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F. Treidl
from Jahrbuch 2004
by bigdetail
Friedrich Treidl
Die Bewältigung der Lawinenkatastrophen von Galtür und Valzur
How Galtuer and Valzur mastered the avalanche disaster
SUMMARY
Along the entire northern edge of the Alps heavy snowfalls occurred in January and February 1999 followed by disastrous avalanches. Galtuer and Valzur were hit by dry avalanches on February 23 and 24, killing 38 people. Thousands of guests have been evacuated out of the Paznaun Valley via air by the strenuous help of international organizations. Almost six years have passed ever since. To ensure a more secure surrounding for inhabitants as well as guests, protective measures have been taken and avalanche barriers have been built. The roads through the valley of Paznaun have been secured of avalanches through new constructions of tunnels, galleries, detours of rivers and roads as well as ava-lanche barriers. A 350 m long and 19 m high barrier to protect Galtuer from avalanches has been built in Winkl, a small part of the town of Galtuer. Furthermore snow and wind measuring sites have been established and the Alpine Security Information Centre (ASI) was founded. Within the avalanche barrier, facing the town of Galtuer, the ALPINARIUM was constructed; a centre for conventions, exhibitions and safety organisations. Since the summer of 2004 an elaborate exhibition named “The Avalanche” can be marvelled to offer the possibility of con-scientiously processing the shocks of the avalanche catastrophe in 1999. Key words: avalanche, Galtuer, avalanche barriers, Alpine Security and Information Centre, Alpinarium.
ZUSAMMENFASSUNG
Im Jänner und Februar 1999 gab es entlang des gesamten Alpennordrands ergiebige Schneefälle und folgenschwere Lawinenunglücke. Am 23. und 24. Februar wurden Galtür und Valzur von zwei Staublawinen getroffen, die insgesamt 38 Menschenleben forderten. Im Rahmen einer großangelegten internationalen Hilfsaktion wurden damals tausende Gäste aus dem Paznauntal über eine Luftbrücke evakuiert.
Inzwischen sind mehr als fünf Jahre vergangen. Um den bedrohten Lebensraum Hochgebirge für die Einheimischen und Gäste sicherer zu machen, wurden in den letzten Jahren zahlreiche Schutzbauten errichtet. Die Straße ins Paznauntal wurde mit Tunnels, Galerien, Straßen- und Bachverlegungen sowie Schutzwällen lawinensicher verbaut. In Galtür wurde im Ortsteil Winkl eine 350 Meter lange und 19 Meter hohe Schutzmauer errichtet. Es wurden zusätzliche Schneeund Windmessstationen eingerichtet und das Alpine Sicherheits- und Informationszentrum (ASI) gegründet. In die Lawinenmauer in Galtür wurde das ALPINARIUM integriert, ein der Dorfseite zugewandtes Kongress-, Ausstellungs- und Zivilschutzzentrum. Seit dem Sommer ist dort die Ausstellung „Die Lawine“ zu sehen, die der bewussten Aufarbeitung der Lawinenkatastrophe dienen soll. Schlüsselwörter: Lawine, Galtür, Schutzbauten, Alpines Sicherheits- und Informationszentrum, Alpinarium.
Der gesamte Alpennordrand war durch die langdauernden und ergiebigen Schneefälle im Jänner und im Februar 1999 von Lawinen bedroht. Es gab im Winter 1998/99 mehr als 1000 Schadlawinen.
Abbildung 1 Galtür, Ansicht von Norden, im Vordergrund die neue Lawinenschutzmauer
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Neben Galtür und Valzur kam es auch zu folgenschweren Lawinenunglücken im Walliser Bergdorf Evolene und im französischen Skiort Chamonix.
Galtür und Ischgl, die hintersten Orte im Paznauntal, wurden um 1300 von Rätoromanen und später von den Walsern besiedelt. Bescheidene Viehwirtschaft war die karge Lebensgrundlage der Bergbauern, bis der beginnende Tourismus die Lebensbedingungen der kleinen Dorfgemeinden verbesserte (Bau der Jamtalhütte 1882, der Silvrettahochalpenstrasse und die ersten Schilifte und Gondelbahnen). (Abb.1)
Die Naturgefahren waren und sind immer noch ein bestimmender Teil des Lebens im Hochgebirge. Dennoch waren die Menschen von Galtür und Ischgl eng mit ihrer Heimat verbunden. Die beschwerlichen Lebensbedingungen ermöglichten oft nur dem Hoferben eine Familie zu gründen und im Ort zu bleiben. Auch die Schwabenkinder, die in der Fremde arbeiten mussten, waren ein Hinweis auf große Armut.
Die ersten drei Toten, die im Galtürer Friedhof am Beginn des 14. Jahrhunderts begraben wurden, waren Lawinenopfer. Regelmäßige Aufzeichnungen über Lawinen und deren Opfer gibt es seit dem 16. Jahrhundert. Aber nicht nur die Gefahren durch den Schnee, auch mit Steinschlag und Hochwasser müssen die Bewohner seit Jahrhunderten leben.
Im Winter 1999, nach den schweren Lawinenabgängen mitten in den bewohnten Siedlungsraum bei denen in Galtür 31 Menschen und in Mathon 7 Menschen unter den Lawinen starben, herrschte Fassungslosigkeit, Trauer, Sprachlosigkeit und Niedergeschlagenheit angesichts des Ausmaßes dieser Naturgewalt. Auch Urlaubsgäste aus Deutschland, den Niederlanden und Dänemark waren unter den Toten. Es waren mehrere Häuser eines Ortsteils betroffen. Ein Bauernhaus stand an dieser Stelle bereits seit 400 Jahren.
In einer internationalen Hilfsaktion wurden die Gäste mit Hubschraubern (Black Hawks) ausgeflogen. Die Saison, die Haupteinnahme der Galtürer schien zu Ende und brachte sicher vielen, vorwiegend jungen Familien große Ängste wie die Zukunft bewältigt werden kann.
Die nächste Lawine die war die „Medienlawine“ Galtür wurde innerhalb weniger Tabe weltweit zu einem Synonym für Lawi-
ne und Tod. Bereits in der Zeit des vom Schnee „Eingesperrtseins“ vor dem Lawinenabgang, wurde in den Medien über Galtür und Ischgl berichtet. Diese unglaubliche mediale Präsenz hatte mehrere Ursachen: Das Lawinenunglück betraf nicht nur Dorfbewohner, sondern auch Touristen.
Wegen des sich zuspitzenden Kosovokonfliktes befanden sich Krisen- und Kriegsreporter in der Nähe.
WER IST SCHULD AN DEN LAWINENABGÄNGEN?
Den Grund für das Unglück sahen viele in der Übererschließung der Alpen –Raubbau an der Natur. Den Lawinenkommissionen wurden falsche Entscheidungen vorgeworfen. Es wurde behauptet, dass aus Profitstreben die Gäste trotz Lawinengefahr ins Tal gelassen wurden. Für uns in Galtür waren diese medialen Anschuldigungen unverständlich, da der Grieskogl ein vollkommen unerschlossener Berg außerhalb des Schigebietes ist und die Gemeindeverantwortlichen, die Lawinenkommissionen, aber auch die privaten Zimmervermieter alles dazu beitrugen um die Gäste in dieser schwierigen Situation zu betreuen.
Es gab aber auch sehr viele gut recherchierte und positive Berichterstattungen. Am meisten beeindruckt von den vielen Berichten im Zusammenhang mit Lawinen, haben mich die Lawinenexperimente vom Lawinenforschungszentrum in Davos, welche die Kräfte, die solche Staublawinen freisetzen, gemessen haben.
Auch die Berichte über die verheerende Lawine in Blons im großen Walsertal im Jänner 1954 waren sehr ergreifend. Damals kamen 57 Menschen zu Tode und ganze Familien wurden ausgelöscht. Eine völlige Absiedelung der Gemeinden im Walsertal wurde in Erwägung gezogen. Die Einwohner von Blons und der anderen Orte haben das aber entschieden abgelehnt. Es sind 12 Familien aus Blons abgewandert.
Uns gegenüber hat der damalige Landeshauptmann Wendelin Weingartner geäußert, dass er sich keine unbewohnten und von der Abwanderung bedrohten Bergdörfer wünscht und hat uns Hilfe und Unterstützung angeboten.
Nachdem die letzten Toten gefunden und beerdigt wurden, war es notwendig jenen zu helfen, die kein Dach mehr über dem Kopf hatten. Die Verwandten, Nachbarn und Freunde halfen bei den Aufräum- und Wiederaufbauarbeiten. Hilfe von Land und Bund, im Besonderen dem Bundesheer,
freiwilligen Organisationen, dem Land Südtirol sowie Spendenaktionen für die Betroffenen, brachten wertvolle Unterstützung. Das Arbeitsmarktservice, das dem Personal Weiterbildungskurse anbot und das Entgegenkommen der Banken half den Betroffenen, diese schwierige Zeit zu überbrücken. Bereits zu Ostern war der Ort wieder ausgebucht. Vorwiegend die Stammgäste kehrten zurück und wurden als große Hilfe in dieser schwierigen Zeit empfunden.
MEHR SICHERHEIT FÜR DIE ZUKUNFT
Um den bedrohten Lebensraum Hochgebirge für die Einheimischen und die Gäste sicherer zu machen, wurde vor den Ortsteil Winkl eine 350 Meter lange und 19 Meter hohe Schutzmauer errichtet. Auch im Ortsteil Tschaffein wurde eine gewaltige Schutzmauer gebaut. Die Dimensionen dieser Mauern wurde mit neuen Computersimulationsmodellen ermittelt. (Abb.2)
Abbildung 2 Die 350 m lange Steinmauer schützt den Ortsteil Winkl. Auf der Vorderseite der Mauer ist das Alpinarium untergebracht.
Die Notwendigkeit für diesen Sofortschutz war gegeben, da die Anbruchsverbauung, die auch noch im selben Jahr begonnen wurde, voraussichtlich mehr als zehn Jahre brauchen wird.
In Valzur wurden sämtliche zerstörten Häuser an einem nicht bedrohten Teil wiederaufgebaut. Zudem wurde für Ischgl eine lawinensichere Zufahrt mit Tunnels, Galerien, Straßen- und Bachverlegung sowie massiven Schutzwällen in Angriff genommen, die das Landschaftsbild stark veränderten.
Neben diesen gewaltigen Baumaßnahmen gibt es, beschleunigt durch die medialen Diskussionen, aber auch als Folge der Ermittlungen des Staatsanwaltes gegen die Mitglieder der Lawinenkommission mittlerweile Schulungen, die auch im Alpinarium Galtür stattfinden. Unsere Lawinenkommissionsmitglieder üben diese Tätigkeit freiwillig und auf Grund Ihrer hohen Erfahrung (Bergführer, Schilehrer) zum Wohle der Allgemeinheit aus.
Messstationen mit Fernübermittlung der Daten über Schneehöhe und Temperatur sowie Windgeschwindigkeit („der Wind ist der Baumeister der Lawinen“) wurden eingerichtet und unterstützen die Kommissionen auch bei schlechter Sicht.
Die Katastrophe hat gezeigt, dass es eine verbesserte Kommunikation unter den verschiedenen Hilfsorganisationen braucht und die Anschaffung eines einheitlichen Funksystems erwünscht wäre.
Es wurde ein alpines Sicherheits – und Informationssystem, das sogenannte ASI gegründet, das den öffentlichen Zugriff auf Daten wie Wetter, Schnee und Lawinengefahr ermöglicht. Weiters wurde ein internes Informationssystem für Einsatzkräfte (ESIS) gegründet und die Umsetzung des bereits vor der Lawinenkatastrophe geplanten „Zentrum für Naturgefahrenmanagement“ (alpS) beschleunigt.
Das Bundesheer bekam auf Grund der Lawinenkatastrophe neue leistungsfähige Großraumhubschrauber, die sogenannten Black Hawks.
HOFFNUNG AUF EINE POSITIVE WEITERENTWICKLUNG IM ORT
Das ALPINARIUM, ein in die Lawinenmauer integriertes, der Dorfseite zugewandtes Kongress-, Ausstellungs- und Zivilschutzzentrum wurde gebaut.
Dieser Gebäudekomplex bietet, mit seinem Eingang aus Alabastersteinen und dem an Seilen aufgehängten Steinkreis in der Empfangshalle auch interessante architektonische Eindrücke. (Abb. 3)
Abbildung 3 Der Steinkreis aus Bachsteinen aus dem Vermunt symbolisiert wie leicht beweglich so ein massives Material wie Stein sein kann
Mit der Ausstellung „Die Lawine“ fünf Jahre nach dem Ereignis, soll eine bewusste Aufarbeitung, keine Verdrängung erfolgen. Der erste Teil der Ausstellung zeigt in sehr vertrauter und ästhetischer Weise Schneebilder und Kristallformen des Schnees. Dann folgt in dokumentarisch gehaltener Form die chronologische Darstellung der damaligen Wettersituation und Ereignisse. Im weiteren wird die mediale Berichterstattung aufgezeigt. (Abb. 4) Der letzten Teil der Ausstellung zeigt, wie versucht wird, sich gegen die Naturgefahren zu schützen und welche Perspektiven für die Zukunft bestehen. In den ersten vier Monaten seit der Eröffnung haben bereits 30 000 Menschen diese Ausstellung besucht.
Abbildung 4 Auf Litfasssäulen aufgeklebt wird die unterschiedliche Form der Berichterstattung aufgezeigt. Der Besucher kann sich, nachdem er sich im Dokumentationsraum informieren konnte, sein eigenes Bild machen
Sogar die direkt Betroffenen im Ort finden, dass das Thema in treffender und beeindruckender Weise dargestellt wird. Wir freuen uns im Ort über diesen Besucherzustrom, da einem peripheren Ausstellungsort eigentlich wenig Chancen auf Erfolg eingeräumt wurden. (Abb. 5)
Im nächsten Jahr findet gemeinsam mit dem Austragungsort Hall die Landesausstellung zum Thema „die Zukunft der Natur“ statt. Hier geht es um das Überleben in höheren Bergregionen am Beispiel vom Paznauntal. Die Anpassung an die alpinen Lebensgrenzen werden als Überlebensstrategien der Menschen aber auch der Pflanzen und Tiere thematisiert.
Auch wenn die sichtbaren Zeichen der Zerstörung verschwunden sind und der Ort äußerlich wieder intakt erscheint, sind die Auswirkungen bei den Einheimischen und Gästen immer noch zu spüren. Unser Bürgermeister und Landtagsabgeordneter Anton Mattle sagt treffen: „Die Wunden sind zwar verheilt, aber die Narben bleiben.“
Abbildung 5 An den Wänden diese Raums ist von jedem Bewohner Galtürs eine Fotographie zu sehen.
Die wiedererreichte Normalität im Alltagsleben ist wohltuend und die Fragen nach dem Ereignis sind seltener geworden. Dennoch war ich in den vergangenen fünf Jahren immer wieder mit einheimischen Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörungen konfrontiert. Beschwerden, deren Abklärung beim Facharzt keine organische Ursache ergab, wurden mit den psychischen Belastungen durch die Katastrophe in Verbindung gebracht. Vereinzelte Mitglieder von freiwilligen Hilfsorganisationen in Galtür und Mathon entwickelten seelische Beschwerden, wollten über die damaligen Ereignisse nicht mehr reden und wollten ihre verantwortungsvolle Tätigkeit nicht weiter ausüben. Andere wiederum sind mit Ihren Fähigkeiten, die sie in dieser extremen Situation unter Beweis stellen mussten, weiterhin sehr erfolgreich.
Die Tatsache dass junge Familien im Ort wieder Ihr Eigenheim bauen, zeigt, dass auch längerfristig der Glaube in die Zukunft gegeben ist.
Wenn man von einem der vielen Gipfel in der Umgebung auf Galtür herunter-