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F. Elsensohn
from Jahrbuch 2006
by bigdetail
Fidel Elsensohn
Sanitätsrucksack und Notarztrucksack beim terrestrischen Einsatz – gibt es Standards?
Rescue bags for first responders and mountain emergency physicians – are there standards?
SUMMARY
This article reflects a survey about contents of rescue bags for first responders and mountain emergency physicians. It was done by a questionnaire among the member organizations of the medical commission of ICAR-CISA. The aim was to find out, if there are standards in medical equipment used in mountain rescue teams. We found a great conformity following the international standards of prehospital care. However, there were differences in monitoring equipment and drugs, either according to national regulations or training and tactics of rescue operations. We discuss the problems of terrestric mountain rescue in order to bring useful equipment to the site of an accident and to reduce space and weight of this equipment. We summarized the results in a table. This is only a suggestion. It is of great importance, that every rescuer is trained in the use of all devices. Any emergency physician should only use those drugs he used to handle. Contents and drugs must be regularly checked.
Keywords: Medical-Emergency-Bag, Ground Mountain Rescue, Mountain Rescue Service
ZUSAMMENFASSUNG
Dieser Artikel reflektiert das Ergebnis einer Umfrage über die Inhalte von Einsatzrucksäcken und Notarztrucksäcken unter den Mitgliedsorganisationen der Medizinischen Kommission der IKAR. Das Ziel dieser Untersuchung war, ob es Standards in der medizinischen Notfallausrüstung der verschiedenen Bergrettungsdienste gibt. Wir fanden eine große Übereinstimmung entsprechend den internationalen Standards prähospitaler Notfallmedizin. Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede infolge unterschiedlicher gesetzlicher Bestimmungen in den einzelnen Mitgliedsländern und unterschiedlicher Einsatzstrategien und Ausbildungsgrade. Der bodengebundene Bergrettungseinsatz hat seine eigenen
Gesetzmäßigkeiten und nicht alles, was machbar ist, ist auch sinnvoll. Das Gewicht und die Größe der Ausrüstung sind von entscheidender Bedeutung, und trotzdem müssen die notwendigen Geräte und Medikamente am Unfallort vorhanden sein. In einer tabellarischen Aufstellung wird am Ende versucht, die Ergebnisse der Umfrage zusammenzufassen. Dies stellt allerdings nur einen Vorschlag dar. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die BergretterInnen im Umgang mit dem Inhalt der Einsatz- und Notarztrucksäcke geschult sind. Der Bergrettungsarzt soll nur jene Medikamente verwenden, mit deren Wirkung und Nebenwirkung er vertraut ist. Die Geräte und Medikamente müssen regelmäßig auf ihre Funktionstüchtigkeit und Ablaufdatum überprüft werden.
Schlüsselwörter: Notarztrucksack, Einsatzrucksack, terrestrischer alpiner Einsatz, Bergrettungsdienst
SZENARIEN BEIM TERRESTRISCHEN EINSATZ
Die Diskussion um Einsatz- und Notarztrucksäcke, deren Größe und Inhalt sind so alt, wie es eine alpine Notfallmedizin im Bergrettungseinsatz gibt. Die stürmische Entwicklung der präklinischen Notfallmedizin in den Bergen der letzten 25 Jahre hat nicht nur die Ausbildung der Bergretter und Notärzte revolutioniert, sondern auch die Ausrüstung beim Bergrettungseinsatz stark beeinflusst. Die Professionalisierung der alpinen Flugrettung mit ihrer enormen Effizienz durch die Möglichkeit einer optimierten präklinischen Behandlung auch von schwer verletzten Patienten hat natürlich auch Auswirkungen auf den bodengebundenen Einsatz. Warum sollen (müssen) für diesen nicht die gleichen Standards gelten? Das Szenario beim terrestrischen Bergrettungseinsatz ist allerdings ein ganz anderes. Üblicherweise trifft ein schnelles Ersthelferteam am Unfallort ein. Ein Notarzt ist in den seltensten Fällen dabei. Trotzdem ist eine genaue Erstuntersuchung und Versorgung durch dieses Team gefordert. In erster Linie ist natürlich eine fundierte Erste-Hilfe-Ausbildung der Bergretter die Basis dafür. Daneben sind wenige, aber ausgewählte Hilfsmittel notwendig, um eine optimale Erstversorgung durchführen zu können. Abhängig vom Ausbildungsstand (in vielen Ortsstellen sind Rettungs- und/oder Notfallsanitäter Mitglieder der Einsatzteams) können unterschiedliche Erstmaßnahmen gesetzt werden. Für diese genügt meistens ein leichter, mit den notwendigsten Geräten ausgestatteter Einsatzrucksack. Falls ein Notarzt mit der Hauptmannschaft nachrückt, wird in dieser ein kompletter Notarztrucksack zur Ausrüstung gehören. In Anbetracht des erheblichen Gewichts einer kompletten Notarztausrüstung erscheint es notwendig, über Sinn und Zweckmäßigkeit der Ausrüstung zu diskutieren.
WELCHE MEDIZINISCHE AUSRÜSTUNG BRAUCHEN ERSTHELFER UND ALPINER NOTARZT IM EINSATZ?
Abhängig von der Situation eines Bergrettungseinsatzes sind die Ersthelfer nach Erreichen des Unfallortes vorerst mit der Sicherung des Patienten und der Bergung aus der unmittelbaren Gefahrenzone beschäftigt. Gleichzeitig soll ein erster Notfallcheck mit Erstdiagnose erfolgen, um die nachfolgenden Einheiten über weitere Rettungsmittel zu informieren. Die Erstversorgung besteht im Wesentlichen aus der Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen, Verhinderung einer Unterkühlung, Schienung von Extremitätenverletzungen und Lagerung. Eine Umfrage unter den Mitgliedern der IKAR MEDCOM (Internationale Kommission für alpine Notfallmedizin) hat ergeben, dass nahezu alle Ersthelferteams mit Verbandsmaterial, Splints, Rettungsdecke und Beatmungsmasken ausgerüstet sind. Abhängig vom Ausbildungsstand der Ersthelfer sind Monitoringsysteme und Sauerstoff vorhanden. In angloamerikanischen Rettungssystemen mit Paramedics als Ersthelfer sind Medikamente Standard der Erstausrüstung. Diese beschränken sich allerdings überwiegend auf orale Schmerzmittel und Nitroglycerin (abhängig von nationalen Gesetzen), obwohl erstaunlicherweise nicht alle Systeme, die Medikamente verabreichen, auch ein Blutdruckmessgerät in dieser Ausrüstung vorhalten (Tab. 1). Die wenigsten Einsatzrucksäcke sind mit einem Tympanothermometer, einem Blutdruckmessgerät oder Pulsoxymeter ausgestattet. Einerseits sind diese Geräte teuer und unter Extrembedingungen störanfällig, andererseits sind in vielen Bergrettungsdiensten die Ersthelfer nicht in der Handhabung dieser Geräte und der richtigen Interpretation der Ergebnisse ausgebildet. Die bisherigen automatischen externen Defibrillatoren (AED) waren einerseits groß und schwer, andererseits
Tab .1
fehlte bei den für den Bergrettungsdienst sinnvollen Public Access Defibrillatoren (PAD) die Möglichkeit eines Monitorings in Form einer EKG-Ableitung. Die neuesten Geräte sind nur noch ca. 500 g schwer und besitzen eine EKGAbleitung. Zudem wurde die Funktion bei großer Kälte sichergestellt. Zusammen mit einem leichten Pulsoxymeter, einem Blutdruckmessgerät und einem Tympanothermometer sind die wesentlichsten Monitoringfunktionen für einen arztbegleiteten Bergrettungseinsatz gegeben.
EINSATZRUCKSACK FÜR ERSTHELFERTEAMS IM TERRESTRISCHEN BERGRETTUNGSEINSATZ
Das Fachreferat Medizin/erste Hilfe des Bundesverbandes des Österreichischen Bergrettungsdienstes hat im Frühjahr 2006 einen Vorschlag für die Bestückung eines Einsatzrucksacks erarbeitet. Das Ziel war ein möglichst kleiner, leichter und nur mit dem Notwendigsten ausgestatteter Rucksack, in dem auch noch Platz für persönliche Ausrüstung ist. Wichtig ist, dass jeder Bergretter mit den Geräten und Materialien vertraut und regelmäßig in deren Handhabung geschult ist. Verbandsmaterial: 2 Samsplint®(biegbare gepolsterte Aluminiumschienen), 1 HWS-Immobilisation (z.B. Stiffneck®) 3 Dreiecktücher, 10 sterile, nicht klebende Wundauflagen, 1 adhäsive Binde
Abb.1: Notarzt-Ausrüstung im Bodenrettungsdienst – im Bergrettungseinsatz kaum möglich
(z.B. PEHA Haft®), 3 Idealbinden, 3 OP-Site-Folien®, Leukotape. Pocketmask Kälteschutz: 2–3 Wärmebeutel (20 x 30 cm), Alu-Rettungsdecken (z.B. Blizzard-Rettungsdecke®), Fleecehaube für den Verletzten, Fäustlinge, Schibrille, evtl. heißes, gezuckertes Getränk. Fakultativ (abhängig vom Ausbildungsstand der Ersthelfer und von der Einsatzstruktur): Tympanothermometer, Blutdruckmessgerät, AED, Sauerstoff mit Inhalationsmaske. Sonstiges: Sanitäterweste, Patientenkennzeichnung (PLS), wasserfester Stift, LED-Stirnlampe. Insgesamt sollte das Gewicht 8–9 kg nicht überschreiten. Mit dieser Ausrüstung kann eine Erstversorgung eines im Gebirge verletzten oder erkrankten Menschen sichergestellt werden.
DER NOTARZTRUCKSACK BEIM TERRESTRISCHEN EINSATZ
Über die Ausrüstung in einem Notarztrucksack für den Bergrettungseinsatz gibt es wahrscheinlich ebenso viele Meinungen wie unterschiedliche Rucksäcke. Entscheidend ist, dass die Bestückung der Erfahrung und den Kenntnissen des jeweiligen Bergrettungsarztes angepasst sein muss. Ein Anästhesist wird mit vielen Medikamenten umgehen können, mit denen ein praktischer Arzt, der gelegentlich zu einem Bergrettungseinsatz gerufen wird, eher zurückhaltender sein wird, wenn es um den Einsatz von z.B. Relaxantien und Narkotika geht. Ebenso ist das Gewicht von entscheidender Bedeutung. Ein Notarztrucksack wie er in einem NAW oder NAH eingesetzt wird, wird nur mit großer Verzögerung beim Verletzten eintreffen. Es gilt also nach bestimmten Kriterien einen Notarztrucksack auszurüsten. 1. Mit welchen Verletzungs- und Erkrankungsmustern muss ich rechnen? 2. Was ist vor Ort machbar – was ist sinnvoll? 3. Welches Monitoringsystem brauche ich? 4. Wie lange ist die Transportdauer – gibt es Transporthindernisse? 5. Wie ist meine Erfahrung im Umgang mit den Medikamenten und Geräten? Ad 1. Überwiegend beim Bergrettungseinsatz sind Traumen, neben akuten kardialen und pulmologischen Erkrankungen, Unterkühlung, Erschöpfung und gelegentlich allergische und chirurgische Notfälle. Daraus ergibt sich die unbedingt notwendige Ausrüstung. Auf das vertraute „Viel hilft viel“ sollte zuguns-ten der Zweckmäßigkeit verzichtet werden, auch wenn es uns Notärzten oft schwer fällt. Ad 2. Die Frage „stay and play oder scoop and run“ ist oft zu plakativ, um den gegebenen Anforderungen gerecht zu werden. Der alpine Notarzt darf aller-
dings durch eine überbordende und zeitaufwendige Diagnostik und Therapie nicht den gesamten Einsatz erschweren oder gar verunmöglichen. Die Frage einer Sauerstofftherapie muss in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Es ist nicht sinnvoll, für einen Abtransport über 2 Stunden mit einer Sauerstofftherapie zu beginnen, wenn ich nur Sauerstoff für eine Stunde vorrätig habe. Ein Nachtransport scheitert oft an logistischen Problemen. Zudem erhöht eine 2- oder gar 5-l-Sauerstoffflasche das Gewicht eines Notarztrucksackes erheblich und führt deshalb zu einer Verzögerung des Therapiebeginns. Ad 3. Mit den heutigen kleinen und leichten Monitoringsystemen ist es möglich, auch unter schwierigen klimatischen und geographischen Bedingungen ein ausreichendes Monitoring durchzuführen (siehe oben). Ad 4. Die Transportdauer ist neben der Erstversorgung ein entscheidender Punkt, den es zu beachten gilt. Einmal begonnene Maßnahmen müssen bis zur Übergabe an den nachfolgenden Notarztdienst lückenlos durchgeführt werden können. Es sind dabei vor allem die Analgosedierung und die Schockbekämpfung zu berücksichtigen. Eine Intubation mit Narkose vor Ort, die auf Grund fehlender Medikamente nicht tief genug geführt werden kann, führt zu einer Katastrophe. Eine Intubationsnarkose muss beim bodengebundenen Bergrettungseinsatz nicht nur im Hinblick auf die Probleme bei der Intubation vor Ort, sondern vor allem auch auf die nachfolgenden Probleme beim Abtransport gut überlegt werden. Steilstufen und unwegsames Gelände führen hier rasch an die Grenzen des Machbaren. Ad 5. Der alpine Notarzt muss mit seinen Medikamenten und Geräten vertraut sein. Im Rucksack sollten nur jene vorhanden sein, deren Handhabung, Wirkungen und Risken er sehr genau kennt. Es sollte selbstverständlich sein, dass diese durch ihn selbst oder entsprechend geschultes Personal regelmäßig auf Funktionstüchtigkeit und Ablaufdatum überprüft werden. Die oben zitierte Umfrage unter den Mitgliedsländern der IKAR MEDCOM hat bezüglich der Ausrüstung und Medikamente folgendes Ergebnis erbracht (Tab. 2). Zu berücksichtigen ist dabei, dass über 80 % aller bodengebundenen Systeme einen Ersthelferrucksack vorhalten und daher einige hier fehlende Geräte bereits im Ersthelferrucksack an den Unfallort gebracht werden (z.B. Tympanothermometer, RR-Messgeräte, Beatmungsmasken etc.) Traumaversorgung: Die wichtigste notärztliche Tätigkeit vor Ort ist die Schmerzbekämpfung. Diese erfolgt in erster Linie durch Ruhigstellung und Analgesierung. Die am häufigsten verwendeten Medikamente sind dabei Morphine und Ketamin. Einige Organisationen halten zusätzlich NSAR in Form von Metimazol oder Paracetamol vor. Die am häufigsten verwendeten Sedativa sind Midazolam, Diazepam (> 80 %) und Hypnomidate. Etwas mehr als die Hälfte aller Organisationen haben ein
Tab. 2 Muskelrelaxans im Rucksack. Das Risiko einer präklinischen Verwendung dieser Medikamente durch wenig erfahrene Bergrettungsärzte ist erheblich. Am häufigsten wird Succamethonium gefolgt von Rocuronium verwendet. Ein Viertel aller Systeme verwendet überhaupt keine Muskelrelaxantien. Generell führen alle Organisationen kristalloide Infusionslösungen (üblicherweise 2 x 500 ml) zur Schockbekämpfung in ihren Notarztrucksäcken mit. Über 50 % verwenden hyperonkotische/hyperosmolare Lösungen. In Mitteleuropa wird dazu überwiegend Hyperhes® verwendet. ACLS: Die hierfür gebräuchlichsten Medikamente sind in Tab. 3 aufgeführt. Die präklinische Lyse wird nur von sehr wenigen Systemen angeboten (Diagnose, Monitoring, Kosten).
Tab. 3
Für pulmologische Notfälle werden inhalative Betamimetika nahezu ausnahmslos mitgeführt. Ebenso Antihistaminika für allergische Notfälle. Zwei Drittel aller Notarztrucksäcke sind mit intravenösen Steroiden ausgerüstet. Nur ein Viertel bis ca. ein Drittel verwenden Theophyllin und inhalative Steroide im Bergrettungseinsatz. Beatmung: Beatmungsbeutel und Masken, zusammen mit der Möglichkeit einer orotrachealen Intubation und Absaugmöglichkeit, sind durchwegs im Rucksack. Alternative Ventilationsmöglichkeiten (Combitube, Larynxmaske) finden sich hingegen nur in sehr wenigen Fällen. Sauerstoff findet sich trotz des hohen Gewichts in 85 % in der Notfallausrüstung (Tab. 4).
Tab. 4
Interessant ist auch die Frage, ob ein Notarztrucksack generell im Bergrettungseinsatz verwendet wird. Dies ist in den meisten Fällen der Fall. Zu 65 % verbleibt der Rucksack aber beim Arzt, nur in einem Drittel der Fälle wird er auch ohne Arzt zum Unfallort gebracht. Dies deckt sich in etwa mit der Häufigkeit von Ersthelferteams die mit einem gut ausgerüsteten Einsatzrucksack erste Hilfe leisten. Generell kann festgestellt werden, dass heute im Bereich der IKAR-Mitgliedsländer bei jedem Einsatz ein medizinisch gut ausgerüstetes Team dem Verletzten helfen kann. Die Auswahl der Medikamente erfolgt in 70 % durch den Bergrettungsarzt, gelegentlich nach Vorschlägen durch ein Fachgremium der Organisationen. In ca. 20 % folgt die Bestückung durch den Bergrettungsdienst nach einem einheitlichen Muster. Dies überwiegend dort, wo der Bergrettungsdienst eine Teilorganisation einer größeren Gesamtorganisation ist. Aus der Summe der Daten einen einheitlichen Standard zu definieren ist kaum möglich. Es soll hier nur der Versuch eines Vorschlages in groben Umrissen
Trauma Schienungs- und Immobilisationsmaterial (sofern nicht bereits im Ersthelferrucksack am Unfallort) OP-Site Folie®
Infusionen 2x 500 ml kristalloide Lösung 1x250 ml hyperonkot.-/hyperosmolare Lösung
Analgetika Opiate, Ketamin, ev. Paracetamol, Metimazol
Hypnotika Midazolam, Diazepam, Etomidate
Relaxantien Succamethonium, Rocuronium
Bronchodilatatoren Inhal. Betamimetika und Steroide,
Andere Antiallergikum, Steroide (Methylprednisolon, Dexamethason) Furosemid, Glukose 40% mit NaCl
ACLS Adrenalin, ASS, Nitrogylcerin, Atropin, Antiarrhythmika (Sedacorone), Beta-Blocker
Ventilation Beatmungsbeutel mit Filter und 3 Masken, Laryngoskop mit Ersatzbatterien, 2 Spatel, Mandrin, Magillzange, Blockerspritze, Tubusfixierung, Absaugpumpe (manuell)
Monitoring Blutdruckmessung, Pulsoxymetrie, Tympanothermometer, Blutzuckermessgerät, Stethoskop
Anderes Stirnlampe (LED), Schere, Fremdkörperpinzette, Warnweste (Notarzt), PLS mit wasserfestem Stift, Kälteschutz (Alu-Rettungs-decken) Wärmebeutel, Schere, chir. Pinzette, Skalpell, sterile Handschuhe
4 Verweilkanülen, Fixationspflaster, Verbandsmaterial zur Fixierung
Ev. Synth. Opiate (Dipidolor®, Fentanyl®) Ketamin zusammen mit Sedativum
Cave!, je nach Erfahrung
ev. iv.Steroide
Nur wenn Monitoring möglich (AED mit Ableitung)
Plastikspatel bevorzugen wegen Gefahr des Anfrierens an der Zunge bei großer Kälte, ev. O2 ev. Combitube, ev. Thorakostomieset und Harnsack
ev.AED mit Ableitungsmöglichkeit
zusätzlich ev. persönliche Ausrüstung und warme Getränke
erbracht werden, was sich als notwendig und sinnvoll erwiesen hat und internationalen Standards entspricht. Natürlich ist dieser Vorschlag den jeweiligen nationalen Regeln anzupassen. Die Wahl der Ausrüstung in den Fällen, in denen ein Einsatzrucksack für Ersthelfer und ein Notarztrucksack zum Einsatz kommen, sollte aus Gewichtsgründen auf Redundanz geachtet werden. Die Ersthelfer sollten nur die unbedingt notwendige Ausrüstung so schnell wie möglich zum Einsatzort bringen. Wenn möglich, sollte bei jedem Bergrettungseinsatz ein Notarzt mit entsprechender Ausrüstung Mitglied des Rettungsteams sein. Die Medikamentenliste im Notarztrucksack sollte den Kenntnissen und der Erfahrung des Notarztes angepasst sein. Wenn möglich, sollte der Ortsstellenarzt die Medikamentenliste selbst zusammenstellen.
Eine regelmäßige Schulung der BergretterInnen an den Geräten ist obligat. Die Geräte müssen von geschulten BergretterInnen regelmäßig auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden. Die Medikamente müssen entweder vom Ortsstellenarzt selbst oder von geschulten Mitgliedern auf Ablaufdatum und richtige Lagerung überprüft werden. Die Mitglieder des Rettungsteams müssen über den Inhalt des Notarztrucksacks, dessen Handhabung und über den Verwendungszweck regelmäßig geschult werden.
DANKSAGUNG:
Ich danke allen Mitgliedern der IKAR MEDCOM für die freundliche Unterstützung durch die Datenübermittlung ihrer Organisationen.
LITERATUR:
Adäquate Fachliteratur zu diesem Thema ist nicht zu finden. Es gibt Fachliteratur zu allen möglichen Geräten und Medikamenten. Eine Liste würde hier jeden Rahmen sprengen.
Peter Paal, Volker Wenzel, Achim von Goedecke, Hermann Brugger
Mouth-to-mask ventilation – an alternative ventilation technique in mountain rescue?
SUMMARY
Mouth-to-mouth ventilation remains the standard ventilation technique for bystanders in Basic Life Support. In the absence of any barrier devices, mountain rescuers should ventilate a patient without delay, since the risk of infection seems to be low, and time until artificial ventilation is performed by an Advanced Life Support-team is much longer in the mountains than in an urban setting. Since the risk of infection is reduced with a mouth-to-mask ventilation device, the barrier for a rescuer to provide ventilation should be decreased. Moreover, when mouth-to-mask is compared to mouth-to-mouth ventilation, ventilation quality, defined as percentage of ventilations with a tidal volume within a set range (normally 700–1000 ml), is better, and peak airway pressure, and stomach inflation are lower. Also, lesser trained rescuers perform mouthto-mask ventilation better than bag-valve-mask ventilation. Mouth-to-mask ventilation devices are efficient, simple to use, small, light, and comparatively cheap. Due to the current evidence, the Medical Commission of the International Commission for Alpine Rescue (ICAR MEDCOM) has issued a recommendation for the application of mouth-to-mask ventilation in mountain rescue. Regular feedback-aided training in small groups may be useful for acquisition and retention of ventilation skills. Nevertheless, tracheal intubation remains the gold standard for securing the airway, and ventilation in mountain rescue, but it should be reserved for very experienced rescuers, usually the emergency physician.
Keywords: Artificial Ventilation; Basic Life Support; Cardiopulmonary Resuscitation; Mouth-to-mask ventilation; Training
ZUSAMMENFASSUNG
Nach wie vor ist die Mund-zu-Mund-Beatmung die Standardbeatmungstechnik bei Basic-Life-Support-Maßnahmen ohne Hilfsmittel. Auch in der Bergrettung sollte sie ohne Verzögerung begonnen werden, wenn keine alternativen Beatmungshilfen vorhanden sind, da das Infektionsrisiko gering und die Zeit bis zur Beatmung durch ein Notarztteam in der Regel länger ist als in der Stadt. Die Verringerung des Infektionsrisikos durch die Verwendung einer Beatmungsmaske sollte die Hemmungen des Retters eine Beatmung durchzuführen zusätzlich abbauen. Zudem ist bei der Mund-zu-Masken-Beatmung gegenüber der Mund-zu-Mund-Beatmung die Beatmungsqualität, definiert als Anteil von Beatmungen mit einem Tidalvolumen innerhalb eines vorgegebenen Bereiches (meist 700–1000 ml) besser, wobei sowohl Atemwegsspitzendruck als auch Magenbeatmung geringer sind. Weniger erfahrene Retter führen eine Mundzu-Masken-Beatmung besser durch als eine Beatmung mit dem Beatmungsbeutel. Die Geräte für die Mund-zu-Masken-Beatmung sind effizient, einfach in der Anwendung, klein, leicht und relativ günstig. Daher hat die Internationale Kommission für Alpine Notfallmedizin (ICAR MEDCOM) eine Empfehlung zur Durchführung der Mund-zu-Masken-Beatmung im Bergrettungsdienst ausgesprochen. Ein regelmäßiges, feedbackunterstütztes Training in kleinen Gruppen ist allerdings Voraussetzung für die Aneignung und Aufrechterhaltung einer guten Beatmungstechnik.Natürlich bleibt die endotracheale Intubation auch in der Bergrettung der Goldstandard der Atemwegssicherung und Beatmung; sie sollte aber sehr erfahrenen Helfern, in der Regel dem Notarzt, vorbehalten bleiben.
Schlüsselwörter: Basic Life Support; kardiopulmonale Reanimation; künstliche Beatmung; Mund-zu-Masken-Beatmung; Training
EINLEITUNG
Eine rasche Basisreanimation (Basic Life Support, BLS) verbessert die Überlebenschance und die neurologische Erholung von Patienten nach einem Herzstillstand (7). Darüber hinaus hängt die Prognose wesentlich von der Qualität der BLS-Maßnahmen ab (12). Insbesondere bei der Versorgung von Lawinenopfern mit schwerer Hypothermie kann bei Bergrettungseinsätzen BLS auch über mehrere Stunden notwendig sein (13, 24, 29). In diesen speziellen Herzstillstand-Situationen ist die Prognose gut, wenn die BLS-Maßnahmen kontinuierlich und effizient durchgeführt werden (34). Deshalb sollten Bergretter die nötige Ausrüstung und auch die Fähigkeit haben, eine fachgerechte Beatmung
durchzuführen. Ideale Hilfsmittel für die Beatmung im Bergrettungsdienst sollten effizient, einfach zu benutzen, klein, leicht und günstig in der Anschaffung sein.
PATHOPHYSIOLOGIE DER BEATMUNG BEIM UNGESCHÜTZTEN ATEMWEG
Nach einem Herzstillstand fällt der Druck des unteren Ösophagussphinkters innerhalb weniger Minuten von 20–30 cm H2O auf ca. 5 cm H2O ab (11). Dieser erniedrigte Ösophagussphinkterdruck erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Magenbeatmung bei einem Patienten im Herzstillstand erheblich. Die Überblähung des Magens verlagert das Zwerchfell nach kranial, senkt somit die Compliance der Lunge, wodurch wiederum ein höherer Beatmungsdruck erforderlich wird. Somit entsteht durch die zunehmende Magenbeatmung bei gleichzeitig abnehmender Lungenbeatmung ein Circulus Vitiosus (Abb. 1) (37). Deshalb ist eine Beatmungstechnik wichtig, die einerseits die Lungenbeatmung optimiert, andererseits aber die gefährliche Magenbeatmung minimiert.
Lungenbeatmung Magenbeatmung
Intragastraler Druck
Magenbeatmung
Umverteilung des Tidalvolumens Kraniale Verschiebung des
von der Lunge zum Magen Zwerchfells
Atemwegsspitzendruck Lungenausdehnung
Lungencompliance
Abb.1: Circulus vitiosus der Magenbeatmung, mit sinkender Lungencompliance, steigendem Atemwegsspitzendruck, weiter steigender Magenbeatmung und sinkender Lungenbeatmung.
BEATMUNG IM HERZSTILLSTAND
In einer Untersuchung beatmeten professionelle Sanitäter Patienten im Herzstillstand mit einer Frequenz von ca. 30/min statt mit der empfohlenen Frequenz von 10/min; eine solche Hyperventilation erhöht den intrathorakalen Druck und verschlechtert bei der kardiopulmonalen Reanimation (CPR) den venösen
Rückfluss zum Herz und damit den koronaren Perfusionsdruck, was für das Überleben des Patienten prognostisch ungünstig ist (2). In mehreren Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass das übliche BLS-Training nur sehr eingeschränkt für die Schulung einer korrekten Beatmung geeignet ist: nur 30–60 % der Beatmungen wurden nach einem BLS-Training korrekt durchgeführt (30, 40). Im Abstand von 6 bis 12 Monaten nach einem BLS-Training beatmeten Studienteilnehmer ein CPR-Phantom mit einem überhöhten Atemzugvolumen (Tidalvolumen), zu hohem Atemwegsspitzendruck und einer zu hohen Beatmungsfrequenz (38). Diese Tatsache spricht für kürzere Trainingsintervalle. Dabei sei erwähnt, dass auch Notärzte nur alle 15–45 Einsatztage Patienten präklinisch beatmen (42); für den Bergretter ist eine noch viel niedrigere Frequenz zu erwarten. In einer Studie in Seattle zeigte sich kein Unterschied im Überleben von Patienten im Herzstillstand, die ohne Beatmung reanimiert wurden, im Vergleich zu Patienten, die mit Beatmung reanimiert wurden (14). Sollte deshalb im Rahmen von Bergrettungseinsätzen überhaupt nicht mehr beatmet werden, zumal eine korrekte Beatmung sehr schwierig ist und eine schlechte Beatmung schwere Nebenwirkungen haben kann? Einige Argumente sprechen für eine Reanimation mit Beatmung bei Bergrettungseinsätzen. Die Eintreffzeiten für das Notarztteam sind in der Regel länger als in der Stadt und eine Reanimation mit Beatmung gilt dann als prognostisch günstig, wenn nicht innerhalb von circa fünf bis zehn Minuten nach dem Herzstillstand ein halbautomatischer Defibrillator (AED) oder ein Notarzt zur Durchführung von Advanced-Life-Support-Maßnahmen verfügbar sind (17, 23). In der einleitend genannten Studie aus Seattle waren die Anfahrtszeiten im Durchschnitt fünf Minuten, eine Beatmung der Patienten im Herzstillstand war somit prognostisch noch nicht relevant. Im Gegensatz dazu sollte in der Bergrettung immer eine Reanimation mit Beatmung durchgeführt werden, um eine möglichst gute Oxygenierung und Kohlendioxid-Eliminierung zu gewährleisten. Entsprechend der CPR-Richtlinien dauert bei der Beatmung die Inspirationszeit eine Sekunde, und eine korrekte Lungenbeatmung wird durch deutliche Exkursionsbewegungen des Brustkorbes kontrolliert (15).
Die Durchführung einer Mund-zu-Mund-Beatmung benötigt keine Hilfsmittel und ist daher die Standardtechnik für Laienhelfer oder professionelle Helfer ohne Ausrüstung, falls keine anderen Hilfsmittel zur Verfügung stehen (3, 4, 15). Viele Ersthelfer scheuen sich aber eine Mund-zu-Mund-Beatmung bei
einem Patienten im Herzstillstand durchzuführen, da sie eine mögliche Infektion mit Krankheitserregern wie z.B. HIV befürchten (28). Zum Beispiel würden ca. 80 % der Befragten einer Studie in den USA einen 4-jährigen Jungen aus einem Schwimmbecken retten und beatmen, aber nur ca. 10 % würden in San Francisco einen in einem Bus kollabierten 40-jährigen Mann beatmen (25). Einzelne bakterielle Infektionen wurden mit Mund-zu-Mund-Beatmung in Verbindung gebracht, wie z.B. Mycobacterium Tuberculosis, Helicobacter Pylori, Neisseria Meningitidis, Neisseria Gonorrhoeae, Shigella Sonnei, Salmonella Infantis und Streptococcus Pyogenes. Obwohl virale Infekte wie SARS (6) und Herpes Simplex (26) beschrieben wurden, wurden bis heute keine gefürchteten viralen Infektionen mit HIV und Hepatitis B oder C berichtet. Die Beatmungsluft enthält bei der Mund-zu-Mund-Beatmung ca. 17 % O2 und ca. 4 % CO2 (36); dies kann unter Umständen eine bereits bestehende Hypoxie und Hyperkapnie verstärken, welche wiederum unabhängige Parameter für ein schlechteres Outcome bei Herzstillstand sind (18). Die Beatmungsqualität, definiert als prozentualer Anteil von Beatmungen mit einem Tidalvolumen innerhalb eines vorgegebenen Bereiches (meist 700–1000 ml), ist nach BLS-Training niedrig (5, 32). Sie kann aber durch ein akustisches Feedback der CPR-Phantome signifikant verbessert werden (40, 41). Zusammenfassend zeichnet sich die Mundzu-Mund-Beatmung dadurch aus, dass sie ohne Hilfsmittel einfach und rasch durchzuführen ist. Falls keine weiteren Hilfsmittel zur Verfügung stehen, sollte bei einem Kreislaufstillstand im Gebirge nach wie vor sowohl Herzdruckmassage als auch Mund-zu-Mund-Beatmung durchgeführt werden. Stehen hingegen Hilfsmittel zur Verfügung, sollten diese jedoch immer zur Beatmung verwendet werden.
Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung
Bei sechs von acht Gesichtstüchern (sog. face-shields) bot der eingebaute Filter keinen ausreichenden Schutz vor einer bakteriellen Infektion (9). Die Beatmungsluft ist bei der Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung ähnlich wie bei der Mund-zu-Mund-Beatmung. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung zeigte für eine Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung im Vergleich mit der Mund-zuMund-Beatmung eine bessere Beatmungsqualität (Tab. 1) (eigene unveröffentlichte Daten). Darüber hinaus wurde mit verschiedenen Gesichtstüchern ein zu geringes Tidalvolumen erzielt, sodass statt der Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung die Mund-zu-Masken- oder die Beutel-Masken-Beatmung empfohlen wurde (1, 31).
Mund-zu-Masken-Beatmung
Hilfsmittel für die Mund-zu-Masken-Beatmung besitzen ein integriertes Ein-
Abb.2: Für die Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung wird das Gesichtstuch entsprechend der Zeichnung auf das Gesicht des Patienten gelegt. Dabei soll darauf geachtet werden, dass der Bakterienfilter des Gesichtstuches über dem Mund des Patienten zu liegen kommt und diese Position während der Beatmung beibehalten wird. Wie bei anderen Beatmungstechniken auch, wird der obere Atemweg durch Kopfüberstrecken und Kinnanheben offen gehalten (Bild mit freundlicher Genehmigung von Laerdal, Stavanger, Norwegen).
Weg-Ventil, das einen adäquaten Schutz vor bakteriellen Infekten bietet (9). Eine Mund-zu-Masken-Beatmung bietet gegenüber der Mund-zu-Mund-Beatmung eine bessere Beatmungsqualität und geringere Magenbeatmung (30). Diese Vorteile sind auch 12 Monate nach dem Training noch nachweisbar (Tab. 1) (eigene unveröffentlichte Daten). Bei manchen Geräten zur Mund-zu-MaskenBeatmung kann über einen Adapter eine zusätzliche Sauerstoffquelle angeschlossen werden, womit die inspiratorische Sauerstofffraktion erhöht und die inspiratorische Kohlendioxidfraktion verringert werden kann (33). Die Mundzu-Masken-Beatmung erzielt gegenüber der Beutel-Masken-Beatmung signifikant mehr korrekte Beatmungen (8). Zudem hat sich in einer vergleichenden Untersuchung zwischen Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Masken- und Beutel-Masken-Beatmung die Mund-zu-Masken-Beatmung mit zusätzlichem Sauerstoff als die effizienteste Beatmungstechnik erwiesen (20).
Atemfrequenz * Mund-zu-Mund-
Beatmung Mund-zu-
Gesichtstuch-
Beatmung Mund-zu-Masken-
Beatmung
11 13 11 13 12 13
Atemwegsspitzen-
druck (cm H20) *
Magenbeatmung#
Tidalvolumen (ml) * 16 25 10 17 12 14
85 100% 42 58% 47 62%
1090 1400 690 1010 820 960
Tidalvolumen
700-1000 ml * 20 10% 11 21% 32 26%
Tabelle 1: Beatmungsparameter nach einem 10-Minuten-Training und 12 Monate später für Mund-zu-Mund-, Mund-zu-Masken- und Mund-zu-Gesichtstuch-Beatmung; _ zeigt eine Erhöhung gegenüber den Werten vom Vorjahr, g zeigt eine Erniedrigung an; P bezieht sich auf den Unterschied der Werte bei Training und 12 Monate später (*P < 0,001, #P< 0,05; eigene unveröffentlichte Daten).
Beutel-Masken-Beatmung
Das Infektionsrisiko für den Helfer erscheint bei Verwendung eines Beatmungsbeutels verschwindend gering. Die inspiratorische O2-Fraktion kann je nach zusätzlicher Sauerstoffzufuhr und Benutzung eines Reservoirs zwischen

Abb.3: Für die Mund-zu-Masken-Beatmung werden die Atemwege durch Anheben des Kinns des Patienten geöffnet; zusätzlich wird der Kopf nach hinten überstreckt, falls eine Halswirbelsäulenverletzung ausgeschlossen werden kann. Die Maske wird mit dem doppelten C-Griff auf dem Gesicht des Patienten fixiert.
21–100 % variieren. Das Tidalvolumen bei der Beutel-Masken-Beatmung mit nur einer Hand am Gesicht des Patienten (einfacher C-Griff) ist geringer als bei der Mund-zu-Masken-Beatmung, bei der zwei Hände zur Fixierung der Maske auf dem Gesicht verwendet werden (doppelter C-Griff) (Abb. 3) (16, 35). Häufig tritt bei Anwendung des einfachen C-Griffes eine Maskenleckage auf, deshalb konnte z.B. in einer Studie die Hälfte der Probanden das geforderte minimale Tidalvolumen nicht erreichen (19). Für weniger geübte Retter wird somit empfohlen, dass ein Helfer die Maske mit doppeltem C-Griff hält, während ein zweiter Helfer den Beatmungsbeutel bedient (Abb. 4) (8, 20, 35).
Abb.4: Bei der Verwendung eines Beatmungsbeutels empfiehlt sich für weniger geübte Retter der doppelte C-Griff. Dabei fixiert der erste Helfer mit beiden Händen die Maske am Gesicht des Patienten und öffnet die Atemwege. Der zweite Helfer bedient den Beatmungsbeutel.

WIE KANN DIE BEATMUNGSTECHNIK VERBESSERT WERDEN? Die Beatmung bei BLS ist eine komplexe psychomotorische Fähigkeit (39). Eine Untersuchung stellte im Titel die Frage zur Diskussion, ob nicht etwa „das Problem einer niedrigen Trainingseffizienz bei BLS-Kursen der Ausbilder, und nicht der Schüler oder der Lehrplan sein könnte“. Zum Beispiel hatten BLSInstruktoren alle Absolventen eines BLS-Kurses positiv benotet, obwohl dieselben Teilnehmer bei einer anschließenden computergestützten Prüfung alle durchfielen (22). Bessere Ergebnisse werden mit einem BLS-Training in klei-
neren Gruppen erzielt, mit mehr Praxis und weniger Theorie (22) und mit feedbackgebenden CPR-Phantomen (40, 41). Die Fähigkeit, eine korrekte Beatmung durchzuführen, lässt nach dem BLS-Training im Laufe der Zeit nach (21), deshalb empfehlen einige Autoren die Wiederholung des BLS-Trainings alle sechs bis zwölf Monate (10, 27).
FAZIT
Nach wie vor ist die Mund-zu-Mund-Beatmung die Standardbeatmungstechnik bei Basic-Life-Support-Maßnahmen ohne Hilfsmittel. Auch in der Bergrettung sollte sie ohne Verzögerung begonnen werden, wenn keine alternativen Beatmungshilfen vorhanden sind, da das Infektionsrisiko gering und die Zeit bis zur Beatmung durch ein Notarztteam in der Regel länger ist als in der Stadt. Die Verringerung des Infektionsrisikos durch die Verwendung einer Beatmungsmaske sollte die Hemmungen des Retters eine Beatmung durchzuführen zusätzlich abbauen. Zudem ist bei der Mund-zu-Masken-Beatmung gegenüber der Mund-zu-Mund-Beatmung die Beatmungsqualität, definiert als Anteil von Beatmungen mit einem Tidalvolumen innerhalb eines vorgegebenen Bereiches (meist 700–1000 ml), besser, wobei sowohl Atemwegsspitzendruck als auch Magenbeatmung geringer sind. Weniger erfahrene Retter führen eine Mund-zuMasken-Beatmung besser durch als eine Beatmung mit dem Beatmungsbeutel. Die Geräte für die Mund-zu-Masken-Beatmung sind effizient, einfach in der Anwendung, klein, leicht und relativ günstig. Daher hat die Internationale Kommission für Alpine Notfallmedizin (ICAR MEDCOM) eine Empfehlung zur Durchführung der Mund-zu-Masken-Beatmung im Bergrettungsdienst ausgesprochen. Ein regelmäßiges, feedbackunterstütztes Training in kleinen Gruppen ist allerdings Voraussetzung für die Aneignung und Aufrechterhaltung einer guten Beatmungstechnik. Natürlich bleibt die endotracheale Intubation auch in der Bergrettung der Goldstandard der Atemwegssicherung und Beatmung, sie sollte aber sehr erfahrenen Helfern, in der Regel dem Notarzt, vorbehalten bleiben. Unabhängig von der eingesetzten Beatmungstechnik ist zu beachten, dass die Atemmechanik vor allem beim Herzstillstand eine Magenbeatmung extrem wahrscheinlich macht, deshalb sollte mit möglichst niedrigen Beatmungsdrücken beatmet werden.
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Werner Beikircher, Rosmarie Oberhammer
Das Lawinenunglück im Frankbachtal in Südtirol (I) am 19.02.2005
The avalanche accident in Frankbachtal in Southtyrol (I) the 19. 02. 2005
SUMMARY
The treatment of an avalanche victim with a core temperature below 25°C is a rarely episode in the alpine regions too. The following article describes the case of a patient with a severe hypothermia (22°C) after an avalanche accident with a burial time of 100 minutes in a death of 3 m an a circulatory arrest during the transport to the nearest hospital. Particularly is the fast reduction of core temperature with around 8,6°– 9°C/h. An overview of the emergency treatment, the rewarming strategies with percutaneous extracorporeal circulation, the intrahospital course, the neurological outcome and the current literature will be given.
Keywords: Hypothermia, avalanche accident, cardiopulmonary resuscitation, extracorporeal circulation, rewarming
ZUSAMMENFASSUNG
Die Versorgung eines Lawinenverschütteten bei einer Temperatur unter 25°C stellt auch in alpinen Regionen ein seltenes Ereignis dar. Der vorliegende Fall beschreibt einen jungen Patienten mit einer schweren Hypothermie (22°C) nach 100-minütiger Lawinenverschüttung, der in 3 m Tiefe aufgefunden wird und auf dem Transport ins nächstgelegene Krankenhaus einen Herz-Kreislauf-Stillstand erleidet. Ungewöhnlich ist die rasche Abkühlung von zirka 8,6°– 9°C/h. Neben der Versorgung am Notfallort werden die Wiedererwärmung an der HerzLungen-Maschine (HLM), der weitere Verlauf und die aktuelle Literatur diskutiert.
Schlüsselwörter: Hypothermie, Lawinenunfall, kardiopulmonale Reanimation, extrakorporale Zirkulation, Wiedererwärmung
UNFALLDYNAMIK
Der 19. Februar 2005 ist ein schöner Tag im Nordosten Südtirols, nicht allzu kalt, nicht zu viel Wind. Wind hat es nun schon Wochen lang gegeben in diesem Jahr, stürmischen Wind, Nordstau ohne Unterlass, immer wieder Schnee auf der Nordseite der Zillertaler Alpen. Auf deren Südseite, im Frankbachtal, einem kurzen Seitental des Ahrntales und eingerahmt von hohen Dreitausendern, ist an diesem Morgen eine Schitourengruppe unterwegs, vier Männer mit Ziel Frankbachjoch oder Keilbachspitze.
Die Südseite des Zillertaler Hauptkammes mit Großer Löffler (links) und Keilbachspitze (rechts) (Werner Beikircher)
Die Männer sind zwischen 30 und 63 Jahre alt, eine eingespielte Truppe, schon seit Jahren gemeinsam auf Tour. Der 19. Februar 2005 ist einer der ersten schönen Tage nach einer längeren Sturmperiode, die haushohe Schneefahnen über die Grate des Großen Löfflers trug, tage- und nächtelang die Kare der Zillertaler Südseite einwehte mit meterhohen Dünen. Es ist ein Tag, auf den schon viele gewartet hatten, und ein Wochenende, an dem sehr viele unterwegs sein würden nach langer Tourenpause. Am frühen Vormittag erreicht die Gruppe eine kleine Geländesenke im Latschenbereich, auf 2.100 m Höhe. Die schmale Senke steigt nach Westen an, bergseitig flankiert von einem steilen, etwa 50 m hohen Hang, gegen das Ahrntal begrenzt durch einen wenig ausgeprägten, latschenbestandenen Rücken. Der
Älteste der Gruppe, er ist der Erfahrenste, legt die Spur. Auf Schilänge dahinter folgt der Hauptdarsteller dieses Berichtes und dann mit jeweils deutlichem Abstand die anderen zwei. Sie halten sich im tiefsten Punkt der Senke, wollen vermeiden, den steilen bergseitigen Hang zu ihrer Rechten anzuschneiden. Hier im Windschatten ist es warm, man geht mit offenem Hemd. Um 9.35 Uhr haben sie fast das obere Ende der Senke erreicht und beabsichtigen nach links auf den Latschenrücken hinauszusteigen, da fällt der rechtsseitige Hang ohne Vorwarnung in sich zusammen. Mit einem Knall setzt sich die Flanke aus windgepresstem Triebschnee in Bewegung, zerreißt in Tausende von großen und kleinen Schollen wie ein aufbrechendes Eismeer. Dem Führer der Gruppe gelingt noch der Ruf – „die Lahn kommt“ – da ist sie auch schon da. Der Zweite versucht im Fallen das nicht eingeschaltete Lawinenverschüttetengerät, das er um die Brust trägt, zu aktivieren, Augenblicke später wird es dunkel. Eingepresst in einen gigantischen Schraubstock, hört er deutlich, wie sich mit schleifendem Geräusch Schneeschicht um Schneeschicht über ihm zusammenschiebt, es hat sie genau in der Sohle der schmalen Senke erwischt. Ohne jegliche Panik, so wird er später erzählen, wird ihm klar, dass alles aus ist. Bald danach, er schätzt etwa eine Minute, wird er bewusstlos.
Übersicht Lawinenkegel (Oskar Lechner, BRD St. Johann)
Der 19. Februar ist ein schöner Tag und vier Nebentäler weiter westlich, im Weißenbacher Tal, ist eine Schitourengruppe des Bergrettungsdienstes Antholz unterwegs, mit ihr ein Lawinenhund. Es ist 10.01 Uhr, als ihre Dienstpiepser, die sie auch auf privaten Touren meistens dabeihaben, Alarm geben und sie sich über Funk bei der Landesnotrufzentrale 118 in Bozen melden. Sie erklären sich einsatzbereit, es wird ein Lawinenunfall im benachbarten Frankbachtal durchgegeben. Dort hat die Lawine die flache Senke, über die die Vierergruppe aufgestiegen war, fast eingeebnet. In dieser Stauzone waren die Schneemassen nach nur etwa 40 Metern Absturz zum Stehen gekommen. Herrschten Spannungen bis zum Hangfuß? War es Fernauslösung? Der Lawinenlagebericht gibt für den 19. Februar Gefahrenstufe 2, also mäßig, für die Südtiroler Seite des Alpenhauptkammes eine Einschätzung, die manche Experten nicht teilen in diesen Tagen; für diese Schitourengeher letztlich ohne Auswirkung, sie hatten den Lagebericht ohnehin nicht konsultiert. Der Führer der Gruppe und der Zweite sind weg, der Dritte bis zu den Knien verschüttet, der Letzte wird auf den abgehenden Schollen lediglich umgeworfen, ein paar Meter nach unten gespült, aber nicht vom Schnee überfahren. Hastig beginnen die zwei Übriggebliebenen mit der LVS-Suche, kriegen aber kein Signal, auf dem ganzen Lawinenkegel – so groß etwa wie ein Fußballfeld – gibt es keine Antwort. Vielleicht ahnen sie auch schon, dass ihre Kameraden ihr LVS nicht eingeschaltet hatten, einen entsprechenden Check beim Start am Morgen hatte man nicht durchgeführt. Verzweifelt wird nun versucht, mit dem Handy Hilfe herbeizuholen, doch gibt es an dieser Stelle keine Netzabdeckung; einer der beiden steigt schließlich in die Schi, fährt etwa 200 Höhenmeter ab und kann dort endlich den Notruf an die Landesnotrufzentrale in Bozen absetzen. Es ist 9.47Uhr. Um 10.05 Uhr sind bereits zwei Rettungshubschrauber in der Luft. Bald nacheinander treffen die EC 135 des Aiut Alpin Dolomites und die BK 117 der Landesflugrettung (Pelikan I) an der Unglücksstelle ein; sie haben Lawinenhunde an Bord, einen von der Flugbasis des Aiut Alpin Dolomites in Gröden und jenen des BRD Antholz, den man zusammen mit den BRD-Männern im nahe gelegenen Weissenbacher Tal aufgenommen hatte. Rasch wird der erste Hund über die Lawine geführt, doch er ist unsicher, zeigt nicht sauber an. Überall ein Höllenlärm, inzwischen ist auch der Hubschrauber der Finanzwache aus Bozen eingeflogen, eine schwere, große Agusta Bell 412. Die Maschinen wechseln sich ab, holen Flug um Flug Bergretter und Feuerwehrleute von der Einsatzzentrale in St. Johann unten im Ahrntal. Die ersten Sondierketten werden zusammengestellt, suchen nach dem Korridorverfahren die ersten Streifen durch. Die Hunde haben getauscht, jener aus dem Weißen-
bacher Tal schlägt im linken, westlichen Teil des Kegels an; eine der Sondierketten wechselt nach links hinüber, rastert das vom Hund angezeigte Areal.
VERSORGUNG AM LAWINENKEGEL
Das Arbeiten am Unglücksort gestaltet sich extrem schwierig. Taumelndes Voranstochern in der Wüste aus verkeilten Schollen, keine Verständigung mit der Landesnotrufzentrale, Funkloch am Lawinenkegel. Um 11.00 Uhr ein erster Hoffnungsschimmer aus der Mitte der Sondenkette –Latsche oder Mensch? Mit den großen Metallschaufeln des BRD St. Johann geht das Graben schnell und es dauert nur 15 Minuten, bis die von der Sonde angezeigte Tiefe von knapp 3 Metern erreicht ist. Dort trifft man auf den ersten Verschütteten, er liegt auf dem Rücken und der Lawinenhundeführer arbeitet sich behutsam zum Kopf des Opfers vor. Es ist unser Patient und er scheint vorerst unsagbares Glück gehabt zu haben. Eine große festgepresste Schneescholle hatte sich über seinen Kopf geschoben und damit einen 10 cm hohen Hohlraum gebaut, so groß wie die Schublade eines Nachtkästchens.
Schaufelmannschaft am 3 m tiefen Grabungsloch (Oskar Lechner, BRD St. Johann)
Er ist nach 1 Stunde und 40 Minuten Verschüttungsdauer bewusstlos, aber die Atemwege sind frei und als beim Vergrößern der Atemhöhle ein paar Krümel Schnee in seinen Mund fallen, zeigt er einen schwachen Hustenstoß. Der beistehende Arzt stellt vorhandene Atmung und Kreislauf fest, es ist nun 11.20Uhr. Beim Vorgraben zum ersten Verschütteten stößt man in etwa gleicher Tiefe auf einen zweiten Rucksack, es ist jener des Gruppenführers, der knapp daneben zu Liegen gekommen war, ebenfalls auf dem Rücken. Auch sein Kopf wird schnell freigewühlt, doch wird sofort klar, dass die Lage aussichtslos ist. Eine Atemhöhle ist nicht vorhanden, Mund und Nase sind mit Schnee ausgemauert. Eine zunächst von den Bergrettungsmännern begonnene Reanimation wird von den Ärzten abgebrochen. Der Gruppenführer ist tot. Nachdem der Patient aus dem Loch befreit ist, wird sofort die Intubation vorbereitet. Gezielte Abwehrbewegungen auf Schmerzreiz erfordern eine Narkose, [welche mit Propofol 50 mg und Succinylcholin 100 mg über eine Vene am rechten Handrücken eingeleitet wird]. Nach [orotrachealer] Platzierung des Tubus wird bei laufender Infusion von NaCl 0,9 % [mit Vecuronium] nachrelaxiert. Im Anschluss an die Intubation ist der Puls an der Halsschlagader weiterhin gut tastbar mit einer Frequenz von etwa 60/min. Zehn Minuten später, um 11.30 Uhr erfolgt die Messung der Körperkerntemperatur über die tympanale (Trommelfell-) Temperatursonde des Hubschrauber-Defis (MRL PIC), sie ergibt 22°C. Der Patient wird nun vorsichtig auf die Vakuummatratze gelagert und mit Alufolien isoliert, einige kleine chemische Wärmebeutel (wie sie in Sportgeschäften erhältlich sind) werden aktiviert und auf den Brustkorb gelegt (große Wärme-Gel-Kissen, wie sie die Bergrettung vorrätig hält, sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Grabungsort).
ABTRANSPORT DES PATIENTEN
Um 11.35Uhr ist der Patient eingepackt und transportfertig, doch folgt nun ein dramatischer, unerklärlicher Zeitverlust, dessen Ursache auch im Nachhinein nicht mehr exakt analysiert werden kann. Funkprobleme am Lawinenkegel, die Hubschrauber aus Geländegründen weit abseits vom Unfallsort, Uneinigkeit darüber, ob der Patient zum Hubschrauber oder umgekehrt verbracht werden soll, führen dazu, dass dieser erst nach weiteren 25 Minuten vom Behandlungsort direkt aufgewindet wird. Um 12.11 Uhr ist der Heli in der Luft Richtung Krankenhaus Bruneck, der Flugarzt bestätigt via Funk stabile Kreislaufverhältnisse.
Aufwinden des Lawinenopfers (Oskar Lechner, BRD St. Johann)
Danach wird der Tote ausgeflogen, seine Körperkerntemperatur betrug ebenfalls 22°C. Unterdessen hat sich unbemerkt von den Rettungsmannschaften und Ärzten eine zweite folgenschwere Panne ereignet. Da aus dem Funkloch am Unglücksort keine Verbindung mit der Landesnotrufzentrale in Bozen möglich ist, läuft die einzige Vermittlung der Informationen über die Piloten der Hubschrauber, die auf ihren unablässigen Transportflügen aus dem Tal herauf in der Luft Verbindung zur LNZ (Landesnotrufzentrale) 118 aufnehmen können. Aus einem dieser Hubschrauber erfährt die Zentrale die schicksalsträchtige Nachricht, dass beim Überlebenden keine Klarheit bezüglich einer Atemhöhle vorliege, eine offensichtliche Ungenauigkeit oder Desinformation, die dem diensthabenden Arzt der Notrufzentrale daraufhin die einzig mögliche Triagevariante vorgibt. Und statt dass unser Patient nun direkt an eine Klinik mit Herz-Lungen-Maschine geflogen wird, wie es das IKAR-Protokoll für die reale Situation dieses Patienten vorsieht, wird er – gemäß den Vorgaben bei unsicherer Atemhöhle – an das nächstgelegene Krankenhaus zur Kalium-Bestimmung transportiert. Die Höhe des Kaliumspiegels im Blut dient nämlich als Indikator des Zellsterbens im Gehirn (eine Chance auf Wiederbelebung besteht nur bis 12 mmol/L).
Um 12.15 Uhr wird die Intensivstation des Krankenhauses Bruneck über den Anflug der EC 135 des Aiut Alpin Dolomites informiert, zwei Ärzte begeben sich zum Dachlandeplatz. Um 12.18Uhr landet die Maschine, es ist hier windstill und sonnig, nicht besonders kalt. Nach Öffnen der Seitentüre berichtet der Flugarzt, dass der Patient während des Fluges einen Kreislaufstillstand erlitten hätte, nun seit einigen Minuten pulslos sei. Rasch wird der Flugrettungssack aus dem Heli gezogen und neben den Kufen auf dem Landeplatz geöffnet, dabei wird die venöse Leitung am Handrücken ausgerissen. Der Defi-Monitor zeigt Kammerflimmern, sofort wird mit der Herzdruckmassage begonnen. Ein von vorneherein wenig erfolgversprechender Defibrillationsversuch misslingt, da die Akkus des Defibrillators leer sind, vermutlich hatte ihnen die Kälte am Lawinenkegel den Rest gegeben. Unter laufender Reanimation kann ausreichend Blut aus einer Vene [Vena jugularis interna] am Hals gewonnen werden, nach frustranen Punktionsversuchen über die Leistengefäße. Einer der Ärzte läuft in die Intensivstation zur Blutgasanalyse. In der Zwischenzeit wird ein neuer venöser Zugang am rechten Handrücken gelegt sowie zwei Kontrollmessungen der Kerntemperatur durchgeführt, wieder mit der tympanalen Sonde des Heli-Defis; sie ergeben 21,7° und 21,9°C. Drei Minuten später liegen die Ergebnisse der Blutgasanalyse vor: pH 6,877,
PCO2 111 mmHg,PO2 23,3 mmHg,HCO3 9,4 mmol/L,Kalium 4,3 mmol/L,
Natrium 140 mmol/L,Calcium 1,30 mmol/L,Chlorid 103 mmol/L,Gluko-
se 277 mg/dl,Laktat 105 mg/dl,Base-Excess –12,3 mmol/L.
Bestärkt durch die ausgezeichneten Kaliumwerte wird abermals die Univ.-Klinik Innsbruck kontaktiert. Mit nur kurzer Reanimationsunterbrechung wird der Patient wieder eingeladen, ein Rettungssanitäter des Weißen Kreuzes zur Unterstützung der Heli-Crew mit an Bord genommen. Er sollte seine Hände nicht mehr vom Brustkorb des Lawinenopfers nehmen, bis in den Herz-OP. Um 12.28Uhr hebt der RTH vom Dachlandeplatz ab. Nach dreiminütigem Auftanken in der Nähe des Krankenhauses geht es unter fortgesetzter Reanimation endgültig Richtung Innsbruck, in gerader Linie über die Zillertaler Alpen. Um 13.15 Uhr landet die EC 135 auf dem Hubschrauberturm der Chirurgischen Universitätsklinik Innsbruck. Noch immer unter Reanimation wird der Patient in den Schockraum gebracht. Der Patient hat bis hierher schon unglaubliches Glück gehabt. Durch eine Reihe von schicksalhaft günstigen Zufällen hat er alle Voraussetzungen, vielleicht ohne allzu große Schäden davonzukommen. Die wichtigste Weichenstellung für sein Überleben allerdings spielte auf einer anderen Ebene. Der Februar des Jahres 2005 ist eine schlechte Zeit für Tourengeher, besonders in Nordtirol; der Winter wird später als einer der opferreichsten der letzten 20 Jahre in die Statistik eingehen. Und er ist ein noch schlechterer Monat für die Ärzte der Univ.-Klinik Innsbruck. Allein in der Woche vor dem 19. 02. waren 5 verschüttete Tourengeher unter Reanimationsbedingungen eingeflogen worden, und alle waren sie trotz Maximaltherapie spätestens zwei Tage später an den Folgen des erlittenen Sauerstoffmangels verstorben. Frustration machte sich breit unter den behandelnden Teams, vor allem aber der berechtigte Zweifel, ob die Selektion der Lawinenopfer vor Ort nach den Kriterien der Lawinentriage bei den Rettungsmannschaften im Gelände wohl korrekt durchgeführt würde. Auch für unseren Patienten mussten diesbezügliche Zweifel zuerst ausgeräumt werden. Auch eine ansonsten für Übernahmen sehr disponible Struktur wie die Univ.-Klinik hat das Recht auf kritische Fragen. Dem diensthabenden Arzt in der LNZ 118 in Bozen gelang die Überzeugungsarbeit, der Patient durfte fliegen.
WEITERBEHANDLUNG IN DER KLINIK
Beim Eintreffen in den Schockraum (13.20 Uhr) zeigt sich weiterhin ein Kammerflimmern. Der Versuch einer Defibrillation bleibt erfolglos. Der Patient wird unverzüglich in den kardiochirurgischen Operationssaal gebracht, wo bei einer ösophageal-gemessenen Körperkerntemperatur von 24°C und zwei weiteren
erfolglosen Defibrillationen um 13.45 Uhr der Anschluss an die Herz-LungenMaschine (HLM) erfolgt. Die Kanülierung erfolgt perkutan über die Leistengefäße. Um 14.45 Uhr weist der Patient eine ösophageal gemessene Temperatur von 34,5°C auf und nach 5 Defibrillationen einen Sinusrhythmus. Seit Auftreten des Kammerflimmerns sind in der Zwischenzeit 150 Minuten vergangen.
Patient mit funktionslosem LVS-Gerät im Herz-OP Univ.-Klinik Innsbruck. Bereits eingebaut die Gefässzugänge in der Leiste für die Herzlungenmaschine (Anton Jeller, Kardiotechnik, Univ.-Klinik Innsbruck)
Beim Abgang von der HLM zeigt sich ein ausgeprägtes Lungenödem, etwa 600 ml einer leicht schaumigen klaren Flüssigkeit können endotracheal abgesaugt werden, der Wedge-Druck liegt bei 19 mmHg und der systolisch pulmonale Druck bei 31 mmHg. Das behandelnde Team entscheidet sich für eine venoarterielle extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO), um eine Entlastung der hypothermie-indizierten Herzpumpschwäche zu erzielen. Gleichzeitig wird mit einer positiv inotropen Therapie mit Milrinon in einer Dosierung von 1,4 µg/kg/min über 15 Minuten und dann 0,5 µg/kg/min, Adrenalin (0,053 µg/ kg/min) und Dopamin in Nierendosis (2 µg/kg/min) begonnen. Der Patient wird um 17.30Uhr mit ECMO und Katecholaminsupport kreislaufstabil und normotherm (36,3°C ösophageal gemessen) auf der Intensivstation aufgenommen. Im weiteren Verlauf wird eine pflegeadaptierte Analgosedierung durchgeführt.
Am dritten Tag erfolgt um 15.00Uhr der Ausbau der ECMO. Nach Reduktion der Analgosedierung beginnt der Patient nach weiteren zwei Tagen selbst zu atmen und klart in der Folge rasch auf. Die Katecholamine und Milrinon können stufenweise reduziert und abgesetzt werden. 6 Tage nach der Lawinenverschüttung kann der Patient problemlos extubiert werden. Er ist in der Folge immer wach und orientiert und kann am Folgetag zur weiteren Betreuung auf die unfallchirurgische Normalstation verlegt werden. Aufgrund einer therapiebedürftigen posttraumatischen Belastungsreaktion wird der Patient nach 1 Woche für weitere 3 Tage auf die psychiatrische Abteilung des Heimatkrankenhauses verlegt. Danach kann der Patient in häusliche Pflege entlassen werden. Der Patient zeigt einen weitgehend unauffälligen psychopathologischen und neurologischen Befund und kann kurze Zeit nach dem Ereignis wieder seiner beruflichen Tätigkeit nachgehen.
DISKUSSION
22°C nach 100 Minuten Verschüttung:
Die viel zitierte durchschnittliche Abkühlungsgeschwindigkeit von 3°C pro Stunde umfasst den gesamten Zeitraum zwischen Verschüttung, Bergung und Transport ins Krankenhaus [1, 3, 4, 21]. Unser Patient weist nach einer etwas 100-minütigen Lawinenverschüttung eine Körperkerntemperatur von lediglich 22°C auf. Mit einer Abkühlungsrate von ca. 8,6 – 9°C/h ist der vorliegende Fall eine Rarität. Grissom et al. (9) konnten aufzeigen, das die Auskühlungsgeschwindigkeit eines Lawinenverschütteten beim Vorliegen einer Hyperkapnie (1,3 ±0,5°C/h bei ETCO2 59,6 ±7,4 mmHg) doppelt so hoch ist wie bei Normokapnie (0,6 ±0,6°C/h bei ETCO2 34,2 ±5,4 mmHg). Sie führen diese Daten auf eine Herabsetzung der Temperaturschwelle, bei der ein kälteinduziertes Shivering auftritt, und auf einen gesteigerten Wärmeverlust durch Verdunstung einerseits und Erwärmung der Einatemluft durch hyperkapnieinduzierte Hyperventilation andererseits zurück. Wagner et al. (31) und Johnston (14) et al. konnten in vorausgehenden Studien ähnliche Testergebnisse erzielen. Die Hypoxie kann unabhängig von einer vorliegenden Hyperkapnie ebenfalls die Auskühlungsgeschwindigkeit erhöhen (15). Die Vermutung liegt also nahe, dass Abkühlungsgeschwindigkeiten nicht nur von äußeren Bedingungen wie Wind, Feuchtigkeit, Temperatur und dem Vorliegen einer Atemhöhle, sondern auch von individuellen Faktoren wie Köperkonstitution, Schwitzen, Kleidung, ETCO2, paO2, vorliegenden Verletzungen v. a. SHT mit Störungen der Thermoregulation und anderen unbekannten Variab-
len abhängen. Je rascher es zu einer durch den Anstieg des arteriellen CO2bedingten Bewusstlosigkeit und Versagens des Kältezitterns und einem Absinken der Körperkerntemperatur und der damit verbundenen Reduktion des O2Bedarfs kommt, umso wahrscheinlicher wird ein Überleben. Ein Absinken der Körperkerntemperatur von 1°C senkt den O2-Bedarf um immerhin 6 % (33). Die Größe der Atemhöhle, die Schneebeschaffenheit, psychologische Faktoren, Unterschiede in der individuellen Atemantwort auf Hypoxie und Hyperkapnie und unbekannte Faktoren sind nach Brugger et al. (5) auch der Grund für die interindividuellen Unterschiede im Absinken der SpO2 und damit überlebensentscheidend. Das ungewöhnlich rasche Absinken der Körperkerntemperatur im vorliegenden Fall dürfte wohl hauptverantwortlich sein nicht nur für das Überleben, sondern auch für das sehr gute neurologische Outcome des Patienten.
MUSKELRELAXATION: GEFAHR ODER GEWINN?
Wissenschaftliche Daten zeigen, dass Muskelrelaxantien den Sauerstoffverbrauch beim bewusstlosen hypothermen Patienten aufgrund des wegfallenden Kältezitterns signifikant senken können (13). Die Art des verwendeten Muskelrelaxans spielt dabei keine Rolle. Optimale Intubationsbedingungen einschließlich einer adäquaten Relaxierung sind für eine sichere und rasche Intubation am Lawinenkegel sicherlich wünschenswert. An die Möglichkeit einer suxamethoniuminduzierten Hyperkaliämie bei Hypothermie (19) muss gedacht werden und der Notarzt sollte vor Ort auf die Verwendung eines depolarisierenden Muskelrelaxans wegen der Bedeutung des Kaliumwertes im weiteren Patientenmanagement verzichten. Wurde zur Patientenversorgung trotzdem ein depolarisierendes Muskelrelaxans verwendet, darf ein erhöhter Kaliumwert nicht zum Abbruch der Wiederbelebungs- und Wiedererwärmungsmaßnamen führen. Die Wirkdauer von nichtdepolarisierenden Muskelrelaxantien ist bereits bei milder Hypothermie verlängert (6, 11, 20), Empfehlungen bei schwerer Hypothermie fehlen.
VOLUMENTHERAPIE UND PHARMAKA BEI HYPOTHERMIE
Wenn das Legen eines peripher-venösen Zuganges ohne wesentliche Zeitverzögerung gelingt, sollte entweder warme NaCl 0,9 %- und/oder Glucose 5 %Lösung verwendet werden. Lactathaltige Lösungen sollten wegen der verminderten Metabolisierungsrate bei Hypothermie nicht verwendet werden (3).
Die Metabolisierung von Medikamenten ist verlangsamt, sodass es möglicherweise zu toxischen Plasmakonzentrationen von wiederholt applizierten Medikamenten kommen kann (28). Tierexperimentelle Daten belegen zwar die Steigerung des koronaren Perfusionsdrucks durch Adrenalin, die Überlebensrate konnte aber nicht gesteigert werden (16, 18). Nach den neuen ERC-Leitlinien sollten weder Adrenalin noch andere Medikamente bei einer Körpertemperatur unter 30°C verabreicht werden. Danach sollten die Medikamente halb so oft wie normal und erst bei Erreichen einer Normothermie nach üblichen Protokollen verabreicht werden (28).
DEFIBRILLATION: WO LIEGT DIE IDEALE TEMPERATUR?
Die Frage, wann und wie oft eine Defibrillation bei einem schwer hypothermen Patienten überhaupt durchgeführt werden sollte, ist nicht geklärt. Wenn ein Versuch misslingt, sollten weitere Versuche erst nach Wiedererwärmung auf über 30°C erfolgen (28). Dass gerade bei niedrigen Außentemperaturen auf eine ausreichende Akkuladung geachtet werden muss, sollte selbstverständlich sein.
WIEDERERWÄRMUNG AN DER HERZ-LUNGEN-MASCHINE
Die Wiedererwärmung schwer hypothermer Patienten an der Herz-LungenMaschine ist ein anerkanntes Verfahren (7, 27, 29, 30, 32). Bislang gibt es keine prognostischen Indikatoren, weder Patientenalter, Typ des kardiopulmonalen Bypasses (femoro-femoral oder atrial-aortal) noch die Ausgangstemperatur sind hilfreich. Patienten, die bereits einen Kreislauf-Stillstand aufweisen, und hypotherme Kletterer oder Lawinenverschüttete weisen eine höhere Mortalität auf als andere hypotherme Patienten. Auch wenn vergleichende Studien über die Effizienz der verschiedenen Erwärmungstechniken fehlen, weist die Erwärmung an der HLM einige wichtige Vorteile auf. Die Gewebsperfusion und die Oxygenierung bleiben bei rascher Erwärmung erhalten. Die Erwärmung hypothermer Patienten mit Herz-Kreislaufstillstand und solcher mit einer Körperkerntemperatur unter 25°C (unabhängig vom Rhythmus) sollte an der HLM erfolgen. Der notfallmäßige perkutane veno-artierelle Bypass über die Femoralgefäße kann nach Schwarz et al. (27) bei Patienten mit prolongiertem kardiogenen Schock oder Herz-Kreislauf-Stillstand hilfreich sein. Patienten mit stabilen Vitalparametern und einer Temperatur zwischen 25 und 28°C können sowohl an der HLM wie durch andere Techniken wiedererwärmt werden (30).
REPERFUSIONS-LUNGENÖDEM UND VENO-ARTERIELLE ECMO
Lungenödeme nach Erwärmung an der Herz-Lungen-Maschine sind je nach Untersuchungskollektiv sehr selten bis häufig (7, 32). In unserem Fall kam es nach Erreichen der Normothermie zu einem schweren so genannten Reperfusions-Lungenödem. Das behandelnde Team entschied sich aus folgenden pathophysiologischen Überlegungen für eine veno-arterielle ECMO: Aufgrund der eingeschränkten kardialen Kontraktilität kommt es zu einem Absinken des linksventrikulären Auswurfes, zu einem Anstieg des linksatrialen Druckes und des intrathorakalen Blutvolumens (ITBV). Damit steigt der intravaskuläre Druck in den Bronchialarterien und Pulmonalvenen, was sich bei unserem Patienten im Wedge-Druck von 19 mmHg und einem systolischen pulomonalarteriellen Druck von 31 mmHg zeigte. Der systemische Blutdruck lag bei 60/35 mmHg. Über den Verlust der Integrität der pulmonalen Kapillaren entwickelt sich ein Lungenödem. Durch eine zumindest teilweise Umgehung des Herzens kann das ITBV und damit das Lungenödem deutlich reduziert werden. Die positiven Auswirkungen auf die Oxygenierung sind selbsterklärend. Aufgrund des akut eintretenden klinisch klaren Bildes eines unverzüglich zu behandelnden Lungenödems wurde auf eine weiterführende detaillierte Ursachenforschung verzichtet. Nach 2 Tagen konnte die ECMO nach schrittweiser Reduktion des ECMO-Flusses problemlos entfernt werden. Im weiteren Verlauf zeigten sich keine respiratorischen Auffälligkeiten.
FRÜHZEITIGE KRISENINTERVENTION
Nach einem Lawinenunfall klagen 28 % der Verschütteten und sogar 41 % der Ganzkörperverschütteten zumindest vorübergehend über psychische Belastungsreaktionen wie Schlafstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit; Angst und Schuldgefühle. 18 % der Ganzkörperverschütteten zeigen diese Beschwerden über Jahre. Diese Zahlen zeigen deutlich, dass die Problematik wohl bislang unterschätzt wurde und zeigen die Notwendigkeit einer frühzeitigen Krisenintervention (2). Die in unserem Fall erfolgte Verlegung auf die psychiatrische Abteilung des Heimatkrankenhauses ist damit daraus gerechtfertigt.
FAZIT FÜR DIE PRAXIS
Neben der Verschüttungsdauer und dem Vorhandensein einer Atemhöhle ist die Körperkerntemperatur eine wichtige Entscheidungshilfe für den Notarzt am Lawinenkegel Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen und lückenlos bis zum
nächsten Krankenhaus mit Intensivstation oder bis zum Anschluss an die HerzLungen-Maschine fortzusetzen. Kann eine Klinik mit HLM bei schwerer Hypothermie und vorhandener Atemhöhle nicht direkt angeflogen werden, kann das nächstgelegene Krankenhaus angeflogen werden, um dort eine Serumkaliumbestimmung zur Entscheidungshilfe durchzuführen. Einzelne Fallberichte über das positive neurologische Outcome von schwer hypothermen Patienten sollten den Notarzt vor Ort ermutigen, – trotz scheinbar infauster Prognose – Wiederbelebungsmaßnahmen zu beginnen und den schwer hypothermen Lawinenverschütteten mit Atemhöhle in eine Klinik mit der Möglichkeit einer Wiedererwärmung mittels HLM einzuweisen.
DANKSAGUNG
Für die Überlassung von Fotos Oskar Lechner, BRD St. Johann; Anton Jeller, Kardiotechnik, Univ.-Klinik Innsbruck
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Bernd Schatz, Michael Grasslober, Michael Fellinger, Franz Josef Seibert, Wolfgang Seggl
Knieprobleme beim Bergsteigen
Knee problems in mountaineering
SUMMARY
Due to long-term overuse and misuse, the knee joint in active mountaineers is subjected to the most intensive stress of any joint in the locomotor system and is therefore susceptible to damage and injury. With available technology, acute injuries are now readily diagnosed and should be referred to specialists promptly. New surgical techniques will usually allow complete recovery. Misdiagnosed injuries to the ligaments, tendons, cartilage and meniscus of the knee that have become chronic are much less amenable to treatment. Mismatch of the anatomical axes, mostly varus deformity, in lower extremity – idiopathic or secondary, following undiagnosed rupture of the anterior cruciate ligament –later leads to serious problems, especially in the knee joint, such as tibiofemoral osteoarthritis. Mountain climbers should always carry ski or hiking poles and also use them, especially when going downhill, to minimize stress to the knee. A slower pace reduces the adduction moment and can decrease the severity of tibiofemoral osteoarthritis.
Keywords: Knee injuries, anterior cruciate ligament, varus deformity, meniscus, cartilage, hiking poles
ZUSAMMENFASSUNG
Das Kniegelenk stellt bei aktiven Bergsteigern mit Abstand das am stärksten belastete Gelenk des Bewegungsapparates dar. Die daraus resultierenden Schäden werden meist erst bei lange andauerndem Missverhältnis zwischen Belastung und Belastbarkeit erkennbar. Akute Kniegelenksverletzungen können heute durch eine verbesserte und frühzeitige Diagnostik rasch und sicher erkannt werden und sollten auf jeden Fall einem Spezialisten vorgestellt werden. Heute stehen auch neue, verbesserte chirurgische Techniken zur Verfügung, die meist zur vollkommenen Rehabilitation des Bergsteigers führen. Die Folgen nicht
erkannter oder inadäquat behandelter Verletzungen können besonders Bänder, Sehnen, Knorpel und Menisci dauerhaft schädigen, für deren Behandlung dann trotz aller Fortschritte nur unzureichende Behandlungskonzepte vorhanden sind. Besonderes Augenmerk gebührt der chronischen Fehlbelastung durch Achsenabweichung, zumeist als Varusstellung der unteren Extremität. Diese kann primär vorliegen oder sich nach übergangener Kreuzbandruptur oder medialer Meniskusläsion sekundär einstellen und besonders in mittlerem Lebensalter zum schwer behandelbaren Zustandsbild der Varusgonarthrose führen. Bergsteiger sollten immer angepasste Bergstöcke mit sich führen und ein moderates Gehtempo, vor allem beim Bergabgehen, einhalten, um einerseits großen Belastungen vorzubeugen und bei bereits vorliegender Varusgonarthrose den Gelenksstress zu minimieren.
Schlüsselwörter: Knieverletzungen, vorderes Kreuzband, Varusfehlstellung, Meniskus, Knorpel, Bergstöcke
EINLEITUNG
Die Wahrscheinlichkeit, dass bei Bergsteigern im Laufe ihrer aktiven bergsteigerischen Laufbahn Knieprobleme auftreten, ist sehr groß. Das Kniegelenk stellt mit Abstand das am häufigsten pathologisch veränderte Gelenk bei Alpinisten dar. Berghold berichtete, dass 80% einer befragten Bergsteigergruppe über gelegentliche bis regelmäßige Beschwerden am Bewegungsapparat klagten, wobei Kniegelenksprobleme mit 67% an erster Stelle standen (1). Patienten mit akuten Verletzungsmustern am Kniegelenk, insbesondere mit „verdrehtem Kniegelenk“, sollten heutzutage durch den flächendeckenden Einsatz der Flugrettung rasch und sicher in stationäre Behandlung kommen. In diesem Zusammenhang ist allerdings dringend davor zu warnen, eine solche „Verdrehsituation“ zu bagatellisieren und eine Bergtour fortzusetzen. Oftmals können selbst schwere Verletzungen wie Rupturen am vorderen Kreuzband vor Ort nicht diagnostiziert werden und sind tückischerweise oft auch relativ asymptomatisch. Gerade die „unhappy triad“, eine Kombinationsverletzung von vorderem Kreuzband, medialem Seitenband und Meniskus, führt zu einer erheblichen akuten Instabilität am Kniegelenk und könnte bagatellisiert dazu führen, dass das Kniegelenk bei der nächsten Richtungsänderung völlig luxiert und dabei schwere Zusatzschäden am Gefäß-Nervenbündel der Poplitealregion verursacht. Bei aktiven Bergsteigern können Verletzungen im Spital durch den breit zugängigen Einsatz von Magnetresonanztomographie vom Spezialisten rasch erkannt und durch moderne Therapiekonzepte behandelt werden. Dadurch erhöht sich die Chance auf eine folgenlose Ausheilung.
VORDERES KREUZBAND
Nicht unmittelbar versorgte Risse des vorderen Kreuzbandes führen im Laufe der folgenden Jahre zu einer signifikanten Erhöhung der Belastung im medialen Kniegelenkskompartment mit konsekutiver Schädigung des Innenmeniskus und Gelenksknorpels einerseits und zu einer langsam über Jahre entwickelnden Verschiebung der Belastungsachse im Sinne einer Varusgonarthrose, welche nach wie vor eine nicht immer einfach zu behandelnde Situation darstellt (2). Risse der vorderen Kreuzbänder werden heutzutage beim jungen Sportler meist durch eine Sehnenersatzplastik mittels M. semitendinosus-, M. grazilis- oder Patellarsehne ersetzt (Abb. 1).
Abb.1: Transplantatentnahme der Semitendinosussehne für die vordere Kreuzbandplastik
MENISKUSLÄSIONEN
Meniskusrisse entstehen meist durch eine forcierte Flexions-Rotationsbewegung im Kniegelenk. Klinisch steht meist eine schmerzhafte Flexions- und Rotationstestung im Vordergrund. Akute Meniskusverletzungen mit Blockierungssymptomatik können am Berg eine bedrohliche Situation darstellen und deuten auf einen möglichen Korbhenkelriss hin (Abb. 2).
Abb.2: Verschiedene Formen von Meniskusrissen
Eine Meniskusdeblockade kann vom Geübten durch Traktion und Extension versucht werden; ein rascher Abtransport des Patienten ist in jedem Fall angezeigt. Degenerativ vorgeschädigte Menisci werden nach einer Ruptur meist sparsam arthroskopisch reseziert. Basisnahe, gut durchblutete Meniskusrisse, häufig mediale Korbhenkelläsionen, sollten heutzutage rekonstruiert werden. Verschiedene Nahtsysteme und chirurgische Techniken stehen zur Verfügung (Abb. 2). Komplette Meniskusresektionen stellen einen primären Faktor für eine vorzeitige Entwicklung der Osteoarthrose dar (3). Meniskusersatz oder Meniskustransplantationen sollten speziellen Zentren vorbehalten bleiben und sind derzeit noch im experimentellen Stadium.
VORDERER KNIESCHMERZ
Ein häufiges Problem stellt bei Bergsteigern der vordere Knieschmerz dar. Das „anterior knee pain syndrom“ stellt diagnostisch wie therapeutisch eine große Herausforderung für alle sportinteressierten Kollegen dar. Klinisch äußert sich das Krankheitsbild meist als belastungsabhängiger Schmerz vor oder unmittelbar hinter der Kniescheibe. Differentialdiagnostisch kommen Läsionen des Knorpels, des Sehnen- und Bandapparates, des femoro-patellaren Gleitlagers
als auch sämtlicher Kniebinnenstrukturen als Schmerzauslöser in Frage. Darüber hinaus können übergeordnete Regionen wie Hüfte oder Lendenwirbelsäule Schmerzen in die Knieregion projizieren. Die Abklärung erfolgt über den Fachmann, die Therapie ist meist konservativ durch spezielle Physiotherapie. Sehr häufig liegt bei Bergsteigern durch die gut trainierte ventrale Oberschenkelmuskulatur eine Verkürzung vor, worüber der Fersen-Glutealabstand rasch Aufschluss geben kann. Ein Dehnungs- und Muskelstärkungsprogramm führt oftmals zu einer Verbesserung (4).
KNIEGELENKSERGUSS
Ergüsse des Kniegelenkes stellen eine ernsthafte, funktionsbeeinträchtigende Situation dar. Neben akuten Verletzungen mit Hämarthros können vor allem diffus-degenerative Knorpelschädigungen zu Reizergüssen führen, die einer klinischen und radiologischen Abklärung bedürfen. Selten sind auch internistische Ursachen wie beispielsweise Gerinnungsstörungen in Betracht zu ziehen. Unter gleichzeitiger Gabe nicht steroidaler Antiphlogistika lässt sich auch unterwegs (Trekking) ein akuter Reizerguss oftmals einfach mit lokalen Topfen-MolkeUmschlägen behandeln. Punktionswürdige Ergüsse sollten in der Behandlung allerdings dem erfahrenen Arzt vorbehalten bleiben.
KNORPELLÄSIONEN
Akuten Knorpelschäden am Kniegelenk kann heute mittels neuartiger chirurgischer Therapieverfahren mit guten Ergebnissen begegnet werden. Dabei haben sich das osteochondrale Transfersystem („Mosaikplastik“) sowie bei gegebener Indikation die Chondrozytentransplantation aus in vitro gezüchteten Knorpelzellen etabliert (5). Chronische Schäden am hyalinen Gelenksknorpel sind oftmals schwer zu behandeln, wobei physiotherapeutische Therapieansätze meist einer chirurgischen Intervention vorzuziehen sind.
VARUSGONARTHROSE
Durch konsequente Verwendung von Bergstöcken beim Bergsteigen kann vor allem beim Bergabgehen eine signifikante Reduktion der Belastung auf das Kniegelenk erreicht werden. Bei vorliegender Varusgonarthrose können zudem eine veränderte Schritttechnik und längere Gehzeiten am Berg zielführend sein (6). Achsenabweichungen und Längendifferenzen der unteren Extremitäten sind bei
allen Problemen rund ums Knie zu berücksichtigen. In einem Teil der Fälle kann die Korrektur der Belastungsachse notwendig werden. Aber weder Gonarthrose noch ein künstlicher Kniegelenksersatz durch eine Totalendoprothese müssen zwingend das Ende der bergsteigerischen Laufbahn darstellen.
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Gerhard Wirnsberger
Eingeschränkte Nierenfunktion –Worauf müssen wir bei Patienten beim Bergsport achten?
Renal insufficiency – What do we do to take care of patients aiming for sporting activities at high altitude?
SUMMARY
Renal insufficiency has become of increasing clinical importance over the past decades. In at least 30 % of the 400.000 registered diabetics and 800.000 patients with hypertension exhibit renal proteinuria. Standard renal laboratory tests such as evaluation of serum creatinine of creatinine-clearance are of limited value in patients undergoing sporting activity. Therefore, early detection of proteinuria and/ or renal haematuria are of increasing clinical importance. Nutritional modifications, like protein and sodium chloride restriction, are basic standards in the treatment of patients at ”renal risk“. These modifications have to be taken in consideration with the subjective nutritional habitus. Furthermore, water supply has to be objected. Especially in aged patients physiological changes in the individual water balance are of utmost importance when diuretic therapy is taken into consideration. In chronic renal insufficiency secondary complications such as metabolic acidosis/ high potassium and renal anaemia are points of awareness in patients who go mountain climbing.
Keywords: mountain climbing, renal insufficiency, proteinuria, haematuria, dietary recommendation in renal insufficiency
ZUSAMMENFASSUNG
Bei der sportmedizinischen Beurteilung von bergsportlichen Aktivitäten sollte man bedenken, dass Nierenfunktionsstörungen in der Bevölkerung viel häufiger auftreten als gemeinhin angenommen. Die zwei Hauptgruppen an renal gefährdeten Patienten sind die zur Zeit 400.000 in Österreich registrierten Diabetiker sowie 800.000 Hypertoniker.
Um das renale Problem früh zu erfassen, sind die klassischen Nierenfunktionstests nur bedingt geeignet. Bessere Parameter sind der frühe Nachweis einer pathologischen Proteinurie und/oder einer renalen Hämaturie. In beiden erwähnten Patientenkollektiven ist mit einem manifesten Nierenschaden, begleitet von einer Albuminurie, in circa 30 % zu rechnen. Ein wichtiger Therapieansatz ist eine individuell angepasste eiweiß- und kochsalzarme Ernährung, wobei auf den individuellen Ernährungszustand, nicht nur im Rahmen sportlicher Betätigung, genau zu achten ist. Ebenso wichtig ist eine vom Krankheitsstadium abhängige bilanzierte Flüssigkeitszufuhr. Speziell bei älteren Patienten spielen die physiologischen Veränderungen im Wasser- und Elektrolythaushalt mit ihren Konsequenzen für eine erwogene Diuretika-Therapie eine zusätzliche Rolle. Bei einer bereits chronisch fortgeschrittenen Niereninsuffizienz sollte man an die bereits frühzeitig auftretenden Sekundärfolgen wie metabolische Azidose/ Hyperkaliämie und renale Anämie mit ihren für den Patienten bedrohlichen Konsequenzen denken.
Schlüsselwörter: Bergsport, Nierenfunktionsstörung, Proteinurie, Hämaturie, Nierendiät
EINLEITUNG
Die Erschließung alpiner Regionen für den Massentourismus ermöglicht immer mehr Menschen bergsportlichen Aktivitäten in den verschiedensten Formen nachzukommen, wobei gerade die ältere Generation eine besondere Liebe für die Berge entdeckt hat. Bekanntermaßen wird dabei zu wenig auf die möglichen Gefahren für Leib und Leben geachtet, die nicht nur die besonderen Bedingungen von alpinen Lagen nach sich führen. Von Seiten der Mediziner ist die Auswirkung einer bestehenden Nierenfunktionseinschränkung auf die körperlichen Aktivität in mittleren Gebirgshöhen ein Thema zunehmenden Interesses. Schwerpunktmäßig werden nur wichtige (pathophysiologische) Zusammenhänge und therapeutische Konsequenzen besprochen, sich vertieft mit dieser Thematik auseinander zu setzen würde den Rahmen dieser Abhandlung bei weitem sprengen.
ÄTIOLOGIE VON NIERENSCHÄDEN
Wie aus Abbildung 1 ersichtlich, hat sich das ätiologische Spektrum für Nierenerkrankungen in den letzten Jahren deutlich gewandelt (1). Bedingt durch das
Abbildung 1: Mögliche Ursachen für ein chronisches Nierenversagen
rasche Fortschreiten der Volkskrankheit Arteriosklerose haben die vaskulären Nierenschäden deutlich zugenommen. Speziell die beiden Volkskrankheiten Diabetes mellitus und Hypertonie tragen in diesem Zusammenhang zu dieser Entwicklung bei. Ein Faktum, das uns zu denken geben sollte, da diese Krankheitsgruppe mit ihren kardiovaskulären Folgeerscheinungen prinzipiell vermeidbar wäre. Eine unterschätzte Rolle spielt auch der chronische Medikamentenabusus, wobei in erster Linie die unkontrollierten Einnahmen von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) bei chronischen Schmerzzuständen zu nennen sind. Nebenbei erhöht der Analgetikaabusus das Risiko einen kardiovaskulären Tod zu erleiden, der prinzipiell nicht nur auf die selektiven COXII-Hemmer beschränkt ist, sondern ein gruppenspezifisches Phänomen zu sein scheint (2). Primäre Nierenerkrankungen selbst, wie die Glomerulonephritiden, und immunologische Systemerkrankungen wie der Lupus erythematodes und der Morbus Wegener sowie verschiedene erbliche Nierenerkrankungen (Zystennieren, erbliche Stoffwechselstörungen) sind in Bezug auf ihre Häufigkeit in der Bevölkerung über die letzten Jahrzehnte gleich geblieben.
ALTERSABHÄNGIGE NIERENFUNKTIONSEINSCHRÄNKUNGEN Wie auch bei anderen Organen, z.B. dem Gehirn, kommt es ca. ab dem 40. Lebensjahr zu einer zunehmenden Verschlechterung der „renalen Funktionsreserve“ (Abbildung 2). Darunter versteht man die Bandbreite zwischen der nor-
malen glomerulären Funktionsrate, die bei Gesunden ca. bei 100–140 ml/min. liegt und einer durch eine Eiweißbelastung bis zu 100 % gesteigerte Filtrationssteigerung. Wenn nun zusätzlich eine Durchblutungsstörung eintritt, wie z.B. im Rahmen einer Herzinsuffizienz, kann es bei einem älteren Patienten bedingt durch eine eingeschränkte Funktionsreserve sehr viel schneller zu einem akuten Nierenversagen kommen als bei einem jüngeren. Mit zunehmendem Alter kommt es zu einer Reihe weiterer physiologischer Ver-
Abbildung 2: Altersabhängige Veränderung der Nierenfunktion
änderungen der Nierenfunktion, von denen die wesentlichen in Tabelle 1 beschrieben sind. Besonders erwähnt sei der mit dem Alter zunehmende Natriumverlust, bedingt durch eine verminderte Natriumrückresorption im tubulären Apparat. Die daraus resultierende verminderte Harnkonzentrierung birgt das Risiko einer Exsikkose. In diesem Zusammenhang ist auch ein für diese Altersgruppe typisch gestörter Durstmechanismus zu bedenken, welcher die Betroffenen den drohenden Flüssigkeitsmangel nicht wahrnehmen lässt. Bedeutsam ist auch eine verminderte Wasserstoffionen-Ausscheidung. Diese verstärkt die Neigung zur metabolischen Azidose und verhindert die Kompensation einer etwaigen respiratorischen Azidose. Daneben fördert eine Azidose, ob respiratorisch oder metabolisch bedingt, eine mit dem Alter zunehmende Osteoblas-
Tabelle 1: Altersabhängige Veränderung der Nierenfunktion
teninaktivität und damit direkt die Progression einer bereits bestehenden Osteopenie/Osteoporose (3). Schließlich kommt es im Rahmen einer fortgeschrittenen Nierenfunktionsstörung zu einer erhöhten Kalziumphosphatbelastung und damit zu einem zunehmenden Risiko für diffuse Kalkablagerungen im gesamten Körper (4).
LABORDIAGNOSTISCHE KRITERIEN
Wenn man sich mit den Problemen einer Nierenfunktionseinschränkung auseinander setzt, sollte man sich bewusst sein, dass die klassischen Nierenfunktionstests verschiedene systemimmanente diagnostische Fehler in sich bergen. Das häufig zur Beurteilung herangezogene Serum-Kreatinin ist als diagnostischer Marker an sich schon problematisch, da die Menge des freigesetzten Proteins vom Ausmaß der muskulären Aktivität und der Muskelmasse abhängt, d.h. es macht einen großen Unterschied, ob dieser Wert bei einem muskelbepackten Hochleistungssportler oder einem immobilen, betagten Patienten bestimmt wird. Zudem kann die Niere einen Funktionsausfall durch eine verstärkte Aktivität des autoregulativ wirksamen Renin-Angiotensin-Aldosteronsystems (RAAS) kompensieren, d.h. zwischen einem geschätzten Wert von 50 bis 100 % Nierenfunktion sind normale Kreatininwerte im Serum zu erwarten (Abbildung 3). Die alternativ gebräuchliche Kreatinin-Clearance birgt dieselbe Unschärfe betreffend die individuelle Muskelmasse in sich. Besser geeignet wären Nie-
Abbildung 3: Verlauf des Serum-Kreatininspiegels im Vergleich zur Nierenfunktrion. Die Pfeile definieren die diagnostischen u/o therapeutischen Zeitpunte (NINS = Niereninsuffizienz, GFR = glomeruläre Filtrationsrate)
Abbildung 4: Prävalenz einer Albuminurie bei den 20+ US-amerikanischen Erwachsenen (5) renfunktionstests auf der Basis einer Inulin-Clearance, die aber aus zeitlichen Gründen für die Routineuntersuchungen nicht machbar sind. Daraus folgt: Klassische Nierenfunktionsparameter sind zur Untersuchung über Vorliegen eines möglichen Nierenschadens nur bedingt geeignet. Alternativ sollte frühzeitig der Nachweis einer pathologischen Proteinurie und/oder einer renalen Hämaturie (= direkter Nachweis von Akanthozyten im Harn) erfolgen. Als Standard wird ein täglicher Proteinverlust von weniger als 0,3 g pro Tag als physiologisch akzeptiert, das entspricht einem Proteinverlust von weniger als 0,2 g pro Liter Harn. Von dieser Menge gehen täglich ca. 20 % als Albumin verloren, und ca. 50 % in Form von Uroprotein oder Tamm-Horsefall-Protein. Ein Frühmarker für eine glomeruläre Nierenschädigung ist der Nachweis eines pathologischen Albuminverlusts. Bei einer Menge von 20–200 mg pro Liter Harn spricht man von einer Mikroalbuminurie. Dieser Terminus deshalb, weil diese Menge unter der Nachweisgrenze des konventionellen Harnstreifentests liegt. Große epidemiologische Studien (Abbildung 4) aus den USA konnten belegen, dass die Prävalenz einer Mikroalbuminurie einerseits von der primären Grunderkrankung, andererseits vom Alter der Betroffenen abhängig ist und mit diesem korrelierend deutlich zunimmt. Interessanterweise wird auch in klinisch „gesunden“ Bevölkerungsgruppen in 23 % aller Fälle eine Mikroalbuminurie gefunden. Diese Beobachtungen konnten in großen epidemiologischen Studien zur Inzidenz von kardiovaskulären Erkrankungen korreliert werden. Diese Ergebnisse etablierten die Mikroalbuminurie als unabhängigen Risikofaktor für die Entwicklung etwa einer koronaren Herzkrankheit (Abbildung 5).
Abbildung 5: Kardiovaskuläres Mortialitätsrisiko versus Albuminausscheidung im Harn (US-amerikanische Bevölkerung 2001) Ziel jeder therapeutischen Maßnahme muss es daher sein, im Rahmen einer Nierenschädigung nicht nur deren Ursachen, sondern auch das Ausmaß des aktuellen Eiweißverlusts zu reduzieren. Zu diesen unspezifisch-therapeutischen Interventionen gehören in erster Linie eine individuell abgestimmte diätetische Führung.
DIÄTETISCHE THERAPIEANSÄTZE
Neben der primär kurativen Intervention und verschiedenen medikamentösen Maßnahmen spielt die ernährungsmedizinische Behandlung eine große Rolle. Die klinische Ernährungsmedizin ist nicht gleichzusetzen mit dem, was sich in den letzten Jahren als Lifestyle-Medizin in der einschlägigen Fachliteratur eingebürgert hat. Zur Ernährungsmedizin gehören nicht Behandlungsmöglichkeiten auf der Basis von Naturheilmitteln chinesischer, indischer oder tibetanischer Herkunft; ebenso nicht die im Sportbereich modern gewordenen Verordnungen von „Functional Food“ oder die Gabe von Nahrungsergänzungsmitteln wie Vitaminen und Spurenelementen. Vielmehr fließen in die Ernährungsmedizin nachvollziehbare wissenschaftliche Erkenntnisse ein, mit denen man diätetisch auf verschiedenen Ebenen die Auswirkungen einer Erkrankung auf den Organismus beeinflussen kann.
WARUM „NIERENDIÄT“?
Bei der eigentlichen Nierendiät (6) gibt es grundsätzlich zwei Therapieansätze (Tabelle 2). Experimentelle und klinische Studien haben bewiesen, dass ein
Tabelle 2: Auswirkungen einer Nierendiät
übermäßiger Eiweißkonsum per se die glomeruläre Filtrationsrate steigert (7). Weiters konnte gezeigt werden, dass sich die Permeabilitätsselektivität des glomerulären Filters erhöht und damit das Risiko eines vermehrten Eiweißverlusts. Weiters ist seit langem bekannt, dass eine Erhöhung des Serum-Phosphatspiegels die Parathormonsekretion der Nebenschilddrüse stimuliert. Zu einer „guten“ Nierendiät gehört weiters eine konsequente Natriumrestriktion, da über eine erhöhte Natriumzufuhr regulative Mechanismen in der Gefäßwand zu einer Vasokonstriktion führen (8). Dieser Effekt spielt bei einem bereits bestehenden arteriellen Hypertonus eine wesentliche Rolle und wird entscheidend vom Body Mass Index und damit vom Körpergewicht beeinflusst (Abbildung 6). Des Wei-
Abbildung 6: Effekt einer bestehenden Adipositas und des Salzkonsums auf den mittleren arteriellen Blutdruck (7)
teren führt ein erhöhter Natriumkonsum zu einer verstärkten tubulären Wasserrückresorption und birgt das Risiko einer Überwässerung und einer damit verbundenen Ödemneigung. Ein wichtiger Punkt im Rahmen der Ernährungsempfehlung ist die adäquate Flüssigkeitszufuhr, die prinzipiell nach der Harnmenge und dem Hydratationszustand des Einzelnen (= „Trockengewicht“) definiert wird. Prinzipiell sollte man nach einer ausreichenden Flüssigkeitszufuhr trachten, die ihre Grenzen aber in der Harnausscheidung hat. In diesem Zusammenhang ist auf die gezielte Verordnung von Diuretika hinzuweisen, welche als so genannte „First-LineTherapie“ im Rahmen der arteriellen Hypertonie eine Renaissance erfahren haben. Es ist zu beachten, dass jedes Diuretikum dosisabhängig ein mehr oder weniger ausgeprägtes Nebenwirkungsprofil zeigt (Abbildung 7). Es besteht das Risiko für Störungen der Glukosetoleranz und einer vielschichtigen Elektrolytentgleisung. Bereits eine latente Hypokaliämie und Hyponatriämie können unangenehme klinische Auswirkungen auf die Muskelkraft und Muskelaktivität haben (9). Gerade bei älteren Patienten mit einer kardialen Vorschädigung bestehen Auswirkungen auf die kardiale Erregungsbildung (10). Nicht zu vergessen ist eine durch Diuretika auslösbare metabolische Azidose mit ihren negativen Auswirkungen auf den Eiweißstoffwechsel (und dem damit verbundenen Risiko einer Katabolie). Die Möglichkeit einer durch die Diuretikagabe bedingten gestörten Funktion der Osteoblasten in Form einer „low-turnover“-Osteopathie erhöht das Frakturrisiko und verzögert die Heilungsprozesse im Knochen. Eiweißkonsum führt auch zu einer angeregten Harnstoff- und Wasserstoffio-
Abbildung 7: Wechselwirkung einer Diuretikatherapie
nenbildung. Durch eine eiweißreduzierte Kost kann eine bereits bestehende Hyperurikämie negativ beeinflusst werden, da eine Eiweißmast in der Regel mit einer vermehrten Purinaufnahme einhergeht. Im Zusammenhang mit diätetischen Verordnungen ist der individuelle Bedarf von Vitaminen zu bedenken, dieser ist weiters von der bestehenden Grundkrankheit und der damit verbundenen Medikation abhängig (11). Eine Nierenfunktionsstörung alleine rechtfertigt nicht die vermehrte Vitaminzufuhr (Tabelle 3). Bei Dialysepflichtigkeit eines Patienten wird der individuelle Vitaminbedarf neben den bereits erwähnten Faktoren vom verwendeten Dialyseverfahren bestimmt (12).
Tabelle 3: Empfohlene Vitaminsupplementierung bei einer chronischen Niereninsuffizienz (11, 12)
SUBJEKTIVE ERFASSUNG DES ERNÄHRUNGSZUSTANDES
Um überhaupt eine Ernährungsempfehlung abgeben zu können, soll primär der Ernährungszustand jedes Einzelnen erfasst werden. Dazu gehören 1. eine genaue Anamnese (Körpergewichtsverlust in den letzten 6 Monaten, das subjektive Ernährungsverhalten bzw. gastrointestinale Symptome, die länger als 2 Wochen dauern); 2. verschiedene anthroprometrische Parameter wie der Body Mass Index (BMI), die Trizeps-Hautfaltendicke, die Messung des Armumfang u.Ä.; 3. bestimmte Laborparameter, wie das Se-(Prä)Albumin, das Se-Transferrin, die Se-Cholinesterase, u.Ä.; und 4. das Ausmaß von konsumierenden Erkrankungen wie eine höhergradige COPD (III/IV) oder Herzinsuffizienz (NYHA III/IV), eine fortgeschrittene maligne Tumorerkrankung oder eine dekompensierte Leberzirrhose (Child C).
Um das Risiko einer Malnutrition auszuschließen, sollten die betroffenen Patienten frühzeitig hochkalorisch ernährt und, falls notwendig, frühzeitig mit einer Zusatznahrung behandelt werden. Wie aus den Beispielen in der Abbildung 8 ersichtlich, sind aber die einzelnen Zusatznahrungen hinsichtlich ihres Kalorien-, Kalium- und Phosphatgehalt unterschiedlich zu bewerten.
Abbildung 8: Vergleich von eiweißreichen Zusatznahrungen
RENALE KOMPLIKATIONEN
Bereits in einem Stadium, in dem der Patient noch nicht die Auswirkungen seiner Nierenfunktionsstörung subjektiv wahrnimmt, können renale Komplikationen im Rahmen von hochalpinen Belastungen sich deutlich negativ auf verschiedene Organfunktionen auswirken (13). Dazu zählen in erster Linie eine metabolische Azidose und damit verbunden das Auftreten einer Hyperkaliämie (Abbildung 9). Eine undiagnostizierte und unbehandelte renale Anämie, wenn auch laborchemisch nur gering ausgeprägt, kann in mittleren Höhenlagen bei durchschnittlichen Belastungen zu einer kardiovaskulären Funktionseinschränkung führen (Abbildung 10). Neben den vielfältigen Effekten auf Organfunktionen und Lebensqualität führt eine anämiebedingte renale Minderperfusion zu einer weiteren Progression des bereits bestehenden Nierenschadens (Abbildung 11). Das erhöhte Mortalitätsrisiko von chronisch Nierenkranken wird auch im außersportlichen Bereich durch die im Rahmen der Grundkrankheit bestehenden Mikroperfusionsstörung und deren kardiovaskulären Auswirkungen bedingt (14). Eine wesentliche Rolle spielt dabei die hypertoniebedingte Entwicklung einer Linksventrikulären Hypertrophie (LVH), die zusätzlich durch eine begleitende renale Anämie begünstigt wird (Abbildung 12). Tatsa-
Abbildung 9: Mögliche Sekundärkomplikationen einer chronischen Niereninsuffizienz. Die Pfeile definieren die Häufigkeit einer bestimmten Komplikation in Relation zum Se-Kreatininspiegel che ist, dass in Österreich höchstens 10 % aller erythropoietinpflichtigen Anämien adäquat behandelt werden, somit eine hohe Dunkelziffer besteht. Die Gründe dafür sind vielfältig, bedeuten für die betroffenen Patienten ein unnötig hohes kardiales Risiko, gerade wenn durch eine vermehrte körperliche Aktivität in größeren Höhen zusätzliche Durchblutungsstörungen auftreten. Epidemiologische Untersuchungen aus dem US-amerikanischen Raum (16) haben gezeigt, dass bei einer eingeschränkten glomerulären Filtrationsrate von
Abbildung 10: Folgen der renalen Anämie für das kardiovaskuläre System
Abbildung 11: Mögliche Auswirkungen einer länger bestehenden renalen Anämie
45 ml/min. entsprechend einem Serum-Kreatinin von 3 mg/dl ca. 45 % der Patienten bereits an einer renalen Anämie leiden (Abbildung 13). In Summe sind chronische Nierenfunktionsstörungen auf Grund ihrer langen klinischen Beschwerdefreiheit ein vielmals unterschätztes Krankheitsbild. Aus diesem Grund sind speziell Kollegen aus dem Gebiet der Alpinmedizin gefordert, im Vorfeld das individuelle Risiko eines Patienten mittels erwähnter Unter-
Abbildung 12:Eingeschränkte Koronareserve bei Anämie und LV-Hypertrophie (15)
Abbildung 13: Prävalenz von Hämoglobinwerten < 13 mg/dl in Abhängigkeit von der Nierenfunktion in der US-amerikanischen Bevölkerung (16) suchungsverfahren abzuschätzen. Die engmaschige Kontrolle gefährdeter Alpinsportler, ihre optimale diätetische und medikamentöse Behandlung, werden nicht nur eine lange Phase einer stabilen Organfunktion gewähren, sondern insbesondere ihren Patienten Lebensfreude, Unabhängigkeit und Freude am Bergsport ermöglichen.
LITERATUR
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Robb Waanders, Wilfried Studer
DARIX: Index für Höhenanpassung
SUMMARY
During exposure to high and extreme altitude a major question in the context of risk and health management concerns the acclimatization state. The standardised Lake-Louise-Acute-Mountain-Sickness-Scoring-System (LL-AMSScore) represents a more or less well known method for addressing this topic. However, in addition to the AMS-Score there is a situation dependent acclimatization factor. This factor takes into account the amount of perceived psychophysical exertion during a mountain tour as well as the factual altitude. Taken together with the acclimatization factor the LL-AMS-Score enables one to calculate an index for altitude exposure (Damgiri-Index or DARIX). The index allows for an easy evaluation of the acclimatization state at altitude ranging from fully acclimatized to severly deficient. Based on the outcome DARIX provides guidelines for managing the next step in acclimatization at high and extreme altitude. Keywords: acclimatization state, Lake-Louise-Acute-Mountain-Sickness-Scoring-System, risk management, prevention, psycho-physical exertion
ZUSAMMENFASSUNG
In der Höhe stellt sich im Sinne des Risiko- bzw. Sicherheitsmanagements zu jedem Zeitpunkt die Frage, wie gut jemand akklimatisiert ist. Diese Frage lässt sich zum einen mit dem standardisierten Lake-Louise-Acute-Mountain-Sickness-Scoring-System (LL-AMS-Score) beantworten. Als potenzierender Faktor kommt jedoch ein Höhenanpassungsfaktor hinzu. Dieser Faktor berücksichtigt das subjektiv empfundene Ausmaß an Anstrengung während einer Tour oder Tagesetappe sowie die Höhe, in der sich jemand aufhält. Aus der Kombination von AMS-Score einerseits und Höhenanpassungsfaktor andererseits wird ein Index für Höhenanpassung (Damgiri-Index bzw. kurz DARIX) abgeleitet. Dieser Index ermöglicht eine relativ einfache Evaluation der Situation in der Höhe sowie eine zuverlässige Einteilung der Höhenanpassung bzw. Störung der Höhenanpassung nach Schweregraden.
Schlüsselwörter: Risiko- & Sicherheitsmanagement, Höhenanpassung, LakeLouise-Acute-Mountain-Sickness-Scoring-System, Prävention, Ausmaß an Anstrengung
EINFÜHRUNG
Lange glaubten die Menschen, dass der Himmel als Lebensraum übernatürlichen Wesen, Göttern, Engeln und Dämonen vorbehalten sei und deshalb den Erdenbewohnern verschlossen bleiben müsse. Die Berge galten in früheren Jahrhunderten als lebensgefährliche Zufluchtsorte (böser) Geister, die dort ihr Unwesen treiben würden. Fromme Hindus und Buddhisten glauben auch heute noch, dass die hohen Gipfel im Himalaja die Throne der Götter sind, und dass ein Eindringen in diese göttlichen Schneewohnungen großes Unheil bringt. Die möglicherweise historisch erste Erwähnung von Auswirkungen der Höhe auf den Menschen entstammt dem berühmtesten Reisebericht des Mittelalters, welchen der venezianische Kaufmann Marco Polo um das Jahr 1300 in genuesischer Gefangenschaft einen Mitgefangenen namens Rustichello aufschreiben ließ. Auf seinen langjährigen Reisen durch Zentralasien über die Seidenstraße hatte Marco Polo mehrmals das Dach der Welt (Pamir-Gebirge) überquert. Dabei mussten der „Kleine“ und der „Große Kopfschmerzpass“ überschritten werden. „Aufgrund der großen Höhe und der Kälte fliegen dort keine Vögel“, ist in dem Reisebericht zu lesen, „und es leben in diesem Land der hohen Berge kaum Menschen“. Bei der Eroberung Südamerikas durch die Spanier drangen diese auf der Suche nach dem Gold der Inkas ständig weiter nach Westen und schlussendlich auch in die Kordilleren vor. Im späten 16. Jahrhundert verfasste der Jesuitenpater José de Acosta in seinem Buch Historia Natural y Moral de las Indias (1590) die erste detaillierte Beschreibung der Symptome der akuten Höhenerkrankung (Kopfschmerzen, Übelkeit und Kurzatmigkeit), wovon „Flachländer“ oft betroffen sind, wenn sie in große Höhen aufsteigen. Im Sanskrit ist bei Pilgern aus den Tiefebenen die Auswirkung einer akuten Höhenexposition seit vielen Jahrhunderten als „DAMGIRI“ bekannt.
DAMGIRI, Sanskrit für Höhenkrankheit Dam = breathlessness / Kurzatmigkeit Giri = Berge DARIX = Damgiri-Index, Index für Höhenanpassung DARIX-Profil = Damgiri-Index im Verlauf
AKUTE HÖHENEXPOSITION
„In memory of Rodolfo ... Died 2nd March of high altitude sickness.“ Kurz vor Macchermo im Gokyo-Tal erinnert in 4400 Meter Seehöhe ein Gedenkstein an die unsichtbaren Gefahren dieser faszinierenden Landschaft, einer Landschaft, die einen mit grandiosen Panoramas, z.B. von der Süd-Wand der 8.150 m hohen „Göttin aus Türkis“ Cho Oyu in immer größere Höhen lockt. Der Preis für diesen atemberaubenden Anblick kann, wie uns Rodolfo Belottis Tod vor Augen führt, sehr hoch sein (siehe Abb. 1). Was kann man tun, wie sich effektiv vor der „unsichtbaren Bedrohung“ schützen? Beim Hypoxia-Symposium 1991 in Lake Louise (Kanada) wurde ein Konsens in Bezug auf diagnostische Kriterien der akuten Höhenerkrankung sowie auf ein Bewertungssystem zur Erfassung der Symptome und deren Schweregrad erarbeitet (1). Ziel dieses standardisierten Verfahrens ist, ausreichend Sensibilität, Genauigkeit und Flexibilität zu bieten, um in vielen verschiedenen Settings Anwendung zu finden und (somit) den Vergleich von Resultaten zwischen Studien und Beobachtungen zu erleichtern. Dazu bewertet das Lake-LouiseAcute-Mountain-Sickness-Scoring-System (LL-AMS-Score) in relativ einfacher Weise den Grad einer akuten Höhenkrankheit.
Abbildung 1: Memorial Rodolfo Belotti
Der heute international gebräuchliche Fragebogen ist für die Praxis der Höhenanpassung bzw. im Falle einer Erkrankung für die höhenmedizinische Praxis von großer Bedeutung. Individuelle Verläufe können mit dem LL-AMSScore rasch definiert und dokumentiert werden. Zusätzlich bilden die täglichen
Messwerte der AMS-Score die Basis für spezifische Untersuchungen zur Höhenanpassung (2). In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie gut bzw. genau der LL-AMS-Score die während der akuten Höhenexposition erfolgte oder verfehlte Anpassung widerspiegelt. Anders gesagt: ist der LL-AMS-Score an sich ausreichend für eine gezielte Beurteilung der Höhenanpassung?
BEURTEILUNG DER HÖHENANPASSUNG
In der Höhe stellt sich zu jedem Zeitpunkt die Frage, wie gut jemand akklimatisiert ist. Mit zunehmender Höhe wird die Atemluft bekanntlich „dünner“, was zu individuell unterschiedlichen körperlichen Reaktionen führt. Zusätzlich zur Höhenexposition und zur begleitenden Hypoxie gesellt sich das Ausmaß an subjektiv empfundener physischer Anstrengung, mit der die Tagesetappe einhergeht. Dieses Ausmaß an Anstrengung ist mittels der BORG-Skala (3) recht einfach zu bestimmen. Auf der Basis der Höhe einerseits und der subjektiv empfundenen physischen Anstrengung andererseits lässt sich ein Höhenanpassungsfaktor (HA-F) berechnen:
HA-F = X * Y * Z [X] entspricht der aktuellen BORG-Skala dividiert durch 10 [Y] entspricht der aktuellen [(Messhöhe in Meter dividiert durch 1000)-2,5]
In 3000 m Höhe beträgt Y ((3)-2,5)) = 0,5; in einer Schwellenhöhe < 2500 m ist Y = 0
Somit ist der HA-F in Höhen unter 2500 m Seehöhe per Definition gleich null [Z] entspricht der aktuellen Messhöhe in Meter dividiert durch die vorige
Messhöhe
Hieraus ergibt sich folgende Formel für den Höhenanpassungsfaktor (HA-F):
HA-F = (BORG/10) * [(Messhöhe/1000)-2,5] * (Messhöhe/vorige Messhöhe)
Diese Formel lässt sich am besten anhand eines Beispiels darstellen. Während eines Trekkings in der Khumbu-Region in Nepal steigt jemand von Namche Bazaar (3.450 m) nach Dole in 4.065 m auf. Die Tagesetappe wird als anstrengend empfunden, d.h. auf der BORG-Skala mit 15 (von max. 20) bewertet. Hieraus ergibt sich folgender Höhenanpassungsfaktor: HA-F = (15/10)*[(4065/1000)-2,5]*(4065/3450) = 2,77. Für jemanden, der besser akklimatisiert und/oder besser trainiert ist, ist diese
Tagesetappe vermutlich weniger anstrengend (z.B. BORG = 11). Der Höhenanpassungsfaktor HA-F würde hier 2,0 betragen. Wird eine Etappe/Tour dagegen als sehr anstrengend empfunden, ist auch der HA-F hoch. Beispiel: beträgt beim Marsch von Macchermo (4.670 m) nach Gokyo in 4.830 m die subjektiv empfundene Anstrengung auf der BORG-Skala 18, hat der HA-F einen Wert von 4,34. Der Höhenanpassungsfaktor steigt somit mit ansteigender Höhe und/oder zunehmender Anstrengung. Steigt jemand ab, müsste auch der Höhenanpassungsfaktor HA-F niedrig sein. Beispiel: Abstieg von Thare in 4.360 m nach Pangboche (in ca. 4.000 m), BORG = 12 (leicht bis etwas anstrengend), HA-F = 1,65.
DAMGIRI-Index: DARIX Der Index für Höhenanpassung, der – hier DAMGIRI-Index getaufte – DARIX, setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. In einer bestimmten Höhe wird zum einen der Höhenanpassungsfaktor HA-F nach der obigen Formel berechnet. Zudem wird der aktuelle LL-AMS-Score anhand des bekannten und standardisierten Lake-Louise-Fragebogens eruiert. Hieraus ergibt sich zur Bestimmung der (aktuellen) Höhenanpassung folgende Formel: DARIX = HA-F * LL-AMS-Score
Tabelle 1 zeigt den Verlauf der Höhenanpassung während eines 15-tägigen Trekkings in Nepal. Am Abend des 6. Tages ist in einer Höhe von 4670 m der DARIX mit 9,83 zum ersten Mal deutlich erhöht. Dieser Wert ergibt sich aus einem LLAMS-Score von 3 sowie einem Höhenanpassungsfaktor von 3,28: DARIX = 3,28 *3 = 9,83. Nach der Nachtruhe hat sich der Index in der Früh des 7. Tages auf 2,82 verringert. Aufgrund der guten Anpassung wird die nächste Tagesetappe in Angriff genommen. Diese führt nur ca. 200 m höher hinauf, wird (jedoch) als sehr anstrengend erlebt (BORG = 18). Am Abend des 7. Tages ist der DARIX auf 30,36 hinaufgeschossen. Der LL-AMS-Score beträgt 7, die betroffene Person hat gravierende Schwierigkeiten mit der Höhenanpassung!
Abbildung 2 zeigt den Verlauf des Höhenanpassungsindexes, das DARIX-Profil für das oben genannte Trekking. Verschiedene Peaks bzw. Ausreißer fallen auf. Generell darf davon ausgegangen werden, dass die Höhenanpassung erfolgreich ist, solange der DARIX kleiner als die [(Messhöhe in m) dividiert durch (1000)] ist. In einer Höhe von viertausend Meter zum Beispiel gibt es somit keine nennenswerte Höhenanpassungsstörung solange der DARIX kleiner als 4 ist. Ist der DARIX dagegen über dem Höhenprofil gelegen, gilt dies als Hinweis auf eine verfehlte Höhenanpassung. Je mehr der DARIX über dem Höhenpro-
fil liegt, desto stärker ist die aktuelle Höhenanpassungsstörung bzw. umso dringlicher wird eine Anpassung der Strategie, die wieder zu einer erfolgreichen Höhenanpassung führt. Im Regelfall bedeutet dies, einen Ruhe- bzw. Akklimatisationstag einzulegen oder eventuell drei- bis vierhundert Meter abzusteigen. Wie die Abb. 2 zeigt, führt ein (solcher) Abstieg im Normalfall sehr rasch zu einer „Entschärfung“ des DARIX. Nachdem der DARIX am Nachmittag/Abend des 7. Tages auf 30,36 geklettert war (und die betroffene Person sich miserabel fühlte: mäßige bis schwere Kopfschmerzen, leichte Übelkeit, mäßige Schwäche, leichter Schwindel und Verdacht auf leichte Ataxie), wurde sie auf 4.470 m hinunterbegleitet. Dabei wurde der Rucksack von einer zweiten Person übernommen. Nach wenigen Stunden waren die Beschwerden verschwunden und auch die Nacht verlief ohne Komplikationen oder Schlafstörungen. In der Früh des nächsten Tages lag der DARIX bei null.
Abbildung 2: Verlauf des Höhenanpassungsindexes, DARIX-Profil
Der DAMGIRI-Index (DARIX) ermöglicht eine einfache und zuverlässige Einteilung der Höhenanpassung bzw. Störung der Höhenanpassung nach Schweregrad.
Bei Höhen bis 4.000 m:
DARIX < 4 keine Höhenanpassungsstörung
Bei Höhen zwischen 4.000 m und 9.000 m:
DARIX kleiner als [(Messhöhe in m) keine bis sehr leichte Höhendividiert durch (1000)] anpassungsstörung
[(Messhöhe in m) dividiert durch (1000)] < DARIX < 9 geringe Höhenanpassungsstörung
9 < DARIX < 25 mäßige Höhenanpassungsstörung
DARIX > 25 schwere Höhenanpassungsstörung
Das Bestreben eines jeden Höhentouristen muss somit sein, den persönlichen Indexwert für die Höhenanpassung unter 10 zu halten. Er sollte seine Taktik der stufenweisen Akklimatisation auf dieses Ziel ausrichten. Abbildung 3 zeigt ein DARIX-Profil, bei dem dieses Ziel zum größten Teil erreicht wurde. Mit Ausnahme eines Ausreißers am Abend des vierten Tages (DARIX = 14,16; Meßpunkt 8) ist das Profil bei Schlafhöhen bis zu 4.000 m praktisch durchgehend im sicheren Bereichgelegen (DARIX < 10). Die betreffende Person ist relativ gut an die gewählten Höhen angepasst. Es handelt sich dabei um ein (physisch anstrengendes) Trekking durch die Kali-Gandaki-Schlucht nach Lo Manthang in Upper Mustang (Abb. 4).
Abbildung 3: Verlauf des Höhenanpassungsindices, DARIX-Profil
Abbildung 4: Trekking durch die Kali-Gandaki-Schlucht nach Lo Manthang
DISKUSSION
In der Höhe stellt sich im Sinne des Risiko- bzw. Sicherheitsmanagements zu jedem Zeitpunkt die Frage, wie gut jemand akklimatisiert ist. Diese Frage lässt sich zum einen mit dem standardisierten Lake-Louise-Acute-MountainSickness-Scoring-System (LL-AMS-Score) beantworten. Als potenzierender Faktor kommt jedoch ein Höhenanpassungsfaktor multiplizierend hinzu. Dieser Faktor berücksichtigt das subjektiv empfundene Ausmaß an Anstrengung einer Tour oder Tagesetappe, sowie die Höhe, in der sich jemand aufhält. Aus der Kombination von AMS-Score und zusätzlichem Höhenanpassungsfaktor lässt sich ein Index für die Höhenanpassung ableiten (DARIX). Die Frage, die sich hier gezwungenermaßen stellt, ist, ob wir einen solchen Index brauchen und was der DARIX zusätzlich zum Lake-Louise-Score bringt. Der Index für die Höhenanpassung DARIX ist in erster Instanz als praktikable Erweiterung des LL-AMS-Score zu sehen und soll Höhentouristen im Sinne eines erweiterten Risikomanagements zu einer besseren Einschätzung ihrer Sicherheitslage verhelfen. Die Praxis der letzten zehn Jahre hat gezeigt, dass der LL-AMS-Score bei individuellen Bergsteigern und Trekkingtouristen nur wenig Beachtung und Anwendung findet, d.h. primär im Rahmen von Höhenstudien verwendet wird (4). Auf dieser eher wissenschaftlich orientierten Basis
kann der LL-AMS-Score kaum zu einer Verbesserung des Risikomanagements von Individuen beitragen. Dazu braucht es eine gezielte, regelmäßige und standardisierte Evaluation der subjektiven und objektiven Gegebenheiten bzw. Parameter einer Höhentour/Tagesetappe. Die tägliche Berechnung des Index für die Höhenanpassung DARIX führt zu einer größeren Transparenz der momentanen Situation in der Höhe und hilft somit, (verborgene) Faktoren, die das Risikomanagement beeinflussen, leichter zu erkennen. Idealerweise wird DARIX in der Früh und am frühen Abend bestimmt und in einer entsprechenden Tabelle eingetragen. Längerfristig können so auffallende Veränderungen im Höhenanpassungsprofil registriert und protokolliert werden. Auf der Grundlage eines DARIX-Verlaufs über mehrere Bestimmungspunkte lässt sich die individuelle Anpassung an die Höhe gut verfolgen. Dazu braucht es entweder eine (vorher generierte) Tabelle in Excel, in der die Rohwerte mit der Hand eingetragen und die Parameter wie der Höhenanpassungsfaktor HAF mit einem Taschenrechner ausgerechnet werden. Einfacher und bequemer in der Handhabung wäre die Verwendung eines Pocket-PCs (z.B. HP iPAQ), der aufgrund der relevanten Daten den aktuellen Höhenindex DARIX auf Knopfdruck errechnet.
LITERATUR
(1) Roach, R.C., Bärtsch, P., Hackett, P.H., Oelz, O.: The Lake-Louise-
Acute-Mountain-Sickness-Scoring-System. In: Sutton, J.R., Houston,
Ch., Coates, G. (eds.). Proceedings of the 8th International Hypoxia
Symposium Held at Lake Louise, Canada, Feb. 9–13 (1993)
(2) Waanders, R., Frisch, H., Schobersberger, W., Berghold, F. (Hrsg.): Jahrbuch 2003 der Österr. Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin. Thema: Projekt Silberpyramide. Raggl digital graphic+print GmbH, Innsbruck (2003)
(3) Borg, G.: Psycho-physical base of perceived exertion. Med.Sci. Sports
Exerc. 14, 377–379 (1982)
(4) Feddersen, B., Ausserer, H., Neutane, P., Thanbichler, F., Depaulis, A., Waanders, R., Noachtar, S.: Right Temporal Cerebral Dysfunction Heralds Symptoms of Acute Mountain Sickness. J Neur, in press (2006)
Reinhold Lazar und Markus Winkler
Terrestrische Strahlung in alpiner Umgebung
SUMMARY
The main objective of this paper is to discuss the different types of terrestrial radiation. A major part is dedicated to radon and its negative effects. Radon, however has not only negative effects, causing e.g. lung caner, as it is described by the situation in Umhausen. It is also used within medical therapy (radon therapy) and recreation as it is offered in Bad Gastein. In order to gain reliable data the Austrian Republic launched the Austrian Radon Project (ARP) to provide a radon monitoring system for the whole national territory. Another topic is the caesium contamination due to the Chernobyl disaster at the Chernobyl Nuclear Power Plant in 1986. The last part discusses the impact of radiation originating from medical applications like x-ray. How much is an average Austrian citizen effected by manmade radiation and natural radiation?
Keywords: terrestrial radiation, radon, caesium, radon therapy
ZUSAMMENFASSUNG
In der vorliegenden Arbeit werden die unterschiedlichen Formen der terrestrischen Strahlung behandelt. Im Besonderen wird auf die Radonsituation in Österreich eingegangen, wobei der aktuelle Stand des ÖNRAP- Projektes vorgestellt und diskutiert wird. In diesem Zusammenhang werden auch die stark erhöhten Radonbelastungen in Umhausen erläutert. Weiters kommt auch die Radonbelastung in Schulen der Steiermark zur Sprache. Ebenso wird auf die aktuelle Strahlungssituation durch Cäsium eingegangen, da vor 20 Jahren der Reaktorunfall in Tschernobyl für großes Aufsehen gesorgt hat. Den Abschluss bildet ein Vergleich der einzelnen Komponenten der Strahlungsexposition eines Durchschnittsösterreichers unter Berücksichtigung von medizinischen Anwendungen, respektive auch von Radon für Heilzwecke in Bad Gastein.
Schlüsselwörter: Terrestrische Strahlung, Radon, Cäsium, Radon-Therapie
EINLEITUNG UND PROBLEMSTELLUNG
In den letzten Jahren wurde der Radonbelastung als Form der terrestrischen Strahlung immer mehr Bedeutung geschenkt, weil speziell in Umhausen in Tirol gesundheitliche Schäden festgestellt wurden, die letztlich eindeutig auf stark erhöhte Radonwerte im Siedlungsbereich zurückgeführt werden konnten. Auf der Basis jüngster Forschungsergebnisse lässt sich nun eine Zuordnung der Radonbelastung in Abhängigkeit von Gebirgsgruppen und deren geologischer Rahmenbedingungen finden, wodurch Aussagen für Siedlungen im alpinen Raum und Tourengeher ermöglicht werden. Der Fall Umhausen wird als Beispiel für natürliche Strahlenbelastung näher beschrieben. Auch die künstliche Strahlenbelastung wird ebenfalls zu besprechen sein, zumal nun 20 Jahre seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl verstrichen sind und die Frage offen ist, wie hoch nun die Belastung speziell durch Cäsium-137 noch relevant ist. Ebenso wird vom Einfluss medizinischer Diagnostik und Therapie bezüglich Strahlungsbelastung zu berichten sein. Zum Abschluss soll die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, dass Radon auch positive Effekte hat und zu Heilzwecken eingesetzt wird.
Radon – Allgemeine Grundzüge
In der Erdkruste kommen die natürlichen Radionuklide Uran-238, Uran-235, Thorium-232 und Kalium-40 vor. In der Zerfallsreihe von Uran-238 entsteht über das Zwischenprodukt Radium-226 das radioaktive Edelgas Radon-222. Die Halbwertszeit beträgt 3,8 Tage. Es handelt sich um einen Alphastrahler. Radon kommt in Form von drei Isotopen vor. Für unsere Betrachtung ist alleine das Isotop Radon-222 von Bedeutung. Aus allen Materialien, die Uran enthalten (z. B. Erdboden, Baumaterialien), wird Radon freigesetzt und gelangt so in das Wasser, die Atmosphäre und auch in Gebäude. Da der Ursprung dieser Strahlung in den Gesteinen und Böden liegt wird in diesem Zusammenhang von terrestrischer Strahlung gesprochen (1).
Natürliche Strahlung versus künstliche Strahlung
Neben Radon ist es noch vor allem die kosmische Strahlung, die als natürliche Strahlungskomponente auf den Menschen einwirkt. Bezüglich der Strahlungsverhältnisse im Hochgebirge, insbesondere UV – wurde bereits im letzten Band berichtet (2). Als künstliche Strahlungsquelle ist neben kerntechnischen Anlagen auch noch Strahlung aus der medizinischen Diagnostik und Therapie für den Menschen relevant. Darauf wird im Abschnitt Ergebnisse noch weiter eingegangen.
DATENLAGE UND METHODIK Wichtige Einheiten der Dosimetrie
Grundsätzlich ist zu trennen zwischen der Menge an radioaktiven Atomen (Nukliden) in einer Strahlenquelle und ihrer Auswirkung auf Materie wie z. B. den Menschen. Die Aktivität bezeichnet die Zerfallsrate der Radionuklide und wird in Becquerel (Zerfälle pro Sekunde) gemessen. Die Wechselwirkung von Strahlung und lebender Materie führt zur Veränderung oder dem Absterben von Zellen. Die Energiedosis gibt die absorbierte Energie pro Masse (J/kg) an und wird in Gray (Gy) gemessen. Für unsere Betrachtung ist vor allem die effektive Dosis von Bedeutung, um das Gesundheitsrisiko zu quantifizieren. Die Einheit der effektiven Dosis ist das Sievert (Sv). Da 1 Sievert eine sehr hohe Dosis ist, wird die Strahlenexposition für den menschlichen Organismus in Millisievert (mSv) ausgedrückt. Die effektive Dosis berücksichtigt neben Energiedosis auch noch die Strahlenart und die Strahlenempfindlichkeit von Gewebe und Organen (3).
Das österreichische Radonprojekt – ÖNRAP
Die Geschichte von ÖNRAP beginnt mit dem Auftrag des damaligen Bundesministeriums für Gesundheit, Sport und Konsumentenschutz an diverse Universitätsinstitute und Forschungseinrichtungen eine österreichweite Untersuchung der Radonbelastung in Wohnräumen vorzunehmen. Daran beteiligten sich folgende Einrichtungen: Institut für Isotopenforschung und Kernphysik der Universität Wien, ARC Seibersdorf, Institut für Materialphysik der Technischen Universität Graz, Arbeitsgruppe Strahlenphysik, Institut für Physik und Biophysik der Universität Salzburg, sowie die Ämter der Landesregierungen der einzelnen Bundesländer. Die ersten flächendeckenden Messungen wurden 1992/93 vorgenommen, bis schließlich im Jahre 2001 das ganze Bundesgebiet erfasst war. Obwohl an die 40.000 Messungen durchgeführt wurden, besteht noch keine vollständige Information über das Radonrisiko in Österreich (4). Neben Messungen wurden auch qualitative Parameter wie die verwendeten Baumaterialien, Vorhandensein einer Unterkellerung bei Gebäuden, Heizsystem, Anzahl der Personen im Haushalt und deren durchschnittliche Aufenthaltsdauer in der betreffenden Wohnung erhoben.
ERGEBNISSE
Ziel des ÖNRAP war es, aus all den erhobenen Parametern das „Radonpotential“ abzuleiten, das ein Gebiet aufgrund seiner Radongefährdung charakterisiert. Die im Jahresmittel zu erwartende Radonkonzentration in einem Stan-
dardraum wird dabei als Radonpotential definiert. Diese Jahresmittelwerte wurden für jede Gemeinde berechnet und kartographisch umgesetzt. Dabei ist darauf zu achten, dass es sich um Mittelwerte handelt und daher die Radonkonzentration in einzelnen Wohnungen beträchtlich davon abweichen kann (5). Wie aus der Karte (Abb. 1) ersichtlich ist, sind die Konzentrationen in Österreich sehr unterschiedlich und weitgehend geologisch bedingt. Die gasförmige, flüchtige Radonkomponente zeigt nur teilweise Übereinstimmungen mit der Radonbelastung von Wasser. Vor allem in Kalkgestein und Dolomit kann Radon in Klüften nach oben steigen und entweichen, wodurch es hier zu lokal höheren Belastungen kommen kann als in Gebieten mit kristallinem Gestein. Auf der Karte treten Gebiete wie der Dachstein, Hochwechsel, Schladminger Tauern und Grimming sehr schön hervor. Die Schladminger Tauern zeigen eine sehr gute Übereinstimmung mit der Wasserbelastung, was auf undichte Stellen in der Schieferdecke zurückzuführen ist. Ebenso markant ist das Gebiet des Gleichenberger Vulkans zu erkennen. Radon tritt vor allem am Rand in Undichtheiten des tertiären Sediments aus. Demgegenüber weist der eigentliche Vulkanbereich keine Belastung aufgrund des dichten Untergrundes auf.

Abb.1: Jahresmittel der Radonkonzentration auf Gemeindeebene (4)
Radon im Wasser
Grundsätzlich geht von im Wasser gelöstem Radon wenig Gefahr aus. In den Wasserwerken wird der Großteil des Radons bereits entfernt. Hinzu kommt die geringe Halbwertszeit (3,8 Tage), wodurch nur mehr ein Teil des beim Quellaustritt vorhandenen Radons beim Konsumenten ankommt. Der Rest entweicht
beim Kochen oder wird nach dem Trinken ausgeatmet. Jedoch bei der Versorgung mit Hausbrunnen kann es zu hohen Belastungen kommen (5). Aufgrund von Messergebnissen und geologischen Untersuchungen wird das Bundesgebiet in drei Belastungsklassen eingeteilt (siehe Abb. 2). Deutlich hervor treten die Granite und Gneise des Böhmischen Massivs, da es sich um Gesteine handelt, die eine erhöhte Freisetzungsrate von Radon aufweisen, der Untergrund aber wasserundurchlässig ist. Damit wird eine verstärkte Anreicherung in den Wasserkörpern – nicht zuletzt wegen des Flachreliefs – ermöglicht. Mäßig hoch ist die Belastung im Steirischen Randgebirge. Im Karbonatgestein fällt die Belastung im Allgemeinen gering aus.

Abb.2: Radongehalt im Wasser (4)
L e g e n d e zur Abbildung 2 • Klasse 1: Wahrscheinlichkeit von 85%, dass das Quell- und Grundwasser einen Radongehalt von weniger als 100 Bq/m3 aufweist • Klasse 2: Wahrscheinlichkeit von 85%, dass Quell- und Grundwasser einen Radongehalt von weniger als 300 Bq/m3 aufweist • Klasse 3: Wahrscheinlichkeit von mehr als 15%, dass das Quell- und Grundwasser Radongehalt von mehr als 300 Bq/m3 aufweist
Ein Fallbeispiel für natürliche Strahlungsbelastung durch Radon: Umhausen im Ötztal 1
Als es in Umhausen vermehrt zu Lungenerkrankungen gekommen war, wurden dort Untersuchungen durchgeführt. Als Ursache wurde eine stark überhöhte Radonkonzentration ausgemacht.
1 Es handelt sich hier um die Zusammenfassung eines Vortrages von Hacker und Mostler (6)
Die Talflanken des äußeren Ötztals werden hauptsächlich von Paragneisen, Orthogneisen, Glimmerschiefern und Amphibolitgestein gebildet. Der westliche Teil des Tales wird vom Schwemmfächer der Ötztaler Ache eingenommen. Im Osten dominieren der Schwemmfächer des Harlach-Baches und die Murenkegel der östlichen Seitenbäche. Im Süden befindet sich die Köfelser Bergsturzmasse. Ihr vorgelagert liegt das Becken von Umhausen. Im Gegensatz zu allen anderen Talbecken des Ötztals zeichnet sich das Becken von Umhausen durch weit gröbere Sedimente aus. In diesem Gebiet wurden Bohrungen mit Messungen durchgeführt (auf der Karte mit KBU 1 bis 5 gekennzeichnet). Die Bohrungen erreichten eine Tiefe von rund 100 Metern, wobei der Grundwasserkörper erreicht wurde und damit auch dort die Radonkonzentration gemessen werden konnte.
Abb.3: Geologische Karte von Umhausen mit der Lage der durchgeführten Bohrungen (6)

Die Ergebnisse haben gezeigt, dass die gesamte Bodenluft im Gebiet von Umhausen mit Radon belastet ist. Die Radonkonzentration ist in den Gebieten am niedrigsten, wo grobes Sediment von gering durchlässigem Sediment überdeckt wird. (Bsp. Murbachschwemmkegel). Die höchsten Radonkonzentrationen im Boden wie auch im Grundwasser wurden im Bereich des Schwemmkegels der Ötztaler Ache gemessen. Laut Untersuchung sind es vor allem Mangan- und Eisenoxidkrusten, wo es zu lokalen Radonanreicherungen kommt. Die meisten Quell- und Grundwässer erreichen zwar hohe Radonkonzentrationen (ca. 1400 Bq/l), liegen jedoch unter den Werten des Schwemmkegels der Ötztaler Ache und dürften daher nicht unmittelbar für die hohe Radonbelastung in Umhausen verantwortlich sein. Die Kombination aus hoher Belastung des Grundwassers und hoher Durchlässigkeit des Taluntergrundes führen schlussendlich zur enormen Radonbelastung in Umhausen von mehreren 100kBq/m3 .
Radonbelastung in steiermärkischen Kindergärten
Im Rahmen des ÖNRAP-Projekts wurden auch Messungen in der Steiermark durchgeführt. Die Messung der Radonkonzentration erfolgte in insgesamt 60 Kindergärten. Die Radonkonzentration in Gebäuden ist dabei von folgenden Faktoren abhängig (7): •Radiumkonzentrationen in den die Räume umgebenden Materialien, Gesteinsbzw. Untergrundmaterial, u.U. Baumaterial •Emanierfähigkeit des Radons aus diesen Materialien und deren Exhalationsvermögen •Bauweise der Gebäude und Lage der Räume • Lüftungsverhältnisse in den betreffenden Räumen • Druck- und Temperaturunterschiede zwischen Gebäudeinnerem und Außenbereich • Radongehalt des im Gebäude verwendeten Wassers und ggf. Erdgases
Die Werte der Messergebnisse liegen bei 8 Kindergärten über dem so genannten Eingreifrichtwert von 400 Bq/m3. Davon liegt bei 3 Kindergärten der Jahresmittelwert über 1000 Bq/m3. Der Eingreifrichtwert wurde festgelegt von der Internationalen Strahlenschutzkommission ICRP und der Europäischen Union. Für Kindergärten mit Werten über 1000 Bq/m3 wird der Einbau einer beheizbaren Zuluftanlage zur Frischluftzufuhr bzw. bauliche Sanierungsmaßnahmen (spezielle Abdeckfolien) vorgeschlagen. Bei Radonbelastung über 400 Bq/m3 bis weniger als 1000 Bq/m3 sollte der Raum vor Beginn des Betriebes gelüftet werden (ca. 10 Min.). Zusätzlich soll während des Betriebes etwa alle 2 Stunden gelüftet werden (7).
Ein Fallbeispiel für künstliche Strahlungsbelastung:Der Reaktorunfall von Tschernobyl
Während des Reaktorunfalls von Tschernobyl 1986 wurden vor allem Cäsium137 und Jod-131 freigesetzt. Das freigesetzte Material hatte zwar eine 200-mal geringere Aktivität, als die bei den Kernwaffentests freigesetzte Materie, gelangte aber nicht in die höhere Atmosphäre und wurde entsprechend der durch den Alpenraum modifizierten Ausbreitungsbedingungen und entsprechenden Niederschlagsverhältnissen verfrachtet und abgelagert. Besonders im Süden Österreichs kam es zu hohen Depositionen, wie beispielsweise auf der Koralpe, wo es durch Schauer und Gewitter zu einem massiven rain out kam. Aber auch das Dachsteinmassiv, die Schladminger Tauern und Abschnitte des Tauernhauptkammes waren stärker betroffen als andere Landesteile. Die Karten der Abbildungen 4 und 5 geben eine gute Darstellung der Situation für die Jahre 1986 und 2000. Von besonderer Bedeutung ist die Belastung mit Cäsium-137 mit einer Halbwertszeit von 30 Jahren. Somit ist hier noch mehr als die Hälfte an Belastung vorhanden. Zwar ist die Belastung Österreichs großteils als niedrig einzustufen, nicht jedoch für die eben genannten Gebiete. Es wird darauf hingewiesen, dass es sich bei den Darstellungen um Cäsiumgehalte im Boden handelt. Die Auswirkungen auf Trinkwasser und Beeren bzw. Pilze sind in den Beiträgen nicht diskutiert und müssen daher offen bleiben.

Abb.4: Belastung durch Cäsium-137 (Stand 1. Mai 1986) (8)
Bodenbelastung durch Cäsium-137 im Jahr 2000

Abb.5: Belastung durch Cäsium-137 (Stand 2000 (9).

In den skandinavischen Ländern sind die Auswirkungen noch deutlicher zu spüren, wo Rentier- und Elchfleisch sowie Pilze sehr streng überwacht werden. Am massivsten betroffen sind nach wie vor Gebiete in Russland, Weißrussland und der Ukraine. Sehr gut verdeutlicht wird die Situation durch den Anstieg von Schilddrüsenkrebs in Weißrussland. Die Rate bei Kindern ist zwar rückläufig und die Heilungschancen liegen hier bei 98,8%. Die Altersgruppe der 18- bis 35-jährigen, die zum Zeitpunkt der Katastrophe Kinder waren, lässt einen deutlichen Anstieg der Erkrankungen erkennen (10). Es ist noch bei weitem zu früh zu behaupten, der Unfall habe weniger Menschenleben gekostet als befürchtet, da die Latenzzeit für Krebs, außer bei Leukämie, 10 bis 30 Jahre beträgt.
Abb.6: Anstieg der Schilddrüsenerkrankungen in Weißrussland (10)

Künstliche Strahlenbelastung
Die natürliche Strahlenbelastung in Österreich beträgt rund 3,2 mSv. Hinzu kommt die künstliche Strahlenbelastung von rund 1,3 mSv, die fast ausschließlich durch die medizinische Diagnostik (vor allem Röntgendiagnostik) verursacht wird. Die Nuklearwaffentests haben vor allem zwischen 1960 und 1980 in Österreich zu einer Belastung von rund 4,5 mSv geführt, die weitgehend abgeklungen ist. Tschernobyl führte zwar im ersten Jahr nach der Katastrophe zu einer Belastung von 0,5 mSv, liegt aber heute bei geringen 0,01 mSv (11).
Abb. 7: Die jährliche Strahlenbelastung eines Österreichers heute (11)

Die positiven Effekte von Radon am Beispiel Bad Gastein
Neben Radon als einer der Ursachen von Lungenkrebs gibt es aber auch Fälle, wo Radon als Heilmittel eingesetzt wird. An dieser Stelle sei der Kurort Bad Gastein mit seinem Heilstollen angeführt. Für folgende ausgewählten Erkrankungen sind Heilanzeigen durch Radon dokumentiert (12): •chronisch rheumatische Erkrankungen •periphere Durchblutungsstörungen sowie schlecht heilende Wunden (z. B. Parodontosen) •Wechselbeschwerden •Neuralgien Durch die Radontherapie kommt es zur Anregung von Reparaturmechanismen im Organismus. Dabei werden geschädigte Zellen entweder schneller repariert oder zum Absterben (programmierter Zelltod, Apoptose) gebracht (12).
LITERATUR
(1) Siehl, A.: Umweltradioaktivität. Ernst & Sohn, Berlin, 411 S. (1996)
(2) Lazar, R., Winkler, M.: Strahlung im Hochgebirge unter besonderer
Berücksichtigung der UV-Strahlung. Österreichische Gesellschaft für
Alpin- und Höhenmedizin Jahrbuch 2005: 81–97 (2005)
(3) Michel, R., Voigt, G.: Die Wege der Radionuklide. Umweltkontamination und Strahlendosen nach Tschernobyl. Physik Journal 5 (4): 3–-42 (2006)
(4) http://www.univie.ac.at/Kernphysik/oenrap
(5) Friedmann, H.: Radonbelastung in Österreich. Informationsbroschüre des
Umweltbundesamtes, Wien, 36 S.
(6) Hacker, P., Mostler, W.: Radon im äußeren Ötztal – erdwissenschaftliche
Aspekte. Vortrag vom 14.10. 1999, 7 S. (1999)
(7) Kindl, P., et al.: Ergebnisse des Messprogramms zur Erhebung der Radonbelastung in steiermärkischen Kindergärten. Amt der Steiermärkischen
Landesregierung Fachabteilung 17C – Technische Umweltkontrolle und
Sicherheitswesen, Referat Strahlenschutz, Graz, 36 S. (2003)
(8) Bossew, P, et al.: Cäsiumbelastung der Böden Österreichs. Wien, 128 S. (1996)
(9) Umweltbundesamt (Hrsg.): Sechster Umweltkontrollbericht. Wien, 867 S. (2001)
(10) Lengfelde, E., Frenze, C.: Eine düstere Prognose. Die gesundheitlichen
Folgen des GAUs. Münchner Stadtgespräche, Nr. 40/41: 14–15 (2006)
(11) Mück, K., et al.: Strahlenschutzratgeber. Wien, 60 S. (2001)
(12) Deetjen, P.: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Kur in Bad Gastein und Bad Hofgastein. Bad Gastein, 16 S. (2006)
Heinrich Grillhofer
Höhlenrettung und Höhlenunfälle in Österreich
The austrian cave rescue and accidents in austrian caves
SUMMARY
Most caves in Austria are located at moderate or high altitude. If you keep this in mind one can see that the environmental conditions in Austrian caves are really extreme. For example the average temperature in these alpine caves varies from about 10°C down to temperatures below freezing. The average humidity is always close to saturation or even condensation. Even snow and ice, streams and pools, debris from the size of a pebble to the size of a house and tons of mud are your companions. Exploring these caves also means rigging deep shafts and enormous canyons or crawling through narrow passages full with clay. Therefore the necessity of highly specialized rescue teams becomes evident. The major groups of victims in caves are alpine tourists, adventurers and spelunkers. Alpine tourists usually come to death because they fall into pits in wintertime. Adventurers usually overestimate their skills or underestimate the conditions in the caves. Because of good knowledge and good physical and mental condition spelunkers rarely become victims in a cave. But if they become injured, it is much harder to save them, because they go far beyond the places an average man would go to. The Austrian Cave Rescue was founded in the year of 1965. It is subdivided in federal organisations. These federal organisations themselves consist of various local rescue teams.
Keywords: Austrian Cave Rescue, Victim
ZUSAMMENFASSUNG
Die meisten österreichischen Höhlen liegen in mittleren und höheren Lagen. Aus dieser Lage ergeben sich extreme Umweltbedingungen in diesen Höhlen. Die Durchschnittstemperatur liegt etwa zwischen 10°C und Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. Die Luftfeuchtigkeit ist fast immer nahe der Sättigungsgrenze oder sogar kondensierend. Schnee, Eis, Bäche und Höhlenseen, Schutt von der Größe eines Kiesels bis zur Größe eines Hauses und tonnenweise Lehm
sind ihre Begleiter. Bei der Befahrung gilt es auch tiefe Schächte, enorme Canyons und enge, oft lehmgefüllte Passagen zu überwinden. Aufgrund dieser Bedingungen ergibt sich die Notwendigkeit für spezialisierte Rettungsteams. Die drei häufigsten Gruppen von Unfallopfern in Höhlen sind Alpintouristen, Abenteurer und Höhlenforscher. Die häufigste Ursache für Unfälle von Alpintouristen sind Einbrüche in Schächte, die oft nur mit dünnen Schnee- oder Eiskrusten überzogen sind. Abenteurer überschätzen häufig ihre Fähigkeiten oder unterschätzen die Bedingungen in Höhlen. Höhlenforscher verunfallen auf Grund ihres hohen Wissens und der guten körperlichen und mentalen Verfassung relativ selten. Jedoch ist die Bergung oft viel schwieriger, da sie meist viel tiefer in die Höhlen vordringen als der Durchschnittsmensch es tun würde. Die Österreichische Höhlenrettung wurde im Jahre 1965 gegründet. Sie ist in einzelne Landesorganisationen unterteilt. Diese wiederum bestehen aus den verschiedenen Einsatzstellen eines Bundeslandes. Schlüsselwörter: Österreichische Höhlenrettung, Unfallopfer
HÖHLENUNFÄLLE
Als unbedarfter Mensch würde man wahrscheinlich davon ausgehen, dass von Unfällen in Höhlen nur Höhlenforscher betroffen sind, weil der nicht Höhlenforschende im Allgemeinen fast ausschließlich nur streng gesicherte Schauhöhlen besucht. Wie die Praxis zeigt ist eher sogar das Gegenteil der Fall. Im Folgenden soll nun eine Kategorisierung von Personengruppen anhand von Beispielen aufgezeigt werden.
Abb.1: Abstieg zu einem Verletzten in einem Schacht im Himmelreich bei Frohnleiten in der Steiermark anlässlich der Frühjahrsübung 2004 des Steirischen Landesverbandes für Höhlenrettung. Photo: Anton Bodlos
In Österreich sind sicherlich auch Alpintouristen von Höhlenunfällen betroffen. Vielen Alpintouristen wird in Karstgebieten aufgefallen sein, dass manche Wege mit langen Stöcken zusätzlich zur Markierung ausgesteckt sind. Im Winter sind nämlich in Karstgebieten die meisten Schachteinstiege mit einer windgepressten und hart gefrorenen Schneekruste überdeckt. Bei Belastung durch einen Tourengeher oder Wanderer können diese Krusten leicht einbrechen und damit den Absturz der belastenden Person in den Schacht verursachen. Diese Abstürze enden fast immer tödlich, da die Absturzhöhen meist sehr groß sind. Solche Unfälle geschehen wegen Missachtung der Markierungen, im Nebel oder in unbekanntem Gelände. Im Winter ist es daher für Tourengeher in Karstgebieten ganz wichtig, die ausgesteckten Wege oder empfohlenen Routen nicht zu verlassen und bei schlechter Sicht sofort umzukehren. Vereinzelt kommt es auch in der schneefreien Zeit bei Nebel und Regen (Rutschgefahr) zu solchen Abstürzen.
HÖHLENTOURISTEN, ABENTEURER
Höhlentouristen stellen einen hohen Anteil bei Höhlenunfällen dar. Dabei handelt es sich meist um Personen, die die Befahrung einer Höhle unterschätzt haben oder mit mangelnder Ausrüstung, oft mit unzureichender Beleuchtung oder Lichtquelle, unterwegs waren. Häufig rutschen diese dann aus und es entstehen leichte bis tödliche Verletzungen infolge des Sturzes. Oft wird auch der Rückweg aus der Höhle unterschätzt und die Höhlentouristen müssen dann meist völlig unterkühlt und entkräftet geborgen werden.
HÖHLENFORSCHER
Bei Höhlenforschern treten Unfälle aufgrund der hohen Erfahrung der Personen selten auf, allerdings sind diese dann meist mit schwierigem Bergeaufwand verbunden, da Höhlenforscher viel längere und schwierigere Strecken in Höhlen überwinden und dabei oft tagelang unterwegs sind. Da Bergungen viel langsamer vonstatten gehen als Befahrungen, sind sie sehr zeitaufwändig. Eine weitere große Gefahr, die auch aus dem alpinen Bereich bekannt ist, ist der Steinschlag, gegen den man auch in der Höhle mit viel Erfahrung nichts machen kann.
HÖHLENTAUCHER
Über Unfälle beim Höhlentauchen ist in Österreich Gott sei Dank nur wenig bekannt, obwohl immer wieder Unfälle auch mit tödlichem Ausgang passieren. Da diese Art der Höhlenbefahrung aber relativ stark an Popularität gewinnt, ist in Zukunft mit mehr Unfällen zu rechnen. Bei der Höhlenrettung handelt es sich nicht nur in Österreich um einen jungen Rettungsdienst. Von den Einsatzstellen bzw. den Landesleitungen in Österreich werden die Höhlenunfälle mit einem Unfallbericht an den Bundesverband der Österreichischen Höhlenrettung weitergeleitet, der diese registriert und dann an das Kuratorium für Alpine Sicherheit weiterleitet.
DIE BESONDERE PROBLEMATIK VON RETTUNGSEINSÄTZEN IN ALPINEN HÖHLEN
Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Umgebungsbedingungen bei Rettungseinsätzen in alpinen Höhlen herrschen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, um wie vieles schwerer so ein Einsatz in einer Höhle im Vergleich zu einem alpinen Rettungseinsatz ist. Jeder, der einmal einen alpinen Einsatz bei Schlechtwetter erlebt hat, weiß, wie mühsam solche Bedingungen sein können. Der Rettungseinsatz in einer alpinen Höhle beginnt aber leider eigentlich erst dort so richtig, wo bei einem alpinen Rettungseinsatz zumindest das Einsatzziel erreicht ist – nämlich an der Oberfläche des Berges. Ein Höhlenrettungseinsatz im alpinen Bereich ist auch immer ein Einsatz für die Berg- oder Flugrettung, da die Höhlenrettung den Transport des Verletzten nur bis zum Ausgang der Höhle übernimmt! Das ändert aber leider nichts daran, dass der Höhlenretter denselben Weg wie der Alpinretter und zusätzlich den Weg in der Höhle machen muss. Weiters muss der Höhlenretter zusätzlich zur ordentlichen Ausrüstung am Berg auch noch die persönliche Ausrüstung für die Höhle und das Rettungsmaterial mit sich führen. Das kann bei Schlechtwetter, wenn man nicht mit dem Hubschrauber in die Nähe des Höhleneinganges fliegen kann, zu Tragelasten um die 30 kg pro Person führen. Eine Höhlenrettungsaktion muss unter fast allen Wetterbedingungen gestartet werden, da der Weg zum Verletzten sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Warum der Zeitfaktor eine so extreme Rolle spielt, werden die folgenden Betrachtungen über die „klimatischen Bedingungen“ in einer Höhle zeigen. Wie aus der Physik bekannt ist, ist Kalkgestein ein sehr schlechter Wärmeleiter. Diese Eigenschaft impliziert, dass die Temperatur in einer Höhle bis auf wenige Ausnahmen dem Jahresmittel in der Lage der jeweiligen Höhle ent-
spricht. Die Temperatur ist auch das ganze Jahr über bis auf geringe Schwankungen besonders in den tagfernen Teilen einer Höhle konstant. Das impliziert wiederum, dass es in einer Höhle so etwas wie Wetter im üblichen Sinne nicht gibt. Die Temperatur bewegt sich z.B. im Grazer Bergland etwa zwischen 6–8°C. In Hochgebirgsregionen kann sie natürlich auch unter dem Gefrierpunkt liegen. Aus diesen Gründen ist im Sommer die Temperatur in der Höhle meist niedriger als im Freien und im Winter höher. Die Luftfeuchtigkeit in der Höhle ist sehr hoch und beträgt nahezu 100 %. Im Sommer erfolgt in eingangsnahen und tagferneren Höhlenteilen keine nennenswerte Verdunstung. Eine weitere Erscheinung in alpinen Höhlen, die die Temperatur für uns Menschen unangenehm gestaltet, ist das Vorhandensein von oft großen Mengen an Schnee und Eis in manchen Höhlen. Durch die vorhin erwähnten jahreszeitlich bedingten Temperaturdifferenzen und durch wetterbedingte Druckschwankungen kommt es auch in Höhlen zur Entstehung von Winden. Diese Höhlenwinde können besonders in düsenförmig ausgeprägten Höhlenteilen zu hohen Windgeschwindigkeiten führen. In der Höhlenkunde spricht man hier auch von Wetterführung. Auch das Vorhandensein von Tropfwasser bis hin zu temporären oder permanenten Gerinnen mit unterschiedlichen Schüttungen macht es nicht gerade gemütlicher. All diese permanent vorhandenen „Wetterphänomene“ führen bei längerer verletzungsbedingter Unbeweglichkeit zu schneller Unterkühlung. Ein weiterer Grund, warum der Zeitfaktor so eine starke Rolle spielt, ist die Schwere des Geländes in einer Höhle. Die schnellste Form der Fortbewegung in der Höhle ist sicherlich das Abfahren am Seil mit einigen Metern pro Sekunde. Gehen in glatten Gängen geht auch noch recht flott. Jedoch die Fortbewegung über Geröll, in lehmbedeckten Gängen, im tiefen Sand, in einem Canyon, durch einen Bach, einen Höhlensee oder gar das Schliefen durch einen engen Schluf kann die Geschwindigkeit auf wenige Zentimeter pro Minute reduzieren. Auch die schwere und sperrige Ausrüstung, die immer wasserfest verpackt sein muss, macht das Fortkommen auch nicht leichter. Hinzu kommt noch die psychische Belastung durch den oft sehr starken Schmutz und die ausgesetzte Lage. Das Fehlen des Sonnenlichts ist für einen Höhlenforscher nicht die große Belastung, da dieser mit dieser Gegebenheit auf Grund seines Hobbys, der Höhlenforschung, recht gut zurechtkommt. Die oben genannten Umstände zeigen, dass unbedingt ein besonderer Rettungsdienst für solche Aufgaben erforderlich ist, da normale Rettungsdienste mit den Umgebungsbedingungen sicherlich häufig überfordert wären.
ORGANISATION DER HÖHLENRETTUNG
Bereits 1965 gab es auf Anregung eines Salzburger Höhlenforschers in Linz erste Gespräche über die Organisation einer Österreichischen Höhlenrettung. So wurde von der Kameradenrettung aus den Höhlenkundlichen Vereinen heraus die Österreichische Höhlenrettung gegründet. Im Oktober 1991 bekam die Österreichische Höhlenrettung durch die Gründung des Bundesverbandes ihre Rechtspersönlichkeit. Zu dieser Zeit gab es bereits einen Landesverband in Oberösterreich und Salzburg. Der Steirische Landesverband für Höhlenrettung wurde im März 1990 gegründet. Seit April 1991 besteht nun der Vertrag mit der Steirischen Landesregierung zur Erfüllung von Aufgaben besonderer Rettungsdienste. Aufgabe der Höhlenrettung ist die Bergung von verletzten und abgängigen Personen aus Höhlen und Schächten.
ORGANISATION DER HÖHLENRETTUNG IN ÖSTERREICH
Organisatorisch ist die Höhlenrettung in Österreich in einen Bundesverband (www.oehr.at) und mehrere Landesverbände (z.B in der Steiermark www.hoehlenrettung.org) unterteilt. Jeder Landesverband besteht wiederum aus diversen Einsatzstellen. In Österreich gibt es derzeit die folgenden Landesverbände: • Kärnten • Niederösterreich • Oberösterreich • Salzburg • Steiermark • Tirol
ORGANISATION DER HÖHLENRETTUNG IN DEN BUNDESLÄNDERN AM BEISPIEL DER STEIRISCHEN HÖHLENRETTUNG
In der Steiermark sind nachfolgende Einsatzstellen im Steirischen Landesverband für Höhlenrettung: • Bad Mitterndorf • Eisenerz • Graz • Mürztal • Schladming • Zeltweg • Höhlenrettungs-Tauchergruppe
Das Amt der Steiermärkischen Landesregierung, Abteilung für Katastrophenschutz und Landesverteidigung, unterstützt den Landesverband mit dem Rettungsbeitrag. Damit werden folgende Materialien finanziert: • Bergematerial: • Rettungstragen • Vakuummatratzen • Seilwinden und Seile • Bohrmaschinen • Verankerungsmaterial • Erste-Hilfe-Material • Schulungsspezifische Aufwendungen • Kurse • Schulungen • Unterkunft
DIE ARBEIT DER HÖHLENRETTER
Bei der Arbeit der Höhlenretter handelt es sich ausschließlich um ehrenamtliche Tätigkeit. Im Rahmen der Landesübungen ist das immerhin die Teilnahme an vier Schulungstagen im Jahr. In den einzelnen Einsatzstellen gibt es auch noch mehrere ganztägige Übungen im Kalenderjahr. Dazu kommt die Arbeit bei Schauübungen und natürlich die Einsätze, die sehr zeitintensiv sein können. Die Höhlenretter stellen dabei nicht nur ihre Zeit, sondern auch ihre persönliche Ausrüstung zur Verfügung. Im Einsatz riskiert der Höhlenretter sicher auch manchmal sein Leben, da der Ernstfall natürlich viel mehr Risken als eine kontrollierte Übung mit sich bringt.
ABLAUF EINES EINSATZES
Im Falle eines Höhlenunfalls wird die Landesleitung bzw. die zuständige Einsatzstelle durch die Landeswarnzentrale (LWZ) oder die Polizei alarmiert. Jener Höhlenretter, der diesen Anruf entgegennimmt, übernimmt die weitere Alarmierung der Rettungskräfte. Zu seiner Entlastung kann dieser die weitere Alarmierung an die LWZ übertragen. Dort liegen die Notrufpläne und Telefonlisten für SMS-Alarmierung aller Einsatzstellen des Steirischen Landesverbandes für Höhlenrettung auf. Die Höhlenretter werden entweder vom Einsatzleiter über den Treffpunkt und
Details informiert bzw. melden sich bei SMS-Alarmierung telefonisch beim Einsatzleiter. Der Einsatzleiter gibt dann dem Höhlenretter die notwendigen Informationen. Vom Treffpunkt wird dann je nach Wetterlage, Jahreszeit und Ressourcen entweder zu Fuß, mit Tourenschiern oder per Hubschrauber zum Unfallort aufgebrochen. Zu diesem Zeitpunkt steht dann auch schon fest, welcher Retter die Einsatzleitung übernimmt. Der Einsatzleiter befindet sich immer außerhalb der Höhle und koordiniert den Einsatz üblicherweise zusammen mit der Alpinpolizei. Beispielsweise hat er die Aufgabe, Material, Essen, neue Helfer oder auch ganze neue Teams anzufordern. Damit die Höhlenretter in und vor der Höhle ungestört arbeiten können, übernimmt das Kriseninterventionsteam (KIT) des Landes Steiermark die Kommunikation mit der Presse und den Angehörigen. Die Informationen bekommt das KIT-Team vom Pressesprecher der Höhlenrettung. Der Vortrupp stößt so schnell wie möglich zum Verunfallten vor und übernimmt die Erstversorgung. Neben der medizinischen Versorgung ist es üblicherweise die wichtigste Aufgabe des Vortrupps, den Verunfallten vor weiterer Unterkühlung zu schützen und wenn irgendwie möglich aufzuwärmen und komfortabel zu lagern, damit er die lange Zeit bis zur Bergung gut übersteht. Der Verunfallte wird zu diesem Zweck wenn möglich auf Matten in einem Wärmezelt aus Rettungsfolie gelagert. Geheizt wird dieses Zelt mit der üblichen Karbidlampe oder einem Kocher. Die Anforderungen an Höhlenretter des Vortrupps bestehen darin, möglichst schnell beim Verletzten zu sein und medizinische und psychische Hilfe für den Verletzten leisten zu können. Der Bergetrupp übernimmt den Ausbau des Transportweges und die eigentliche Bergung, was eine sehr zeitraubende Arbeit ist. Diese Arbeiten erfordern großes technisches Können und Wissen sowie ein hohes Maß an Erfahrung und Improvisationskunst. Die Vorbereitung zur Bergung besteht in erster Linie darin, den Weg in der Höhle so auszubauen, dass die Trage mit dem Verletzten und dem Tragebegleiter problemlos aus der Höhle gebracht werden kann. Dazu müssen beispielsweise in Engstellen Felsstücke weggesprengt oder weggestemmt werden, wenn die Trage nicht durchpassen sollte. Es müssen Seilbahnen in Steilstücken und Canyons eingebaut werden. Für senkrechte Höhlenteile wie Schachtstufen (diese können mehr als hundert Meter betragen) müssen Stationen mit Winden aufgebaut werden, damit die Trage mit dem Verletzten sowie dem Tragebegleiter mit diesen Winden aufgezogen werden können. Der Transport des Verletzten erfolgt dann ebenfalls durch den Bergetrupp und einen Tragebegleiter, der den Verletzten mit der Trage begleitet und darauf achtet, dass dieser so glatt und erschütterungsfrei wie nur möglich an das Tageslicht kommt. Nach erfolgter Bergung wird der Verletzte je nach Lage der Höhle und Witterung an die Flugrettung, Rettung oder Berg-
Abb.2: Abtransport eines Verletzten aus dem Schmelzbachaustritt der Lurgrotte Peggau, Steiermark, durch die Höhlenretter der Einsatzstelle Graz. Diese Bergung fand anlässlich einer Schauübung zur Feier „110 Jahre Lurgrotte Peggau“ statt (Photo: D.I. Rüdiger Zenz).
rettung übergeben. Nach Ende der Bergung muss das ganze Material wieder ausgebaut und abtransportiert werden. Für den Bergetrupp werden in erster Linie kräftige, technisch gut geschulte und ausdauernde Höhlenretter benötigt. Nach dem Abbau des Materials erfolgt der Abtransport und die Heimfahrt der Retter. Zu Hause muss dann das persönliche Material und das Höhlenrettungsmaterial gereinigt und überprüft werden. Weiters muss ein Einsatzbericht erstellt werden und eventuelle Fragen von Polizei oder Staatsanwaltschaft beantwortet werden.
DANKSAGUNG
Informationen und konstruktive Kritik: Hildegard und Günter Lammer, im Vorstand des Steirischen Landesverbandes für Höhlenrettung
LITERATUR
Kusch, H., Kusch, I.: Die Höhlen der Steiermark; Steirische Verlagsgesellschaft; Graz; 1.Auflage; (1998)
Marbach, G., Tourte, B., Alspaugh, M.: Alpine Caving Techniques. A Complete Guide to Safe and Efficient Caving; Speleo Projects Caving Publications International; 1. Auflage; (Juli 2002)
Wolfgang Schobersberger und Hugo Partsch
Neues zur Reisethrombose: Update 2006
SUMMARY
In 2001 a German-speaking consensus conference on the topic of travel thrombosis was held in Vienna. Results of this meeting were published. In the past five years the scientific knowledge of travel thrombosis has increased concerning incidence, pathophysiology and prevention. Among others we know that thromboembolic events not only can occur during long-haul flights but were also reported after long distance bus and car travel. It is difficult to assess the true incidence of travel thrombosis. However, recent studies reported a 2–3 fold increase of deep vein thrombosis after long-haul flights as compared to control groups. Furthermore, travel thrombosis is associated with known risk factors for venous thromboembolism, e.g. factor V Leiden, obesity, oral contraceptives. Some studies could demonstrate that moderate hypoxia on board of an aircraft may not be a crucial pathophysiological factor for the development of travel thrombosis. In March 2006 the “International Conference on the Prevention of Travel Thrombosis” was held at the UMIT in Hall, Tyrol. Aim of this meeting was to update the recommendations of 2001. Part of this update is presented in this review.
Keywords: traveller´s thrombosis, thromboprophylaxis, venous thromboembolism, long-distance travel
ZUSAMMENFASSUNG:
Im Jahr 2001 fand in Wien eine deutschsprachige Konsensuskonferenz zum Thema „Reisethrombose“ statt. Die Ergebnisse dieser Konferenz wurden kurz danach publiziert. In den vergangenen Jahren hat der Wissensstand um die Inzidenz, Pathophysiologie und Prävention der Reisethrombose deutlich zugenommen. So wissen wir u.a., dass thromboembolische Ereignisse nicht nur nach Langstreckenflügen, sondern auch nach Bus- und PKW-Reisen vorkommen können. Die genaue Inzidenz ist schwierig festzustellen; die Risikozunahme gegenüber Nicht-Reisen wird mit dem Faktor 2–3 angegeben. Tatsache ist, dass das Risiko einer Reisethrombose mit prä-existierenden Risikofaktoren für eine
Thromboembolie (z.B. Faktor-V-Leiden, Einnahme oraler Kontrazeptiva, Übergewicht) signifikant ansteigt. Weiters konnte in mehreren Studien gezeigt werden, dass die Bedeutung der moderaten Hypoxie während eines Langstreckenflugs hinsichtlich der Pathophysiologie der Reisethrombose überschätzt wurde. Im März 2006 fand eine internationale Tagung zur Prävention der Reisethrombose an der UMIT in Hall, Tirol, statt. Anlässlich dieser Konferenz wurden die Empfehlungen von 2001 aktualisiert. Die ersten Ergebnisse werden in der folgenden Übersichtsarbeit präsentiert.
Schlüsselwörter: Reisethrombose, Thromboembolie, Thromboseprophylaxe, Langstreckenflug
EINLEITUNG
Seit einigen Jahren findet im Frühsommer das medial inszenierte Thema der Reisethrombose in der Presse Einzug. Wird seitens der Medien nicht selten die Reisethrombose in Bezug auf die tatsächliche Inzidenz mit Horrorzahlen bedacht, so wird in medizinischen Fachkreisen diese Thematik doch oftmals ins Abseits gedrängt. Gesundheitliche Aspekte von Langstreckenflügen betrifft eine großes Klientel an Reisenden. Für die Alpin- und Höhenmedizin ist dieses Thema von mehreren Seiten relevant. Zum einen herrscht an Bord eines Langstreckenflugs eine moderate Hypoxie, entsprechend einer Höhe bis zu 2.450 m. Zum anderen sind Langstreckenflüge für viele Reisende Voraussetzung, um an den Ausgangspunkt für Trekkingtouren oder Expeditionen zu gelangen. Ziel des vorliegenden Artikels ist es, eine Zusammenfassung über das derzeitige Wissen zur Reisethrombose zu vermitteln und die ersten Erkenntnisse der „International Conference on the Prevention of Travel Thrombosis“, welche im März 2006 an der UMIT in Hall stattgefunden hat, zu präsentieren.
AKTUELLE PUBLIKATIONEN ZUM THEMA REISETHROMBOSE
Ausgewählte Publikationen der letzten drei Jahre werden im Folgenden besprochen und nach Schwerpunkten unterteilt.
Studien mit Fokus auf Inzidenz der Reisethrombose
2003 veröffentlichte eine Dresdner Forschungsgruppe interessante Daten zur Inzidenz der Reisethrombose (1). Über 2000 Probanden wurden für diese prospektive, kontrollierte Kohortenstudie rekrutiert. Eine Personengruppe nahm an einem mindestens 8-stündigen Langstreckenflug teil, die Kontrollgruppe
bestand aus Probanden, die während der Beobachtungszeit der Studie keinen Langstreckenflug durchführten. Tiefe Beinvenenthrombosen (TVT) wurden mittels Kompressionssonographie sowie D-Dimer-Analyse innerhalb von 2 Tagen nach Langstreckenflug evaluiert. Beinvenenthrombosen wurden in 2,8% der Reisenden und in 1% der Kontrollgruppe nachgewiesen (Risikoratio 2,83). Bei einem der Passagiere mit Beinvenenthrombose trat zudem eine symptomatische Pulmonalembolie (PE) auf. Alle der Reisenden mit TVT hatten mindestens einen nachweisbaren Risikofaktor für eine TVT. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Langstreckenflüge das Risiko für isolierte Beinvenenthrombosen verdoppeln, vor allem bei gleichzeitigem Bestehen von zusätzlichen Risikofaktoren. Ziel der BEST-Studie (2) war es, die Inzidenz venöser Thromboembolien bei Reisenden mit niedrigem und mittlerem TVT-Risiko in Abhängigkeit von Economy Class (719 Passagiere) und Business Class (180 Passagiere) zu klären. Die Teilnehmer wurden vor und nach dem Flug von London nach Johannesburg untersucht. Kein Passagier hatte eine sonographisch nachgewiesene TVT. Bei 7% der Economy-Reisenden und 12% der Business-Reisenden wurden nach Ankunft erhöhte D-Dimere gemessen, der Unterschied war nicht statistisch signifikant. Ein weiteres Projekt mit der Fragestellung der Inzidenz der Reisethrombose wurde von Paganin et al. durchgeführt und publiziert (3). In einem Zeitraum von einem Jahr wurden Ärzte der Reunion-Inseln nach PatientInnen mit TVT nach Langstreckenflug (Entfernung Nonstop-Flug etwa 10.000 km von Paris) befragt und mit einer Kontrollgruppe verglichen, die innerhalb von 2 Wochen nach Ankunft auf den Reunion-Inseln hinsichtlich TVT asymptomatisch blieb. Unter den fast 400.000 Passagieren, die von Paris zu den Reunion-Inseln flogen, befanden sich 46 Personen mit TVT und/oder PE. Im Vergleich zur Kontrollgruppe (18%) hatten 82% der Patienten mit TVT/PE zusätzliche Risikofaktoren wie Übergewicht, Varikositas, bereits durchgemachte TVT, Immobilität während des Flugs sowie kurz zurückliegende Traumen. Die Autoren kommen zum Schluss, dass die Reisethrombose mit zusätzlichen thromboembolischen Risikofaktoren assoziiert ist. Der Frage, ob es Interaktionen von Thrombophilie, oralen Kontrazeptiva und Reisethrombose gibt, sind Martinelli et al. (4) nachgegangen. 210 PatientInnen, die innerhalb eines Beobachtungszeitraums von 2 Jahren ein thromboembolisches Ereignis aufzuweisen hatten, wurden mit 210 gematchten Kontrollpersonen ohne VTE-Anamnese verglichen. 15% der Patienten gaben anamnestisch eine Langstreckenreise (mehr als 8 h Flugdauer) an (Odds-Ratio im Vergleich zu den Kontrollen 2,1). Die Odds-Ratio für eine Thromboembolie aufgrund eines Langstreckenflugs betrug 3,0. Eine Thrombophilie konnte in 49% der Patienten und 12% der Kontrollpersonen nachgewiesen werden, 61% der weibli-
chen Patientinnen sowie 27% der Frauen in der Kontrollgruppe nahmen orale Kontrazeptiva. Während für die Gesamtpopulation der Probanden die Flugreise per se das Thromboembolie-Risiko verdoppelte, stieg das diesbezügliche Risiko bei Thrombophilie auf das 16-fache und jenes durch die Einnahme der „Pille“ auf das 14-fache an. In einer retrospektiven Analyse (Zeitraum 5 Jahre) untersuchten Perez-Rodriguez et al. (5) die Inzidenz von Pulmonalembolien bei Passagieren, die am Internationalen Flughafen von Madrid ankamen und aufgrund von Gesundheitsproblemen in ein Madrider Spital eingewiesen wurden. Während des Untersuchungszeitraums wurden 41 Passagiere mit Symptomen einer TVT oder PE im Hospital aufgenommen. In 16 Fällen wurde die PE bestätigt, wobei ein oder mehrere Risikofaktoren wie Übergewicht, Varikositas, Malignome oder anamnestischer Hinweis auf bereits durchgemachte PE vorhanden waren. Bezogen auf die 41 Millionen Ankünfte am Madrider Flughafen wurde eine Inzidenz für die PE von 0,39 Fällen pro 1 Million Passagiere errechnet. Keine PE trat unter einer Reisedauer von 6 h auf, die Inzidenz stieg mit Reisedauer. So betrug diese bei einem Langstreckenflug von mehr als 10 h 1,65/ 1 Million Reisenden. Ziel der sog. NZATT-Studie (New Zealand Air Traveller´s Thrombosis Study) war es, die Inzidenz der Reisethrombose in Abhängigkeit von TVT-Risikofaktoren zu evaluieren (6). In dieser prospektiven Studie wurden über 800 Personen eingeschlossen, die länger als 4 h per Flugzeug reisten. D-Dimere wurden vor und nach Flug gemessen. Nur Personen mit negativem D-Dimertest vor Abflug wurden in die Studie einbezogen. Jene Reisenden, die nach dem Flug ein erhöhtes D-Dimer hatten oder innerhalb 3 Monate nach dem Flug klinische Zeichen einer TVT/PE entwickelten, wurden einer bilateralen Kompressionssonographie und/oder einer CT-Untersuchung unterzogen. Bei 1% der Reisenden konnte während der Untersuchungsphase nach dem Flug ein thromboembolisches Ereignis nachgewiesen werden (5 Fälle mit TVT, 4 Fälle mit PE). Bemerkenswert war die Tatsache, dass kein Patient als Hochrisiko-Patient für eine TVT eingestuft wurde.
Studien mit Fokus auf Pathophysiologie der Reisethrombose
Historisch gesehen wurde über mehrere Jahrzehnte der Begriff Reisethrombose synonym mit Flugthrombose bzw. „Economy Class Syndrome“ verwendet. Dies basierte auf der Annahme, dass es die spezifischen Gegebenheiten an Bord eines Langstreckenflugzeugs sind, die zu einer Thromboembolie disponieren können. Hierzu wurden bzw. werden folgende Einflussgrößen gerechnet: Beengtes Sitzen, Lufttrockenheit und milder Sauerstoffmangel. Eine der wesentlichen Änderungen während eines Langstreckenflugs ist der Abfall des Sauerstoffdruckes in der Kabine. Die Druckkabine eines Großraumflugzeugs
ist auf einen Barometerdruck eingestellt, der nach Erreichen der Flughöhe einer Höhe von etwa 2.450 m entspricht. Ob Hypoxie an sich eine Gerinnungsaktivierung verursacht, wird unterschiedlich bewertet. Bendz et al. (7) untersuchten die Blutgerinnung von 20 gesunden Probanden nach 8 h in einer hypobaren-hypoxischen Kammer, entsprechend einer Höhe von 2.400 m. Da die in-vivoMarker für eine aktivierte Gerinnung wie das Prothrombin-Fragment F1+2 und der Thrombin-Antithrombin-III-Komplex sowie die Aktivität von Faktor VII nach Exposition signifikant erhöht waren, folgern die Autoren, dass die hypobare Hypoxie das Risiko venöser Thrombosen verstärkt. Allerdings wurden die Daten von Bendz et al. heftigst kritisiert, da andere Untersucher selbst in großen Höhen um 4.500 m keine Aktivierung der Blutgerinnung nachweisen konnten (8). Unsere Arbeitsgruppe führte anlässlich der Studie „Economy Class Syndrome 2001“ vor, während und nach einem regulären Langstreckenflug (Wien–Washington und retour) Untersuchungen über den Einfluss des Fluges auf die Hämostase durch (9). Insgesamt nahmen 20 Probanden teil, 10 mit einem geringen und 10 mit einem mittleren Risiko für die Entstehung einer VTE (gemäß 10). Wir konnten mittels Thrombelastographie (ROTEM®) nachweisen, dass es bei allen Reisenden zu einer moderaten Aktivierung der Blutgerinnung kam, begleitet von einer Hemmung der Fibrinolyse. Zudem fanden wir nach der Flugreise Anstiege der Gerinnungsfaktoren FVII und FVIII sowie eine Verkürzung der aPTT. Da die Probanden ausreichend Flüssigkeit zu sich nahmen und der Hämatokrit unverändert blieb, kann eine durch die Lufttrockenheit im Flugzeug verursachte Hämokonzentration ausgeschlossen werden. Ob diese moderate Gerinnungsaktivierung flugbedingt ist oder primär durch das Sitzen entsteht, klärten wir in der Folgestudie. Exakt dasselbe Studienprotokoll wurde vor, während und nach einer 10-stündigen Busfahrt (Innsbruck–Rom–retour) durchgeführt. Im Wesentlichen waren die Änderungen im Gerinnungssystem nach der Busreise vergleichbar mit jenen der Flugreise (11). Demnach dürfte dem milden Sauerstoffmangel im Flugzeug keine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Thromboembolien zukommen. Dasselbe dürfte für den Einfluss der Lufttrockenheit (3–15 %) an Bord gelten, solange die Passagiere ausreichend Flüssigkeit aufnehmen bzw. in gut hydriertem Zustand die Reise antreten. Problematisch könnte die Situation für Touristen werden, die nach einem Auslandsaufenthalt infolge infektiöser gastrointestinaler Erkrankungen dehydriert bzw. exsikiert den Rückflug antreten. Während eines simulierten 10-stündigen Langstreckenflugs (normobare Hypoxie entsprechend 2.300 m Höhe) untersuchten wir den Einfluss der Sitzqualität auf die Gerinnungsänderungen (12). Es wurden neue Flugsitze verwendet, die sich durch eine spezielle, sich an die Körperform anpassende Polsterung auszeichneten (Fa. Greiner PurTEC, Schwanenstadt, Ö). Im Gegensatz zu unserer Flug- und Busstudie fanden wir
keine relevante Veränderung in der Koagulation und Fibrinolyse. Ein signifikanter Einfluss von Hypoxie auf die Hämostase wird zunehmend bezweifelt (Übersicht siehe 13, 14). Eine rezente Studie zu diesem Thema wurde kürzlich von Toff et al. als Teilprojekt der sog. WRIGHT-Study der WHO veröffentlicht (15). In einer einfach-verblindeten, Cross-Over-Studie wurden diverse Gerinnungsparameter nach einem simulierten Langstreckenflug (8stündiges Sitzen in hypobarer Hypoxie) mit jenen nach einer 8-stündigen Exposition in normobarer Normoxie verglichen. Es konnten keine Unterschiede in den wichtigsten Markern von Koagulation und Fibrinolyse zwischen beiden Untersuchungsbedingungen gefunden werden. Änderungen dieser Marker innerhalb einer Gruppe wurden interpretiert als „sitzbedingt“ bzw. verursacht durch den Einfluss zirkadianer Rhythmik. Im Rahmen der WRIGHT-Study wurde kürzlich eine weitere Studie publiziert. Schreijer et al. (16) verglichen in einem Crossover-Design Änderungen in der Hämostase unter Bedingungen eines realen 8-stündigen Langstreckenflugs, eines 8-stündigen „Kino-Marathons“ und eines normalen Arbeitstags. Im Gegensatz zum Kinobesuch und regulärem Arbeitstag gab es nach dem Langstreckenflug Hinweise für eine aktivierte Koagulation und Fibrinolyse (sign. Anstieg der TAT-Komplexe und DDimere). Diese Veränderungen waren vor allem in weiblichen Testpersonen mit nachgewiesenem Faktor-V-Leiden-Mangel sowie gleichzeitiger Einnahme der „Pille“ ausgeprägt.
Studien mit Fokus auf Prävention der Reisethrombose
Nur wenige Studien haben sich mit prophylaktischen Maßnahmen zur Verhinderung der Reisethrombose auseinander gesetzt. Scurr et al. (17) untersuchten die Inzidenz der TVT und deren Prävention durch das Tragen von Kompressionsstrümpfen bei Langstreckenflügen. Während 10% der Reisenden, die keinen Kompressionsstrumpf trugen, symptomlose, mittels Duplex-Untersuchung diagnostizierte Thromben im Bereich von Unterschenkelvenen zeigten, wurde in der Gruppe der Reisenden mit Kompressionsstrumpf keine TVT nachgewiesen. Allerdings wurde diese Studie durch die ungewöhnliche Effektivität der Kompressionsstrümpfe sowie die sehr hohe Rate an TVTs oftmals kritisiert. Eine italienische Forschungsgruppe führte eine Serie von Studien durch, die unter dem Namen LONFLIT veröffentlicht wurden. Untersuchungen im Rahmen der LONFLIT2-Studie (18) kamen zum Ergebnis, dass das Verwenden von Kompressionsstrümpfen bei Reisenden mit hohem TVT-Risiko die Rate an subklinischen Thrombosen von 4,5 % auf 0,24 % reduzieren konnte. Allerdings sind diese Ergebnisse höchst zweifelhaft: Die TVT-Rate der Kontrollgruppe von 4,5%, diagnostiziert mittels Kompressionssonographie innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Flug ist enorm hoch, zumal die verwendete Methode prak-
tisch nur proximale Thrombosen erfasst. Es überrascht, dass bei insgesamt über 2.600 untersuchten Passagieren kein einziges symptomatisches thromboembolisches Ereignis beobachtet wurde. Zudem wurde die Ultraschall-Diagnostik nicht-verblindet durchgeführt („observer bias“). In der LONFLIT3-Studie (19) wurde die Effizienz von medikamentöser TVT-Prophylaxe (Aspirin 400 mg per os für 3 Tage, Beginn 12 Stunden vor dem Flug vs. einmalige s.c. Gabe von NMH Enoxaparin 1000 IU/10 kg KG, 2 bis 4 Stunden vor dem Abflug) bei Flugreisenden mit hohem TVT-Risiko untersucht. Die Ultraschall Ergebnisse für das Auftreten einer TVT waren wie folgt: 4,82 % in der Kontrollgruppe, 3,6% in der Aspirin-Gruppe und keine TVT in der Enoxaparin-Gruppe. Die Autoren schließen aufgrund der statistisch niedrigeren Rate an TVT bei der Enoxaparin-Gruppe, dass die Anwendung eines NMH für Langstreckenflüge von Hochrisiko-Passagieren optional gegeben werden soll. Die Daten von LONFLIT4 wurden mehrfach publiziert. Insgesamt wurde nachgewiesen, dass die Verwendung von Kompressionsstrümpfen die Beinschwellung vermindert sowie das Auftreten einer TVT- bei Reisenden mit niedrigem bis mittlerem Risiko vermindern bzw. teilweise verhindern kann (20). In einer weiteren Studie (LONFLIT-FLITE, 21) wurde ein erstaunlicher Effekt des Profibirinolytikums Pinokinase hinsichtlich TVT-Reduktion nach Langstreckenflug beschrieben. Allerdings sei erwähnt, dass die LONFLIT-Daten international heftig kritisiert wurden, nicht zuletzt auf Grund von verifizierten Plagiatsvorwürfen an den Studienleiter bei einer großen, epidemiologischen Untersuchung, und dass deshalb größte Vorsicht vor bedenkenloser Interpretation geboten ist. Zusammenfassend sei betont, dass es bislang keine großen prospektiv-randomisierten und verblindeten Studien über die präventive Wirkung von Medikamenten wie niedermolekulare Heparine oder Azetylsalizylsäure gibt. Von Aspirin kann keine ausreichende Prophylaxe von Thromben in der venösen Strombahn erwartet werden. Niedermolekulare Heparine sind die derzeit am meisten verwendete Substanzgruppe zur allgemeinen Thromboseprophylaxe. In Analogie zum internistischen Risikopatienten wird generell die Hochrisikodosierung zur Prophylaxe empfohlen. Normalerweise werden diese Substanzen unmittelbar vor Reiseantritt appliziert. Mehrmalige Anwendungen dürften bei langen Reisen empfehlenswert sein, was allerdings mit speziellen Risiken verbunden ist. Das Verhältnis Risiko zu Benefit gilt es in Erwägung zu ziehen und die potentiellen Gefahren eines „Off-Label-Use“ sollten mit dem Patienten diskutiert werden.
INTERNATIONALE EXPERTENTAGUNG AN DER UMIT
Im Jahr 2001 fand in Wien ein deutschsprachiges Expertenmeeting zum Thema Reisethrombose statt. Die Ergebnisse dieser Konferenz wurden in diversen
Fachzeitschriften veröffentlicht (10). Seit der Wiener Konferenz 2001 wurden über 200 Beiträge unter dem Stichwort „Travel Thrombosis“ in der Datenbank Medline registriert. Aufgrund der Wichtigkeit des Themas haben sich Teilnehmer des Wiener Meetings entschlossen, eine internationale Konferenz mit dem Ziel der Aktualisierung der Ergebnisse von 2001 einzuberufen. Unter dem Titel „Prävention der Reisethrombose“ nahmen internationale Experten (siehe Anhang 1) an der 2-tägigen Konferenz an der UMIT (Private Universität des Landes Tirol) in Hall, Tirol, Österreich, teil. Die ersten Aktualisierungen zur Reisethrombose anlässlich der Haller Tagung werden im Folgenden präsentiert.
DEFINITION DER REISETHROMBOSE
Unter dem Begriff „Reisethrombose“ versteht man das Auftreten von venösen Thromboembolien, die während oder innerhalb von vier Wochen nach einer Langstreckenreise entstehen. Die Untergruppe „Flugthrombose“ wird definiert als Thrombose die auftritt, wenn der Großteil der Langstreckenreise per Flugzeug absolviert wurde.
REISETHROMBOSE-RISIKOGRUPPEN
In Analogie zur Risikostratefizierung bei Hospitalspatienten werden drei Risikogruppen vorgeschlagen. Während jede Langstreckenreise bei Personen, die kein Risiko für eine DVT aufweisen mit einem niedrigen Risiko verbunden sein dürfte (Gruppe 1), dürften folgende Faktoren das DVT-Risiko erhöhen (Risikogruppe 2): Schwangerschaft oder postpartale Phase, Alter über 60 Jahre, nachgewiesene Thrombophilie/familiäre Disposition zur venösen Thromboembolie, große Varizen, chronisch venöse Insuffizienz, Ovulationshemmer, Hormonersatztherapie, Adipositas (Body Mass Index > 30). Zu Risikogruppe 3 werden Reisende mit folgenden Risikofaktoren gerechnet: Anamnestisch bekannte Thromboembolie, Manifeste maligne oder sonstige schwere Erkrankung, Immobilisation, kurz zurückliegender großer chirurgischer Eingriff. Die Details befinden sich in Vorbereitung zu einer internationalen Publikation.
LITERATUR
(1) Schwarz, T., Siegert, G., Oettler, W., Halbritter, K., Beyer, J. et al.: Venous thrombosis after long-haul flights. Arch. Intern. Med. 163, 2759–2764 (2003)
(2) Jacobson, B.F., Münster, M., Smith, A., Burnand, K.G., Carter, A. et al.:
The BEST study – a prospective study to compare business class versus economy class air travel as a cause of thrombosis. S. Afr. Med. J. 93, 522–528 (2003)
(3) Paganin, F., Bourde, A., Yvin, J., Genin, R., Guijarro, J.L. et al.: Venous thromboembolism in passengers following a 12-h flight: a case-control study. Aviat. Space Environ. Med. 74, 1277–1280 (2003)
(4) Martinelli, I., Taioli, E., Battaglioli, T., Podda, G.M., Passamonti, S.M.,
Pedotti, P., Mannucci, P.M.: Risk of venous thromboembolism after air travel. Arch. Int. Med. 163, 2771–2774 (2003)
(5) Perez-Rodriguez, E., Jimenez, D., Diaz, G., Perez-Walton, I., Luque, M. et al. : Incidence of air travel-related pulmonary embolism at the Madrid-
Barajas Airport. Arch. Intern. Med. 163, 2766–2770 (2003)
(6) Hughes, R.J., Hopkins, R.J., Hill, S., Weatherall, M., Van de Water, N. et al.: Frequency of venous thromboembolism in low to moderate risk long distance air travellers: the New Zealand Air Traveller´s Thrombosis (NZATT) study. Lancet 362, 2039–2044 (2003)
(7) Bendz, B., Rostrup, M., Sevre, K., O Andersen, T., Sandset, P.M.: Association between acute hypobaric hypoxia and activation of coagulation in human beings. Lancet 356, 1657–1658 (2001)
(8) Bärtsch, P., Straub, P.W., Haeberli, A.: Hypobaric hypoxia. Lancet 357, 955 (2001)
(9) Schobersberger, W., Fries, D., Mittermayr, M., Innerhofer, P., Sumann, G. et al.: Changes of biochemical markers and functional tests for clot formation during long-haul flights. Thromb. Res. 108, 19–24 (2003)
(10) Partsch, H., Niessner, H., Bergau, L., Blättler, W., Cerny, J. et al.: Traveller´s thrombosis 2001. VAS 31, 66–67 (2002)
(11) Schobersberger, W., Mittermayr, M., Innerhofer, P., Sumann, G., Schobersberger, B. et al.: Coagulation changes and edema formation during long-distance bus travel. Blood Coagul. Fibrinolysis 15, 419–425 (2004)
(12) Schobersberger, W., Mittermayr, M., Fries, D., Innerhofer, P., Klingler, A. et al.: Changes in blood coagulation of arm and leg veins during a simulated long-haul flight. Thromb. Res. (2006). In press.
(13) Schobersberger, W., Innerhofer, P., Sumann, G., Mittermayr, M., Schobersberger, B., Fries, D.: Auswirkungen der Hypoxie auf die Blutgerinnung – gibt es wissenschaftliche Evidenz? In: Domej, W., Schobersberger, W., Waanders, R., Berghold, F. (Hrsg.) Jahrbuch 2005 der Österr.
Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin, Raggl digital graphic+print
GmbH, Innsbruck, 47–64 (2005)
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ANHANG 1 Liste der Teilnehmer am Haller Expertenmeeting
Eklöf Bo, Helsingborg, Schweden Fraedrich Gustav, Abteilung für Gefäßchirurgie, Universitätsklinik für Chirurgie, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich Gunga Hanns-Christian, Institut für Physiologie, Charité Campus Benjamin Franklin – Zentrum für Weltraummedizin, Berlin, Deutschland Haas Peter, Allgemeinarzt, Phlebologe, München, Deutschland Haas Sylvia, Institut für Experimentelle Onkologie und Therapieforschung, München, Deutschland Landgraf Helmut, Klinik für Innere Medizin – Angiologie und Hämostaseologie, Vivantes Klinik, Berlin, Deutschland Frédéric Lapostolle, Assistance Hopitaux Publique Paris, Bobigny, Frankreich Partsch Hugo, Phlebologe, Dermatologe, Wien Perschler Florian, Kraft & Winternitz-Rechtsanwälte-GmbH, Wien, Österreich Schellong Sebastian, Abteilung für Angiologie, Universitätsspital Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland Schnapka Jörg, Facharzt für Chirurgie, Innsbruck, Österreich Schobersberger Beatrix, Institut für Urlaubs-, Reise- und Höhenmedizin, UMIT und PKH, Hall in Tirol, Österreich Schobersberger Wolfgang, Institut für Urlaubs-, Reise- und Höhenmedizin, UMIT, Hall in Tirol, Österreich Toff William D., Department of Cardiovascular Sciences, University of Leicester, Glenfield Hospital, Leicester, Großbritannien Watzke Herbert, Klinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien, Österreich
Wir bedanken uns bei folgenden Firmen für ihre Unterstützung: Astellas, Bauerfeind, Danner, Fresenius Kabi, Ganzoni Management, GlaxoSmithKline, Heindl, Medi Austria, Organon, Sanofi-Aventis
DANK DER HERAUSGEBER
CHEMOMEDIKA
CHM HELI -SKIING
DAV SUMMIT CLUB
EISELIN SPORT
FRESENIUS KABI
ÖSTERREICHISCHER ALPENVEREIN
SCHNELZER & PARTNER
VERBAND DER ÖSTERREICHISCHEN BERG- UND SCHIFÜHRER