist schwarz, tiefschwarz. Angela Schneider erklärt, welche Bedeutung dieses Werk für die amerikanische Malerei der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat und weist darauf hin: Wenn man lange genug und sehr genau auf das Bild schaue, erkenne man, dass im schwarzen Hintergrund verborgen ein schwarzes Kreuz zu sehen sei. Claudio beugt sich über dieses Bild und nach einiger Zeit fragt er in seinem wunderbar gebrochenen Deutsch: »Wie lange dauert bis man erkennt?« Kann man eine schönere und klügere Frage an ein Kunstwerk – das gilt für die Malerei, Musik, Lyrik – stellen? Ein unvergessener Augenblick. Einer von vielen.

me am Probespiel des Gustav Mahler Jugendorchesters. In der Sommerphase sollte Claudio Abbado dirigieren, der auf mich eine große Faszination ausübte, ohne dass ich ihn bislang im Konzert erlebt hatte. Als ich von meiner Aufnahme in das Orchester erfuhr, konnte ich mein Glück kaum fassen. Nach dieser ersten Reaktion kam aber gleich der Gedanke: Wie wird es sein, unter diesem großen Musiker und berühmten Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker zu musizieren? Kann ich seinen Ansprüchen gerecht werden? Aber meine Bedenken waren unberechtigt. Abbado begegnete uns freundlich und mit größter Offenheit. Er liebte die ungezwungene Atmosphäre, die sich in der Zusammenarbeit mit einem Jugendorchester meistens einstellt. Doch das legere Klima bedeutete nicht, dass weniger hart gearbeitet wurde. Ganz im Gegenteil: Claudio Abbado wusste, dass er viel von uns verlangen konnte. Immer ging es ihm um die Musik. Eine der vielen schönen Erinnerungen an Abbado datiert aus dem Sommer 1998. In Aix-en-Provence standen fünf Aufführungen von Mozarts »Don Giovanni« mit dem frisch von ihm und uns Musikern gegründeten Mahler Chamber Orchestra auf dem Programm. Stéphane Lissner hatte soeben die Leitung des Festivals übernommen, allenthalben sprach man von einem prestigeträchtigen Neuanfang. Die Regie führte kein Geringerer als Peter Brook. Claudio Abbado und sein Assistent Daniel Harding hatten sich die Proben geteilt. Dann kam der Premierentag. Und was tat Claudio? Er überließ dem erst 22-jährigen Daniel Harding die Leitung der Premiere. Weder das Publikum noch wir Musiker hatten davon im Vorfeld etwas gewusst. Das war ebenso großzügig wie selbstlos. Typisch Abbado.

Fotos: Felix Stang (P. Raue); Sebastian Hänel (K. Weber); Reinhard Friedrich (U. Eckhardt)

I M F R Ü H JA H R 19 9 4 meldete ich mich zur Teilnah-


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Lesen Sie weiter in der aktuellen

U L R I CH ECK H A R DT

Ausgabe Nr. 04/2018

INTE NDANT DE R BE RLINE R FE STSPIELE (19 7 3 – 2 0 0 0)

VO M DA C H G A RT E N A M Ludwigkirchplatz, als sie noch kaum einen Meter maßen, schickte mir Claudio Abbado, als er Berlin verließ, zwei echte italienische Mandelbäume (Prunus dulcis), die in meinem Garten nach sechzehn Jahren Wachstum über sieben Meter Höhe erreichten. Sie erwiesen sich als winterhart und tragen regelmäßig Früchte. Ihre zarten, rosafarbenen, fünfblättrigen Blüten künden zu meiner alljährlichen Freude vom nahen Frühling, ehe sich noch die ersten grünen Blätter hervorwagen. Die symmetrisch eingepflanzten Mandelbäume sind ein in Ehren gehaltenes dauerndes Vermächtnis der Freundschaft. Mit ihrer Verwurzelung in der Erde können sie ein Menschenleben überdauern; sie lassen die Gedanken in eine vergangene Lebenszeit

wandern, und sie erinnern an das reiche und nachhaltige Wirken eines großen Musikers. Tag für Tag erzählen sie mir beim dankbaren Betrachten lebhaft in ihrer Schönheit und Würde, dass Abbado – bewusst anders als sein von ihm hochverehrter Vorgänger Karajan – seinen ständigen Wohnsitz in Berlin nahm, als mit der Ost-WestVereinigung die Vision eines kulturellen Mitteleuropa wieder Wirklichkeit wurde. Er ließ sich auf die Stadt ein und nahm die politische Herausforderung als gesellschaftliche Inspiration an. Als Zeitgenosse erspürte er das geistige Ambiente, und sein historisches Bewusstsein übertrug er in die programmatische Arbeit mit den ihm anvertrauten Berliner Philharmonikern, die sich gleichzeitig in einem Umbruch der Generationen befanden.


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AUF DER HELLEN SEITE DES MONDES Eine Begegnung mit dem isländischen Pianisten Víkingur Ólafsson Vo n J ü r g e n O t te n



BERLINER PHILHARMONIKER — VÍKINGUR ÓL AFSSON

S O E T WA S I S T S E LT E N . Kaum hat die silberne Scheibe ihre erste Runde gedreht, spitzen sich die Ohren wie von selbst, und der Hörer, gerade noch im Begriff, es sich mit einem Glas Wein im Fauteuil bequem zu machen, sitzt plötzlich völlig fasziniert auf der Sesselkante. Wenn Víkingur Ólafsson Bach interpretiert, dann ist das ein bisschen so, als würden sich die Pforten des Himmels auftun und den Blick auf ein celestiales Arkadien freigeben. Was an diesem Spiel so besonders ist? Es ist die musikalische Dialektik: Intellektualität verbindet sich mit emotionaler Tiefe, Flinkfingerigkeit mit samt-noblem Anschlag, polyfone Clarté mit orpheischem Atem. Grund genug, diesen Pianisten einmal aus der Nähe zu betrachten.

128: Herr Ólafsson, Ihrem Vornamen nach zu urteilen, sind Sie ein echter Wikinger, nach landläufiger Meinung also Nachfahre dieser wilden Kerle! Víkingur Ólafsson: In gewisser Weise, ja. Mein Name lässt da wenig Spielraum (lacht). Folglich bin ich wohl einer von ihnen. Aber das Klischee stimmt nur zu Teilen: Die Wikinger waren im Grunde ein friedliebendes Volk und weitaus kultivierter, als viele Menschen gemeinhin glauben. Zugegeben, es gab Raub, Überfälle, ja sogar Ärgeres bei den Wikingern. Aber sie pflegten auch die Literatur und hatten generell einen hohen Sinn für Kultur. Ich möchte sie damit nicht in Schutz nehmen, aber so war es eben. Sehen Sie sich noch in der Tradition dieser kultivierten Barbaren? Oder liegt das zu weit zurück? Ich fühle und definiere mich nicht als Wikinger – einfach, weil es mir nicht einmal in den schlimmsten Träumen in den Sinn käme, Dinge zu tun, die sie zu verantworten haben. Andererseits lese ich viel und esse sehr gerne – womit ich durchaus in der Tradition dieses Volkes stehe (lacht). Aber natürlich bin ich Isländer, also Angehöriger einer sehr jungen Nation; wir wissen um unser Erbe und unsere vergleichsweise junge Geschichte. Und vor seiner Vergangenheit kann niemand fliehen. Kraft Ihres Nachnamens sind Sie Ihr ganzes Leben lang ein Sohn. Wie fühlt sich das an? Ach, das ist halb so schlimm. Es ist nun einmal so, dass wir in Island keine Familiennamen haben. Mein Vater hieß Olaf, also heiße ich Ólafsson, Sohn des Olaf. Und sollte ich einmal einen Sohn haben, würde der eben Víkingsson heißen. Und so weiter und so fort. Aber wissen Sie was: Es fühlt sich gut an, weil es einem das Gefühl von Unabhängigkeit gibt. Apropos Unabhängigkeit: Diese scheint Ihnen, wenn ich den Booklettext zu Ihrer Aufnahme mit Werken von Johann Sebastian Bach richtig verstehe, sehr wichtig zu sein – sowohl im Leben wie in der Musik. Sie schreiben da unter anderem, Bach sei für Sie ein freies Land: Was

bedeutet das? Dass Sie als Interpret alle Freiheiten haben? Oder bedeutet es, Bach selbst konnte seine großartige Musik nur schreiben, weil er frei war? (lacht) Alle große Kunst ist frei, besitzt darüber hinaus aber auch einen Sinn für Disziplin. Es sind diese Proportionen, die einander, zuweilen im Streit miteinander, ergänzen: Das eine ist nicht viel wert ohne das andere. Eben das gilt auch für die Bach-Interpretation. Nur mit Freiheit geht es nicht, aber wenn ich jemanden höre, der Bach nur mit Disziplin zu bewältigen sucht, vermag ich darin auch keinen großen Gewinn zu sehen. Das klingt mir zu sehr nach Arbeit. Wir benötigen die Freiheit, um unsere Kreativität entdecken zu können. Das gilt sowohl für den Schöpfer als auch für den Nachschöpfer, für den Autor wie für den Interpreten. Wenn ich also sage, Bach sei ein freies Land, dann meine ich das in dem Sinn, dass er keine grundlegenden Instruktionen notiert hat. Seine Musik ist weit entfernt von irgendeiner Festlegung. Wie steht es diesbezüglich mit Beethoven? Beethoven ist ganz anders. Es hätte wohl nicht viel gefehlt, und er hätte in den Noten auch noch notiert, an welchen Stellen einer Sonate wir atmen sollen. In Bachs Partituren hingegen findet sich zwar eine nahezu perfekte Struktur, aber es gibt im Gegensatz zu Beethoven keine Spielanweisungen, weder was das Tempo noch was Phrasierung und Dynamik betrifft. Das bedeutet für mich als Interpret, dass ich meinen eigenen, ganz und gar persönlichen Bach finden muss und definieren darf, was diese Musik für mich aussagt, was sie bedeutet. Es ist so, als würde man eine fremde Landschaft für sich selbst entdecken. Vergleicht man nur einige der sehr guten Aufnahmen miteinander, ergibt sich ein überaus farbenreiches Panorama – es reicht von Glenn Gould zu András Schiff, von Rosalyn Tureck zu Murray Perahia, von Swjatoslaw Richter zu Pierre-Laurent Aimard, von Maurizio Pollini zu Angela Hewitt. Sie alle haben ihre Freiheit weidlich genutzt. Wie war ihre erste Annäherung an den Kontinent Bach? Und wie fühlte sich das an? Es fühlte sich natürlich an. Vielleicht auch deswegen, weil ich noch sehr jung war, fünf oder sechs. Mit Bach fing alles an. Seine Musik war zwar für mich abstrakt, aber ein wunderbares »Mittel«, um die Unabhängigkeit der Hände zu trainieren. Und dann hörte ich im Alter von etwa zwölf Jahren die Aufnahmen mit Edwin Fischer aus den 1930erJahren. Sie waren extrem romantisch. Und extrem schön! Und auch wenn ich selbst Bach heute ganz anders spiele, so liebe ich diese Aufnahmen nach wie vor über alles. Denn damals passierte etwas in mir – das Abstrakte wurde plötzlich sinnlich, der große Architekt Bach mutierte vor meinen Augen und Ohren zum grandiosen Poeten. Von da an hörte ich sehr viele Aufnahmen: natürlich Glenn Gould, Rosalyn Tureck, András Schiff und Murray Perahia, aber "

Fotos: Enno Kapitza / Agentur Focus (Aufmacher S. 62/63); Ari Magg / DG (rechts)

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Der isländische Pianist Víkingur Ólafsson wurde im Februar 1984 in Reykjavík geboren.

»Die Wikinger waren im Grunde ein friedliebendes Volk und weitaus kultivierter, als viele Menschen glauben.« Lesen Sie weiter in der aktuellen Ausgabe Nr. 04/2018


DER KLANG EINER FERNEN ZEIT Über den Gesang der russischen Ostkirche Vo n B j ø r n Wo l l

W E I H N AC H T E N , DA S I S T der Duft nach Lebkuchen und Zimt, das sind bunte Lichter und reich geschmückte Weihnachtsbäume. Weihnachten duftet aber nicht nur, sondern klingt auch: nach Liedern und festlicher Musik. Das ist in Russland, wo die Weihnachtszeit »svjatki« heißt, »heilige Zeit«, nicht anders – auch wenn das Fest bei den russischorthodoxen Christen nach dem julianischen Kalender auf den 6. Januar fällt, es also ein paar Tage später begangen wird als nach westlich-gregorianischer Zählung. Höhepunkt am Heiligen Abend sind stimmungsvolle Lichterprozessionen und die oft ausgedehnten Messen voller traditioneller Gesänge. Hier findet der orthodoxe Glaube, der seit 1054 in Spaltung mit den westlichen christlichen Kirchen lebt, zu seinem stärksten Ausdruck: in den Psalmodien, in denen sich der orthodoxe Kultus vollzieht. Wer einmal teilhaben konnte an einer solchen Feier in den oft prachtvollen Gotteshäusern, weiß um den mystischen Zauber der russischen Chöre, die eine ganz eigene Stimmung und Faszination ausstrahlen. Das ging Patrick

Leigh Fermor, Schriftsteller und Weltenbummler, nicht anders als er 1935 ein Kloster auf dem Berg Athos besuchte: »Die Kirche war typisch byzantinisch, mit einem üppig verzierten goldenen Altaraufsatz, die Wände mit Fresken übersät, jede Figur mit vergoldetem Heiligenschein, der in der verblassenden Farbe und dem Stuck leuchtete. Kerzen ließen im Halbdunkel das Gold und Silber der Ikonen schimmern, vor denen die Mönche sich beim Betreten der Kirche verneigten, sich bekreuzigten und sie küssten. Es war Vesper, und ich lehnte in meiner geschnitzten Nische, zwischen den schwarz- und weißbärtigen, schleiertragenden Mönchen, alle mit den Ellenbogen in die schulterhohen Lehnen ihrer Miserikordien gehakt. Die Messe wurde komplett gesungen, mächtige, mystische Klänge, durchbrochen vom Klappern der Weihrauchgefäße, deren Rauch sich im Licht der bunten, schon schwindenden Sonnenstrahlen kräuselte. Hundert kleine ewige Lichtlein hingen von den kaum auszumachenden Gewölben über uns, dazu große, vielfach verzierte Kandelaber.«


KI EW I M JAH R 988

Hier zeigt sich schon ein deutlicher Hinweis auf die tragende Funktion des Gesangs in der Liturgie der Ostkirche, wenn Fermor davon spricht, dass die Messe komplett gesungen wurde. Darüber staunte bereits knapp 1000 Jahre zuvor eine Gruppe von Gesandten des Großfürsten Wladimir von Kiew im Jahr 988, als sie dem weihnachtlichen Gesang der Mönche in der Hagia Sophia in Byzanz lauschte: »Wir wussten nicht, waren wir im Himmel oder auf der Erde. Denn auf der Erde gibt es einen solchen Anblick nicht oder eine solche Schönheit. Wir vermögen es nicht zu beschreiben. Nur das wissen wir, dass Gott dort bei den Menschen weilt.« Ihr Herrscher hatte sie, so erzählt es die Legende, auf Reisen geschickt, um herauszufinden,

Die orthodoxe Musik ist Vokalkunst, Orgelklang sucht man hier vergebens. welche Religion wohl die richtige für das russische Reich sei. Nach dem Besuch in der byzantinischen Kathedrale war der Fall klar: Wladimir ließ sich taufen und errichtete orthodoxe Kirchen und Klöster im ganzen Reich. Über den tatsächlichen Wahrheitsgehalt der Geschichte sind wir nicht abschließend informiert, schön ist sie trotzdem – und sie teilt damit das Schicksal der frühen orthodoxen Gesänge, denn auch hier liegt Vieles im Dunklen. Denn: Wie diese Melodien wirklich geklungen haben, wissen wir nicht, die Entzifferung und Deutung der überlieferten Schriften hilft da nur bedingt. Was aber macht diese Musik aus, deren Wurzeln weit zurückreichen bis ins byzantinische Reich und die zunächst auf alttestamentarische Psalmen gesungen wurde?

Notiert wurde sie anfänglich noch in Neumen: Bereits im 8. Jahrhundert kannte die liturgische Musik der Ostkirche ein differenziertes System der wichtigsten musikalischen Zeichen, der sogenannten »Charaktere«, die Auskunft über den Bedeutungsgehalt der Musik gaben. Im 10. Jahrhundert existierte dann ein umfassendes schriftliches System der byzantinischen Musik, in einer Notation, die als »Parasemantik« bezeichnet wird. Auch hier wieder ein klarer Verweis, dass bestimmte musikalische Formeln mit eindeutigen Bedeutungen verknüpft waren. Diese Verbindung von Wort und Ton, von Text und Musik als untrennbare Einheit, ist eines der charakteristischen Merkmale orthodoxer Liturgie: Sie macht keinen Unterschied zwischen Gebet und Gesang, beide gehören als Bedeutungseinheit untrennbar zusammen. Daher ist der orthodoxe Gesang auch kein schmückendes Beiwerk, sondern dient allein dem Gotteslob und preist die Schönheit seiner Schöpfung: »Der gesamte orthodoxe Gottesdienst geht aus von einer antiken Losung, nämlich, das Wahre ist auch das Schöne und das Schöne ist das Wahre«, erklärte der Theologe Nikolaj Thon in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. »Das ist eine Idee der antiken Philosophie, und der orthodoxe Gottesdienst versucht eben, die Wahrheit des Glaubens, die Schönheit des Glaubens, die Schönheit der Liebe Gottes zu den Menschen und die Antwort der Menschen in einer möglichst ästhetischen Form darzubringen.« G ÖT T L I C H E K U N S T

Daher gehörte die Musik, ebenso wie die Architektur der Gotteshäuser, die Ikonenmalerei oder die liturgische Dichtung, zu den »göttlichen« Künsten. Und das ist auch der Grund, warum die orthodoxe Musik eine reine Vokalkunst weiter in ist, mächtigen Orgelklang sucht man Lesen hier alsoSie vergebens. Zum einen weil nichts vom gesungenen Wort soll, derablenken aktuellen die Abwesenheit von Instrumenten ist also eine theologiAusgabe Nr. 04/2018 sche Selbstverständlichkeit; zum anderen aber auch, "


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BERLINER PHILHARMONIKER — SCHL AGZEUG

TEMPELGLOCKEN, LÖWENGEBRÜLL UND SIRENEN Das sogenannte Schlagzeug Vo n S u s a n n e S t ä h r


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F Ü R E I N E N G E I G E R ist die Sache klar: Er kann sich ganz auf ein einziges Instrument konzentrieren, auf die Violine, die er mit verschiedenen Spieltechniken zum Klingen bringt. Bei den Bläsern wird es schon etwas komplizierter, denn sie müssen, um ihren Beruf ausüben zu können, in der Regel gleich mehrere Instrumente beherrschen, in verschiedenen Tonlagen und Größen, von der Piccolo- bis zur Bassflöte etwa oder von der Oboe d’amore bis zum Englischhorn. Uferlos aber scheint die Situation bei den Perkussionisten zu sein, wartet auf sie doch gleich eine ganze Hundertschaft verschiedener Klangerzeuger. Ihr unüberschaubares Instrumentenarsenal wird landläufig unter dem nicht gerade charmanten Begriff »Schlagzeug« zusammengefasst. Der freilich enthält nur die halbe Wahrheit: Die Schlagwerker müssen sich nämlich auch an Gerätschaften betätigen, die keineswegs geschlagen werden – sie dürfen die Windmaschine ankurbeln, das Donnerblech schütteln, in Pfeifen tuten, die Sirene aufheulen oder das Löwengebrüll erschallen lassen. Und da die Komponisten in den letzten Jahrzehnten immer einfallsreicher, vielleicht sogar exzentrischer geworden sind und sich gern in die »Bastelstube« begeben, kommen ständig neue Herausforderungen hinzu. Mittlerweile fasst man das ganze Sammelsurium lieber unter dem Begriff Effektinstrumente zusammen.

Foto: Noshe

VO M R A DAU Z U R K U N S T M U S I K

Dabei fing alles einmal ganz harmlos an. Ähnlich wie der Mensch mit der Stimme von Natur aus über ein Melodieinstrument verfügt, bietet der Körper in sich selbst bereits etliche Möglichkeiten zur perkussiven Klangerzeugung: Schon unsere Ururahnen wussten sie zu nutzen, wenn sie in die Hände klatschten, mit den Füßen aufstampften oder mit der Zunge und den Fingern schnalzten und so ihre kultischen Zeremonien mit rhythmischen Impulsen bereicherten. Im vierten oder dritten Jahrtausend vor Christus

Schlagzeuger müssen eine Hundertschaft verschiedener Klangerzeuger beherrschen.

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begannen sie dann, Gefäße mit Tierhäuten zu bespannen und darauf zu trommeln: Es war die Geburtsstunde der ersten Schlaginstrumente, die ungeahnte Perspektiven boten. Man konnte die regelmäßigen »Beats«, die sich darauf erzeugen ließen, in der Geschwindigkeit, der Frequenz und der Lautstärke steigern, damit den Pulsschlag nach und nach beschleunigen, die Hörer aufpeitschen und sie am Ende zur Ekstase führen. Klar, dass diese Wunderwirkung bald auf den verschiedensten Feldern Nutzung fand, bei Festen und Tänzen, bei schamanischen Ritualen, aber auch bei Aufmärschen und vor allem beim Militär. Der Schrecken, den die Regimenter der Osmanen in den Türkenkriegen vom 15. bis 17. Jahrhundert verbreiteten, hing auch mit den Janitscharenkapellen zusammen, die sie begleiteten. Denn die verbreiteten mit großen Trommeln, Becken, Triangeln und Zimbeln einen furchterregenden Radau. Entsprechend schlecht war das Schlagwerk lange Zeit in der Kunstmusik beleumundet. Als »Lumpen Instrumenta« bezeichnete es noch der Renaissance-Komponist Michael Praetorius; sein hundert Jahre älterer Kollege Sebastian Virdung hielt es gar für eine Erfindung des Teufels und behauptete, dass der Einsatz perkussiver Mittel die »nydertruckung aller süssen melodeyen und der ganzen Musica« verursache. Dass es zu einem Umdenken kam, war der Pauke zu verdanken, die spätestens im 13. Jahrhundert in Europa eingeführt wurde, als Beutestück, das Kreuzritter aus dem arabischen Raum mitbrachten. Ihr Vorzug bestand vor allem darin, dass sie nicht nur ein Geräusch hervorbrachte, sondern durch die präzise Spannung der Membran auf eine feste Tonhöhe gestimmt werden konnte. Stellte man zwei oder mehrere dieser Instrumente nebeneinander, in unterLesen Sie weiter in schiedlicher Stimmung, so ließen sich sogar Tonfolgen damit spielen: Das der aktuellen tumbe Schlagzeug stieg so mit einem Ausgabe Nr. 04/2018 Mal zum Harmonie- und "


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BERLINER PHILHARMONIKER — LOREM IPSUM


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TRISTE ESPAÑA Spaniens Sonderweg in der Musik Vo n Vo l ke r Ta r n ow

D E R U N T E R G A N G D E S spanischen Weltreichs zog auch die Künste in den Abgrund. Sie brauchten 300 Jahre, um sich davon zu erholen. Am härtesten traf es die Literatur. Nach dem epochalen »Don Quijote« erschien erst wieder 1885 ein spanischer Roman von Weltgeltung – die ihm freilich versagt blieb: obwohl Claríns »La Regenta« (Die Präsidentin) nach wie vor als das bedeutendste spanische Prosawerk seit Cervantes betrachtet wird, nahm das Ausland kaum Notiz davon; einen vergleichbaren Außenseiterstatus genießt das Schaffen von Benito Pérez Galdós. Fast noch tiefer stürzte das Bühnendrama. Im Vergleich zu den Giganten des Goldenen Zeitalters, Lope de Vega und Calderón, waren alle nachfolgenden Dramatiker nur Zwerge. Erst Federico García Lorca brachte Spaniens Theater zurück auf die Bretter der Welt. Nicht ganz so lange währte

die Kunstpause in der Malerei, denn zu El Greco, Velázquez und Murillo konnte bereits Francisco de Goya aufschließen; aber auch hier klafft eine Lücke von über 100 Jahren, in denen das Land seinen Anschluss an die anderen europäischen Kulturnationen verlor. R E N A I S S A N C E U N D F R Ü H BA R O C K

Besonders eklatant verlief die Entwicklung der spanischen Musik. Da auf der iberischen Halbinsel im 18. und 19. Jahrhundert nichts geschrieben wurde, das man den Meisterwerken aus Italien, Frankreich und Deutschland an die Seite stellen konnte, bildete sich die Meinung heraus, es sei auch davor nur Unwesentliches entstanden. Im Weltrepertoire findet sich tatsächlich kein hispanischer Tonsetzer vom Rang eines Bach, Mozart, Beethoven, Schubert "

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oder Wagner, was nicht weiter verwundern kann, da solche Jahrhundertgestalten ohnehin keine Doppelgänger haben. In der Renaissance jedoch und im Frühbarock gehörte Spanien zu den führenden Musiknationen, die Messen und Orgelwerke seiner Komponisten erklangen auf der ganzen Welt. Bereits 1494, zwei Jahre nach Kolumbus’ Landung, wurde auf Santo Domingo, damals Hispaniola genannt, die erste Messe musikalisch zelebriert. Innerhalb relativ weniger

Spanien gehörte noch im Frühbarock zu den großen Musiknationen. Jahre ließen die Eroberer Hunderte von Kirchen und Kathedralen erbauen, in denen dann spanische Musik erklang. Die Bibliothek der Kathedrale Mexikos unterrichtet uns über das in den spanischen Vizekönigreichen gepflegte Repertoire: Sie hat seit 1589 Vokalkompositionen von Cristóbal de Morales, Tomás Luis de Victoria und Francisco Guerrero in ihrem Bestand, ebenso wie die erst kurz zuvor gedruckten Werke für Orgel, Cembalo und Vihuela von Antonio de Cabezón, den ein späteres Zeitalter als »spanischen Bach«

zu verehren begann. Cabezón war von Geburt an blind; er diente Karl V. und Philipp II. 40 Jahre als Hoforganist, schuf aber auch zahlreiche Werke für die mit der Laute und Gitarre verwandte Vihuela. M E S S E N U N D M OT E T T E N

Cristóbal de Morales war schon zu Lebzeiten, also in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, ungewöhnlich erfolgreich. Man bezeichnet ihn häufig als den größten spanischen Komponisten der Renaissance. Morales sang zehn Jahre in der Sixtinischen Kapelle in Rom, ab 1545 wirkte er an der Kathedrale von Toledo. Mystizismus und spirituelle Unruhe, verstärkt durch die Bedrohungen seitens der Reformation, prägten seine Requien und Trauermessen, die für Generationen stilbildenden Charakter erlangten. Doch leistete sich der strenge Morales gelegentlich auch Anleihen bei der Folklore, indem er etwa das Volkslied »Mille regrets« vertonte, das Karl V. besonders liebte. In solche Niederungen ist sein Nachfolger Tomás Luis de Victoria niemals hinabgestiegen. Der 1587 nach Madrid zurückgekehrte römische Chormeister verachtete gleichermaßen das Volk wie die Instrumentalmusik. Seine hochexpressiven, ja ekstatischen Messen und Motetten wirken wie durchglüht von meditativer Hinwendung zu den letzten Dingen, von leidenschaftlicher Ablehnung der Welt und menschlicher


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Das Leben hört sich gut an.

Vergänglichkeit. Victoria ist viel mehr noch als Morales die Personifikation des düsteren spanischen Katholizismus. Es lässt sich kaum vermeiden, zu seiner Musik den stets in Schwarz gehüllten Philipp II. zu assoziieren, wie er durch die endlosen Gänge des Escorial wandelt. Das heitere, diesseitige Barock Mitteleuropas und mehr noch die Aufklärung hätten Victoria wohl als einen Zeremonienmeister der Inquisition empfunden, wäre er ihnen irgendwo zu Ohren gekommen. Aber die Schöpfungen des goldenen Musikzeitalters Spaniens haben nördlich der Pyrenäen nie Fuß fassen können. PHÄNOM E NALE LI E D E R

Ähnlich erging es dem Musikdrama. Während spanische Opern in Lateinamerika erklangen, ja sogar dort komponiert wurden wie 1701 »La púrpura de la rosa« (Das Blut der Rose) von Tomás de Torrejón y Velasco, erschienen ihre Titel fast nie auf den Spielplänen der großen europäischen Bühnen. Sie hatten es aufgrund der Dominanz Rossinis, Verdis und Meyerbeers auch im Heimatland denkbar schwer. Es war allerdings die Zarzuela, das spanischste aller spanischen Genres, die der einheimischen Oper zum Verhängnis wurde. Dieser Konkurrenz zeigten sich die Barockopern eines Antonio de Literes nicht gewachsen; es dauerte fast 300 Jahre, bis sie Eduardo López Banzo mit seinem Ensemble Al Ayre Español ans Licht zog. Jordi

Die Leidenschaft fürs Leichte führte in Spanien einen Kulturbruch herbei. Savall hatte schon früher begonnen, die ältere spanische Tradition ein Stück weit zu rehabilitieren. Er sorgte dafür, dass die phänomenalen Liedersammlungen des Mittelalters wieder wahrgenommen werden, unter ihnen die »Cantigas« des Königs Alfonso X. und der »Cancionero de Palacio«, an dem Juan del Encina mit 60 Gesängen beteiligt ist. Encina vertonte Gedichte und Dramen aus eigener Feder. Seine ausschließlich weltlichen Kompositionen stellen den Höhepunkt spanischer Musik am Ende der Reconquista dar; sie vereinen auf landestypische und zugleich einzigartige Weise christliche, jüdische und arabische Einflüsse. Volksmusikalische Elemente, die zum Teil noch Überlieferungen aus der westgotischen Zeit bewahren, sind ebenfalls charakteristisch für Encina, ja für die gesamte Musik der iberischen Halbinsel bis weit ins 20. Jahrhundert. Die Leidenschaft fürs Leichte führte in Spanien einen Kulturbruch größter Dimension herbei. Er steht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Niedergang jenes Reichs, »in dem die Sonne nicht unterging«. Und von dem die Herrschenden glaubten, sie würde niemals untergehen, "

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»DUNKEL IST DAS LEBEN, IST DER TOD« Ein Porträt des Komponisten Louis Vierne Vo n M i c h a e l S te g e m a n n

Louis Vierne im August 1930 in Menton


D E N G R Ö S S T E N T E I L seiner 66 Lebensjahre hat Louis Vierne in Dunkelheit verbracht. Wie der Nürnberger Conrad Paumann – der große, von Geburt an blinde Organist des 15. Jahrhunderts – war auch Vierne am 8. Oktober 1870 in Poitiers mit einem grauen Star nahezu blind zur Welt gekommen. Eine Operation verschaffte dem Siebenjährigen immerhin so viel Sehkraft, dass er sich im Alltag zurechtfand und sogar Buchstaben und Noten entziffern konnte, wenn sie groß genug geschrieben oder gedruckt waren; 1907 jedoch löste eine Typhusinfektion erneut eine Erkrankung des Auges aus, die dieses Mal zur völligen und endgültigen Erblindung führte. Auch ein Kuraufenthalt von 1916 bis 1920 in der Schweiz – in Chailly, in der Nähe von Lausanne – brachte keine Besserung. Und es war nicht der einzige Schicksalsschlag, der Viernes Leben überschattete: Als er 15 war, hatte der plötzliche Tod seines Vaters, des »Figaro«-Journalisten Henri Vierne, die Familie in so große Not gebracht, dass sie fortan nur mit Unterstützung von Freunden über die Runden kam. 1906 erlitt er einen komplizierten Beinbruch, der ihn fast zum Aufgeben des Orgelspiels gezwungen hätte. 1909 wurde seine seit Jahren unglückliche Ehe mit der Sängerin Arlette Taskin geschieden, die er 1899 geheiratet hatte. Von den drei gemeinsamen Söhnen starb André – erst zehn Jahre alt – 1913 an Tuberkulose; im November 1917 verlor auch der 17-jährige Jacques unter unklaren Umständen im Ersten Weltkrieg sein Leben. Vier Monate später schließlich fiel auch Louis Viernes acht Jahre jüngerer Bruder René – auch er ein hoch begabter Organist – im Krieg. Man kann wohl wirklich das »Trinklied vom Jammer der Erde« aus Gustav Mahlers »Lied von der Erde« zitieren: »Dunkel ist das Leben, ist der Tod.«

Foto: Privat

M AC H T D E S S C H I C K S A L S

Und doch verrät Viernes kraftvolle, bei allem Nuancenreichtum nie hypertrophe oder gar »wehleidige« Musik nichts von diesen dunklen Lebensumständen. »Neulich sprach jemand von den schrecklichen Leiden Beethovens und den wunderbaren Streichquartetten, die wir ihnen verdanken«, notierte Vierne in seinem Tagebuch. »Was für ein spießbürgerliches Klischee! Was für

Viernes Leben war von schlimmen Schicksalsschlägen überschattet.

eine grenzenlose Einfalt und Dummheit! Aus Leiden entsteht keine Kunst. Unter ästhetischem Gesichtspunkt erfüllen Leiden für mich nur einen einzigen Zweck: die künstlerische Empfindung zu steigern. Für die Erschaffung eines Kunstwerks spielt das Leid keine Rolle, und wenn die Leute immer wieder behaupten, es spiegle sich in einem Musikstück oder einem Bild wider, dann nur, weil sie ihre eigenen Vorstellungen einem Werk überstülpen.« Eines der wenigen Werke, die nachweislich aus einem unmittelbaren Schmerz heraus entstanden, war das monumentale Klavierquintett op. 42, das Vierne 1917 »à la mémoire de mon fils Jacques« komponierte: »Es ist ein Ex-Voto, in dem meine ganze Zärtlichkeit und das tragische Schicksal meines Kindes mitschwingen. Ich arbeite an dem Stück mit derselben Wildheit und Verzweiflung, die auch mein Schmerz verspürt. Es soll ein kraftvolles, grandioses und starkes Werk werden – wie ein Donnergrollen, und nicht wie das klagende Blöken eines fügsam-resignierten Schafes.« Und es ist sicher kein Zufall, dass noch eines seiner späten Werke – der Schluss des »Triptyque« für Orgel op. 58 (1931) – den Titel »Stèle pour un enfant défunt« trägt, »Grabstein für ein gestorbenes Kind«. E I N KÖ N N E R

Seine frühe musikalische Ausbildung in den Fächern Klavier, Violine und Orgel erhielt Louis Vierne seit 1881 an der Pariser Blindenschule »Institut nationale des jeunes aveugles«. Bei einer seiner Prüfungen hörte César Franck den jungen Mann und war so beeindruckt, dass er ihn ab 1888 als Privatschüler unterrichtete und zwei Jahre später in seine Orgelklasse am Pariser Conservatoire aufnahm. Franck starb allerdings schon bald darauf, und Vierne setzte sein Studium bei dessen Nachfolger CharlesMarie Widor fort, auch in Komposition. 1892 berief ihn Widor zu seinem Stellvertreter an der Église Saint-Sulpice, und nach Abschluss seines Studiums arbeitete Vierne ab 1894 als Assistent in Widors (und später Alexandre Guilmants) Orgelklasse Lesen Sie weiter in am Conservatoire. Eine seiner Schülerinnen war dort Nadia Boulanger.der Ebenfalls aktuellen 1894 erschien sein Opus 1 im Druck, ein Allegretto für Orgel. Nach Ausgabe Guilmants Nr. " 04/2018


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FEUILLETON – OL AF HA JEK

Black Paradise I, 2013


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VOM KLANG DER BILDER Der Maler Olaf Hajek Vo n O l i ve r H i l m e s

ARNOLD S CHÖNBER G gehört zu den bedeutendsten Komponisten der Moderne. Er war ein musikalischer Revolutionär, ein mutiger Denker und ein kluger Schreiber, der der Musik des 20. Jahrhunderts neue Räume öffnete. Ein herausragender Maler war Arnold Schönberg indes nicht. Zwar hat er ein stattliches Œuvre von 361 Bildern hinterlassen, jedoch konnte es sich trotz mancher Ausstellung bislang nicht etablieren. Doppelbegabungen haben es ohnehin meist schwer. In der Regel müssen sie auf ihre Vielseitigkeit verzichten und sich dauerhaft für das größere Talent entscheiden. Arnold Schönberg hat sich für die Musik entschieden. Glaubt man den Kritikern seiner Malerei, so war das eine kluge Wahl. »Herr Schönberg malt erst seit einem Jahr«, lästerte etwa die »Neue Freie Presse« aus Wien im Oktober 1910. »Das sieht man den Sachen allerdings nicht an. Sie sehen aus, als ob ihr Verfertiger in der vergangenen Woche zum ersten Mal einen Pinsel in die Hand genommen hätte.« 1995 schrieb der Kunstkritiker der französischen Tageszeitung

»Libération« anlässlich einer Ausstellung von Schönbergs Werken mit vollendetem Spott: »Die Malerei des Komponisten ist im Musée d'Art Moderne de la Ville de Paris zu sehen – man fragt sich, warum.« VERTONTE BILDER

Gab es in den vergangenen Jahrhunderten auch keinen bedeutenden Komponisten, der zugleich ein großer Maler gewesen wäre, so haben sich die bildende Kunst und die Musik gleichwohl wechselseitig befruchtet. Aus der Musikgeschichte kennen wir zahlreiche Kompositionen, die sich ausdrücklich auf Bildwerke beziehen. Die bekannteste ist sicherlich Modest Mussorgskys Zyklus »Bilder einer Ausstellung«, worin der Komponist zehn Gemälde und Zeichnungen des Malers Viktor Hartmann beschreibt. Mussorgskys Zeitgenosse Franz Liszt fühlte sich von Wilhelm von Kaulbachs Fresko »Die Hunnenschlacht« zu einer gleichnamigen Symphonischen Dichtung inspiriert, und Arnold Böcklins "

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FEUILLETON – OL AF HA JEK

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Strange Flowers, 2013

bekanntes Bild »Die Toteninsel« regte Max Reger, Sergej Rachmaninow und einige andere mehr zu üppiger Tonmalerei an. Der deutsche Komponist Sigfrid Karg-Elert schrieb eine »Suite pointillistique« für Flöte und Klavier, die keinem bestimmten Kunstwerk, sondern der Stilrichtung des Pointillismus ein musikalisches Denkmal setzt. Die Symbiose von Musik und Malerei fand im Schaffen von Claude Debussy schließlich einen Höhepunkt. »Ich liebe die Bilder beinahe ebenso sehr wie die Musik«, bekannte der Komponist; an anderer Stelle schrieb Debussy einem Kritiker: »Es ehrt mich sehr, dass Sie mich einen Schülern von Monet nennen.« VON BACH B IS K U R T COBAI N

Das Porträt Claudio Abbados auf dem Cover dieser 128-Ausgabe stammt von dem Maler und Illustrator Olaf Hajek. Der 1965 geborene Künstler studierte in Düsseldorf und lebte einige Zeit als freier Illustrator in

Amsterdam. Seit vielen Jahren ist er nun in Berlin zu Hause, obschon er zu den Global Playern der Kunstszene gehört. Seine vielfach ausgezeichneten Arbeiten erscheinen auf der ganzen Welt in Zeitungen und Zeitschriften, in Magazinen und Büchern und werden in renommierten Galerien ausgestellt. Hajek hat bereits früh einen unverwechselbaren Stil entwickelt, wenn er ebenso detailreich wie farbenprächtig mit Motiven aus Flora und Fauna, mit archaischen Symbolen und aktuellen Themen spielt. Doch wie steht es um die Musik im künstlerischen Schaffen des Malers Olaf Hajek? Finden sich in seinen Werken musikalische Bezüge? Beginnen wir die Spurensuche mit einem Blick in Hajeks Werkverzeichnis, das zahlreiche Musikerporträts aufweist. Im Bereich der Popularmusik schuf er Bildnisse von Michael Jackson, Kurt Cobain, Cat Power, Talking Heads oder auch R.E.M., im Bereich der klassischen Musik porträtierte er etwa Frédéric Chopin, Carl Philipp Emanuel Bach und Franz Liszt.


12 8 — A U S G A B E N R . 0 4 . 2 018

Frédéric Chopin, 2009

SE E LE NSCHAU MIT D E M PINSE L

So unterschiedlich diese Porträts auch sind – sie haben eines gemeinsam: Olaf Hajeks feinnervig ausgebildetes Gespür für die seelischen Bedürfnisse seiner Protagonisten. Hajek bannt in seinen Porträts neben dem Bild einer Person immer auch deren psychisches Antlitz. Bild und Selbstbild sind bei ihm zwei Seiten einer Medaille. So drückt das Chopin-Porträt neben der aristokratischen Haltung zugleich eine berührende Melancholie aus: Im floralen Dessin, das für Hajeks Werk typisch ist, entdeckt der Betrachter eine kleine Wolke, aus der wenige Tropfen fallen. Oder sind es Tränen? So gelingt Hajek zugleich eine Illustration von Chopins Musik, die sich in ihrer noblen Schwermut immer leicht zu geben versteht. Olaf Hajek ist ein Meister der Seelenschau, wenn er etwa Franz Liszt in dem 2011 entstandenen Porträt in einen Strahlenkranz positioniert, dessen Farben förmlich zu explodieren scheinen. Für Hajek ist Liszt vordergründig ein Superstar, doch auch dieses Bild "

Olaf Hajek bannt in seinen Porträts neben dem Bild einer Person immer auch deren psychisches Antlitz.

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FEUILLETON – OL AF HA JEK

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Franz Liszt, 2011

besitzt beim näheren Hinsehen eine zweite Aussage. Schaut der Betrachter dem vermeintlichen Popstar Liszt nämlich in die Augen, erkennt man einen Mann, der seiner Zweifel nicht Herr zu werden vermag und sich in seinem weiteren Leben noch einige Male neu erfinden wird. Hajek nimmt so Liszts späteren Lebensweg vorweg, das Porträt ist eine gemalte Biografie. Olaf Hajeks Bildnis des Dirigenten Claudio Abbado zeigt einen attraktiven Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen und seitlich gescheiteltem Haar. Dem Künstler gelingt es einmal mehr, das Wesentliche in die Augen zu legen. So wie Abbado das Orchester nur mit Blicken zu führen vermochte, so fühlt man sich auch bei Hajeks Porträt unweigerlich von Abbados ausdrucksvollen Augen angezogen. DER KLANG DES DSCHUNGELS

Olaf Hajek gehört zu den bildenden Künstlern, bei denen man es bedauert, dass sie nicht auch als Komponisten

Olaf Hajek erzählt exotische Märchen, beschwört okkulte Rituale und kreiert sinnliche Düfte.


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Carl Philipp Emanuel Bach, 2014

tätig sind. Seine Kunst erscheint als Musik in Farben. Doch wie klingen die von Olaf Hajek gemalten Bilder? Anders gefragt: Wenn sich der Komponist Claude Debussy als ein Schüler Claude Monets empfand, in welcher musikalischen Nachfolge steht der Maler Olaf Hajek? Der Komponist Olaf Hajek wäre zweifellos ein Mann des 20. Jahrhunderts. Betrachtet man die für Hajek stilbildende Mischung von Einflüssen aus westafrikanischer und lateinamerikanischer Volkskunst, so kann man zunächst an den brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos denken. 1887 in Rio de Janeiro geboren, gilt Villa-Lobos als Vater der brasilianischen Musik. Ihm war die Folklore seiner Heimat nicht nur durch sein Musizieren mit den Straßenbands in Rio vertraut, sondern auch dank ausführlicher Studien im brasilianischen Urwald. Heitor Villa-Lobos’ Kunst verbindet die traditionelle Musik der indianischen Ureinwohner und afrikanischen Sklaven mit aufregenden neuen Klängen. Entstanden ist eine Tonsprache, die durch ihren Farbenreichtum, ihre

rhythmische Energie und die pure Schönheit ihrer Melodien sofort überzeugt. Heitor Villa-Lobos ist wie Olaf Hajek ein raffinierter Magier: Wo der eine den Klang des Dschungels im Konzertsaal zum Leben erweckt, bannt der andere ihn mit betörenden Farben auf die Leinwand. Hajeks Gemälde »Unknown Jungle«, »Strange Flowers« oder »Black Paradise« erscheinen geradezu wie Illustrationen von Villa-Lobos’ Musik. Oder schrieb der Komponist den Soundtrack zu Hajeks Bildern? H Ö R BA R E FA R B E N

Olaf Hajek öffnet mit seiner Kunst Fenster in surreale Welten. Er erzählt Märchen und exotische Fantasien, er beschwört okkulte Rituale und kreiert verführerische Düfte. Das alles findet seine Entsprechung in der Musik Lesen Sie weiter in eines der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrder aktuellen hunderts: Alexander Skrjabin. Der umfassend gebildete und vielfältig interessierte Künstler verfolgte dezidiert Ausgabe Nr. 04/2018 philosophisch-ästhetische Ideale: "


NACHSPIEL — BÜCHER UND CDS

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W IEDER ENTDECKT Ein literarisches Werk und eine klassische Aufnahme, neu empfohlen. Diesmal von Knut Weber

Buch

Marcel Reich-Ranicki Mein Leben 566 Seiten Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, 1999 (gebunden) ISBN: 978-3-421-05149-3 576 Seiten, Verlag Pantheon, München, 2012 (Taschenbuch) ISBN: 978-3-570-55186-8

Das Buch, das ich empfehlen möchte, ist eine Autobiografie, die manchen bereits bekannt sein dürfte. Ich habe mich trotzdem dafür entschieden, weil mich die Lebensgeschichte des Verfassers ganz besonders fesselt und beeindruckt; die Rede ist von Marcel Reich-Ranickis Biografie »Mein Leben«. Einer breiten Öffentlichkeit war Reich-Ranicki bekannt durch seine Fernsehsendung in den 1990er-Jahren, dem »Literarischen Quartett«. Literatur war ein großer Teil seines Lebens, die Liebe zu ihr war die Voraussetzung für die Kritik, die er auf einzigartige Weise übte. Seine persönliche Geschichte lernte ich erst nach dem Ende des »Literarischen Quartetts«, aber noch zu Lebzeiten des Autors kennen. In noch jungen Jahren zieht der 1920 geborene Marcel mit seiner polnisch-deutschen Familie von Włocławek nach Berlin. Während seiner Schulzeit wird er dort immer häufiger mit seiner jüdischen Abstammung konfrontiert und erlebt, wie sich sein Umfeld verändert. Beunruhigende Nachrichten sind aber nicht alles, was den späteren Kritiker beschäftigt. Er entdeckt die

Welt des Theaters und seine Leidenschaft für die deutsche Sprache und Literatur. Obwohl von Tag zu Tag unwahrscheinlicher, plant er als junger Erwachsener seine Zukunft an einer deutschen Universität. Bis zu dem Tag, an dem er gezwungen wird, das Land zu verlassen. Es folgen Jahre in Warschau, das Leben im Getto, wo er als erster von der beschlossenen Vernichtung seiner Mitmenschen erfährt und diese dann miterlebt, später Flucht, Befreiung, Rückkehr. Neben diesem unfassbaren Leid, das ganz neutral und fast nüchtern geschildert wird und mich dadurch umso mehr berührt, erfährt ReichRanicki aber auch Glück und Liebe. Der Leser lernt, dass menschliche Bedürfnisse und Gefühle auch in schlimmsten Lebenslagen präsent sind: »Nicht obwohl, sondern gerade weil diese Idyllen nichts mit ihrer Umgebung zu tun hatten.« Und: »Nein, nicht Trotz trieb die Hungernden, die Elenden in die Konzertsäle, sondern die Sehnsucht nach Trost und Erbauung …«


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Knut Weber erhielt seine Ausbildung bei Milos Mlejnik, beim Alban Berg Quartett und bei Claus Kanngiesser sowie bei Wolfgang Boettcher an der Universität der Künste in Berlin, wo er 2002 sein Konzertexamen mit Auszeichnung abschloss. Knut Weber war Solocellist des Gustav Mahler Jugendorchesters sowie Gründungsmitglied des Mahler Chamber Orchestra, bevor er 1998 in die Reihen der Berliner Philharmoniker aufgenommen wurde. Seit 2015 ist er zudem Orchestervorstand. Foto: Sebastian Hänel

CD

Mstislaw Rostropowitsch spielt Britten Werke für Cello Decca/London CD

Tonaufnahmen hörte ich in meiner Kindheit nicht, auch nicht, als ich schon einige Jahre lang Cello spielte. In meinem Elternhaus gab es damals weder eine Kassetten- noch Plattensammlung, und die CD hatte sich noch nicht durchgesetzt. Die meisten Aufnahmen mit klassischer Musik, die heute in meinem CD-Regal stehen, kaufte ich mir zu Studienzeiten, deshalb ist der Teil mit Celloliteratur besonders gut bestückt. So findet sich dort auch diese Aufnahme mit drei Werken für mein Instrument von Benjamin Britten. Ein Interpret, dem wir Cellisten besonders viel Repertoire verdanken, ist Mstislaw Rostropowitsch. Wie kaum ein anderer hat er zahlreiche Komponisten zu Schaffensprozessen angeregt und uns Cellisten damit eine Vielfalt an Werken beschert. Seine Zusammenarbeit mit Benjamin Britten trug besonders viele Früchte. Britten lernte Rostropowitsch bei der europäischen Erstaufführung von Schostakowitschs Erstem Cellokonzert in London kennen und muss von der Musikalität, Intensität und Souveränität des Solisten sehr angetan gewesen sein. Zeugnis davon ist die

kurz danach entstandene Sonate für Cello und Klavier. In der von mir empfohlenen Aufnahme sitzt der Komponist selbst am Flügel. Das fünfsätzige Stück ist sehr originell und einfallsreich, der Cellist schöpft technisch und klanglich bei diesem sehr kammermusikalisch geprägten Werk aus dem Vollen, aber nicht zulasten der musikalischen Aussage. Der elegische Mittelsatz erinnert mich an Schostakowitsch, den Britten sehr verehrt hat. Neben dieser Sonate und seiner Cello-Symphonie widmete Britten Rostropowitsch auch drei Solosuiten. Bei dieser Einspielung (hier nur mit den ersten beiden Suiten) beeindruckt mich vor allem die Expressivität der Tongebung und die musikalische Stringenz dieses Ausnahmecellisten. Für mich ist sie ein Dokument, das die ideale Verschmelzung von Komponist und Interpret verkörpert. Sowohl durch die Werke, die aus ihrer Freundschaft und Zusammenarbeit hervorgegangen sind, als auch durch die gemeinsame Interpretation.


NACHSPIEL — BÜCHER UND CDS

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NEU ERSCHIENEN CD/SACD/Blu-Ray-Disc

Gustav Mahler Symphonie Nr. 6 Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle Berliner Philharmoniker Recordings 1 CD/SACD und 1 Blu-Ray-Disc

Es begann mit Gustav Mahlers Sechster Symphonie, und mit ihr beendete Sir Simon Rattle auch seine Ära als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Mit einem Werk – der »Tragischen« –, das gemeinhin als Vorahnung des Komponisten auf kommende Kriege und Revolutionen gedeutet wird. Mahlers Symphonik spielt für Rattle von jeher eine wichtige Rolle. »Mit zwölf habe ich Mahlers Zweite in Liverpool gehört, da hatte ich plötzlich den Wunsch, dort in der Mitte zu sein. Da hat mich der Virus befallen, ein unheilbarer Virus«, hat er mal in einem Interview gesagt. So war es sicherlich kein Zufall, dass er ausgerechnet mit Mahler bei den Berliner Philharmonikern debütierte. Und zwar mit der Sechsten, deren mächtiges Finale nach Meinung Adornos »das Zentrum von Mahlers gesamtem Œuvre« bildet. 32 war der junge Mann aus Liverpool damals, im November 1987, seit immerhin sieben Jahren Chefdirigent in Birmingham und

gehandelt als einer der kommenden großen Namen. Dennoch war er nervös, als er zum ersten Mal ans Pult der Philharmonie trat, und ließ das Orchester in der ersten Hälfte der Probe erst einmal spielen. Doch bald schon überwogen bei Rattle die Glücksgefühle: »Es war, als würde ich meine Stimme finden.« Die Liebe wurde erwidert: Die Philharmoniker luden Rattle fortan regelmäßig ein und kürten ihn zwölf Jahre später zu ihrem neuen Chefdirigenten. Beim Antrittskonzert 2002 dirigierte er wiederum Mahler, diesmal die Fünfte. 16 Jahre übte Simon Rattle dieses Amt aus, im Juni 2018 leitete er sein letztes Konzert als Chefdirigent der Berliner in der Philharmonie. Und was hatte er aufs Programm gesetzt? Mahlers Sechste! Es wurde das denkwürdige Finale einer Ära, in der sich für das Orchester enorm viel getan hat: mit der Gründung der Stiftung, der Etablierung der Education-Arbeit, die ihren ersten Höhepunkt im Projekt »Rhythm Is It!«

fand, der Digital Concert Hall oder der Einführung der Late-Night-Konzerte, um nur einige Wegmarken zu nennen. Aber das Orchester ist auch musikalisch gewachsen. Es hat sein Repertoire noch einmal erweitert und arbeitet mit Alte-Musik-Spezialisten und einem Regisseur wie Peter Sellars zusammen. Im Zentrum aber steht bis heute die große Symphonik, Brahms und Beethoven, die Rattle so oft dirigiert hat wie keine anderen Komponisten – und Mahler. Zum Abschluss machte Rattle aus der Sechsten noch einmal ein mitreißendes Erlebnis: einen wilden Ritt durch Himmel und Hölle, energiegeladen und doch differenziert in unendlich feine Nuancen, mit bestens aufgelegten Solisten im Orchester und mit Daniel Stabrawa als Konzertmeister, der schon am 14. November 1987 diesen Part gespielt hatte. Nun erscheint der Mitschnitt von Sir Simons Abschiedskonzert. A.C.


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MUSIK SCHENKEN! JUGEND KLASSISCH

WELT DER STIMMEN

KLAVIER

9. Januar 2019 20 Uhr Philharmonie Bundesjugendorchester Kirill Petrenko Dirigent Wieland Welzel Pauke

8. Januar 2019 20 Uhr Kammermusiksaal Chor des BolschoiTheaters Moskau Valery Borisov Leitung

19. Januar 2019 19 Uhr Philharmonie Berliner Philharmoniker Mariss Jansons Dirigent Jewgenij Kissin Klavier

Strawinsky Le Sacre du printemps sowie Werke von Bernstein und Kraft _

Weihnachtliche Chormusik der russisch-orthodoxen Kirche u. a. _

Liszt Klavierkonzert Nr. 1 sowie Werke von Strauss und Wagner _

20. Januar 2019 20 Uhr Kammermusiksaal Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker Gregor Mayrhofer Dirigent Sophie Klußmann Sopran

31. Januar 2019 20 Uhr Philharmonie Berliner Philharmoniker Marek Janowski Dirigent Rundfunkchor Berlin

Klassiker der Moderne u. a. _

Bruckner Messe Nr. 2 und Symphonie Nr. 6 _

18. März 2019 20 Uhr Philharmonie Junge Deutsche Philharmonie Jörg Widmann Dirigent und Klarinette

6. März 2019 20 Uhr Kammermusiksaal Ian Bostridge Tenor Brad Mehldau Klavier

Schumann Symphonie Nr. 2 sowie Werke von Mendelssohn und Widmann

Schumann Dichterliebe Mehldau Auftragswerk Drei Konzerte ab 80,–

Drei Konzerte ab 38,–

21. Februar 2019 20 Uhr Philharmonie Daniil Trifonov Klavier Werke von Beethoven, Schumann und Prokofjew _ 9. März 2019 20 Uhr Kammermusiksaal Chamber Orchestra of Europe Pierre-Laurent Aimard Dirigent und Klavier Mozart Klavierkonzerte B-Dur KV 450 und C-Dur KV 503 sowie Werke von Carter Drei Konzerte ab 165,–

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Foto: iStock


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CD/SACD/Blu-Ray-Disc

Ludwig van Beethoven Die Klavierkonzerte Mitsuko Uchida (Klavier) Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle Berliner Philharmoniker Recordings 3 CDs/SACD und 2 Blu-Ray-Discs

»Beethoven ist so stark. Er besitzt nicht nur Können, sondern eine explosive Kraft und Intensität. Und mit seiner Intensität und seinem Willen kann er die Natur bezwingen und sogar die Erdanziehungskraft beeinflussen – solch eine Intensität hat er. Mozart würde so etwas nie einfallen.« Mitsuko Uchida, die das sagt, ist nicht nur eine großartige Pianistin, sie kann auch wunderbar poetisch und engagiert über Musik sprechen. Mit zwölf Jahren kam die Japanerin mit ihrer Familie nach Wien, wo sie gleich ein Klavierstudium begann. Seit 1972 wohnt sie in London. Doch die zwölf Jahre in Wien haben sie geprägt. Zwar zählt sie vier Hausgötter auf: Bach, Mozart, Beethoven und Schubert – »Den Rest könnte ich beinahe lassen. Würde ich nicht, könnte ich aber!« –, doch gerühmt wurde und wird sie für ihre ungemein feinfühligen und eindringlichen Interpretationen der drei Wiener Meister. Die Berliner können sich regelmäßig und oft von Mitsuko Uchidas

Spiel begeistern lassen. 1984 hat sie bei den Philharmonikern debütiert, in Simon Rattles Zeit als Chefdirigent war sie die am häufigsten eingeladene Solistin: Rund 30 Mal ist sie gemeinsam mit dem Orchester und Rattle aufgetreten, in der Saison 2008/2009 war sie Artist in Residence, und auch beim Festkonzert zum 50. Jubiläum des ScharounBaus 2013 war sie die Solistin. Ein Höhepunkt der Zusammenarbeit war aber sicherlich der Beethoven-Zyklus im Februar 2010: Innerhalb von zweieinhalb Wochen brachten Uchida, Rattle und die Philharmoniker alle fünf Klavierkonzerte von Ludwig van Beethoven zur Aufführung. Acht Jahre später erscheinen die LiveMitschnitte nun in einer Box beim orchestereigenen Label – als dritter philharmonischer Zyklus der beethovenschen Klavierkonzerte nach Karajan/Weissenberg und Abbado/Pollini. In den Konzerten 2010 war zu spüren, und auch jetzt in den Mitschnitten, dass Dirigent und Solistin

aus einer ganz ähnlichen Sicht auf Beethoven heraus musizieren. Simon Rattle hat sich Beethoven nur langsam und mit höchstem Respekt genähert, und auch Mitsuko Uchida gingen Mozart und Schubert anfangs viel leichter von der Hand als Beethoven, eine Gesamtaufnahme aller Klaviersonaten gibt es von ihr bis heute nicht. »Die Größe eines wirklich genialen Komponisten zeigt sich nicht darin, was er kann, sondern darin, was er trotz allem schafft«, sagt sie. »Trotz seines Wissens um die Tragik der Welt schaut Beethoven optimistisch und visionär in die Zukunft, eine Haltung, die man so bei keinem anderen Komponisten findet.« Das hört man im Spiel von Mitsuko Uchida und den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle. A.C.


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CD/SACD

Wilhelm Furtwängler The Radio Recordings 1939 – 1945 Diverse Solisten Berliner Philharmoniker Berliner Philharmoniker Recordings 22 CDs/SACD Erscheinungstermin: Anfang 2019

Es muss ein erhebender Moment gewesen sein, diese Weltpremiere am 10. Juni 1941 im Berliner Ufa-Palast am Zoo. Es war nur »ein kleiner Kreis« geladen, aber das größte deutsche Kino war doch gerammelt voll mit »Vertretern von Partei, Wehrmacht, Tonfilmindustrie, Rundfunk« und 80 Journalisten. Zuerst erklangen »Les Préludes« von Franz Liszt, dann zwei klavierbegleitete Opernarien mit Erna Sack und der Variationssatz aus Schuberts »Forellenquintett«. Höhepunkt der Veranstaltung aber war der Finalsatz aus Johannes Brahms’ Erster Symphonie. 17 Minuten dauert er in der Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter Wilhelm Furtwängler, und er kam ohne Unterbrechung aus den Lautsprechern – eine Sensation! Bis dahin wurden Tonaufnahmen auf Schellackplatten geschrieben, und für den Brahms-Satz hätte man mindestens vier Platten gebraucht. Am 16. Dezember 1940 aber war beim Konzert der Philharmoniker zum

ersten Mal ein neues Aufnahmeverfahren eingesetzt worden: mithilfe eines »Magnetophons«. Seit 1932 hatten die AEG in Berlin und die IG Farben in Ludwigshafen das neue Verfahren entwickelt, doch erst 1940 gelang es, die störenden Hintergrundgeräusche zu eliminieren. Was im Juni 1941 der Weltöffentlichkeit präsentiert wurde, war ein System, das wesentlich weniger Rauschen und eine viel höhere dynamische Bandbreite als das Schallplattenverfahren bot. Ein Band lief 20 Minuten, war frei von Knacksern, konnte gleich nach dem Aufnehmen beliebig oft abgehört und zudem im Nachhinein durch Schnitte korrigiert werden. Nicht nur die anwesenden Größen aus Politik und Wirtschaft waren beeindruckt, auch Furtwängler »war von der Aufnahmequalität begeistert, er ließ sich die Aufnahmen immer und immer wieder vorführen«, erinnerte sich später der damalige Laborleiter bei der AEG. Ab 1942 wurden sämtliche Konzerte Furtwänglers

mit den Berliner Philharmonikern, sechs reguläre pro Saison plus einzelne Rundfunkkonzerte, von der Reichsrundfunkgesellschaft auf Magnetofon aufgezeichnet. Leider sind zahlreiche Bänder und Sicherungskopien verloren gegangen, doch rund 40 Werke liegen heute noch als Bandmitschnitte vor. Sie wurden nun erstmals hochauflösend digitalisiert: Nach bestem Wissen und Gewissen, denn die analoge Technik musste zunächst den Gegebenheiten des Materials angepasst werden, da sich originale Magnetbandgeräte nicht erhalten haben. Es sind rund 21 Stunden Musik, die nun auf 22 CDs/SACD wieder zu hören sind: Viel Beethoven und Brahms, Schumann und Schubert, Bruckner und Strauss, aber auch Händel, Ravel und die Uraufführung der Zweiten Symphonie von Ernst Pepping. Ein faszinierender, aber auch nachdenklicher Blick auf Furtwängler und die Philharmoniker »in tempore belli«. A.C.


NACHSPIEL — BÜCHER UND CDS

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CD/SACD

Leonard Bernstein Symphonie Nr. 2 »The Age of Anxiety« Krystian Zimerman (Klavier) Berliner Philharmoniker Sir Simon Rattle Deutsche Grammophon CD

»Spielst du dieses Stück mit mir, wenn ich hundert bin?«, fragte Leonard Bernstein einst den jungen Krystian Zimerman bei einer Aufführung seiner Zweiten Symphonie. Bernstein kann seinen runden Geburtstag nicht mehr erleben, doch Zimerman, seit Langem einer der ganz Großen unter den Pianisten, hat es im Juni mit den Berliner Philharmonikern aufgeführt – mit einem Dirigenten als Partner, der ihn in seinem Mut und seiner Risikobereitschaft an Bernstein erinnert: Sir Simon Rattle. Die Live-Aufnahme ist nun auf CD erschienen, und prompt bekam sie den Stern des Monats im »Fono Forum«. Zu Recht: Rattles und Zimermans Deutung dieses mitten im Zweiten Weltkrieg entstandenen Zwitters aus Symphonie und Klavierkonzert ist von bestechender Tiefe. Zugleich zeigen sich die Philharmoniker von ihrer jazzig-groovigsten Seite. Und Lenny himself spricht zu Anfang der CD einige einleitende Worte. A.C.

Claudio Abbado Berliner Philharmoniker The Complete Deutsche Grammophon Recordings Werke von Beethoven, Brahms, Debussy, Mahler, Mozart, Schumann, Verdi, Wagner u.v.a. Deutsche Grammophon 60 CDs

Dass die Deutsche Grammophon zum Ende der Ära Rattle eine 60-CD-Box herausbringt, die alle Aufnahmen der Berliner Philharmoniker mit Rattles Vorgänger Claudio Abbado zusammenfasst, darüber sollte man sich nicht lange wundern. Man sollte sich lieber freuen über diese Wundertüte in Würfelform, die viele schöne und aufregende Hörstunden garantiert: von den Klavierkonzerten Prokofjews (Nr. 3) und Ravels 1967 mit Martha Argerich bis zur Vierten von Mahler 2005. Da finden sich die großartigen Beethoven-Symphonien aus den letzten Jahren, aber auch alle Hauptwerke von Brahms (das Violinkonzert drei Mal, mit Shlomo Mintz, Viktoria Mullova und Gil Shaham) und bis auf die Zweite alle Mahler-Symphonien. Die Aufnahmen sind alphabetisch nach Komponisten sortiert. Dennoch lässt sich die Entwicklung dieser wunderbaren Partnerschaft zwischen Dirigent und Orchester eindrucksvoll nacherleben. A.C.

Kalevi Aho Bläserquintette Nr. 1 und Nr. 2 Philharmonisches Bläserquintett Berlin BIS CD/SACD

»Ich war sofort begeistert von der Kraft, der Emotionalität und den Herausforderungen der Partitur«, schreibt Michael Hasel im Booklet über seine erste Begegnung mit Kalevi Ahos Erstem Bläserquintett, und wenn man die neue CD des Philharmonischen Bläserquintetts Berlin hört, dem neben dem Flötisten Hasel noch Andreas Wittmann (Oboe), Walter Seyfarth (Klarinette), Fergus McWilliam (Horn) und Marion Reinhard (Fagott) angehören, kann es einem ähnlich ergehen. Der knapp 70-jährige Finne komponiert modern, doch altmeisterlich mit Melodien, harmonischen Entwicklungen, großem Klangsinn – und viel Fantasie. Das zweite Quintett schrieb Aho 2014 dann direkt für das Berliner Ensemble: eine äußerst anspruchsvolle »kleine Symphonie« für Bläser, die das Klangspektrum noch erweitert. Besonderes Schmankerl: Die Werkerläuterungen im Booklet stammen von Aho selbst. A.C.


N ACHS P I EL — KO N Z ER T K A L EN D ER

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KONZERTE

d e r S t i f tu n g B e r l i n e r P h i l h a r m o n i ke r

Dezember – Januar – Februar

SA 01.12 . 15 U H R SO 02 .12 . 11 U H R

FR 07.12 . 20 U H R SA 08 .12 . 19 U H R SO 09.12 . 20 U H R

Philharmonie Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker und Gäste Sarah Willis   Horn und Moderation Weihnachtskonzert »Winter Drummerland« Empfohlen für Kinder von 6 bis 10 Jahren MO 03.12 . 20 U H R

Kammermusiksaal Bolero Berlin 10 Jahre Bolero Berlin Arrangements aus Werken von Verdi, Wagner, Ravel, Piazzolla, Reinhardt, Ellington u. a. Besamé mucho, O du mein holder Abendstern, La donna è mobile, Fuga y Misterio, Windmills of your Mind u. a. M I 05.12 . 20 U H R

Philharmonie Auf Einladung der Berliner Philharmoniker musicAeterna Orchestra of Perm Opera Teodor Currentzis   Dirigent Anna Lucia Richter   Sopran Florian Boesch   Bariton Mahler Lieder aus »Des Knaben Wunderhorn «, Symphonie Nr. 4 G-Dur Mit freundlicher Unterstützung der Aventis Foundation M I 05.12 . 20 U H R

Kammermusiksaal Christian Gerhaher  Gerold Huber

Bariton  Klavier

Schubert Lieder nach Gedichten von Rückert und Silbert Rihm Tasso-Gedanken, Harzreise im Winter Berg Vier Lieder op. 2 Wolf Lieder nach Gedichten von Mörike und Goethe

MO 10.12 . 20 U H R

Kammermusiksaal

Philharmonie Berliner Philharmoniker Valery Gergiev

Dirigent

Debussy Prélude à l’après-midi d’un faune Rimsky-Korsakow Der goldene Hahn (Suite) Prokofjew Cinderella, Ballettmusik (Auszüge) Strawinsky Der Feuervogel, Suite (Fassung von 1919) SO 09.12 . 11 U H R

Philharmonie Johannes M. Michel  Blechbläserensemble der Berliner Philharmoniker

Orgel

Orgel & Blechbläser Mendelssohn/Michel Paulus-Ouvertüre op. 36 Bach Toccata, Adagio und Fuge C-Dur BWV 564 Wagner/Michel Vorspiel zum 1. Aufzug und Vorspiel zum 3. Aufzug aus Lohengrin Karg-Elert Choralimprovisationen »Aus meines Herzens Grunde« op. 65 Nr. 2 und »In dulci jubilo« op. 75 Nr. 2 Bach/Widor Sonate Es-Dur BWV 1031 (2. Satz) Vierne Orgelsymphonie Nr. 1 d-Moll op. 14 (6. Satz) Nicolai/Michel Weihnachtsouvertüre über den Choral »Vom Himmel hoch, da komm’ ich her«

Originalklang Al Ayre Español Eduardo López Banzo  Leitung Alison Lau  María Eugenia Boix  Gabriel Díaz  Victor Sordo  José Antonio López

Cembalo und  Sopran  Sopran  Countertenor  Tenor  Bariton

¡Vaya pastores de fiesta! – Eine barocke spanische Weihnacht Anonymus Pasacalles I und II Puente Weihnachtskantate »Nunca con más sosiego« Vivaldi Sonate g-Moll RV 72 Torres Weihnachtskantate »Divino hijo de Adán« Juan Una noche que los reyes Facco Sinfonia II für Violoncello solo Durón El blando susurro, Quartett zur Geburt Jesu Cabanilles Tiento de Falsas Anonymus Canción a dos tiples, Gayta Torres Weihnachtskantate »Más no puede ser« Iribarren Viendo que Gil hizo raya DO 13.12 . 20 U H R FR 14 .12 . 20 U H R SA 15.12 . 19 U H R

Philharmonie Berliner Philharmoniker Andris Nelsons  Lucy Crowe  Gerhild Romberger  MDR Rundfunkchor Leipzig

Dirigent  Sopran  Alt

Einfelde Lux aeterna Mahler Symphonie Nr. 2 c-Moll »Auferstehung« SA 15.12 . 16 U H R

Kammermusiksaal 14 Berliner Flötisten Andreas Blau  Sarah Willis

Leitung  Moderation

Werke von Händel, Mozart, Verdi, WolfFerrari, Ponchielli, Saint-Saëns, Ravel, Bernstein, Matsushita und Mancini


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SO 16.12 . 20 U H R

D I 08 .01. 20 U H R

SO 20.01. 20 U H R

Kammermusiksaal

Kammermusiksaal

Kammermusiksaal

Stipendiaten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker Raphael Alpermann   Dirigent Carolin Widmann   Violine und Leitung (Mendelssohn) Vocalconsort Berlin

Chor des Bolschoi-Theaters Moskau Valery Borisov   Leitung

Stipendiaten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker Gregor Mayrhofer   Dirigent Sophie Klußmann   Sopran

Akademie III Bach »Nun komm, der Heiden Heiland«, Kantate BWV 62 Mendelssohn Violinkonzert d-Moll Bach Brandenburgisches Konzert Nr. 5 D-Dur BWV 1050 »Herz und Mund und Tat und Leben«, Kantate BWV 147 DO 20.12 . 20 U H R FR 21.12 . 20 U H R SA 22 .12 . 19 U H R

Philharmonie Berliner Philharmoniker Iván Fischer  Christian Gerhaher

Dirigent  Bariton

Dvořák Legenden op. 59: Nr. 6 Allegro con moto und Nr. 10 Andante Wolf Lieder nach Gedichten von Goethe und Möricke Schubert Symphonie Nr. 8 C-Dur SA 29.12 . 19 U H R SO 30.12 . 20 U H R MO 31.12 . 17.15 U H R

Philharmonie Berliner Philharmoniker Daniel Barenboim   Dirigent und Klavier Mozart Klavierkonzert D-Dur KV 537 »Krönungskonzert« Ravel Rapsodie espagnole Alborada del gracioso Pavane pour une infante défunte (Orchesterfassungen) Boléro

M I 09.01. 20 U H R

Philharmonie Auf Einladung der Berliner Philharmoniker Bundesjugendorchester Kirill Petrenko   Dirigent Wieland Welzel   Pauke

DO 10.01. 20 U H R FR 11.01. 20 U H R SA 12 .01. 19 U H R

Thorvaldsdottir Metacosmos Prokofjew Violinkonzert Nr. 2 g-Moll Strauss Symphonia domestica

Berliner Philharmoniker Alan Gilbert  Lisa Batiashvili

Artist in Residence Berg Vier Lieder op. 2 Wolf Drei Michelangelo-Lieder Schumann Dichterliebe op. 48 Schostakowitsch Drei Lieder auf Verse von Michelangelo Buonarroti op. 145 Brahms Vier ernste Gesänge op. 121

Dirigent  Violine

Philharmonie Berliner Philharmoniker Tugan Sokhiev   Dirigent Agunda Kulaeva   Mezzosopran Vasily Ladyuk   Bariton Chor des Bolschoi-Theaters Moskau Borodin Polowetzer Tänze (Originalfassung mit Chor) Rachmaninow Vesna (Der Frühling), Kantate op. 20 Prokofjew Alexander Newski, Kantate op. 78

SA 26.01. 20 U H R

Kammermusiksaal In memoriam Claudio Abbado Chamber Orchestra of Europe Robin Ticciati   Dirigent Magdalena Kožená   Mezzosopran Fauré Pelléas et Mélisande, Suite Berlioz Les Nuits d’été Mozart Symphonie Nr. 36 C-Dur »Linzer« D I 29.01. 20 U H R

Kammermusiksaal Víkingur Ólafsson

Philharmonisches Bläserquintett Berlin

Bariton  Klavier

DO 24 .01. 20 U H R FR 25.01. 20 U H R SA 26.01. 19 U H R

Philharmonie

Kammermusiksaal

SO 06.01. 20 U H R

Akademie IV Dallapiccola Piccola musica notturna Ambrosini La donna danada Gervasoni Godspell Benjamin At First Light Mayrhofer The Insect Concerto Schreker Kammersinfonie

Bernstein Symphonische Tänze aus »West Side Story« Kraft Paukenkonzert Nr. 1 Strawinsky Le Sacre du printemps

D I 15.01. 20 U H R

Kammermusiksaal Matthias Goerne  Daniil Trifonov

Weihnachtliche Chormusik aus der Liturgie der russisch-orthodoxen Kirche mit Werken von Sinowjew, Gretschaninov, Tschaikowsky, Rachmaninow u. a. sowie russische Volkslieder

30 Jahre Philharmonisches Bläserquintett Berlin Mozart Drei Stücke für Orgelwerk KV 594, 616, 608 (Bearbeitung von Michael Hasel) Haas Bläserquintett op. 10 Ligeti Sechs Bagatellen Nielsen Bläserquintett op. 43 DO 17.01. 20 U H R FR 18 .01. 20 U H R SA 19.01. 19 U H R

Klavier

Bach Aria variata a-Moll BWV 989 Präludium und Fuge D-Dur BWV 850 Cembalokonzert d-Moll Nr. 3 BWV 974 Präludium und Fuge e-Moll BWV 855 Bach/Rachmaninow Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006 (3. Satz) Bach Invention h-Moll BWV 786 Dreistimmige Sinfonie Nr. 15 h-Moll BWV 801 Siloti Präludium h-Moll Bach Fantasie und Fuge a-Moll BWV 904 Beethoven Klaviersonate f-Moll op. 2 Nr. 1 Klaviersonate c-Moll op. 111

Philharmonie Berliner Philharmoniker Mariss Jansons  Jewgenij Kissin  Strauss Also sprach Zarathustra Liszt Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur Wagner Rienzi-Ouvertüre

Dirigent  Klavier

M I 30.01. 20 U H R DO 31.01. 20 U H R FR 01.02 . 20 U H R

Philharmonie Berliner Philharmoniker Marek Janowski  Rundfunkchor Berlin

Dirigent

Bruckner Messe Nr. 2 e-Moll (1882/1885) Symphonie Nr. 6 A-Dur


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»MARCELPROUSTFRAGEBOGEN« Der Fragebogen war in den Pariser Salons der »Troisième République« ein beliebtes Gesellschaftsspiel.

Ihre liebsten Romanhelden? Nadine in Simone de Beauvoirs »Mandarins von Paris«; Bucky Cantor in Philip Roths »Nemesis«; Eichendorffs »Taugenichts«; Gerti in Jelineks »Lust«; Stifters »Hagestolz« Ihre Lieblingsgestalt in der Geschichte? Georg Elser; Willy Brandt; Romano Prodi; Winston Churchill Ihre Lieblingsheldinnen/-helden in der Wirklichkeit? meine Gattin; Angela Merkel Ihr Lieblingsmaler? Bacon Ihr Lieblingskomponist? Schumann Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? Freundlichkeit Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Freundlichkeit Ihre Lieblingstugend? Disziplin

Heute spielen wir es mit dem Sänger Christian Gerhaher.

Wo möchten Sie leben? an Orten, an welchen mir Sprache und Aussprache gefallen, und an denen es nicht heiß ist Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? wenn es das gäbe, wäre es das nicht Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? die des Schweinehundes Was ist für Sie das größte Unglück? allgemein Krieg, und dass dem Menschen die Suche nach Fortschritt so fest eingeschrieben ist; speziell, dass wir nicht wissen, wie wir die Welt vor der frühen Zerstörung retten, ohne unser Selbstverständnis zu verlieren

Ihre Lieblingsbeschäftigung? Schlafen Wer oder was hätten Sie sein mögen? ein reicher Mensch mit vielen Dienern und vielen schönen Beschäftigungen Ihr Hauptcharakterzug? Rastlosigkeit Was schätzen bei Ihren Freunden am meisten? Präsenz Ihr größter Fehler? Intoleranz

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Ihre Lieblingsfarbe? rosa Ihre Lieblingsblume? Tulpe Ihr Lieblingsvogel? Blaumeise Ihr Lieblingsschriftsteller? Goethe; Büchner; Joseph Roth Ihr Lieblingslyriker? Eichendorff; Heine; William Carlos Williams Ihre Helden in der Wirklichkeit? Menschen, die Flüchtlingen Anschluss bieten; Journalisten, die nicht ihre Meinungen verbreiten, sondern die Wahrheit suchen Ihre Heldinnen in der Geschichte? Rosa Luxemburg; Käthe Kollwitz Ihre Lieblingsnamen? Felicitas; Jeremias; Julius Was verabscheuen Sie am meisten? Brauchtum Welche geschichtlichen Gestalten verabscheuen Sie am meisten? Hitler und Konsorten; Leute, die diese »Vogelschiss in […] deutscher Geschichte« nennen; Menschen, die zu denken gelernt haben und dennoch Populisten sind; Holocaust-Leugner Welche Reform bewundern Sie am meisten? eine, die eingeleitet wurde, ohne an das eigene politische Überleben zu denken Welche natürliche Gabe möchten Sie besitzen? mich gerne zu bewegen und gerne Sport zu treiben

Ihr Traum vom Glück? ich kann mir Träume schlecht merken – irgendwas mit meiner Frau und meinen Kindern, und mit Kühle und Wind und Sprühregen, und mit Hund.

Wie möchten Sie sterben? nach längerer Krankheit, wieder rauchend

Was wäre für Sie das größte Unglück? zu viele Tode anderer ertragen zu müssen; Locked-in-Syndrom

Ihr Motto? ohne Vorurteil kein Urteil; Das Leben ist wie eine Lawine – einmal rauf, einmal runter (Karl Valentin)

Was möchten Sie sein? jung; schön; ausgeglichen; klug; cool; schlank; reich; lieb; lang; gemein; zufrieden; freundlich; gerecht; fleißig; bescheiden

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung? wie immer


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NACHSPIEL — CARTOON

DER SCHLUSSSTR ICH vo n P a s c a l H e i l e r


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