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Die Bedeutung der integralen Körperkarte
Gesundheit und Fitness entfalteten sich im optimalen Zusammenspiel von Muskeln, Bindegewebe, Knochen, Wirbel, Organe und Drüsen, aber auch Emotionen, Gefühlen und Gedanken. Diese verschiedenen Aspekte beeinflussen sich gegenseitig und arbeiten in Integration, anstatt Isolation. Tim Böttner stellt ein integrales Modell vor, um die komplexen Zusammenhänge systematisch zu erkennen und zu nutzen.
Schmerzen und Dysfunktionen sind komplex. Wenn ein Klient oder wir beispielsweise Schmerzen im unteren Rücken hat, dann kann dieses vielfältige Ursachen haben. Nach der „Da-wo-es-wehtut“-Methode liegt die Ursache in den knöchernen, bindegewebigen oder muskulären Strukturen des Rumpfes. Einen Schritt weitergedacht, können die Ursachen aber auch in anderen Strukturen des Körpers liegen wie einer dysfunktionalen Beinachse oder mangelnder Hüftbeweglichkeit. Es kann aber auch sein, dass die Lösung nicht in diesen biomechanischen Aspekten zu finden ist, sondern in der organischen und emotional-mentalen Ebene.
Jedem Körperbereich können Organe sowie emotional-mentale Aspekte zugeordnet werden. Dies ist eine ganzheitliche Sichtweise auf den Körper im Einklang mit dem Geist. Ganzheitlich setze ich hier mit „integral“ gleich, was bedeutet, dass isolierte Teile des Körpers in der Realität in ihren Funktionen zusammenarbeiten und sich gegenseitig beeinflussen.
SPEZIALISTENTUM
Unser Wissen über Körper, Geist und Gesundheit hat sich exponentiell weiterentwickelt. Daher ist es inzwi-
TIM BÖTTNER
Tim Böttner ist ganzheitlicher Gesundheits- und Fitnesscoach und Personal Trainer. Er teilt sein Wissen im Podcast „Think Flow Grow Cast mit Tim Böttner“, 1:1 Coaching, Workshops und Online-Kursen. www.thinkflowgrow.com
schen unmöglich für eine Person, in allen Bereichen ein Experte zu sein. Es hat sich ein Wandel zu einem Spezialistentum vollzogen. In der Konsequenz werden unsere Körpersysteme häufig isoliert betrachtet und das Bewusstsein über Zusammenhänge geht verloren.
Eine integrale Sichtweise ist nichts neues, sondern etwas uraltes. Verschiedenen Gesundheitslehren aus der ganzen Welt betrachten Körper und Geist selbstverständlich als Einheit. Die Traditionelle Chinesische Medizin beispielsweise hat sich seit mehr als 2.000 Jahren entwickelt. Hier ist eine Grundannahme, dass sich Emotionen körperlich manifestieren, wie beispielsweise die Wut in der Leber. Seit etwa 500 vor Chr. entwickelte sich des Ayurveda in Indien, das Gesundheit ebenfalls als eine Einheit von Körper, Sinnen, Verstand und Seele begreift. Weitere Beispiele finden wir im Tsalagi-System der nordamerikanischen Cherokee-Indianer oder dem Energiemodell der Inka. Aus Sicht der westlichen Wissenschaft diese Gesundheitslehren oft als esoterisch bzw. pseudowissenschaftlich abgestempelt. In den letzten Jahren sehen wir aber immer mehr wissenschaftliche Belege dafür, dass diese Traditionen oft doch richtig liegen.
BEISPIEL RUMPF
Aus eigener Erfahrung wissen viele Trainierende, dass die Rumpfstabilität bei einem entzündeten Darm beeinträchtigt sein kann. Wir spüren damit direkt einen Zusammenhang zwischen einem Organ und Muskeln. Mittlerweile weiß man, dass Organe direkte Wechselwirkungen mit Muskeln haben. Jeder Muskel steht über Nervenbahnen mit einem bestimmten Organ in Verbindung. Ist die Funktion dieses Organs gestört, reagiert der verbundene Muskel mit
in den kommenden Jahren immer mehr Belege für die Konzepte alternativer traditioneller Heilslehren finden wird.
INTEGRATION DER SYSTEME
Im vorangegangenen Beispiel haben wir gesehen, dass Muskeln, Wirbel,
Organe und Emotionen im direkten
Zusammenhang stehen. Wie schaffen wir es nun, nicht die Übersicht zu verlieren? Paul Chek hat dafür ein hilfreiches Modell entwickelt, in diesem er Zusammenhänge systematisiert. Er teilt den Körper in Zonen ein, wobei jeder Zone spezifische Wirbelabschnitten, Körperbereiche, Muskeln, Organe, Drüsen, Funktionen und emotionale und mentale Themen zugeordnet werden, sowie im obigen Beispiel begonnen wurde. Ich nenne diese Übersicht die „integrale Körperkarte“.
BEISPIEL DER OBEREN BRUSTWIRBELSÄULE
Am Beispiel der oberen Brustwirbelsäule möchte ich die Zusammenhänge vorstellen. Die obere Brustwirbelsäule umfasst den Wirbelbereich T1 bis T5. Die Körperteile in diesem Bereich sind der Oberbauch, der Solarplexus, aber auch Teile der Arme. Symptome in den genannten Körperteilen könnten demzufolge auf
Dysfunktionen in den genannten
Wirbelsegmenten zurückzuführen sein, da die Körperteile über die Wirbel nerval innerviert werden.
Auf organischer Ebene können Probleme in Herz, Lunge und Thymus sich folglich ebenfalls auf die anderen Systeme in der Zone auswirken. Diese Organe haben Beziehungen zu korrelierten Muskeln über die erwähnten Muskel-Organ-Verbindungen. So ist beispielsweise die Lunge mit dem Deltoideus gekoppelt. Die Organe erfüllen im Körper Funktionen. So steht das Herz für die Regulation des Blutdrucks, die Lunge für die Atmung und die Thymusdrüse
AUS DER PRAXIS
Hüfte, Nebennieren, Stress und Sexualität Eine Klientin wies einen chronisch entzündeten und fazilitierten Hüftbeuger auf. Zahlreiche manuellen Techniken und Übungen bewirkten keine Besserung - Die Entzündung verschlimmerte sich sogar. Irgendwann stellte sich heraus, dass sie ein unverarbeitetes Vergewaltigungstrauma erlebt hatte, welches sich in der Hüftregion körperlich manifestiert hatte. Erst eine Traumatherapie konnte letztlich den entscheidenden Impuls für die Heilung der körperlichen Probleme in der Hüfte lösen.
Dünndarm, Bauch, Oberschenkel und Kniebeugen Nach einem sehr intensiven Training mit zahlreichen Knie- und Rumpfbeugen hatte ich extremen Muskelkater im Rectus Abdominis und Rectus Femoris. In den folgenden Tagen bekamt ich starke Verdauungsprobleme und Durchfälle, obwohl ich normal gegessen hatte. Der Dünndarm besitzt eine Muskel-Organ-Verbindung zum geraden Bauchmuskel und Oberschenkelmuskel, sodass die Verletzung der Muskeln die Funktion meines Dünndarms beeinflusst hat. Wichtig zu beachten ist, dass ein entzündeter Dünndarm ebenso die Bauch- und Beinmuskulatur beeinflussen kann.
für das Immunsystem. Hat ein Klient Probleme im Bereich der oberen Brustwirbelsäule, kann es demzufolge sinnvoll sein, nach Immunerkrankungen, Blutdruckprobleme oder Atembeschwerden zu fragen.
Um noch einen Schritt weiterzugehen, können der oberen Brust-
wirbelsäule emotionale und men-
tale Themen zugeordnet werden. Emotionen und mentale Themen wirken sich körperlich aus und manifestieren sich. Diese Idee scheint dem ein oder anderen Leser eventuell weit hergeholt, allerdings sind sie direkt erfahrbar. So hat vermutlich jeder die Erfahrung gemacht, dass sich bei liebevollen und mitfühlenden Gedanken die Brustwirbelsäule aufrichtet, wohingegen sie sich bei dem Gedanken an eine belastete, schwierige Beziehungen einrundet. Die emotional-mentalen Hauptthemen, mit Korrelation zur oberen Brustwirbelsäule, sind Liebe und Beziehungen. Bei Problemen in der oberen Brustwirbelsäule kann deshalb nach Symptomen wie Melancholie, Abhängigkeit, mangelndem Vertrauen, fehlender Selbstliebe und Kontaktschwierigkeiten gesucht werden. Selbstverständlich sollte der Trainer hier Gefühl walten lassen.
GANZHEITLICH ARBEITEN
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Wissen über diese ganzheitlichen Zusammenhänge die Arbeit mit unserem Klienten wirksamer machen kann. Ich vergleiche die „integrale Körperkarte“ gerne mit einem prall gefüllten Werkzeugkoffer. Je mehr Werkzeuge wir in unserem Koffer haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, das richtige Werkzeug für die Lösung zu haben. Haben wir dagegen nur einen Hammer, so ist alles ein Nagel.
Selbstverständlich sollten wir als Trainer nicht damit beginnen, parallel als Psychologe, Osteopath oder Viszeraltherapeut unsere Kompetenzen zu überschreiten. Aber eine Sensibilisierung kann helfen, an andere Experten zu verweisen oder dem Klienten wertvolle Impulse zu geben.
Eine wertvolle Nachricht für Trainer ist es, dass Bewegung viel mehr bewirkt, als schneller, stärker oder geschmeidiger zu werden. Wir beeinflussen immer den ganzen Menschen. W