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Das zentrale Nervensystem

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Kommentar

Kommentar

Das Ziel in den leichtathletischen Wurfdisziplinen ist stets dasselbe: eine möglichst hohe Abfluggeschwindigkeit des Wurfgeräts bei optimalem Abflugwinkel und entsprechender Abflughöhe zu realisieren. Diese Erfolgsformel führt zu maximalen Wurfweiten – sei es im Speerwurf, im Diskuswurf, im Kugelstoßen oder im Hammerwurf. Doch wer eine dieser Disziplinen beherrscht, ist nicht automatisch auch in anderen gut. Warum ist das so?

Schauen wir uns den Speerwurf einmal genauer an: Der Speerwurf ist durch einen geradlinigen Anlauf gekennzeichnet, der sich einerseits in ein zyklisches Bewegungsmuster, den Steigerungslauf, und ein azyklisches Bewegungsmuster, die speziellen Schrittbewegungen vor dem Abwurf, unterteilen lässt. Kennzeichnend für die Durchführung eines gelungenen Speerwurfs sind die Speerrückführung neben dem Kopf, der Impulsschritt, der anschließende Stemmschritt und letztendlich der Abwurf, der durch eine peitschenartige, über Kopfhöhe nach vorn schnellende Arm-Hand-Bewegung gekennzeichnet ist.

SPEER- VERSUS DISKUSWURF

Vergleichen wir diese Bewegungstechnik nun mit dem Diskuswurf, erkennen wir eklatante Unterschiede. Die gesamte Bewegungsausrichtung ist hier aufgrund seiner rotatorischen Elemente den Drehbewegungen zuzuordnen und grenzt sich dementsprechend stark von der geradlinigen Beschleunigungsbewegung ab. Im Gegensatz zum Speerwurf wird der Diskus nur mit den Fingerkuppen umfasst und der Auftakt sowie der Anschwung erfolgen über einen aufrechten und leicht drehenden Oberkörper. Zu den wesentlichen Kennzeichen des Diskuswurfs zählen die Drehung in die Wurfauslage, der Abwurf über eine Dreh-Streck-Bewegung gegen die eine fixierte Körperseite und der aktive Zug des Wurfarms, wenn der Oberkörper bereits halb in Wurfrichtung gedreht ist. Fest steht: Diese Wurfbewegungen weisen völlig unterschiedliche sportspezifische Bewegungscharakteristika auf. Da sich das Training dieser Wurfdisziplinen am jeweiligen Anforderungsprofil orientiert, unterscheiden sich diese ebenfalls erheblich voneinander. Doch hier ist noch längst nicht Schluss! Wer in der Analyse des sportlichen Anforderungsprofils nur biomechanisch-technische Ansatzpunkte berücksichtigt, ignoriert die anderen für die Bewegungsoptimierung entscheidenden Systeme. Denn wie viel Spannung unsere Muskeln während der einzelnen Bewegungsphasen erzeugen können, ist nicht allein auf propriozeptive Aspekte zu reduzieren. Wir müssen unsere wichtigste Steuerungszentrale für Bewegungen in die Analyse integrieren: das zentrale Nervensystem. Unser Gehirn muss in der Lage sein, genau das, was vom Trainierenden gefordert wird, auch umzusetzen. Es muss antizipieren können, welche Bewegungsanforderungen auf ihn zukommen, um ein bestmögliches Bewegungsprogramm zu erstellen.

BEWEGUNG AUF NEURONALER EBENE

Betrachten wir die Entstehung von Bewegung einmal auf neuronaler Ebene: Die zentrale Aufgabe des Gehirns ist immer das Sicherstellen unserer körperlichen Unversehrtheit. Sofern wir nicht in akuter Lebensgefahr schweben, wird diesem Vorgehen alles andere untergeordnet. Ob wir einen Speer mit maximaler Kraft über den Sportplatz werfen oder unserer Verlobten einen Streich spielen – dem zentralen Nervensystem ist das egal. Hauptsache, wir überstehen die Aktion unbeschadet und verletzen uns hierbei nicht. Dabei handelt unser zentrales Nervensystem als höchste steuernde Instanz in unserem Körper immer nach demselben Muster: Es empfängt durch Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Tasten, den Gleichgewichtssinn und das Temperaturempfinden sensorische Informationen aus der Außen- und Innenwelt, die es zeitgleich analysiert und interpretiert. All dies geschieht in den entwicklungsgeschichtlich alten, tieferen Hirnregionen, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Auf der Grundlage dieses Monitorings erstellt unser Gehirn eine Prognose über das, was als Nächstes passieren wird, und trifft so eine Entscheidung darüber, was die entsprechenden Organe und Systeme, die einen Output erzeugen, als Nächstes zu tun haben.

DIE INFORMATIONSLAGE VERBESSERN

Der Output ist dabei vom Input abhängig: Je präziser unseren Sinnesorganen die Wahrnehmung von Reizen gelingt, desto genauer kann unser zentrales Nervensystem die aktuelle und die zukünftige Situation prognostizieren. Maximale Sicherheit in der Bewegung entsteht dann, wenn die Informationsqualität aus den bewegungssteuernden Systemen als gut einzustufen ist. Wenn der Input aus den sensorischen Systemen jedoch lückenhaft ist, wird unser Gehirn annehmen, dass die aktuelle Situation nicht sicher ist. So kann unser Gehirn keine genaue Prognose über die kommende Situation abgeben und der Vorhersageprozess über das, was als Nächstes

passieren soll, geht schief. Damit wir uns potenziell nicht verletzen oder wehtun, schränkt das zentrale Nervensystem die Bewegung ein.

Gelingt es uns also, die Informationslage aus den Sinnesorganen im spezifischen Sportkontext zu verbessern, wird es wahrscheinlicher, unsere Wurfweite in der trainierten Disziplin zu erhöhen. Denn je sicherer das Gehirn die aktuelle Lage bewertet, desto weniger Maßnahmen zur Einschränkung der Bewegung sind aus Sicht des zentralen Nervensystems notwendig. Hier gilt das Prinzip der Spezifik: Nur weil wir durch regelmäßiges und gezieltes Training in einer der Wurfdisziplinen die sensorische Informationslage verbessern, bedeutet dies nicht automatisch einen vollständigen Transfer auf die anderen Wurfdisziplinen. Derjenige, der häufig geradlinige Bewegungen trainiert, wird bei rotatorischen Elementen voraussichtlich die Einschränkungen, die das zentrale Nervensystem auferlegt, nicht wesentlich mindern können. Denn nicht nur der willkürliche Anteil der Bewegung bleibt hier untrainiert, sondern auch die dazugehörige unbewusste, autonom ablaufende reflektorische Stabilisierung des Körpers für diese spezifische Bewegung.

DAS VISUELLE SYSTEM

Nichts beeinflusst das Gelingen von sportlichen Bewegungen so sehr wie das visuelle System. Unsere Augen liefern den größten Anteil an sensorischen Informationen und stellen dementsprechend den größten Input zur Gewährleistung von Sicherheit dar. Wie wir uns bewegen, hängt bis zu 70 Prozent von der Funktionalität und Verarbeitungskapazität unserer Augen ab. Dabei umfasst das visuelle System nicht nur das scharfe Sehen und Fokussieren von Gegenständen, sondern auch das periphere Sehen, die Tiefenrelation zu Objekten und die muskuläre Augenführung. Wollen wir also ein Wurfgerät mit voller Kraft über den Sportplatz werfen, muss unser visuelles System uns beispielsweise Informationen darüber liefern, wie weit die Distanz noch bis zur Abwurflinie ist, in welche Richtung wir uns überhaupt bewegen etc. Das visuelle System umfasst somit die gesamte Spanne von Informationsaufnahme, Verarbeitung und Auswertung der Informationen unserer Augen sowie die motorischen Bewegungsfähigkeiten der Augen selbst. Athleten sollten sich bewusst machen, dass schon geringe Informationsverluste oder Störungen in diesem komplexen System dazu führen, dass die Stabilität und die Präzision der Bewegung nachlassen und die Orientierung im Raum misslingt. Dementsprechend ist es notwendig, ein Augentraining durchzuführen, das die Geschwindigkeit und die Präzision der zu verarbeitenden Prozesse simuliert und nachhaltig verbessert. Dies kann ein Training der peripheren Wahrnehmung, eine Stärkung der Augen-

QUALITÄT DES INPUTS IST ENTSCHEIDEND

Ob die Bewegung reibungslos funktioniert, ist an die Qualität der sensorischen Informationen geknüpft, die die Grundlage für das spätere Bewegungsprogramm darstellen. Dabei sind vor allem drei Systeme als Informationsquelle gefragt: das visuelle System, das vestibuläre System und das propriozeptive System.

muskulatur, ein Wechsel des Blicks von einem Objekt in der Nähe zu einem in der Ferne oder Blickwechselsprünge umfassen – immer vor dem Hintergrund der jeweiligen Bewegungsanforderungen in Zusammenhang mit der Zielbewegung. Gelingt dies, können zusätzlich Anteile in Hirnregionen aktiviert werden, die an der Regulation der Rumpfstabilität beteiligt sind und somit ebenfalls einen positiven Beitrag im bewegungsspezifischen Wurftraining leisten.

DAS VESTIBULÄRE SYSTEM

Einen fast ebenso bedeutenden Platz in der Hierarchie der Bewegungssteuerung nimmt unser Gleichgewichtssystem ein. Unser Gleichgewichtsorgan sitzt im Innenohr und ist permanent mit zwei Fragen beschäftigt: Wo ist oben und in welche Richtung bewege ich mich? Um diese Fragen zu beantworten, verfügt unser Gleichgewichtsorgan über verschiedene Sensoren. Diese erfassen horizontale und vertikale Beschleunigungen sowie Rotationen des Kopfes und des Körpers. Die Rotationsbewegungen werden durch die sogenannten Bogengänge im Innenohr gemessen, die geradlinigen Beschleunigungen durch die Makulaorgane. Findet keine Beschleunigung des Kopfes oder des Körpers statt, bleibt die Aktivität der Sensoren des Gleichgewichts unverändert. Somit erfüllt das vestibuläre System im Zusammenspiel mit unserem Gehirn die wichtigen Aufgaben, den Körper gegen die Schwerkraft aufzurichten sowie Bewegungen im Raum zu koordinieren und zu steuern. Funktionsdefizite im Gleichgewichtssystem führen bei Wurfbewegungen immer zu Asymmetrien und Dysbalancen im Körper sowohl auf motorischer als auch auf struktureller Ebene. Je besser die Beschleunigung des eigenen Körpers hingegen kontrolliert und je klarer die eigene Bewegung innerhalb des Raums zugeordnet werden kann, desto sicherer und vorhersehbarer ist die Bewegung – und desto weitere Wurfweiten können erbracht werden. Eine gute technische Ausführung des Speerwurfs stellt logischerweise andere Anforderungen an unser Gleichgewichtssystem, als es der Diskuswurf tut. Aus diesem Grund ist es unverzichtbar, unser Gleichgewichtssystem auch im Training an die jeweils speziellen Gegebenheiten und Geschwindigkeiten des Körpers und des Wurfgeschosses zu gewöhnen.

DAS PROPRIOZEPTIVE SYSTEM ASSESSMENTS ZUR QUALITÄTSSICHERUNG

Das dritte System im Bunde ist das propriozeptive Um das Training bestmöglich am neuronalen AnforSystem, was mit Bewegungssystem übersetzt wer- derungsprofil einer Sportart auszurichten, ist es eine den kann. Über dieses System nimmt unser Gehirn der wichtigsten Maßnahmen, zu überprüfen, wie undie Bewegung wahr und reguliert sie letztendlich. ser Gehirn und unser zentrales Nervensystem auf die Im Gegensatz zu den beiden vorher genannten Sys- körperlichen Übungen reagieren. Assessments sind temen basiert das propriozeptive System nicht nur Bewertungsmodule, über die der Trainer beziehungsauf einem Sinnesorgan, sondern es besteht aus ei- weise der Trainierende herausfinden kann, ob die apner Vielzahl von Einflussfaktoren plizierte Trainingsintervention eine und Modellen – im Speziellen die positive, eine neutrale oder gar eine Gelenke, Muskeln, Sehnen, Faszi- negative Wirkung auf das zentrale en, Bänder etc. Zu den wichtigsten Nervensystem und das Gehirn ausAufgaben, die das propriozeptive gelöst hat. Ein Assessment ist ein System erfüllt, zählt die Wahrneh- unabhängiges Vorgehen zur Quamung der Stellung dieser Struk- litätssicherung des eigenen Traituren, um hierdurch ein ständig nings. Dazu wird eine bestimmte aktualisiertes dreidimensionales Bewegung (z. B. die Rumpfbeuge Bild der Bewegung zu erzeugen. oder die Ganzkörperrotation) vor Nur wenn unser Gehirn über die der Applikation des motorischen Mechanorezeptoren der Struktu- Stimulus getestet und nach Durchren weiß, wo sich beispielsweise führung der Intervention wiederunsere Gelenke gerade befinden holt und mit dem Ausgangswert und wie sie sich bewegen, ist es verglichen. Kann der Trainierende möglich, eine fein abgestimmte, in einem spezifischen Test-Reflüssige Bewegung zu erzeugen. test-Verfahren positive Ergebnisse Werden Bewegungen neu gelernt, vorweisen, wird von einem positiist dieser Bewegungsfluss noch ven Effekt des ausgeübten Reizes grob und unkoordiniert. Erst mit ausgegangen. In Bezug auf das der Zeit gewinnt die Bewegung an Rhythmus und Wurftraining sollten unterschiedliche ÜbungsmodaKontrolle. Der schnellste Weg, um das propriozep- litäten, unterschiedliche Reizdauern und natürlich tive System zu optimieren und dadurch die Vor- auch unterschiedliche Werkzeuge getestet werden, hersagbarkeit und die Qualität der Wurfbewegung mit denen Bewegungen optimiert werden können. zu verbessern, ist es daher, die Gelenke gezielt und Eine Verbesserung der motorischen Funktion lässt aktiv in der jeweiligen Bewegungsposition zu kont- dabei immer auf einen positiven Stimulus schließen, rollieren. Sämtliche Strukturen, die mit einem Ge- der zu mehr Sicherheit und Vorhersehbarkeit geführt lenk in Verbindung stehen, werden über ein aktives hat. Vor allem die leistungsoptimierenden Übungen, Mobilisieren der Gelenke durch ein „Neuro“-Mobili- die den größten positiven Effekt auf das zentrale Nerty-Training in ihrer Funktion verbessert. Wurfsport- vensystem haben, sind für das weitere Training von ler sollten für ihre Disziplin in der Lage sein, jedes großer Bedeutung. wichtige Gelenk im gesamten Bewegungsausmaß in jeder Geschwindigkeit aktiv kontrollieren zu kön- FAZIT nen, um so geringe Leistungseinschränkungen wie Wir müssen uns für jede einzelne Bewegung, die wir möglich zu erfahren. trainieren wollen, die Frage stellen: Welchen Rah-

Es ist nicht zwingend der richtige Weg, einfach men brauchen unser visuelles, unser vestibuläres immer mehr zu trainieren und das Trainingsvolumen und unser propriozeptives System? Neben den techsowie die Trainingslast zu erhöhen. Viel wichtiger ist nischen Anforderungen der Bewegung ist es somit die Qualität des Trainings und die Beantwortung der wichtig, die Anforderungen, die die Bewegung an Frage, ob wir alle für die Bewegungsoptimierung ent- unsere Augen, unser Gleichgewicht und unsere Gescheidenden Systeme trainieren. Der Trainingsfort- lenke, Muskeln, Sehnen und Bänder stellt, zu analyschritt beinhaltet immer auch eine Optimierung der sieren und gezielt in unser Training einzubinden. Je Bewegungssteuerung. Entscheidend ist also immer, stärker sich die Abläufe und die neuronalen Anforzu beachten, was die dominanten Systeme für die je- derungen von Bewegungen gleichen, desto größer weilige Bewegung sind und welche sensorischen In- ist natürlich auch der Übertrag von der einen auf formationen dem Gehirn aktuell am meisten fehlen, die andere Bewegung.Doch 100-prozentig ist er nie um die geforderte Bewegung auch mit maximalem - Werfen ist Werfen, aber der eine gewinnt im SpeerErfolg ausüben zu können. wurf und der andere im Diskuswurf. W

YASSIN JEBRINI Der Sportwissenschaftler M.A. und Z-Health-Absolvent arbeitet als Neuroathletiktrainer mit Profi- und Freizeitsportlern. Zusätzlich ist er als Referent tätig und bildet Trainer in Neuroathletik aus. www.jebrini-training.de

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