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Zuerst die Notdurft – dann der Notruf: Menschen in Not entwickeln verblüffenden Ideenreichtum, um Retter auf sich aufmerksam zu machen

Zuerst die Notdurft –dann der Notruf

Am kreativsten ist der Mensch in der Krise. Die wichtigsten Erfindungen entstehen meist in Krisenzeiten – und Menschen in Not entwickeln verblüffenden Ideenreichtum, um Retter auf sich aufmerksam zu machen.

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«Ich würde laut um Hilfe schreien», antworten die meisten auf die Frage, wie sie in einer Notlage Rettung alarmieren würden. Doch was, wenn niemand die Schreie hören kann? Was, wenn man nicht schreien kann – oder will, weil nicht nur potenzielle Retter aufmerksam würden, sondern auch der Bösewicht, der einen bedroht? Sieben Tatsachenberichte zeigen, welche kuriosen Kommunikationsmethoden Menschen in Not seit 2015 schon erfolgreich angewandt haben.

Schreiben statt schreien

Im Juli 2017 schloss sich in Corpus Christi, Texas, ein Mechaniker selbst im winzigen Raum hinter einem Bankomaten der Bank of America ein – als er das Schloss der Tür wechselte. Das Problem: Er arbeitete an einem Mittwoch –und damit ausserhalb der Öffnungszeiten –, es gab keinen Notrufschalter und sein Handy lag im Auto. Zwar hörte er,

» Als ein Monteur in einem solchen Bankomaten der Bank of America eingeschlossen war, flehte er mithilfe handgeschriebener Zettelchen um Hilfe. Mit Erfolg!

» Im behindertengerechten WC des ICE 4 der Deutschen Bahn gibt es eine Notruftaste. Fährt man in einem nicht so modernen Zug, kann ein WC-Besuch in einen Notruf münden, wie Grünen-Politiker Matthias Oomen leidvoll erleben musste.

wie Menschen Geld abhoben. Doch die hörten seine Hilferufe und Klopfzeichen nicht. In seiner Not steckte der Mann kleine Zettel mit der Nachricht «Helft mir! Ich stecke fest und habe mein Telefon nicht dabei. Bitte ruft meinen Boss an. Tel. …» durch den Schlitz des Quittungsdruckers. Gottlob hatte er genug Papier, denn viele Menschen vermuteten einen Streich. Erst nach Stunden nahm jemand den Hilferuf ernst – und rief die Polizei herbei, die den Mechaniker unverletzt befreite.

Ebenfalls auf Zettelchen vertraute Anfang Februar 2021 eine Frau aus Wörgl im Bezirk Kufstein. Als ihr stark alkoholisierter Partner (29) sie mit einer CO2-Pistole bedrohte, flüchtete sie ins Bad und warf Papierzettel mit einem Hilferuf aus dem Fenster. Eine Bewohnerin des Mehrparteienhauses fand die Botschaft, schlug Alarm – und wenig später überwältigten Angehörige des Polizei-Sonderkommandos Cobra den in der Wohnung verschanzten Täter.

BMI Österreich » Als eine von ihrem Partner bedrohte Frau im österreichischen Wörgl Zettelchen mit einem Hilferuf aus dem Fenster warf, rückte innert Kürze die Spezialeinheit Cobra (hier bei einer Übung) an –und befreite sie.

Grössere «Umwege» in Kauf nehmen

Im Juli 2018 gerieten ein Bergführer und seine Begleitung am Cima del Lago in den Dolomiten in Not. Als sie keine Verbindung zur Bergrettung aufbauen konnten, schickten sie eine WhatsApp-Nachricht an einen Bekannten in Dortmund. Der alarmierte über den Notruf 112 die Dortmunder Feuerwehr, welche die ungefähre Position der Bergsteiger via eine italienische Leitstelle an die Bergrettung im südtirolischen Wolkenstein weiterreichte. Kurz danach waren die Männer in Sicherheit.

Ob das Paar, das im Juni 2020 im slowenischen TriglavNationalpark Hilfe benötigte, diese Geschichte kannte, ist unbekannt. Sicher ist: Als die Frau beim Aufstieg auf den Berg Jalovec auf einem Schneefeld abrutschte und in ein Geröllfeld stürzte, rief ihr Partner den in München wohnhaften Bruder der Frau an. Dieser informierte die integrierte Leitstelle in München, welche die Touristeninfo des Triglav-Nationalparks kontaktierte, die wiederum die Polizei alarmierte, welche letztlich die Bergwacht in Marsch setzte – zu Fuss, da schlechtes Wetter einen Helikoptereinsatz vereitelte. Nach einer Nacht im provisorischen Biwak trugen die Bergretter die Frau ins Tal, wo sie der Helikopter aufnahm und ins Spital flog.

Klopfzeichen geben

Im April 2020 fuhr ein Mann aus Würzburg nach Rostock. In Erfurt wollte er übernachten, fand aber – die Corona-Massnahmen grüssen – spät in der Nacht keine Unterkunft. Kurzerhand legte er sich für ein Nickerchen in den Kofferraum seines zweisitzigen Mercedes SLK. Als der Kofferraumdeckel zuschlug, war er gefangen. Erst nach vier Stunden hörte eine Passantin sein Klopfen und Schreien. Die eilig herbeigerufene Polizei öffnete den Kofferraum – erhielt aber keine Antwort auf die Frage, weshalb sich der Mann nicht einfach auf den Beifahrersitz gelegt hatte.

Online eine Pizza bestellen

Im Mai 2015 wurde eine Frau aus Avon Park, Florida, Opfer einer häuslichen Geiselnahme. Ihr Lebensgefährte entwendete ihr im Streit das Handy und bedrohte sie mit einem langen Messer, sogar, als die Frau die Kinder aus der Schule abholte. Letztlich konnte die Frau dem Täter die Erlaubnis abringen, eine Pizza für die Kinder bestellen zu dürfen – online. Dabei schrieb die Frau «911 hostage help!» (911 Geisel Hilfe!) ins Kommentarfeld. Die Köchin der nahe gelegenen Pizza-Hut-Filiale, bei der die Frau Stammkundin war, reagierte goldrichtig – und informierte die Polizei. Diese konnte den 26-jährigen Täter zum Aufgeben bewegen und festnehmen.

Twittern – auch wenn’s peinlich ist

Am 22. April 2018 plagte den deutschen Grünen-Politiker Matthias Oomen im Zug ein dringendes Drängen – und er begab sich aufs Zug-WC. Nach Verrichtung seiner Notdurft sah er sich zum Notruf gezwungen: Die Tür der Zug-Toilette war verklemmt, Oomen sass fest. Kurzerhand twitterte er an die Deutsche Bahn: «Ich bin im EC Berlin–Dresden und aus irgendeinem Grund blockiert die Tür der Toilette. Notrufsprechstelle gibt es nicht. Ich würde gerne in Neustadt raus. Könnt ihr mir helfen?»

Die Deutsche Bahn reagierte umgehend – und fragte: «Also sind Sie in der Toilette eingesperrt?» Oomen, der bereits erfolglos versucht hatte, die Tür einzutreten, bestätigte – und wurde am Bahnhof in Dresden-Neustadt befreit. Die Zugtoilette sei nun «ein Fall für das Ausbesserungswerk», twitterte Oomen später. «Na besser, als bis Budapest mitfahren zu müssen», erwiderte die Deutsche Bahn. Die ungarische Hauptstadt war nämlich das Endziel des Zugs.

Die Aufmerksamkeit, die er durch Berichte über das Missgeschick bekam, nutzte Oomen für einen Spendenaufruf: «Wenn du darüber gelacht hast, dass ich auf der Toilette eingesperrt war, spende doch ein wenig an die @Bahnhofsmission!», twitterte er. Die helfe nämlich auch, «wenn alles nur zum Heulen ist».

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