VORSPIEL — EDITORIAL
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»128« heißt dieses Magazin der Berliner Philharmoniker, abgeleitet von der Anzahl der Mitglieder des Orchesters (wenn es voll besetzt ist). Mit diesem Namen und dem Seitenumfang des Hefts wollen wir betonen, woraus die Besonderheit dieses Kollektivs erwächst: aus den ganz individuellen Qualitäten jedes einzelnen Musikers, jeder einzelnen Musikerin, die schließlich im Spiel einen einzigartigen Ensemblegeist prägen.
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Liebe Musikfreunde, was wir uns heute noch als Zukunftsmusik ausmalen, wird morgen schon von gestern sein. Das war im Prinzip niemals anders, hat derzeit aber doch eine besondere Brisanz: Unsere Gegenwart ist geprägt von der rasanten Dynamik der Digitalisierung. Deren Folgen mögen in ihrer Tragweite noch gar nicht ganz abzusehen sein, aber klar ist jetzt schon: Sie sind faszinierend und verstörend zugleich, und sie umfassen beinahe alle Lebensbereiche – natürlich auch die Musik. Mit unserem Schwerpunkt-Thema »Zukunftsmusik« wagen wir diesmal einen gar nicht so spekulativen Ausblick auf die Art, wie wir künftig hören werden. Lassen Sie sich überraschen! Der unmittelbaren Zukunft in unserem Haus widmet sich wie immer das Ressort Berliner Philharmoniker, und da steht ein besonderes Ereignis bevor: Unter der Leitung von Sir Simon Rattle macht sich unser Orchester an die Aufführung sämtlicher Symphonien von Jean Sibelius. Für Sir Simon ist dieses Großprojekt eine Herzensangelegenheit, und so führt er uns in einem ausführlichen Interview auch persönlich in das Werk des hierzulande lange Zeit verkannten Komponisten aus Finnland ein. In unserem Feuilleton schließlich laden wir Sie dazu ein, noch einmal neu Bekanntschaft mit einer faszinierenden und für die Musikgeschichte bedeutenden Frau zu machen, die vor 50 Jahren starb: mit Alma Mahler-Werfel, der Muse und Circe und »tollen Madame«, wie Gerhart Hauptmann sie einmal bewundernd nannte. Ich wünsche Ihnen eine so spannende wie unterhaltsame Lektüre Ihres neuen »128«!
Herzlich, Ihr Martin Hoffmann
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V O R S P I E L — I N H A LT
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INH A LT Thema: Zukunftsmusik Wie wir hören werden. Ein Schwerpunkt
Weinsteins Geigen Ein Konzert zum Gedenken an die Opfer des Holocaust
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58 Sir Simon Rattle im Gespräch über die Symphonien von Jean Sibelius
96 Alma Mahler-Werfel Die Muse und Circe als »tolle Madame« der Musik
Foto: S. Rattle: Monika Rittershaus; Geigen: picture alliance / dpa / Abir Sultan A. Mahler-Werfel: Archiv Berliner Philharmoniker
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TH E MA: Z U KU N FTS M US I K
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Das Morgen von gestern Wie man sich früher die Zukunft vorgestellt hat
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Was es uns wert ist Die Zukunft der Klassik im Zeitalter der Digitalisierung
B E R LI N E R PH I LHAR MON I KE R
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An alle Kritiker der Elche Ein Plädoyer für Jean Sibelius Vo n M i c h a e l S t e g e m a n n
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Ins Dickicht der Angst Sir Simon Rattle im Gespräch über Jean Sibelius
Vo n H o l g e r N o l t z e
Vo n Ve s a S i r é n
Science-Fiction für die Ohren Wie weit könnten neue Technologien für das Hören gehen?
Philharmonische Nachrichten Neues aus dem Orchester
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Vo n D e t l e f G ü r t l e r
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Kugeln, Klicks und Klänge Wird das Smartphone unseren Umgang mit Musik verändern? Vo n A n n e t t e K u h n
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Vo n N i c o l e R e s t l e
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Triumph des Trösters Der Pianist Menahem Pressler im Porträt Vo n J ü r g e n O t t e n
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Altersreife, Spätstil, Spätwerk Ein Essay über letzte Dinge Vo n P e t e r G ü l k e
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Mein Instrument als Lebenspartner Ulrich Wolff und sein Kontrabass
FE U I LLETON
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Eine tolle Madame Muse oder Circe? Vor 50 Jahren starb Alma Mahler-Werfel Vo n O l i v e r H i l m e s
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Es weihnachtet – nicht nur bei Bach Alternative Weihnachtsoratorien Vo n S u s a n n e S t ä h r
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Scheiben-Dämmerung? Der Kommentar: CD und LP haben noch immer eine Zukunft
Geigen, die Menschenleben retteten Ein Konzert zum Gedenken an die Opfer des Holocaust
Vo n A t t i l a C s a m p a i
Vo n A l b r e c h t D ü m l i n g
Vo n R o g e r W i l l e m s e n
Das unterschätzte Publikum Die Hörer von morgen sind heute schon da
»Vielleicht kann man mit Kultur Politik machen« IPPNW-Concerts und sein Label
T4-Mahnmal Der neue Gedenkort neben der Berliner Philharmonie
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Vo n Vo l k e r H a g e d o r n
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Der Klang der Grenze Zu Besuch bei der DudelsackSpielerin Kathryn Tickell
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Vo n G e r h a r d F o r c k
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Affenschwanz und Tannentanz Weihnachten international mit sieben Philharmonikern Vo n S u s a n n e Z i e s e
VOR S PI E L
04 Vorwort 08 Text & Bild 10 In Kürze NACH S PI E L
116 Bücher und CDs 122 Konzertkalender 125 Cartoon 126 Impressum
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WAS ES UNS WERT IST Die Zukunft der klassischen Musik im Zeitalter der digitalen Revolution Vo n H o l g e r N o l t ze
I N ZW I S C H E N S C H E I N E N W I R es zu ahnen: Die
Digitalisierung ist eine Revolution, getrieben von Technik, wie einst die Dampfmaschine die industrielle Revolution antrieb, die noch dem alten Goethe Furcht vor dem »Veloziferischen« der neuen Zeit einjagte: »Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen; Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren …« Und hat er nicht Recht behalten? – Wir, fast zweihundert Jahre später, spüren die Folgen der digitalen Revolution und ihrer »Fazilitäten der Kommunikation«, ahnen ihre Ausmaße. Absehen können wir sie nicht. Ihre Wirkungen reichen wohl noch weiter als die der Dampfmaschine, sie greifen tiefer ein, und sie werden uns noch eine Weile überfordern. Das Internet überfordert uns, weil wir uns von der Vorstellung verabschieden müssen, je eine Übersicht zu bekommen, den Blick aufs Ganze. Den gab es genaugenommen schon zu Goethes Zeiten nicht mehr, aber doch die Illusion davon. Das ist vorbei, und wir müssen lernen, damit umzugehen, dass es so ist. Das World Wide Web ist noch viel veloziferischer als selbst Goethe es sich hätte träumen lassen. Und doch, ich vermute: Gerade Goethe hätte es auch geliebt, seine
unendlichen Verzweigungs- und Verbindungsstrukturen. Tief greift das alles in unser Leben ein, und der Alltagsblick auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinen mobilen Endgeräten macht nachdenklich. Wir starren, magnetisch gebannt, auf kleine Bildschirme, und der exzessive Gebrauch des Daumens zum Tippen soll schon die Hirnstrukturen verändert haben, nicht nur bei den Jungen, den digital natives. Was hat das alles mit Musik zu tun? – Alles! MUSIK IMMER UND ÜBERALL
Seit Thomas A. Edison und Emil Berliner und der Erfindung des Radios ist die Geschichte der Musik eine ihrer Konservierung und Verfügbarkeit, losgelöst von ihrer Aufführung. Musik ist einfach da, überall, und das ist schön und schrecklich zugleich. Mozart und Bach als Musiktapete in Hotellobbys und Fahrstühlen sind ja nicht Akte der Verbreitung eines guten Inhalts, sondern der Barbarei. Irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, und doch kann man sich gelegentlich noch erschrecken über so eine funktionalisierte, neutralisierte Musik, in der Lobby, im Fahrstuhl, im Klassikradio. Wem Musik als Kunst und ästhetische Erfahrung etwas bedeutet, der muss ihre Vernutzung als Schmach empfinden. Weil dies so ist, schafft sich der in diesem Sinne Musikliebende (es gibt auch andere, robustere Formen der Musikliebe) Schutzräume, die seinen geliebten Gegenstand von den Sphären der Vernutzung "
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abschotten: akustische, technische und soziale, Konzertsäle und Kopfhörer, Abonnements und »Zirkel« aller Art, komplexe Gruppenbildungen mit komplexen Codes der In- oder Exklusion. Man ist lieber unter sich, wo man Mozart als Wert nicht immer neu verhandeln muss. Das ist verständlich, aber ein Problem, wenn es um Fragen der Vermittlung oder auch der gesellschaftlichen Legitimation geht, weil Kunstmusik ja oft geförderte Musik ist und sich Fragen wie »Kita oder Konzert?« gefallen lassen muss. E I N E VE R LOR E N E SCH L ACHT
Die Frage nach der Zukunft der Musik stellt sich vor diesem komplizierten Hintergrund, und sie ist heute erstens die Frage nach den eigenartigen Formaten und den notwendigen Infrastrukturen der realen Aufführung, also dem Konzert und seinen Orten und Ritualen; sie ist aber zweitens auch die Frage nach dem Ort der klassischen Musik im WWW. Die Rasanz der Entwicklungen und Möglichkeiten trifft dabei auf ein Denken und Handeln, das gelernt hat, das Heil vor allem in Bewahrung, Pflege, Sicherung zu suchen. Schließlich geht es um »klassische« Musik und das kulturelle Erbe. Die Hierarchen des Bayerischen Rundfunks haben es zu spüren bekommen, als sie beschlossen, ihr Klassikprogramm künftig nur noch im Netz zu senden. Sehr wahrscheinlich ist es tatsächlich nicht klug,
die eingeführten terrestrischen Frequenzen zugunsten einer Jugendwelle für ein eher netzaffines Publikum zu räumen. Doch die Proteste dagegen vollzogen sich vor allem in den Aktions- und Argumentationsformen der Verteidigung. »Muss bleiben!«, ist ihr Schlachtruf. Doch die Schlacht ist verloren, diese jedenfalls. Ob die »klassische« Nische der BR-Hörer im Netz verloren geht oder ob durch die intelligente Verbindung mit Inhalten und Services womöglich neue Interessenten gefunden werden, kann heute niemand wissen. Doch im gleichen Netz, das von den Strategen der Bewahrung als Untergang des Abendlands gefürchtet wird, entsteht gerade eine Dynamik, die die Zukunft der Musik prägen wird. Was ist geschehen? Die CD koppelte die Konservierung und Verfügung von Musik an einen digitalen Daten-
Die Rasanz der Entwicklung trifft auf ein Denken, das sein Heil in der Bewahrung sucht. satz und diesen an den Besitz eines Dings – eben der CD. Dass man diese Kopplung aufheben kann, durch 1:1-Kopien oder durch Datenreduktion, etwa im MP3-Format, was wiederum neue Vertriebs- und Verteilungsmöglichkeiten
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über das Netz eröffnete – diese brisanten und explosiven Zusammenhänge hat die Tonträgerindustrie zu spät erkannt und wurde mit schmerzhaften Umsatzrückgängen bestraft. Die erste Reaktion war die Kriminalisierung der Schwarzkopierer und -tauscher, die klügere zweite der Versuch, kostenpflichtige Downloads als neuen Vertriebsweg zu etablieren. Das funktionierte (ein wenig) auch, weil Apples iTunes-Store das Bezahlmodell mit dem Komfort und Kult der Dachmarke verbinden konnte. Der legale Download koppelt das Recht, eine Musik zu hören, an den Besitz eines digitalen Datensatzes, unabhängig vom Speichermedium. Es macht die Musik mobil, unabhängig vom CD-Spieler. Es spart Herstellungs- und Vertriebskosten. Und während die CD-Verkäufe sanken, stiegen die Downloadzahlen. D I G I TA L E DY N A M I K
Doch die Dynamik der digitalen Welt ist gewaltig, gewaltiger als die Bedürfnisse einer Industrie nach einem wenigstens für ein paar Jahre stabilen Geschäftsmodell. Aktuell sinken die Downloadzahlen, denn mächtig rückt die nächste »Fazilität« nach. Genauer gesagt: Sie strömt. Downloads nahmen zwischen 2012 und 2013 um 2,1 Prozent ab, die Streaming-Erlöse stiegen um 51 Prozent und machen mit einer Milliarde Dollar Jahresumsatz schon ein Viertel des Downloadgeschäfts aus.
Erst unlängst hat sich der amerikanische Kritiker Alex Ross im »New Yorker« (vom 8. September) selbst beschrieben: als einen Sammler vor seinen Regalen, mit dem Finger die langen Reihen von CDs zärtlich ent-
Die Dynamik der digitalen Welt ist gewaltiger als die Bedürfnisse der Industrie. langfahrend, bis er irgendeinen fast schon vergessenen Schatz aus dem Hort zieht und in den Player legt, dazu im Booklet blättert. Wir müssen uns Mister Ross als soweit glücklichen Menschen vorstellen. Er liegt und besitzt, wie Fafner in Wagners »Siegfried«. Wäre er jünger, schreibt er, würde ihn die Versorgung mit Musikströmen aus einer fernen, unsichtbaren, unermesslichen Cloud wohl mehr begeistern: als ein endloses Fest, eine Allverfügbarkeitsfantasie im sekundenschnellen Zugriff auf Millionen von Musiken aller Zeiten und Zonen. Es ist das Versprechen der Streaming-Dienste von Deezer, Simfy und Napster bis WiMP, Google Play und Spotify. Zwanzig bis dreißig Millionen Titel (Tracks) sind Standard. Wer sich jedoch für symphonische oder Kammermusik, Lieder und Opern oder Neue Musik interessiert, für den kommt das "
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THEMA: ZUKUNF TSMUSIK — SCIENCE-FICTION
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SCIENCE-FICTION FÜR DIE OHREN Neue Technologien eröffnen ungeahnte Möglichkeiten – auch für das Hören. Wie weit könnte das gehen? Und wie weit wollen wir damit gehen? Vo n D e t l e f G ü r t l e r
W I E T I E F L A S S E N S I E T E C H N I K in sich hinein? Bis ins Blut? Unter die Haut? Ins Auge? Ins Gehirn? Ungern, vermutlich. Zwar haben wir kein Problem damit, Technik nahe an uns herankommen zu lassen, in Brillen, Smartphones, Geräten aller Art. Direkt auf unserem Körper, mit Hautkontakt wird das schon schwieriger. Unter anderem deshalb ist ja auch die Smartwatch ein Lieblingskind der Technologiekonzerne: Sie ist eine großartige Gelegenheit, um Sensoren in ständige Berührung mit unserem Körper zu bringen. Aber in unserem Körper, da akzeptieren wir allenfalls Medizintechnik wie Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke. Oder einen Knopf im Ohr. Und deshalb: Bühne frei für die Earables – technische Geräte, die wir am oder im Ohr tragen können, als Schmuck, Hilfsmittel oder
Werkzeug. Denn das Ohr hat alles, was sich HightechIngenieure für die Eroberung des menschlichen Körpers erträumen können. Es ist als Sitz eines unserer fünf Sinne sehr direkt mit dem Gehirn verbunden, ihm auch räumlich sehr nah. Und es ist ein Körperteil, der schon seit ewigen Zeiten mit Fremdkörpern verbunden wird, mit Ohrringen und Kopfhörern, mit Ohrsteckern und Hörgeräten. Mode, Technik, Kommunikation, Medizin, alles ist uns in und am Ohr schon vertraut. Das macht es zu einem idealen Einsatzort für Technologien, die auf neue Art mit dem Körper interagieren. Zudem gibt es schon eine lange Tradition und vielfältige Erfahrungen von Hightech-Unternehmen mit solchen Earables – mit Hörgeräten nämlich. Außer- und innerhalb des Ohrs lässt sich ihre Technik tragen, "
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KUGELN, KLICKS UND KLÄNGE Man kann auf ihnen komponieren, ein Instrument spielen oder virtuell ins Konzert gehen: Werden Smartphone und Tablet unseren Umgang mit Musik verändern? Vo n A n n e t te Ku h n
M A N N E H M E ein paar Tablets, lade auf jedes einige
Musik-Apps und schon ist das Orchester fertig. Klingt nach Zukunftsmusik, ist aber heute schon Realität. 2007 bildete sich an der Stanford University in Kalifornien erstmals ein Handy-Orchester, vor vier Jahren wurde das DigiEnsemble Berlin gegründet, das bereits Konzerte im Gewandhaus zu Leipzig und im Berliner Dom gegeben hat. Anfangs spielten die Musiker auf iPods, inzwischen auf iPads. Es ist eine Mischung aus professionellem Musik-Ensemble und Forschungsprojekt über die Möglichkeiten, die Musik-Apps bieten. TA U S E N D N E U E M Ö G L I C H K E I T E N
Musik-Apps gibt es erst seit wenigen Jahren, inzwischen sind aber schon einige tausend davon auf dem Markt. Allein für das Apple-Betriebssystem iOS stehen mehr als 33.000 Anwendungsprogramme zur Verfügung. Der größte Teil davon konzentriert sich auf den Bereich Musikhören: Mit Hilfe von Apps lässt sich die eigene Musiksammlung verwalten, man kann sich Stücke nach Vorlieben
empfehlen und aus Datenbanken zusammenstellen lassen oder auf digitale Kanäle, zum Beispiel Streaming-Dienste, zurückgreifen. Pionierarbeit haben hier die Berliner Philharmoniker mit ihrer 2008 eingerichteten Digital Concert Hall geleistet. Über die entsprechende App und ein Entgelt lassen sich Konzerte in der Philharmonie von überall auf der Welt im Live-Stream miterleben. Mit einem kleinen Teil der Apps kann man Musik selbst erzeugen, also komponieren oder das mobile Gerät zum Musikinstrument umfunktionieren. Außerdem gibt es Apps, die als Hilfsmittel beim klassischen Musizieren dienen, beispielsweise als Stimmgerät oder Metronom. Andere Apps wiederum eröffnen neue Möglichkeiten der Musikvermittlung: Man kann sein Gehör schulen oder Partituren mitverfolgen, bekommt Instrumente präsentiert oder gar Klavierlektionen erteilt. Ob und inwieweit diese Angebote den Umgang mit Musik nachhaltig verändern, ist schwer abzusehen. Der Markt ist jung und bislang beschäftigen sich nur wenige Menschen intensiv mit diesem Thema. Einer von ihnen
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Alexander von Puttkamer, Philipp Bohnen und Sarah Willis auf dem Dach der Carnegie Hall in New York
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ist Matthias Krebs. Der 35-Jährige hat eine Ausbildung zum Opernsänger und ist diplomierter Musik- und Medienpädagoge. Er arbeitet am Berlin Career College der Berliner Universität der Künste und beschäftigt sich dort
Foto: Rob Davidson
Der Markt für Musik-Apps ist noch jung, aber das Angebot schon unüberschaubar. vor allem mit den Möglichkeiten digitaler Medien und speziell mit digitalen Musikinstrumenten. So kam es auch zur Gründung des DigiEnsembles Berlin. Die Idee dazu hatte Krebs 2009. Nach einem Weiterbildungsprojekt lag ein Satz iPods im Schrank, für die er eine sinnvolle Verwendung suchte. Zeitgleich waren die ersten Musik-Apps auf dem Markt. Also begab er sich zusammen mit einigen Studenten auf musikalische
Entdeckungsreise. Seit 2010 spielen im DigiEnsemble Berlin erfahrene Profimusiker aus unterschiedlichen Genres zusammen. Es ist das erste professionelle AppOrchester der Welt. K E I N TA B L E T G L E I C H T D E M A N D E R E N
Ob Schlagzeug, Kontrabass oder Fagott – jedes Instrument im App-Orchester sieht von Weitem gleich aus. Trotzdem ist das Tablet, mit dem Matthias Krebs musiziert, nicht austauschbar: »Es würde lange dauern, bis ich mir ein anderes Gerät so eingerichtet hätte«, denn auf sein Tablet hat er sich viele Apps heruntergeladen, die er mit zahlreichen Programmeinstellungen an seine eigene Spielweise angepasst hat. Gespielt werden im DigiEnsemble Berlin klassische Musik, bekannte Filmmusiken und Eigenkompositionen. Entsprechend wechseln die Musiker häufig den Klang, von der Violine zum E-Bass. Eine Konkurrenz zum klassischen Instrument sieht Krebs aber nicht. Es sei auch nicht sein Ziel, ein »Orchester 2.0« zu schaffen. "
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THEMA: ZUKUNF TSMUSIK — PUBLIKUM
DAS UNTERSCHÄTZTE PUBLIKUM Die Hörer von morgen sind heute schon da, mehr als noch gestern. Doch wer sie nur mit den Augen des Marktes sieht, droht sie zu verjagen. Vo n Vo l ke r H a g e d o r n
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D I E F R A G E N A C H dem Publikum von morgen hat
ihre Tücken. Irgendwie lässt sie anklingen, es müsse oder werde ganz anders sein, als habe man mit dem von heute ein Problem. Von Publikumsschwund ist oft die Rede, wenn es um die Klassik geht, und von Überalterung. Vor diesem Hintergrund hat die Frage nach dem Publikum von morgen etwas von der nach den Energiereserven: Wird man Fracking einsetzen müssen, um die letzten Interessierten der älteren Generation aus dem Gestein zu holen? Auf welchen nachhaltigen Plantagen können künftige Hörer nachwachsen? Setzt man besser auf die Solarenergie der Digitalisierung, die den Musikern eine globale Hörerschar sichert?
»Überall«, schrieb im September der Musikjournalist Harald Eggebrecht in der »Süddeutschen Zeitung«, »furchen die Veranstalter die Stirn und ziehen sorgenvoll die Augenbrauen hoch und klagen. Das Klischee ist zur Selffulfilling Prophecy geworden. Weil der Publikumsteppich angeblich immer grauer wird und abnimmt, hält man sich ängstlich ans Kernrepertoire (…) und verschärft mit solcher Verknappung die angeblich unausweichliche Krise.« Inzwischen aber, wunderte sich Eggebrecht, sei das Publikum »altersmäßig viel gemischter«. Kleiner ist es auch nicht geworden, im Gegenteil: In den Jahren von 2005 bis 2012 stieg die Zahl der Konzertbesucher in Deutschland um gut neun Prozent. "
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BERLINER PHILHARMONIKER — NACHRICHTEN
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PHILH A R MONISCHE NACHR ICHTEN Der neue Erste Konzertmeister und eine neue Kammermusikformation stellen sich vor. Vo n N i c o l e R e s t l e
N OA H B E N D I X - BA LG L E Y
Zur Geige kam Noah Bendix-Balgley durch ein Kinderbuch. Weil er sich als Vierjähriger immer wieder voller Enthusiasmus »The Philharmonic Gets Dressed« ansah, dachten die Eltern, es würde ihm Spaß machen, ein Instrument zu lernen. Sie schlugen ihm die Violine vor und trafen damit genau das Richtige. »Ich mochte das Instrument von Anfang an«, meint Noah Bendix-Balgley. Der aus North Carolina stammende Geiger wuchs in einer musikliebenden Familie auf. Wenngleich der Vater als Tanzlehrer europäische Volksmusik und Klezmer bevorzugte, wurde zu Hause viel klassische Musik gehört – im Radio sowie von Schallplatten und CDs. Durch die Eltern erfuhr der begabte Sohn viel Unterstützung. Den ersten Geigenunterricht erhielt er nach der Suzuki-Methode. »Das war für mich eine sehr gute Methode. Ich lernte zusammen mit anderen Kindern zu musizieren und fühlte mich gleich als Teil einer Gemeinschaft.« Später – die
Familie war mittlerweile in die Nähe von San Francisco gezogen – besuchte er die Musikschule der schottischen Geigerin Anne Crowden, in der er außer Instrumentalunterricht auch eine umfassende theoretische Musikausbildung bekam und erste Erfahrungen im Ensemblespiel sammelte. Als wichtigsten Lehrer bezeichnet Noah Bendix-Balgley jedoch Mauricio Fuks, einen Schüler von Joseph Fuchs, Ivan Galamian und Jascha Heifetz. Aus einer großen Geigentradition kommend, vermittelte dieser dem Heranwachsenden, wie man technisches Können und musikalischen Ausdruck miteinander verbindet. Den Entschluss, Berufsmusiker zu werden, fasste Noah Bendix-Balgley bereits im Alter von acht Jahren. »Ohne damals zu wissen, was dies eigentlich bedeutet«, meint er schmunzelnd. Als Neunjähriger bot sich ihm die Gelegenheit, Yehudi Menuhin vorzuspielen. Dieser ermutigte ihn zu diesem Weg und gab ihm gute Ratschläge hinsichtlich seiner Ausbildung. Was Noah Bendix-Balgley an dieser Begegnung am meisten faszinierte: »Als ich ihm gegenüber stand, bemerkte ich, dass er ein sehr kleiner Mann war. Das überraschte mich, weil ich ihn als großen Helden empfand.« Noah Bendix-Balgley nahm höchst erfolgreich an zahlreichen internationalen Wettbewerben teil. Er arbeitete als Solist und Kammermusiker mit namhaften Orchestern und Ensembles zusammen – und dennoch strebte er keine Solistenkarriere an, sondern entschied sich für die Orchesterlaufbahn. »Sie erlaubt mir, in verschiedenen musikalischen Welten zu leben. Als Orchestermusiker lerne ich das gesamte symphonische Repertoire kennen, und es ist überaus beglückend, dieses unter Leitung von großen Dirigenten zu spielen. Daneben bleibt mir immer noch die Möglichkeit, solistisch oder kammermusikalisch aufzutreten.« Seine erste Orchesterstelle führte ihn 2011 als Konzertmeister zum Pittsburgh Symphony Orchestra. Eine große Herausforderung für den damals 27-Jährigen, denn es galt, nicht nur in kurzer Zeit das Orchesterrepertoire zu erarbeiten, sondern sich auch als »Youngster« in einer
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Führungsposition zu bewähren. Die Berliner Philharmoniker, deren Klang Noah Bendix-Balgley dank der Aufnahmen im elterlichen Plattenschrank von Kindheit an kannte und liebte, verkörpern für den Musiker das ideale Orchester. So nahm er es als große Chance wahr, sich nach dem Weggang von Guy Braunstein auf die freigewordene Konzertmeisterstelle zu bewerben. Auf die Frage, welche Gefühle er nach dem bestandenen Probespiel bei den Berliner Philharmonikern hatte, antwortete er: »Ich war überwältigt. Und ich bin begeistert, in ein Orchester zu kommen, das ich schon immer aus der Ferne bewundert habe.« Auf sein erstes philharmonisches Konzert unter Andris Nelsons im Oktober 2014 bereitete er sich sehr gründlich vor: Nicht allein, dass er seinen eigenen Part übt, er studiert darüber hinaus die Partitur und hört verschiedene Aufnahmen der gespielten Werke. In der Kombination von persönlicher Arbeit mit dem Instrument und dem Studium der gesamten Partitur liegt für ihn der Schlüssel für ein tieferes, umfassendes Musikverständnis. Seine Aufgabe als Konzertmeister sieht der heute 30-Jährige vor allem darin, als Primus inter pares die Kommunikation zwischen Dirigent und Orchester sowie zwischen den einzelnen Orchestergruppen untereinander zu erleichtern.
Fotos: Nikolaj Lund (links), Julian Lübbert (rechts)
DA S B E R L I N P I A N O Q UA R T E T
Intim wie ein Streichquartett, virtuos wie ein Klaviertrio oder symphonisch wie ein kleines Orchester – große Komponisten hat dieses breite Spektrum klanglicher Möglichkeiten eines Klavierquartetts seit jeher fasziniert. Im Gegensatz zum Streichquartett gibt es jedoch nur wenige feste Ensembles in dieser Formation. Kim Barbier, Christophe Horak, Micha Afkham und Bruno Delepelaire wollen das ändern. Die drei philharmonischen Streicher sowie die Pianistin Kim Barbier haben sich zusammengefunden, um in dieser eher seltenen Form die Welt der Kammermusik für sich noch einmal ganz neu zu entdecken. Der Zauber des Anfangs, die Freude am kammermusikalischen Spiel und die Neugier auf die gemeinsame musikalische Reise spürt man unmittelbar in ihrer Musik und in ihren Worten: »Durch das Klavier müssen wir uns als Streicher ganz anders in den Gesamtklang einfügen. Dabei entdecke ich ganz neue Klangfarben. Das ist für mich eine neue Herausforderung!“, meint der Bratschist Micha Afkham. »Ich empfinde das Genre des Klavierquartetts als etwas ganz Besonderes.« Eine reizvolle Besetzung, von der sich seit der Wiener Klassik nahezu alle großen Komponisten inspirieren ließen. »Das Repertoire ist für mich eine Entdeckung!«, sagt Christophe Horak. Der Geiger, der bei den Berliner Philharmonikern Stimmführer der zweiten Violinen ist, besitzt ebenso wie Micha Afkham und der Erste Solo-Cellist Bruno Delepelaire langjährige Streichquartetterfahrung; in einem Klavierquartett hat aber bislang noch keiner der drei mitgewirkt. Ganz anders als die passionierte Kammermusikerin und Pianistin
Kim Barbier: »Ich habe schon vorher viel Klavierquartett gespielt. Das ist meine absolute Lieblingsformation!« Der künstlerische Antrieb für die Musiker ist der Entdeckungsprozess – der Klänge und vielleicht auch ihrer selbst. Wohin sie die Reise führen wird? Sie wollen sich musikalisch weiterentwickeln, verändern, ganz neu zusammenwachsen, um am Ende aus der gesamten Klangfülle schöpfen zu können, die ein Klavierquartett ermöglicht. Sein Debüt im Kammermusiksaal gibt das Berlin Piano Quartet mit einem Programm, das kontrastreicher nicht sein könnte: die ersten Klavierquartette von Gabriel Fauré und Johannes Brahms sowie das Klavierquartett von Alfred Schnittke. »Schnittke«, sagt Christophe Horak, »beherrscht außergewöhnlich viele Stilrichtungen. Sein Klavierquartett könnte man durchaus als Kondensat dessen betrachten. Es basiert auf einem Thema von Mahler. Schnittke vereint in diesem Werk seine eigene musikalische Welt mit Mahlers romantischer Klangsprache.« Die Kompositionen von Fauré und Brahms, betonen die Musiker, standen ganz oben auf ihrer Wunschliste und durften daher in ihrem ersten Programm keinesfalls fehlen. »Ich bin ein großer Fan der französischen Musik um 1900«, meint Bruno Delepelaire. »Ich liebe Faurés Art der melodischen und harmonischen Erfindung. Ich kenne das Stück seit meiner Jugend und freue mich darauf, es jetzt endlich selbst zu spielen.« Ganz anders lege Brahms sein Werk für Streicher und Klavier an. »Die Musiksprache beider Komponisten ist so unterschiedlich, obwohl beide dieselben Gefühle ausdrückten«, begeistert sich Kim Barbier. Am 14. Dezember 2014 geben sie ihr Debüt im Kammer musiksaal. Weitere Konzerte führt das Ensemble zu Festivalauftritten nach Gstaad und nach Italien. <
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