Deutsche Bank Gesellschaftliches Engagement
Nr. 02 — 2 014
Leidenschaft für Musik
Mehr unter deutsche-bank.de/musik
DAS MAGA ZIN DER B E R LI N E R PH I LH AR M ON I K E R
Seit 25 Jahren verbindet die Berliner Philharmoniker und die Deutsche Bank eine exklusive Partnerschaft. Mit dem Education-Programm der Berliner Philharmoniker eröffnen wir jungen Menschen einen kreativen Zugang zu klassischer Musik. Und mit der einzigartigen Digital Concert Hall ermöglichen wir Musikliebhabern auf der ganzen Welt, die Konzerte der Berliner Philharmoniker live im Internet zu erleben.
Spiel doch selber! Was es bringt, Musik zu machen
€ 7,00 (D) € 7,30 (A) € 7,50 (LUX) CHF 12,50 (CH)
Nr. 02 — 2 014
rICHARD STRAUSS und Berlin
50 jahre mit Daniel barenboim
SARAH WIENER, TIM RAUE und Kolja Kleeberg
Der Komponist als Dirigent
Das Gespräch zum Jubiläum
Tipps für das Waldbühnen-Picknick
VORSPIEL — EDITORIAL
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»128« heißt dieses Magazin der Berliner Philharmoniker, abgeleitet von der Anzahl der Mitglieder des Orchesters (wenn es voll besetzt ist). Mit diesem Namen und dem Seitenumfang des Hefts wollen wir betonen, woraus die Besonderheit dieses Kollektivs erwächst: aus den ganz individuellen Qualitäten jedes einzelnen Musikers, jeder einzelnen Musikerin, die schließlich im Spiel einen einzigartigen Ensemblegeist prägen.
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Liebe Musikfreunde, seien wir ehrlich: Wer von uns hat nicht schon einmal heimlich vor der Stereoanlage eine Symphonie mitdirigiert, wenigstens ein paar Takte lang? Wer Musik liebt, verspürt auch den Drang, selber zu musizieren – und sei es nur markiert. Millionen von Menschen in Deutschland haben aber auch tatsächlich ein Instrument gelernt, und viele von ihnen sind in ihrer Freizeit nach wie vor – oder nach einer Pause wieder – musikalisch aktiv. Immer mehr Kinder haben in Education-Projekten die Möglichkeit, selbst zu musizieren. Und auch mancher Erwachsene, der zuvor keine Gelegenheit hatte, kommt noch auf den Geschmack. Allen Laienmusikern – und denen, die es noch werden wollen – widmen wir unseren Themen-Schwerpunkt »Spiel doch selber!«. Um die Profimusiker des Orchesters und um deren Gäste dreht sich wie immer alles im Ressort Berliner Philharmoniker. Unter anderem haben wir mit Pierre-Laurent Aimard über J. S. Bach gesprochen und mit Daniel Barenboim über sein philharmonisches Debüt vor genau 50 Jahren. Einen heimlichen Schwerpunkt bietet diesmal das Feuilleton zu einem Thema, das uns eine Herzensangelegenheit ist: Als eine der Institutionen am Berliner Kulturforum wissen wir in der Philharmonie genau um die städtebauliche Problematik dieses Areals – aber auch um dessen enormes Potenzial. Um beides geht es in zwei ausführlichen Artikeln zu Geschichte und Gegenwart des ehemaligen Tiergarten-Viertels, mit denen wir Sie auch zu einem großen Fest am Kulturforum einladen wollen, das wir gemeinsam mit den anderen Häusern und Sammlungen am 14. und 15. Juni veranstalten. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre Ihres neuen »128«!
Herzlich, Ihr Martin Hoffmann
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v o r s p i e l — I n H a lt
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INH A LT 14
Thema: Spiel doch selber! Was es bringt, Musik zu machen. Ein Schwerpunkt
Daniel Barenboim im Gespräch über sein Berliner Bühnenjubiläum
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110 Das Waldbühnen-Picknick: Rezepte von Tim Raue, Sarah Wiener, Kolja Kleeberg
88 Das Kulturforum: Probleme und Potenziale eines viel diskutierten Areals
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Th e ma: S pi e l doch S e lb e r!
B e r li n e r Ph i lhar mon i ke r
fe u i lleton
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Für den ganzen Menschen Musik wirkt – auch ohne den vermeintlichen »Mozart-Effekt« Vo n A n n e t t e K u h n
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Kann das was? Ein Kommentar zur machtvollen Nichtnützlichkeit kultureller Bildung Vo n H o l g e r N o l t z e
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Wir werden Tausend sein »Crowd Out«: Was es heißt, ein Individuum in der Menge zu sein Vo n K a t h a r i n a G r a n z i n
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Fürs Leben gelernt Was wurde aus den Millionen ehemaliger Musikschüler? Vo n A n n e t t e Z e r p n e r
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Tanz die Gitarre! Manche Menschen spielen ein Instrument ohne ein Instrument Vo n R o n n y B l a s c h k e
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Wir sind Helden »Vokalhelden«: Hier steht das echte Berlin auf der Bühne Vo n J o h a n n e s E h r m a n n
»Ich bin kein Dogmatiker« Pierre-Laurent Aimard über Bach Vo n J ü r g e n O t t e n
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Freunde des perfekten Klangs Der »Löwenkopf« der Philharmoniker Vo n N a t a l i e S c h w a r z
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Ein ewig Reisender Peter Eötvös im Porträt Vo n S t e f a n F r i c k e
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Jahrhundert des Übergangs Das Musikfest Berlin 2014 Vo n M a r t i n W i l k e n i n g
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Per aspera ad aspera Strauss und die Philharmoniker
Zwischen Aufbruch und Weltbruch Die Vorgeschichte des Berliner Kulturforums Vo n H a n s S t i m m a n n
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Völlige Bewegungsfreiheit Notizen eines verkehrsmüden Spaziergängers durchs Kulturforum Vo n H a n n s Z i s c h l e r
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Wunderschöne falsche Noten Musikfälscher hinterlassen mehr Schönheit als Schaden Vo n Vo l k e r H a g e d o r n
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Das Waldbühnen-Picknick Rezepte von Tim Raue, Sarah Wiener und Kolja Kleeberg
Vo n Vo l k e r Ta r n o w
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»Wie ein Orchester klingen kann und soll« Daniel Barenboim im Gespräch Vo n C a r s t e n F a s t n e r
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Philharmonische Nachrichten Andreas Blau, Georg Hilser und Klaus Wallendorf Vo n N i c o l e R e s t l e
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Mein Instrument als Lebenspartner Mit Alexander von Puttkamer und seiner Tuba
Vor s pi e l
02 Vorwort 06 Zahlenspiel 08 Text & Bild 10 In Kürze Nach s pi e l
116 Bücher und CDs 122 Konzertkalender 124 Ausblick 126 Cartoon 128 Impressum
VORSPIEL — Z AHLENSPIEL
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ZA HLENSPIEL Wie viele Menschen musizieren in ihrer Freizeit?
VOKAL 26.500
629.700
15 % 16 %
Verband Deutscher KonzertChöre
13.500 67 %
1.500
Arbeitskreis Musik in der Jugend
67 %
weltlich
Internationaler Arbeitskreis für Musik Deutscher Chorverband
408.500 375.600 24 %
25 %
16.400
kirchlich
Chöre in der evang. Kirche (darin enthalten: Chorverband der EKD)
Allgemeiner Cäcilien-Verband
Deutscher Chorverband Pueri Cantores
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Damit ist das Laienmusizieren eine der größten Bewegungen des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland. Und dabei sind in der Statistik noch nicht einmal alle Hobbymusiker erfasst, die nur im Privaten spielen oder singen.
5.114.900 Menschen haben im Jahr 2012 als Amateure in einem der 237.770 deutschen Laienorchester, -ensembles oder -chöre musiziert, das haben der Deutsche Musikrat und das Deutsche Musikinformationszentrum erhoben.
1.000
Anzahl der aktiven Instrumentalisten bzw. Sänger
Kinder und Jugendliche in %
INSTRUMENTAL 25.600
14.000
20 %
1.500
490.000
13 %
Jugendorchester der Jeunesses Musicales Deutschland
Bundesverband Deutscher Liebhaberorchester
Deutscher Zithermusik-Bund
12.900
7.800
47 %
Bund Deutscher Zupfmusiker weltlich
33 %
94.000
61 %
77 %
Deutscher Harmonika-Verband
Bundesvereinigung Deutscher Musikverbände
23.7000
102.000 43.000 31 %
65 %
Instrumentalensembles in der kath. Kirche
Evangelischer Posaunendienst in Deutschland kirchlich
Sonstige Instrumentalkreise in der evang. Kirche
Deutscher Bundesverband der Spielmannszüge
v o r s p i e l — TE x t & B i l d
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Text & Bild
Ann e t t e K u h n
H o l g e r N o lt z e
Ann e t t e H a u s c h i l d
Schon in ihrem Studium der Musikwissenschaft hat sich Annette Kuhn vor allem für die Themen interessiert, die über Werkanalyse und historischen Kontext hinausgehen. An der Uni Hamburg fand die Bremerin die Möglichkeit, sich intensiv mit psychologischen und physiologischen Auswirkungen von Musik auseinanderzusetzen. Damals steckte die Forschung auf vielen Gebieten noch in den Kinderschuhen; umso mehr war die Autorin jetzt erstaunt, wie weit diese inzwischen gediehen ist. Annette Kuhn arbeitete zunächst bei Radio Bremen, beim NDR und für das Label Teldec. Später besuchte sie die Journalistenschule Axel Springer in Berlin. Seit 1996 ist sie Redakteurin bei der »Berliner Morgenpost« und setzt sich dort in der Lokalredaktion häufig mit kultur relevanten Themen auseinander.
Holger Noltze ist Professor für Musik und Medien an der TU Dortmund und leitet dort den Studiengang Musikjournalismus. Geboren 1960 in Essen, ist er als Kritiker für Zeitungen und Rundfunkanstalten tätig. Er war Redakteur und Moderator verschiedener Kulturprogramme im WDR-Radio; im WDR-Fernsehen ist er seit 2001 Gastgeber der Gesprächsrunde »West.art Talk«. 2000 bis 2005 war er Ressortleiter für Aktuelle Kultur beim Deutschlandfunk. 2010 erschien »Die Leichtigkeitslüge. Über Medien und Komplexität«. 2013 wurde sein Buch »Liebestod. Wagner, Verdi, Wir.« (Hoffmann und Campe) bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift »Opernwelt« zum »Buch des Jahres« gewählt. Holger Noltze ist Sprecher des Rats für Kulturelle Bildung. Unter www.rat-kulturelle-bildung.de ist die Publikation »Alles immer gut. Mythen S.22 kultureller Bildung« zu lesen. "
Annette Hauschild, geboren in Gießen, wurde im umtriebigen Nachwende-Berlin zur Fotografin. Mit 20 Jahren zog sie nach Berlin-Mitte, studierte im Lette-Verein und besuchte Arno Fischers Meisterklasse am Schiffbauerdamm. Seit 1996 ist sie Mitglied der Agentur Ostkreuz und kuratierte gemeinsam mit Ute Mahler die Ausstellungen »Ostzeit« und »Über Grenzen«. Ihre Arbeiten sind regelmäßig in Ausstellungen und internationalen Magazinen zu sehen. Für diese Ausgabe von »128« fotografierte Annette Hauschild nicht nur das Cover, sondern auch die Teilnehmer am »Crowd Out«-Projekt und die Instrumentenzimmer in verschiedenen Berliner Musikschulen.
" S.14
" S.24 und S.28
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H a n s S t i m m a nn
H a nn s Z i s c h l e r
Marian K amensky
Prof. Dr.-Ing. Hans Stimmann, Architekt und Stadtplaner, war von 1986 bis 1991 Bausenator in Lübeck, danach bis 2007 Berliner Senatsbau direktor und Planungsstaatssekretär. Seit 2007 ist er Honorarprofessor am Deutschen Institut für Stadtbaukunst der TU Dortmund. Hans Stimmann war u. a. von 1996 bis zum Beschluss des Senates über einen Masterplan im Jahr 2005 mit der Weiterentwicklung des Kulturforums befasst. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher über den Städtebau und die Architektur Berlins nach dem Fall der Mauer. Zuletzt erschien »Zukunft des Kulturforums – Ein Abgesang auf die Insel der Objekte« (DOM publishers S.88 Berlin, 2012). "
Hanns Zischler, 1947 in Nürnberg geboren, ist nicht nur als Film- und Fernsehschauspieler, sondern auch als Fotograf und Schriftsteller tätig. Zu seinen Büchern zählen der in viele Sprachen übersetzte Essay »Kafka geht ins Kino« sowie zuletzt »Berlin ist zu groß für Berlin« (Galiani Berlin, 2013), in dem er sich als Spaziergänger und Leser durch die Stadt bewegt, in der er seit 1968 lebt. Für »128« notierte er seine Gedanken und Beobachtungen zum Berliner S.96 Kulturforum. "
Der Illustrator und Cartoonist Marian Kamensky wurde 1957 in der Slowakei geboren. Obwohl er bereits mit 12 Jahren zu zeichnen begann, arbeitete er zunächst als Glasbläser und Requisiteur, bevor er 1981 nach Hamburg zog und Lithografie an der Kunstschule studierte. Seine Zeichnungen wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt und in vielen Zeitschriften und Magazinen weltweit veröffentlicht, in Deutschland beispielsweise in »Die Zeit«, »Der Spiegel«, »Focus«, »Nebelspalter«, »Eulenspiegel«, »Psychologie heute« – und nun auch in »128«. Nachdem es Marian Kamensky 2001 zunächst wieder in die Slowakei zog, lebt er S.126 seit 2010 in Wien. "
vorspiel — In Kür ze
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IN KÜR ZE
Nikolaus Harnoncourt Foto: Marco Borggreve Sony Classical
ehrung für Harnoncourt Während ihres Wien-Gastspiels im vergangenen März haben die Berliner Philharmoniker Nikolaus Harnoncourt mit dem Ausdruck tiefster Verbundenheit als Ehrenmitglied in ihre Reihen aufgenommen. Lange hatte es gedauert, bis der 1929 in Berlin geborene Österreicher als Dirigent zu den Philharmonikern eingeladen wurde. Im September 1991 dann, längst anerkannt als einer der Großen der Zunft, dirigierte er das Orchester erstmals mit einem reinen Mozart-Programm: Im Kammermusiksaal (der Große Saal war wegen der Erneuerung der Decke gesperrt) erklangen die »Posthorn-Serenade«
und die »Prager Symphonie«. »Die Begegnung Harnoncourt und Philharmoniker glich einem Blitzschlag. Der Dirigent überzeugte das Orchester, absolute stilistische Flexibi lität zu demonstrieren«, urteilte die »Berliner Zeitung«. Es folgten 20 Jahre gemeinsamen Musizierens, in denen Harnoncourt die Philharmoniker in 90 Konzerten durch 29 Programme führte, in Berlin wie auch bei den Salzburger Osterfestspielen. Dazu Orchestervorstand Peter Riegelbauer in seiner Laudatio: »Sie haben uns eine neue Sicht auf die Werke der großen Meister des 18. und 19. Jahrhunderts ermöglicht. Wir spielten Bach, Händel, Haydn, Schubert, von Weber, Mendelssohn, Schumann, Brahms, aber auch
Dvořák, Bruckner und Johann Strauß und natürlich Mozart!« Als besonderes Verdienst Harnoncourts für das Orchester hob Riegelbauer hervor: »Ihr enormer Wissensschatz hat uns eine Tür geöffnet zu den Erkenntnissen der historischen Aufführungspraxis – aber auch den Weg bereitet für andere Dirigenten aus der sogenannten ›Alte Musik Szene‹. Sie haben uns immer wieder neugierig gemacht auf die stilistischen Wahrheiten jenseits der Partituren und entscheidend dazu beigetragen, dass wir ein wichtiges Repertoire zurückerobern konnten, das schon fest in den Händen der Spezialensembles zu liegen schien. Schon allein dafür sind wir Ihnen zu größtem Dank verpflichtet.« Gerhard Forck
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Fusion der SWR-Orchester Im letzten »128« haben wir ausführlich über die geplante Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg berichtet; mittlerweile gibt es Unerfreuliches nachzutragen: Die Fusion scheint unausweichlich. Im September 2016 soll der zwangsverheiratete Klangkörper – dann unter dem Namen SWR-Symphonieorchester – seine ersten Konzerte geben. Abwenden ließe sich die Zusammenlegung nur noch, wenn sich entweder das Land Baden-Württemberg an dem vom Freiburger Verwaltungsrechtler Friedrich Schoch vorgeschlagenen Stiftungskonzept beteiligt – oder wenn der SWR-Intendant Peter Boudgoust sich wenigstens zu einem Moratorium über eine autonome Zukunft der beiden Traditionsklangkörper bewegen ließe. Danach sieht es bislang nicht aus. Und das, obwohl der massive Widerstand gegen die Fusion zuletzt auch Teile der Politik erfasst hat. In einer »parteiübergreifenden Initiativgruppe zum Erhalt des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg« forderten Bundes- und Landtagsabgeordnete Boudgoust zur Revision des Fusionsbeschlusses auf. Über 31.000 Bürger unterstützten eine Kampagne für den Erhalt des Freiburger SWR-Orchesters. Auch Sir Simon Rattle sowie Bundestagspräsident Norbert Lammert (»unsensible Fehlentscheidung«) verurteilten die Fusionspläne. Alles ohne erkennbare Wirkung. Gebetsmühlenartig verkündet der Sender, dass sich an den Rahmen-
bedingungen, die zum Fusionsbeschluss führten, nichts geändert habe. Ernüchterung brachte auch eine Sitzung im Stuttgarter Landtag, in der vor allem die Oppositions parteien CDU und FDP der grünroten Landesregierung politisches Versagen vorwarfen. Diese verwies auf die gebotene Staatsferne des Rundfunks, die ein Eingreifen der Landesregierung verbiete. Dass die Fusion weniger Sachzwängen als politischem Willen geschuldet sein könnte, darauf deutet auch eine erst kürzlich bekannt gewordene Äußerung des ehemaligen SWR-Verwaltungsdirektors Viktor von Oertzen in einer Sitzung des Rundfunkrates 2012 hin. Darin heißt es, dass die Politik »keinen Anlass sehe, den öffentlich-rechtlichen Anstalten zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung zu stellen«, wenn der SWR nicht auf eine Forderung des damaligen Vorsitzenden
der Rundfunkkommission Kurt Beck reagiere, »die Zahl der Rundfunkorchester zu reduzieren«. Beck rea gierte empfindlich auf die Veröffentlichung – er habe zu keinem Zeitpunkt gesagt, der SWR solle seine Orchester fusionieren. Auch wenn die Fusion also unausweichlich zu sein scheint, ein neuer Chefdirigent ist wohl noch längst nicht gefunden. Der SWR-Orchestermanager Johannes Bultmann sprach sicherheitshalber schon von einem vorstellbaren »pluralen Umfeld« an Dirigenten zum Start. Alexander Dick
Ein Geschenk f端rs Leben Verpackt von Barbara Held
Thema: Spiel doch Selber!
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Für den ganzen Menschen
Fürs Leben gelernt
Musik wirkt – auch ohne den ve r m e i n t l i c h e n » M o z a r t- E f f e k t«
Wa s w u r d e a u s d e n M i l l i o n e n ehemaliger Musikschüler?
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Der Kommentar: »Kann das was?«
Tanz die Gitarre!
Ü b e r d i e m a c h t vo l l e N i c h t n ü t z l i c h ke i t k u l tu r e l l e r B i l d u n g
Manche Menschen spielen ein Instrument ohne ein Instrument
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Wir werden Tausend sein
Wir sind Helden
» C r owd O u t«: Wa s e s h e i ßt , I n d i v i d u u m i n d e r M e n g e zu s e i n
D i e »Vo k a l h e l d e n «: H i e r s te h t Berlin auf der Bühne
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Thema: spiel doch selber! — musik und gehirn
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Für den ganzen Menschen Musik wirkt – auch ohne den vermeintlichen Mozart-Effekt. Vor allem wer selber musiziert, kann von vielen medizinisch belegbaren Vorteilen profitieren. Vo n A n n e t te Ku h n
Ei n e fa s z i n ie r e n d e Vo r ste l lu n g: Wäh-
rend die Kinder mit Puppen oder Bausteinen spielen, lassen die Eltern im Hintergrund Musik von Wolfgang Amadeus Mozart laufen – und schon steigt die Intelligenz der Kleinen. 1993 sah es ganz danach aus, als könnte das klappen. Der »Mozart-Effekt« wurde damals beschworen, nachdem Wissenschaftler aus Kalifornien aufsehenerregende Untersuchungsergebnisse in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlicht hatten. Eine Forschergruppe um die Psychologin Frances Rauscher sowie den Physiker und Neurobiologen Gordon Shaw hatte einer Gruppe Studenten Mozarts Sonate für zwei Klaviere KV 448 vorgespielt. Danach sollten die Probanden einen Intelligenztest lösen, der sich auf ihr räumliches Vorstellungsvermögen bezog. Im Ergebnis
kamen die Studenten, die zuvor Mozart gehört hatten, schneller zum Ziel, als ihre Kommilitonen aus den Kontrollgruppen, denen eine Entspannungs-CD oder gar nichts vorgespielt worden war. Schon einen Tag nach Veröffentlichung der Studie waren in Kalifornien sämtliche Tonträger mit Mozarts Musik ausverkauft. Der Gouverneur des US-Bundesstaates Georgia ließ bald darauf Eltern, die ein Kind erwarteten, eine Mozart-CD schenken, und in Florida sollten staatliche Kindergärten per Verordnung täglich eine Stunde klassische Musik laufen lassen. Der Musiktherapeut Don Campbell ließ sich den Begriff »MozartEffekt« später sogar schützen und baute auf ihm ein Unternehmen auf, das noch heute angeblich in " telligenzsteigernde CDs verkauft.
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Thema: spiel doch selber! — musik und gehirn
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»Jeder Konzertbesuch bewirkt Veränderungen im Gehirn. Musik schafft Vernetzungen.« Eckart Altenmüller
Auch nach Deutschland schwappte schnell die vermeintliche Erkenntnis über Mozart. Viele Schwangere beschallten ihr Ungeborenes mit Mozarts Musik und kauften bevorzugt Spieluhren mit »Mozarts Wiegenlied«. Dass dieses »Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein« längst nicht mehr Mozart, sondern dem Komponisten Johann Friedrich Anton Fleischmann zugeschrieben wird, stört offenbar keinen Spieluhren-Hersteller. Mozart verkauft sich einfach besser als Fleischmann. Natürlich schadet es nicht, Ungeborenen Musik vorzuspielen. In verschiedenen Untersuchungen hat sich gezeigt, dass Babys, die eine Melodie schon im Mutterleib regelmäßig hören, diese auch nach der Geburt wiedererkennen. Das kann eine beruhigende Wirkung haben. Der finnische Psychologe Eino Partanen hat mittels Elektroenzephalografie (EEG) zudem nachgewiesen, dass Babys, die schon als Embryo immer wieder eine bestimmte Melodie gehört haben, besonders dann eine stärkere Hirnaktivität zeigen, wenn die Tonfolgen leichte Abweichungen enthielten. Eine Wirkung kann Musik also auch schon auf Ungeborene ausüben – aber schlauer wird davon wohl niemand. d e r h e av y- m e ta l- e f f e k t
Dennoch hält sich bis heute der Glaube an den »MozartEffekt« hartnäckig, auch wenn er trotz vieler Versuche nicht verifiziert werden konnte. Zwar gibt es Belege dafür, dass über das Hören von Musik zumindest eine kurzfristige Leistungssteigerung erzielt werden kann; doch das geht offenbar auch ohne Mozart. Ähnliche Effekte wie in der Untersuchung von Rauscher und Shaw wurden auch mit anderer Musik, mit Pop und sogar mit Heavy Metal erzeugt. Voraussetzung: Die Hörer mochten die jeweilige Musik. Selbst nach dem Vorlesen einer Geschichte von Stephen King ließ sich eine entsprechende Wirkung erreichen.
Doch auch ohne »Mozart-Effekt« ist unbestritten, dass Musikhören und Musizieren viele positive Auswirkungen hat. Das Spielen eines Instruments und das Singen fördern den Spracherwerb, das Musizieren unterstützt die soziale und emotionale Entwicklung, es kann Alterserscheinungen hinauszögern, und die Musiktherapie greift in immer mehr Lebensbereiche hinein. Sogar das Gehirn verändert seine Struktur durch Musik. »Jeder einzelne Konzertbesuch bewirkt Veränderungen im Gehirn«, sagt der Neurologe und Musiker Eckart Altenmüller, der seit 1994 das Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule in Han-
Eckart Altenmüller Foto: privat
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»Musik enthält alle Teile des Menschseins – körperliche, kognitive, soziale, spirituelle.» Andreas Doerne
nover leitet. »Musik schafft im Gehirn Vernetzungen zwischen den Sinnen«, erklärt er. Mehr noch gilt das für das Musizieren. »Das ist eine der anspruchsvollsten Leistungen des menschlichen Zentralnervensystems«, so Altenmüller. Beim Hören ist der Körper wenig aktiv; wer aber selber singt oder ein Instrument spielt, zeigt eine stärkere neuronale Aktivität. »Die koordinierte Aktivierung zahlreicher Muskelgruppen muss mit höchster zeitlicher und räumlicher Präzision und häufig mit sehr hoher Geschwindigkeit geschehen.« Diese Höchstleistung zeigt auch Auswirkungen im Gehirn. So wurde in vielen Forschungsarbei-
Andreas Doerne Foto: Chris Stock-Müller
ten nachgewiesen, dass es Unterschiede zwischen dem Gehirn eines Musikers und dem eines Nichtmusikers gibt. Neurologen haben Gehirne von Profi-Musikern beim Musizieren im Kernspintomografen vermessen und konnten aufzeichnen, welche Regionen dabei stärker durchblutet werden, also aktiv sind. So zeigten Christian Gaser von der Universität Jena und der Neurologe Gottfried Schlaug von der Harvard Medical School in Boston, dass im Gehirn eines Profi-Musikers mehr graue Substanz vorhanden ist, das sind die Gebiete, wo die Nervenzellkörper angesiedelt sind. Demnach sind bei einem Musiker jene Areale vergrößert, in denen das Sprachzentrum liegt und die für Motorik und Gedächtnis zuständig sind. Die erhöhte Dichte an Nervenzellen in diesen Bereichen konnte sogar schon bei Kindern nachgewiesen werden, die 15 Monate lang regelmäßig ein Instrument gespielt haben. musik im blut und in den genen
Die Fähigkeit, Musik überhaupt zu verstehen und sich von ihr emotional berühren zu lassen, ist aus Sicht der Wissenschaft zumindest zum Teil nicht erlernt, sondern bereits in den Genen angelegt. Zu diesem Ergebnis kam 2008 eine finnische Forschergruppe um Kristiina Pulli von der Universität in Helsinki. Sie haben die Musikalität von Menschen getestet und genetische Musterungen angestellt. Dabei fanden sie Erbgutregionen, die offenbar für Musikalität zuständig sind. Für Eckart Altenmüller ist dieses Untersuchungs ergebnis ein Beweis dafür, dass es unmusikalische Menschen kaum geben kann – obwohl dieser Glauben verbreitet ist. Nur drei Prozent der Menschen zeigten eine kongenitale Amusie, also eine Unfähigkeit, trotz intakter Sinnesorgane Tonfolgen zu erkennen und sie wiederzugeben. Oft sei diese Amusie genetisch bereits an" gelegt. Das heißt aber auch, dass 97 Prozent der
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T h e m a : S p i e l d o c h s e l b e r ! — e x- e l e v e n
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Leo Kestenberg Musikschule Berlin SchĂśneberg, Unterrichtsraum
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FĂźrs Leben gelernt Was wurde eigentlich aus den Millionen von Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten ein Musikinstrument gelernt haben? Vo n A n n e t te Z e r p n e r F o to s vo n A n n e t te H a u s c h i l d
T h e m a : S p i e l d o c h s e l b e r ! — e x- e l e v e n
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D i e Zah l m u s s gigantisch hoch sein, doch niemand
kennt sie genau. Wie viele Deutsche in den letzten Jahrzehnten ein Musikinstrument erlernt haben, ist schlicht nicht zu erheben. Zwar führt der Deutsche Musikschulverband eine Statistik, die allein für das Jahr 2013 über eine Million Musikschüler nennt, Tendenz seit Langem steigend. Doch damit werden nur jene Schüler erfasst, die an einer kommunalen Musikschule eingeschrieben sind. Wer an nicht-öffentlichen Schulen oder bei Privatlehrern Unterricht nimmt, ist nicht berücksichtigt. Noch schwieriger ist es, in Erfahrung zu bringen, wie die Millionen ehemaliger Musikschüler heute all die Zeit und Mühe nutzen, die sie einst ins Erlernen eines Instruments investiert haben. Spielen sie noch – und wie oft? Haben sie irgendwann aufgehört – und warum? Oder haben sie nach einer längeren Pause wieder angefangen? Handfeste Zahlen dazu gibt es nicht; lediglich das verbandlich organisierte »Laienmusizieren« ist statistisch erfasst (siehe das »Zahlenspiel« auf Seite 6). Also haben wir uns selbst umgehört und einige Musterkarrieren ehemaliger Eleven aufgezeichnet.
Der typische Knick in der Laienmusiker-Karriere: je mehr Arbeit, desto weniger Musik.
Die Neben-Berufsmusiker
»Totale Entspannung«: Für Jan Baumeister bedeutete das Anfang der Neunzigerjahre folgendes: »Klarinette zusammenbauen, Jazz-Sendung im Schweizer Radio aufdrehen und einfach mitdudeln« im abendlich verlassenen Labor hoch über dem Bodensee. Damals war der Rheinländer als Chemiestudent in Konstanz. Als Musikschüler hatte er von Volksmusik über Blasorchester bis Jazz alle Stilrichtungen ausprobiert, nun spielte er im Uni-Orchester. Und lernte dort seine künftige Frau Bettina kennen. Die Physikerin saß gleich nebenan am Fagott. Nach dem Diplom kam für Jan Baumeister der typische Knick in der Laienmusiker-Biografie: »Je mehr Arbeit, desto weniger Klarinette – das begann schon während der Promotion in Zürich.« Bettina Baumeister hat während Diplom, Referendariat und Doktorarbeit »durchgespielt«. Nur während ihrer drei Schwangerschaften machte sie am Fagott Pause. Seit die Familie bei München lebt, probt Bettina Baumeister alle zwei Wochen mit einem Doppelquintett, das regelmäßig Konzerte gibt. Die beste Zeit zum Üben sei morgens, nachdem die Kinder zur Schule aufgebrochen sind, erzählt die 42-Jährige, die am Deutschen Museum arbeitet. Dass Jan neulich wieder die Klarinette zur Hand genommen hat, verdankt er Tochter Antonia: Die Zwölfjährige begleitet eine Klarinettenschülerin am Klavier und wollte dafür üben. Eigentlich geht’s noch ganz gut, hat er gemerkt. Bei ihrer Ältesten erkennen die Eltern bereits, wie wichtig Geige und Klavier für ihr Hineinwachsen in die Welt sind: »Tonis Freundinnen lernen " alle ein Instrument, sie spielen zusammen im
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Hans Werner Henze Musikschule Marzahn-Hellersdorf oben
Unterrichtsraum für Gitarre und Mandoline unten
Lagerraum für Instrumente
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thema: spiel doch selber! — vok alhelden
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vo n r e c hts nac h li n ks
Zainab, 11; Marwan, 12; Mariam, 12
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Wir sind Helden Seit Monaten proben Grundschulkinder in drei Berliner uftritt Kiezchören mit musikalischen Profis. Bei ihrem ersten A wurde dann deutlich, wer da wirklich auf der Bühne steht. Und die Vokalhelden haben noch viel mehr vor. Vo n J o h a n n e s E h r m a n n F o to s vo n M o n i k a R i t te r s h a u s
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thema: spiel doch selber! — vok alhelden
» H e l d e n « , sagt Marwan, »kenn’ ich, hatten wir neu-
lich in Englisch. Heroes!« Aber wen er aufgeschrieben hat, weiß er jetzt auch nicht mehr. Ist vielleicht die Aufregung. Man muss das verstehen, es ist Marwans erstes Interview, am Tag nach seinem zwölften Geburtstag. Zwölfjährige geben normalerweise keine Interviews, klar. Es sei denn, sie heißen Macaulay Culkin und haben gerade »Kevin allein zu Haus« abgedreht. Die Kevin-Filme kennt Marwan natürlich auch, den ersten findet er am besten, aber er selbst hat noch in keinem Film mitgespielt. Er ist ein ganz normaler Junge aus Berlin-Moabit, Carl-Bolle-Grundschule, sechste Klasse, Lieblingsfächer Englisch, Mathe, Religion und IE, das steht für Interkulturelle Erziehung. Warum also sitzt Marwan hier, an einem Cafétisch im Einkaufszentrum MoaBogen am U-Bahnhof Birkenstraße, vor sich einen riesigen süßen Pfannkuchen, den sie anderswo Berliner nennen, und gleich daneben ein Aufnahmegerät? Die Antwort hat mit dem Poster zu tun, das seit Dezember in Marwans Zimmer hängt, mit einem Kaugummi, von dem die Zunge blau wird, mit einem Heinzelmännchen und mit einem schwarzen Halstuch. Und mit Judith Kamphues. »Die ist nicht streng«, sagt Marwan, »die ist nett.« Sie kennen sich ganz gut mittlerweile, kann man sagen. Seit Oktober, seit den Herbstferien haben sie sich ja jede Woche gesehen, immer dienstags, immer um halb fünf, Rostocker Straße, Stadtschloss, so heißt dieser Ort, und wie ein König kann man sich fühlen, wenn man dort war und anderthalb Stunden gesungen hat, mit heller Stimme, aus voller Kehle. Aus ganz normalen Berliner Kindern Helden zu machen, das ist der Plan. Vokalhelden, genau genommen, diesen Namen hat die Education-Abteilung der Berliner Philharmoniker für das Projekt ausgesucht. Musikali-
Aus ganz normalen Berliner Kindern Helden zu machen, das ist der Plan. sche Laien für die Musikkultur zu begeistern, das strebt das Programm seit seiner Gründung vor zwölf Jahren an. Menschen zusammenzubringen, das sei doch das Beste, was die Musik leisten könne, hat Dirigent Simon Rattle einmal gesagt. Und so kommen sie jede Woche zusammen, all die Kinder und Chorleiter und Stimmbildner und Organisatoren und, nicht zu vergessen, die Ehrenamtlichen, ohne deren Einsatz – zuverlässig, warmherzig, ohne viel Gewese – das alles ohnehin nicht funktionieren würde. Geprobt wird in drei sehr verschiedenen Berliner Kie-
zen: dienstags in Moabit, im großen Saal des Stadtschlosses, an dessen Decke rosafarbene Tücher hängen; mittwochs in Schöneberg, direkt an der lauten Pallasstraße; und donnerstags in Hellersdorf in einem Bungalow, der versteckt an einem Fußgängerweg zwischen Neubauten liegt. b e i d r e i s i n d a l l e s t i l l , o k ay?
Es ist kurz nach halb fünf an einem Dienstag im Stadtschloss Moabit, die Helden sind ziemlich laut. »Ich zähle bis drei«, ruft Judith Kamphues, »dann seid ihr alle still. Okay? Und beim zweiten Mal geht ihr alle im Kreis.« Die Kinder stehen gespannt da. »Und los. Ein atmen. Zusammen. Ausatmen. Auseinander. In die Knie wie beim Skifahren. Boxen nach vorne. Aber bitte ohne jemandem wehzutun.« Alles trippelt durcheinander. »Was heißt eigentlich Vokal?«, fragt Marwan zwischen zwei großen Bissen Pfannkuchen. Klingt wie Vokabel, findet er. »Heißt das: stark?« So ist das dann manchmal, wenn die Erwachsenen sich gute Sachen für die Kinder ausdenken. Sie kommen in ihre Schulklassen, holen sie mit Bussen ab, sorgen dafür, dass sie in den Pausen genug Wasser trinken und Bananen essen oder Müsliriegel, aber den Kindern zu erklären, was das komische Wort mit dem V bedeutet, das haben sie glatt vergessen. Vielleicht hat aber auch Marwan die Erklärung einfach wieder vergessen. Denn das ist ja auch das Schöne an diesem Alter, zwischen sieben und zwölf:
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Das Schöne an diesem Alter: Man muss sich noch nicht über alles Gedanken machen.
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Mariam, 12
Ausgabe Nr. 02.2014
r e c hts
Hassan, 8
dass man sich noch keine Gedanken über alles machen muss. Dass man Sachen einfach macht. Weil man Lust drauf hat. Warum genau, darüber sollen sich doch bitteschön die Erwachsenen den Kopf zerbrechen. Warum singst du im Chor, Marwan? »Weiß auch nicht.« Es ist eine Weile still, Marwan zuppelt ein bisschen an dem schwarzen Halstuch, das er immer trägt, es hält auch die Stimme warm, aber es ist eh sein Lieblingstuch. Dann sagt er: »Weil’s Spaß macht.« Grosse FisCHe , kleine FisCHe
Die Kinder in Moabit laufen als Schlingpflanzen durch den Raum und dann als große und kleine Fische, in den großen Spiegeln an der Längswand sieht man sie alle noch ein zweites Mal. Ein Mädchen hat einen Pulli an, auf dem steht »Noise«, das S ist verdreht. »Schulter kreisen, Unterkiefer lockern«, das Aufwärmen geht lange, eine Viertelstunde oder mehr. »Das ist wichtig für die Kinder«, sagt die Chorleiterin. »Die meisten haben von ihren Eltern nach der Geburt eben keine Geige in die Hand gedrückt bekommen.« Laut stöhnen die Kinder auf, als das Aufwärmen vorbei ist. »Gibt’s irgendwelche Fragen?«, fragt Judith Kamphues. »Jaaaa«, ruft ein Mädchen. – »Was denn?« – »Nee, doch nicht.« Liebenswürdige Chaoten, das sind Kinder. »Ein Kessel Buntes«, sagt Kamphues. Sonst arbeitet die 46-jährige gelernte Opernsängerin und Gesangspädagogin meist mit der Elite, etwa mit den Kindern vom Berliner
Staats- und Domchor. Zwei Welten. Dort Kinder, die von klein auf Proben und Disziplin gewohnt sind, die ständig gefördert und gefordert werden; und hier nun Mädchen und Jungs aus allen Kiezen und Schichten und Familien. Einzige Vorbedingung: das Interesse am Singen. »Ich schicke niemanden nach Hause, der sich traut, bei uns mitzumachen«, Judith Kamphues. Hier, in Moabit, Schöneberg, Hellersdorf, geht es um viel mehr, als dass immer alle sofort den gleichen Ton treffen. Es geht um die Gruppe. Um Toleranz auch, um das Aushalten des anderen, auch wenn der mal einen Fehler macht. Und klar, ums Selbstbewusstsein. »Es geht mir darum, dass die Kinder sich trauen, den Mund aufzumachen, auch woanders, auch in der Schule«, sagt Kamphues. »Dass sie merken: Das macht mir Spaß, ich muss mir nicht in die Hosen machen.« »Bist du schon ein Vokalheld oder wirst du einer?« Diesen Spruch auf dem Poster sieht Marwan jeden Morgen um sieben, gleich nach dem Aufstehen, er hat sich das Poster an die Wand gehängt. Das Zimmer teilt er, jüngstes von sieben Geschwistern, mit seinem älteren Bruder. Der wird bald 14 und seine Stimme ist schon viel tiefer. Dienstags um vier, wenn die Schule aus ist, geht Marwan zusammen mit Mariam rüber zum Stadtschloss, sind ja nur 500 Meter. Mariam geht auch in seine Klasse. Sonst ist keiner dabei. »Manche sagen, sie kommen mal mit«, sagt Marwan, »aber machen die nicht. Finden die langweilig.«
Backstage in der Philharmonie Foto: Peter Adamik
b er l i n er p h i l h a r m o n iker
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»Ich bin kein Dogmatiker«
Per aspera ad aspera
Pierre-Laurent Aimard über das »Wo h l te m p e r i e r te K l av i e r «
E i n H e l d e n l e b e n? R i c h a r d S t r a u s s u n d d i e P h i l h a r m o n i ke r
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Die Freunde des perfekten Klangs
»Wie ein Orchester klingen kann und soll«
W i e d e r » L öwe n ko p f« zu d e n B e r l i n e r P h i l h a r m o n i ke r n k a m
Daniel Barenboim im Gespräch über sein Bühnenjubiläum
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Ein ewig Reisender
Philharmonische Nachrichten
D e r Ko m p o n i s t u n d D i r i g e n t Pe te r E ö t vö s i m Po r t r ät
A n d r e a s B l a u , K l a u s Wa l l e n d o r f, Georg Hilser nehmen Abschied
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Jahrhundert des Übergangs
Mein Instrument als Lebenspartner
D a s M u s i k f e s t B e r l i n b l i c k t vo m 19. J a h r h u n d e r t a u f s H e u te
D i e s m a l m i t A l ex a n d e r vo n P u t t k a m e r u n d s e i n e r Tu b a
Berliner Philharmoniker — freunde
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Die Freunde des perfekten Klangs Vo n N at a l i e S c hwa r z
Mittenwalder Kontrabass mit LĂśwenkopf Foto: Heribert Schindler
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N i e m a n d i s t l ä n g e r i m O r c h e s t e r als er, denn von einer knapp zehnjährigen, sentimentalen Pause abgesehen, spielen die Berliner Philharmoniker seit 1882 auf ihm, dem Mittenwalder Kontrabass mit dem markanten Löwenkopf, gebaut im frühen 19. Jahrhundert. Was als Gelegenheit begann, wurde fast zur Tradition: Der »Löwenkopf« wurde drei Mal von einer zur nächsten PhilharmonikerGeneration weiter verkauft, bevor er nun endgültig für den Klang des Orchesters gesichert werden konnte. Stanisław Pajak spielt als fünfter Philharmoniker dieses geschichtsträchtige Instrument und verdankt dies den Freunden der Berliner Philharmoniker e. V. Was macht ein Verein, dessen Gründungszweck, der Bau eines Konzertsaals für die Berliner Philharmoniker, seit mehr als 50 Jahren erfüllt ist? Für die knapp 2000 musikbegeisterten Mitglieder war dies keine Frage. Stradivari, Guarneri, Storioni & Co. sind die klangvollen Namen, die sich hinter dem neuen Ziel des Vereins verbergen: durch den Kauf von Instrumenten den Klang der Berliner Philharmoniker zu erhalten und zu verbessern.
Fünf Philharmoniker haben schon auf dem »Löwenkopf« gespielt.
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Seitdem vor allem seltene und hochwertige Streichinstrumente zu begehrten Spekulations- und Anlageobjekten avancierten, sind die Preise geradezu explodiert. Von 1970 bis 2007 stieg der Wert der teuersten Musikinstrumente – größtenteils Violinen, vereinzelt Celli – um das 37-fache. Heute wird von einer Wertsteigerung von bis zu 10 Prozent jährlich ausgegangen. So wurde als bisher teuerstes Instru ment 2011 eine Stradivari von 1721 für zwölf Millionen Euro in London versteigert. Unter den namentlich bekannten Besitzern von Stradivari-Geigen befinden sich mehr Banken und Stiftungen als Musiker. Diese Entwicklung erschwert es vor allem jungen Orchestermusikern, auf hochwertigen Instrumenten ihr virtuoses Können zu zeigen. Deshalb unterstützen die Freunde der Berliner Philharmoniker den naheliegenden Wunsch des Orchesters, besonders klangprägende Instrumente auch nach dem Ausscheiden einzelner Musiker für das Orchester zu erhalten. Als Solo-Bassist Rudolf Watzel nach 41 Orchesterjahren 2009 in den Ruhestand ging, erwarb der Verein von ihm " den Mittenwalder »Löwenkopf«, dessen runder und
Herbert Teubner, geb. 1910, wurde 1936 Mitglied der Philharmoniker und übernahm Mitte der 1950er den Mittenwalder Bass. Wie sein Vorgänger komponierte auch er u. a. Werke für Kontrabass. Als er 1975 in den Ruhestand ging, konnte er sich nicht von dem »Löwenkopf« trennen.
Otto Müller, geboren um 1836, spielte bereits in der Bilse’schen Kapelle den Mittenwalder Kontrabass mit dem Löwenkopf, bevor er 1882 mit seinen Musikerkollegen das Berliner Philharmonische Orchester gründete.
Rudolf Watzel, 1943 geboren, wurde 1968 Mitglied des Orchesters. Viele Jahre übernahm er im Orchester- und im Stiftungsvorstand Verantwortung. Er kaufte Mitte der 1980er-Jahre den »Löwenkopf« und spielte das Instrument, bis er nach 41 Jahren in den Ruhestand ging.
Paul Pingel trat 21-jährig im Jahr 1895 in das Berliner Philharmonische Orchester ein und spielte als zweiter Philharmoniker den »Löwenkopf«. Er gehörte dem Aufsichtsrat der Orchester GmbH an und fand zudem noch die Zeit, Stücke für Kontrabass zu komponieren.
Stanisław Pajak, geboren 1983, war Stipendiat der Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker und spielte bei der Dresdner Philharmonie sowie bei den Bambergern Symphonikern bevor er 2011 zu den Berliner Philharmonikern kam. Derzeit spielt er den traditionsreichen Kontrabass.
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»Die Initiative für den Kauf eines Instruments muss immer aus dem Orchester kommen.«
Manfred Erhardt, Vorsitzender der Freunde von 2008 bis 2014, und Klaus Rauscher, sein Nachfolger seit März 2014 Foto: Sebastian Hänel
weicher Klang seit mehr als 120 Jahren zu den Philharmonikern gehört. Im vergangenen Jahr dann kauften die Freunde eine Violine aus der Werkstatt Giovanni Battista Guadagninis (Mailand 1754), die viele Jahre vom ehemaligen Philharmoniker Axel Gerhardt gespielt wurde und nun dem Konzertmeister Andreas Buschatz zur Verfügung steht. Ein Gewinn für die Berliner Philharmoniker und das Bundesjugendorchester gleichermaßen, dem Axel Gerhardt die komplette Kaufsumme spendete. Der Kauf von »externen« Instrumenten gestaltet sich schwieriger, da er nicht geplant werden kann. Handlungstreibend ist der Moment, wenn ein seltenes Instrument zum Kauf angeboten wird, sowie ein ausgeprägtes Gespür für den Klang. Schon deshalb würden die Freunde der Berliner Philharmoniker nie ohne konkrete Anfrage ein Instrument erwerben. »Die Initiative muss immer aus dem Orchester kommen«, erklärt Prof. Dr. Klaus Rauscher, seit März 2014 Vorsitzender des Vorstands der Freunde. Hat ein Musiker ein zum Verkauf stehendes Instrument entdeckt, können die Freunde in zweierlei Form unterstützen. So kann dem Musiker ein zinsloses Darlehen bis zur Hälfte der Kaufsumme gewährt werden, wenn dieser den Rest selbst aufbringen kann. Als zweite Möglichkeit können Instrumente, deren Klang langfristig für das Orchester bedeutsam ist, von den Freunden der Berliner Philharmoniker erworben werden. Die Voraussetzungen, unter denen der Verein Unterstützung gewährt, sind klar geregelt: Das Instrument muss einerseits qualitativ hochwertig sein, andererseits muss sein Verkehrswert bekannt und durch ein Gutachten nachgewiesen sein. Im Zweifelsfall beauftragen die Freunde ein Zweitgutachten. Außerdem müssen die Herkunft und die Besitzverhältnisse des Instruments gesichert sein. So wurde der Kauf einer Violine, deren Herkunft nicht lückenlos und zweifelsfrei nachge-
wiesen werden konnte, im vergangenen Jahr abgelehnt. Haben der Orchestervorstand und die jeweilige Stimmgruppe, für die das Instrument erworben werden soll, zugestimmt, kann der Kauf erfolgen. Mittels eines Leihvertrags erhält die Stiftung Berliner Philharmoniker das Instrument. In den ersten fünf Jahren wird es von dem Musiker gespielt, der das Instrument aufgespürt hat, bevor danach im Orchester über die weitere Vergabe abgestimmt wird. Seit 2001 wurden durch die Freunde der Berliner Philharmoniker zwei Violinen, ein Violinbogen, eine Viola, ein Violabogen, zwei Kontrabässe, zwei Schlagglocken, ein Cimbasso, ein Heckelphon sowie zwei Flügel im Gesamtwert von rund zwei Millionen Euro erworben und dem Orchester leihweise übergeben. Nicht ohne Stolz betont der vormalige Vorstandsvorsitzende Prof. Dr. Manfred Erhardt: »Bisher konnte jedes gewünschte Instrument gekauft werden, das die Voraussetzungen erfüllte. Wir mussten keine Anfrage ablehnen.« Als sich der Verein der Freunde der Berliner Philharmoniker 1949 gründete, verfolgten seine Mitglieder nur ein Ziel: dem Orchester im zerstörten Nachkriegsberlin zu einem neuen Konzertsaal zu verhelfen. Spätestens nach der Eröffnung des Kammermusiksaals 1987 galt es, neue Ziele zu setzen. Heute engagieren sich die Freunde vorrangig für den Ankauf und die Finanzierung von Instrumenten. Aber auch die Verbesserung der Ausstattung der Philharmonie, insbesondere der Tontechnik, die Aufarbeitung und Darstellung der Geschichte des Orchesters und die Generalsanierung der Orgel in der Philharmonie zählen zu den Förderprojekten. Nähere Informationen zum Verein: www.berliner-philharmoniker.de/freunde
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Berliner philharmoniker — musikfest
Jahrhundert des Übergangs Das diesjährige Musikfest Berlin blickt vom 19. Jahrhundert auf die Gegenwart Vo n M a r t i n W i l ke n i n g
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Fa s t j e d e Z e i t kennt die Bewegung zwischen Abschied vom Alten und Aufbruch ins Neue. Das 19. Jahrhundert jedoch scheint ganz besonders geprägt von solchen Spannungen, es entwickelt seine ganze, uns heute noch auf unheimliche Weise vertraute Dynamik zwischen diesen beiden Polen. Dampfmaschine und Waldeinsamkeit, Beschleunigung und Stillstand, Prosa des Alltags und Poesie der Verklärung, Zukunftsmusik und Historismus. Aus solchen Spannungen heraus wuchs jedoch auch die Zuversicht auf immer neue, höhere Stufen erreichende Synthesen, die den Menschen mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit der Natur versöhnen. Für Georg Friedrich Hegel war gerade die Musik als Kunst, die Zeit sinnlich erfahrbar macht, das Medium, das die Spannungen der Gegenwart als Teil größerer Prozesse mit Sinn erfüllt darzustellen vermag: »Mit dem Gegensatze insofern ist unmittelbar die Notwendigkeit einer Auflösung von Dissonanzen und ein Rückgang zu Dreiklängen gegeben. Diese Bewegung erst als Rückkehr der Identität zu sich ist überhaupt das Wahrhafte.« b e s c h wö r u n g r e i n e r g e g e n wa r t
Hegels Überzeugung eines zielgerichteten Prozesses, der erst mit dem Durchgang durch Antithesen und Dissonanzen einen Zuwachs an Identität ermöglicht, stieß nach dem ersten Drittel des Jahrhunderts zunehmend auf Skepsis. Es war der Däne Søren Kierkegaard, der nicht zufällig eine Reise ins nachhegelsche Berlin unternahm, um dort »Die Wiederholung« zu schreiben, einen Text, der Hegels Zukunftsoptimismus eine fast schon existenzialistische Skepsis, eine Beschwörung reiner Gegenwart gegenüberstellt. Auch Kierkegaard suchte dafür nach Analogien in der Musik, und er fand ein Bild, das beispielhaft eine weitere Polarität des 19. Jahrhunderts aufgreift, nämlich die zwischen Naturhorn und Ventilhorn, dem zunächst sogenannten »Maschinenhorn«, dessen Ventiltechnik aus der Konstruktion der Dampfmaschine abgeleitet ist, und auf das 1818 zum ersten Mal in Berlin ein Patent erteilt worden war. 1843 schrieb Kierkegaard in Berlin: »Es lebe das Posthorn! Es ist mein Instrument, aus vielen Gründen und vornehmlich deshalb, weil man diesem Instrument niemals mit Sicherheit den gleichen Ton entlocken kann; denn es liegt in einem Posthorn eine unendliche Möglichkeit, und wer es an seinen Mund setzt und in ihm seine Weisheit kund macht, der wird sich nie einer Wiederholung schuldig machen, und wer seinem Freunde anstatt einer Erwiderung ein Posthorn reicht zur gefälligen Benutzung, der sagt nichts und erklärt alles. Gepriesen sei das Posthorn!« Es ist daher auch kein Zufall, dass das Programm des Musikfests 2014, das sich um Musik des 19. Jahrhunderts herum entfaltet, in auffälliger Weise jenes Instrument in den Mittelpunkt rückt, das sowohl bautechnisch wie auch in seinem assoziativen Potenzial die Grundspannung dieser Zeit zwischen Zukunft und Vergangenheit verkörpert:
das Horn. Ein feinsinniger Beobachter wie Theodor Adorno konnte noch im 20. Jahrhundert in dem – nach der Spielanweisung des Komponisten – »wie ein Naturlaut« anhebenden Beginn von Mahlers Erster Symphonie jene Besetzung des Naturhaften durch Technisierung heraushören, wenn er in dem Anfangsklang nicht ungebrochene Natur erkannte, sondern auch »einen unangenehm pfeifenden Laut, wie ihn altmodische Dampfmaschinen ausstießen«. Damit bildet dieses kurz vor der Jahrhundertwende vollendete Werk den Schlusspunkt jenes Panoramas des 19. Jahrhunderts, das den Rahmen für das Programm im diesjährigen Musikfest Berlin stellt. a n d e n g r e n z e n d e s n at u r h o r n s
Die Komponisten nahmen das Angebot, das mit dem neuartigen Ventilhorn entstand, in ganz unterschiedlicher Weise an. Robert Schumann schrieb sein »Konzertstück für vier Hörner und Orchester« für vier moderne Instrumente, während Brahms Zeit seines bis kurz vor die Schwelle zum 20. Jahrhundert führenden Lebens für das Naturhorn eintrat, auch wenn er in seinen Werken Partien schrieb, die mindestens bis an die äußersten Grenzen des auf diesem Instrument noch Ausführbaren gehen und schon in der Aufführungspraxis seiner Zeit zumeist auf Ventilhörnern gespielt wurden. Bei seinem Horntrio, das beim Musikfest zusammen mit dem zweiten bedeutenden, viel später ent-
»Es lebe das Posthorn! Es ist mein Instrument, aus vielen Gründen.« Søren Kierkegaard
standenen Werk in der ungewöhnlichen Besetzung mit Horn, Violine und Klavier, dem Trio von György Ligeti, erklingt, wünschte sich Brahms ausdrücklich Aufführungen auf dem Naturhorn. Beim Musikfest wird das selten im Konzert zu hörende Stück denn auch in dieser Weise vorgestellt. Der Schluss-Satz von Brahms’ Erster Symphonie feiert einen Durchbruch mit dem berühmten Hornsolo, das, auch wenn es auf dem Ventilhorn gespielt wird, den Gestus des Naturhaften in seiner Intervallstruktur mit der zum Tritonus erhöhten Quarte der Naturtonreihe musikalisch eingeschrieben trägt. Schon viele Jahre bevor Brahms dieses Motiv in seinem späten symphonischen Erstling verwendete, hatte er dasselbe Motiv an Clara Schumann als Gruß eines Alpenurlaubs auf einer Postkarte geschickt. »Also blus das Alphorn heut«, notierte er dazu, und die Verwendung der schon damals ungebräuchlichen archaischen Vergangenheitsform des Verbes trägt den Brahms-typi" schen Charakter distanzierender Ironie. Vielleicht
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Berliner philharmoniker — musikfest
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wusste Brahms um die schon damals im Zeichen des Tourismus erfolgte Wiederbelebung einer eigentlich ausgestorbenen Tradition. Das Musikfest bringt in diesem Jahr nicht nur einen Zyklus der vier Brahms-Symphonien, die
»Die Vergangenheit ist der Würgeengel der Gegenwart.« Robert Schumann
sich als über Jahrzehnte fortschreitende Entwicklung in der zweiten Jahrhunderthälfte verstehen lassen. Es kombiniert sie in Konzerten der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle mit den ebenfalls vier Symphonien von Robert Schumann, die ihnen vorausgingen, in einer eigentlich symphonielosen Zeit um die Mitte des Jahrhunderts. g e h e i m n i s s e d e r g e i s t e r w e lt
Schumanns vier Symphonien zeigen nicht jene Entwicklung wie bei Brahms, sondern suchen jeweils neue Ansatzpunkte zwischen traditioneller Viersätzigkeit und stärkerer zyklischer Geschlossenheit. Als er sein eigenes symphonisches Œuvre schon abgeschlossen hatte, setzte Schumann auf Brahms als Erfüller seiner eigenen poetischen Ideen, und prophezeite, wenn dieser einst »seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbare Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor«. Bei Brahms stellt die Auseinandersetzung mit älteren, auch archaischen Musikformen einen selbstverständlichen Teil seiner kompositorischen Arbeit dar, Schumann hingegen litt unter der Last der Vergangenheit. »Die Vergangenheit ist der Würgeengel der Ge-
genwart und jede Minute eine Selbstmörderin«, vertraute der junge Schumann 1828 seinem Tagebuch an, wenige Monate, bevor in Berlin der ebenfalls noch ganz junge Felix Mendelssohn Bartholdy mit der Wiederentdeckung von Bachs »Matthäus-Passion« eine auch Schumann affizierende neue Auseinandersetzung mit der Tradition des Oratoriums auslöste. Mit Musik von Mendelssohn sind Sir John Eliot Gardiner und das London Symphony Orchestra zu Gast, und Mendelssohn steht unter anderem auf dem Programm des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, das unter Wladimir Jurowskis Leitung auch die für das Leipziger Gewandhaus geschriebene Dritte Symphonie von Alfred Schnittke aufführen wird – nach langer Zeit ist dies, in guter Tradition der Berliner Festspiele, wieder einmal eine bedeutende Schnittke-Aufführung in Berlin. Während Daniel Barenboim zur Eröffnung mit der von Gustavo Dudamel geleiteten Staatskapelle Berlin beide Klavierkonzerte von Brahms spielt, öffnen die anderen großen Orchestergastspiele stets auch den Blick in die Gegenwart. Gidon Kremer stellt mit der Sächsischen Staatskapelle Sofia Gubaidulinas Zweites Violinkonzert vor, das Cleveland Orchestra widmet einen ganzen Abend dem Komponisten Jörg Widmann, und das Koninklijk Concertgebouworkest bringt aus Amsterdam auch Musik von Wolfgang Rihm mit, der in einigen Konzerten – auch mit ganz neuen Werken wie seinem Hornkonzert – vertreten ist. Dieser Blick vom unterschwellig gärenden 19. Jahrhundert über das 20. bis in die unmittelbare Gegenwart hinein, zu Wolfgang Rihm, Helmut Lachenmann und Enno Poppe, öffnet dem Hören jene überraschenden Perspektiven, für die sich das von Winrich Hopp geleitete Musikfest Berlin in den letzten Jahren einen Namen gemacht hat. <
Das vollständige Programm des Musikfests Berlin 2014 finden Sie unter www.berlinerfestspiele.de.
live in der Digital concert hall
sImoN R ATTLe uNd dANIeL BA R eNBoIm Abschlusskonzert der Saison 2013/2014
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Wenn Simon Rattle und Daniel Barenboim miteinander konzertieren, darf man Interessantes erwarten. Zum Einen sind hier zwei Weltstars der klassischen Musik zu erleben, zum Anderen lassen sich solche Konzerte schlicht als kulturelle Nachbarschaftshilfe begreifen. Der kulturelle Reichtum Berlins wird erlebbar, wenn der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker mit dem Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden musiziert. Zum Abschluss der Saison 2013/2014 interpretieren Rattle und Barenboim das Erste Klavierkonzert von Johannes Brahms in der Philharmonie und in der Digital Concert Hall – und feiern damit zugleich den 50. Jahrestag von Barenboims Debüt bei den Berliner Philharmonikern.
Sir Simon Rattle und Daniel Barenboim anlässlich eines gemeinsamen Benefiz-Konzerts für UNICEF, 2011 Foto: Monika Rittershaus
Schon bei ihrem ersten gemeinsamen Auftritt stand das Werk auf dem Programm. 2004 war das, beim Europa-Konzert der Berliner Philharmoniker im Odeion des Herodes Atticus am Fuße der Akropolis. 2007 traf man erneut aufeinander – diesmal in der Philharmonie und diesmal mit Brahms’ Klavierkonzert Nr. 2. Die prominente Rolle des Komponisten in dieser Künstlerkombination ist kein Zufall. Zunächst ist Brahms wie kaum ein anderer Komponist mit der Geschichte der Berliner Philharmoniker verwoben, hat das Orchester sogar selbst noch dirigiert. Jeder philharmonische Chefdirigent hat sich – mit unterschiedlichem interpretatorischem Ansatz – intensiv mit Brahms’ Symphonien
und Konzerten auseinandergesetzt. Auch in Simon Rattles bisheriger Amtszeit zählt eine zyklische Aufführung aller Symphonien in der Saison 2008/2009 zu den Höhepunkten. »Simon Rattle verbindet Furtwänglers Dimensionen mit Karajans schönem Ton … zum umjubelten Leistungsnachweis eines Weltorchesters« – so das Urteil der Zeit. Es war am 12. Juni 1964, als Daniel Barenboim als Pianist erstmals bei den Berliner Philharmonikern gastierte. Auf dem Programm stand Béla Bartóks Erstes Klavierkonzert, am Pult dirigierte Pierre Boulez. Der Berliner Tagesspiegel sprach damals von einer »überragenden Leistung; nicht nur die technische Beherrschung war zu bewundern, noch schöner war das spontane Temperament des Vortrags, das jede Note zu lebendiger, mitreißender Musik machte«. Fünf Jahre später gab Barenboim auch als Dirigent sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Unzählige Male ist er hier seither aufgetreten, hat als Solist und Orchesterleiter immer wieder Brahms’ Werke interpretiert und sich als Meister des dunkel leuchtenden spätromantischen Klangs erwiesen. So wie Brahms’ Erstes Klavierkonzert das Aufblühen der Spätromantik verkörpert, lassen sich in Richard Strauss’ Metamorphosen von 1945 letzte Ahnungen dieser Epoche erspüren. Höchste Virtuosität mischt sich in dieser Studie für 23 Solostreicher mit abgründiger Trauer über die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs. Ähnlich verhalten und gedankenvoll gibt sich der Beginn des Programms mit Charles Ives’ Orchesterminiatur The unanswered Question, in der der Komponist sieben Mal eine durch eine Trom-
pete versinnbildlichte »ewige Frage nach dem Sein« stellt – ohne jedoch eine Antwort zu finden. Am Ende des Abends dann das Brahms-Konzert. Auch hier gibt es elegische Momente, die den Tod von Brahms’ Freund und Förderer Robert Schumann reflektieren mögen. Im Finale jedoch präsentiert sich Brahms mit Raffinement und Selbstbewusstsein – perfekter Ausdruck der Sturm- und Drang-Zeit des Mittzwanzigers.
liVe- Ü B e r tr aG u NG mi, 18. Juni 2014 20 Uhr Berliner philharmoniker sir simon rattle Daniel Barenboim charles ives The unanswered Question richard strauss Metamorphosen für 23 Solostreicher Johannes Brahms Konzert für Klavier und Orchester nr. 1 d-Moll op. 15
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berliner philharmoniker — daniel barenboim
Daniel Barenboim, 1954 Foto: ullstein bild – TopFoto
»wie ein Orchester klingen kann und soll« Daniel Barenboim feiert sein Bühnenjubiläum mit den Berliner Philharmonikern. Vo n C a r s te n F a s t n e r
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Daniel Barenboim, 2010 Foto: Sheila Rock
Lesen Sie weiter in der aktuellen Ausgabe Nr. 02.2014
Vo r 5 0 J a h r e n ,
am 12. Juni 1964, gab der 21-jährige Daniel Barenboim sein Debüt mit den Berliner Philharmonikern: als Pianist in einem Konzert mit Béla Bartóks Klavierkonzert Nr. 1. sowie Werken von Pierre Boulez (»Doubles«), Igor Strawinsky (»Vier Etüden«) und Arnold Schönberg (»Begleitmusik zu einer Lichtspielszene«).
nommen, zu Deutschland aber erst 1965. Es gab damals ein Bonmot, demzufolge die Österreicher Genies sind, weil sie die Welt davon überzeugen konnten, dass Beethoven ein Österreicher war und Hitler ein Deutscher. Das ist sehr zynisch, und man sollte das nicht auf heute übertragen.
128: Herr Barenboim, Ihr Debüt mit den Berliner Philharmonikern hätte eigentlich nicht erst 1964, sondern schon zehn Jahre zuvor stattfinden sollen. Daniel Barenboim: Ich hatte 1954 als Elfjähriger die Gelegenheit, in Salzburg Wilhelm Furtwängler vorzuspielen, und er war angeblich beeindruckt genug, um mich nach Berlin einzuladen. Aber mein Vater hat ihm erklärt, dass wir eine jüdische Familie aus Argentinien sind, die keine zwei Jahre zuvor nach Israel übersiedelt ist, und dass es – nur neun Jahre nach dem Krieg – für eine solche Familie nicht denkbar ist, nach Deutschland zu fahren. Furtwängler hat meinen Vater sehr gut verstanden, er konnte diese Entscheidung nachvollziehen.
War Ihnen damals die Problematik bewusst? Ich habe meine Eltern tatsächlich öfter danach gefragt. Aber wissen Sie, wir waren in Salzburg zum ersten Mal mit dem Musizieren in höchster Qualität konfrontiert. Das kannten wir aus Argentinien überhaupt nicht. Wir hatten noch nie Musiker vom Niveau Wilhelm Furtwänglers, Edwin Fischers oder der Wiener Philharmoniker gehört, all das haben wir in Salzburg zum ersten Mal erlebt. Und ebenso die Grausamkeit der Nazis. Man hat uns einige Orte ihrer Verbrechen gezeigt. Salzburg war für mich eine Doppelentdeckung.
Dieses Treffen fand in Salzburg statt, und bereits 1952 waren Sie in Wien aufgetreten. Warum war es kein Problem für Sie, nach Österreich zu reisen? Das habe ich nie verstanden! Auch der Staat Israel hatte bereits diplomatische Beziehungen zu Österreich aufge-
Wie kamen Sie zum ersten Mal nach Deutschland? Durch eine Einladung des RIAS-Orchesters, des heutigen DSO. Das war aber schon nach dem Eichmann-Prozess 1961, der viel verändert hat, gerade auch für meine Generation. Denn uns wurde klar, dass man nicht ewig nachtragend sein kann, dass man die Schuld nicht an die nächs" ten Generationen weitergeben kann.
Die Philharmonie 1964 Reinhard Friedrich
feuilleton
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Zwischen Aufbruch und Weltbruch D i e Vo r g e s c h i c h te d e s B e r l i n e r Ku l tu r fo r u m s
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Völlige Bewegungsfreiheit N o t i ze n e i n e s ve r ke h r s m ü d e n S p a zi e r g ä n g e r s d u r c h s Ku l tu r fo r u m
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Wunderschöne falsche Noten M u s i k f ä l s c h e r h i n te r l a s s e n m e h r Schönheit als Schaden
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Das WaldbühnenPicknick R e ze p te vo n T i m R a u e , S a r a h W i e n e r u n d Ko l j a K l e e b e r g
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NACHSPIEL — AUSBLICK
128 AUSBLICK
MUSIK ZWISCHEN OST UND WEST Ein Schwerpunkt 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer. F o t o: S h u t t e r s t o c k
S I R S I M O N R AT T L E stellt die Symphonien von Brahms und Schumann einander gegenüber. F o t o: M o n i k a R i t t e r s h a u s
Die nächste Ausgabe erscheint am 2. September
DAS DRUM - DUET T Die Schlagzeuger Christoph Schneider von Rammstein und Raphael Haeger von den Berliner Philharmonikern im Doppel-Gespräch. A b b i l d u n g: S h u t t e r s t o c k