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Die „neue“ Faszie

nur eines von vielen Schlüsselelementen, die beweisen konnten, dass z. B. die Ursache des klassischen Schulter-/Nackenschmerzes nicht in der Schulter selbst liegen muss, sondern auch in der Peripherie lokalisiert sein kann. Mit Bedauern muss man feststellen, dass dieses ganzheitliche Denken und das aus der Praxis resultierende Wissen nicht in die Schulmedizin übertragen wurde und bis heute noch nicht die Anerkennung erhält, die es verdient.

NUR DIE OBERFLÄCHE HILFT UNS NICHT

Ein Name, der im Kontext mit Faszien unweigerlich Erwähnung finden sollte, ist Dr. Robert Schleip – der renommierteste Faszienforscher unserer Zeit, der auf dem Gebiet der Faszienforschung als „Neuzeit-Pionier“ anzusehen ist. Mit seiner akribischen Forschung hat er bewiesen, dass man das Fasziengewebe als globales Fundament im menschlichen Körper ansehen muss. Mit der manuellen Therapie konnten auf der Basis seiner Erkenntnisse bereits zahlreiche Erfolge erzielt werden. Viele Physiotherapeuten waren und sind bis heute begeistert von der Möglichkeit, mit klugen manuellen faszialen Techniken die „verschobene“ oder auch „verklebte“ Faszie zu lösen. Diese Methoden haben sich durchgesetzt. Nun ist es jedoch an der Zeit, weiterzudenken, ja sogar den nächsten Schritt zu gehen!

Jahrzehntelange Beobachtungen in der physiotherapeutischen Praxis haben gezeigt, dass wir sehr schnell einen positiven Effekt erzielen, wenn wir in die Tiefe des Gewebes eingreifen. Darüber hinaus konnte bewiesen werden, dass das Vegetativum (in Form des Sympathikus) auf der Ebene der Muskelfaserbündel eine hohe Präsenz aufzeigt. Liegen also myofasziale Beschwerdebilder vor, so lassen sich diese mit einer hohen Aktivität des Sympathikus erklären. Was genau bedeutet das? Viel Stress übt einen direkten Einfluss auf unser myofasziales Gewebe im Bereich der Muskelfaserbündel aus.

SEPTUM

Ein Verbund zweier faszialer Schichten wird als Septum bezeichnet.

Faszien sorgen im Körper vor allem für Haltung und Stabilität. Zudem zählt zu ihren Funktionen das Unterstützen der Muskeln bei deren Arbeit.

Septum Normalzustand

Septum verklebt

STRESS BEEINFLUSST UNSER GEWEBE

Ist der Sympathikus verstärkt „in Aktion“, reagiert das myofasziale System sehr stark darauf. Die tief liegenden Faszien innerhalb der Muskulatur (Bereich der Muskelfaserbündel) – in der Fachsprache Perimysium genannt – nehmen hier eine besondere Stellung ein. Wenn sich die einzelnen Muskelfaserbündel mit ihren Perimysiumschichten berühren, entstehen sog. myofasziale Septen. Treffen zwei fasziale Perimysiumschichten aufeinander, sprechen wir von einem myofaszialen Septum.

Das myofasziale Septum ist sehr stark durchblutet und entscheidend für unsere Stressreaktion. Da sich der Sympathikus in den Wänden der arteriellen Gefäße befindet, ist das myofasziale Septum somit sehr reich an Sympathikus-Nervenfasern. Studien¹ haben gezeigt, dass ein myofasziales Septum aus ca. 40 Prozent Sympathikus besteht. Haben wir nun Stress und der Sympathikus wird aktiviert, sind die sympathischen Nervenfasern in den Gefäßen sehr aktiv. Dies wiederum bewirkt, dass sich die Faszien innerhalb der Muskulatur enorm zusammenziehen. Sollte diese Erkenntnis ein Um- bzw. Weiterdenken in der Faszienbehandlung hervorrufen? Absolut! Bislang war es in der Faszientherapie gang und gäbe, oberflächlich zu behandeln. Das reicht aber nicht; wir müssen in die Tiefe gehen.

RAN AN DIE SEPTEN!

Die Erkenntnisse von Dr. Robert Schleip regen zum fortschrittlichen Weiterdenken an und öffnen das Tor zu unseren Septen. Hier nochmals die Quintessenz: Haben wir viel Stress, erhöht sich die Aktivität des Sympathikus innerhalb der myofaszialen Septen. Dadurch kommt es zu einer erhöhten faszialen Anspannung und schließlich zu Verspannungen und Schmerzen in unserem Bewegungsapparat. Diese Verspannungs- und Schmerzpunkte gilt es effektiv, nachhaltig und langfristig zu lösen.

Ein Beispiel aus der Praxis – du kennst diese Situation sicherlich aus eigener Erfahrung: Du bist in physiotherapeutischer Behandlung. Dein Konsultationsgrund ist deine verspannte Trapezmuskulatur. Du liegst in Bauchlage auf der Behandlungsliege. Der Physiotherapeut drückt mit dem Daumen oder mit einem dem Daumen ähnlichen Werkzeug punktuell auf den von dir gezeigten Schmerzbereich entlang der Trapezmuskulatur. Anfänglich verspürst du einen deutlichen Druckschmerz, der von dem Daumen des Physiotherapeuten erzeugt wird. Nach einigen Minuten lässt der Druckschmerz deutlich nach. Du fragst ihn, ob er noch den gleichen Druck ausübt wie zu Beginn – der Physiotherapeut bestätigt dies. Warum haben wir dann nach 2–3 Minuten eine signifikant andere Wahrnehmung des Druckschmerzes? Da der Physiotherapeut einen punktuellen, lang anhaltenden und in die Tiefe gehenden Druck auf das Gewebe ausübt, gelangt er in die Ebene der tief liegenden Faszien. Dies ist die Ebene der Muskelfaserbündel, wo die myofaszialen Septen zu finden sind (die Ebene der Perimysiumschichten). Der lang anhaltende Druck bewirkt, dass wir den an dieser Stelle lokalisierten Sympathikus innerhalb des Septums zur Hemmung aktivieren können. Drückt man also lang anhaltend und tief ge-

THOMAS MARX

Der Physiotherapeut, Osteopath, Kinderosteopath,Chiro- und Heilpraktiker ist Gründer, Erfinder und Geschäftsführer der TMX Trigger GmbH. Zudem ist er als Dozent an der Physiotherapieschule TOP Physio und an der SFO (Schule für Osteopathie) tätig. www.tmx-trigger.de nug, wird man die Sympathikusaktivität des myofaszialen Septums hemmen können. Dies hat den beeindruckenden Effekt, dass die „Stressaktivität“ herunterfährt und somit auch der Schmerz nachlässt. „Neuere Entwicklungen der aktuellen Faszienforschung deuten an, dass der Ursprung vieler my-ofaszialer Störungen in den extra- und intramuskulären Septen liegt. […] Mehr als in anderen faszialen Strukturen beginnen dort die ersten fibrotischen Veränderungen und breiten sich dann sukzessive in andere Regionen aus. Diese wichtigen faszialen Knotenbereiche, die auch in der chinesi-schen Medizin eine große Rolle spielen, sind jedoch mit den üblichen Dehnungs-, Massage-, Schröpf- und Rollen-Behandlungen nur schwer zu erreichen. […] Die Entwicklung spezieller Triggerprodukte sowie eine Behandlung, die im Ursprung – an den faszialen Septen – ansetzt, halte ich für besonders vielversprechend, um damit an die Wurzel der Probleme zu kommen. […] Da kommen die Septen ins Spiel.“ (Dr. Robert Schleip)

TIEFE STATT OBERFLÄCHE

Ergibt es nun nicht Sinn, direkt an der Quelle der fibrotischen Veränderung anstatt bloß an der Oberfläche zu arbeiten? Absolut! Laut evidenzbasierter Studien von Roland Gautschi² benötigen wir zur effektiven Schmerzbekämpfung einen punktuellen, tiefen und lang anhaltenden Druck ins Gewebe. Mithilfe dieses Dreischritts – punktuell, tief, lang anhaltend – können wir tief liegenden myofaszialen Beschwerden entgegenwirken. Da die oberflächige superfisziale Faszienbehandlung nicht nachhaltig das leisten kann, was man sich lange von ihr versprochen hat, müssen wir zwei Ebenen weiter in die Tiefe gehen, um dort die Lösung für die optimale Faszien-Eigenbehandlung zu finden: Wir müssen in die Septen hinein.

¹ Weiterführender Link zur Faszienforschung: www.fasciaresearch.de ² Gautschi, Roland (Hg.): Manuelle Triggerpunkt-Therapie. Myofasziale Schmerzen und Funktionsstörungen erkennen, verstehen und behandeln. 2016, 3. Aufl. W

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