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Verletzungen

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zu generieren, benötigt das Gehirn optimales Feedback aus den bewegungssteuernden Sensoren. Wenn das Gehirn weiß, wohin wir uns bewegen, kann es besser vorausplanen, welche Muskeln „anzuschalten“ sind, um die Gelenke möglichst zu schonen und zu schützen.

Ein Beispiel: Du machst beim Laufen eine Ausweichbewegung nach rechts, weil dir ein Radfahrer entgegenkommt. Jetzt sollten auf deiner rechten Körperseite unmittelbar die Haltungsstabilisatoren aktiviert werden, damit du nicht umfällst. Oft wird aber gerade bei (Freizeit-)Athleten eine solche Ausweichbewegung aufgrund von unterfunktionalen Bewegungssensoren nicht in ausreichendem Maße wahrgenommen. Die Signale werden dementsprechend nicht klar genug an den Hirnstamm kommuniziert, der für den Muskeltonus zuständig ist. Die Folge: Es werden nicht genügend Stabilisatoren in den Sprunggelenken, den Knien und der Hüfte aktiviert, was zu einer unnötigen Belastung dieser Gelenke führt und vor allem bei Leistungssportlern maximal ineffizient ist. Im schlimmsten Fall kann es durch ein Umknicken sogar zu einer Verletzung kommen.

DYNAMISCHES GLEICHGEWICHT

Bei der Prävention und Rehabilitation von Verletzungen und Überlastungen dieser Art geht es vor allem um die Förderung des dynamischen Gleichgewichts. An dieser äußerst grundlegenden Bewegungskompetenz mangelt es häufig in Zusammenhang mit einer Verletzung. Meiner Erfahrung nach fehlt in der klassischen Therapiewelt ohne neurozentrierten Hintergrund häufig noch der Blick dafür, dass es hier nicht mehr ausschließlich um einzelne Gelenke geht, an denen sich aktuell der Schmerz manifestiert, sondern wesentlich mehr dahintersteckt.

Eine schlechte dynamische Haltung als einer der Hauptrisikofaktoren für Verletzungen resultiert aus einer schwachen Funktionalität der subkortikalen Hirnstrukturen. Hier arbeiten vor allem die Inputgeber des vestibulären Systems mit dem Hirnstamm und dem Kleinhirn gemeinsam daran, dass wir, ohne uns willkürlich anstrengen zu müssen, die entsprechenden Stützmuskeln dynamisch gegen die Schwerkraft stabilisieren. Schließlich geht es nicht darum, dass du diese Muskeln immer willkürlich anspannst, um dich vor Verletzungen zu schützen, sondern vielmehr darum, dass sie automatisch von deinem Gehirn aktiviert werden, sobald du sie benötigst. Der Mechanismus, mit dem die Stabilisations- bzw. Schutzmuskeln vor dem Moment der Verletzung „angeschaltet“ werden sollten, liegt in unbewussten Teilen des Gehirns und des Rückenmarks.

GROSSE LEISTUNG

Für einen einzigen Richtungswechsel arbeiten Bänder, Sehnen, Stabilisationsmuskeln, Faszien, Nerven, Kleinhirn, Hirnstamm, vestibuläres System und visuelles System gemeinsam an einer Aufgabe: der bestmöglichen Stabilisation aller Gelenke im Umkehrpunkt einer Bewegung. So vollenden sie eine hochkomplexe „Bewegungssymphonie“.

ASSESSMENT DER REFLEXIVEN STABILITÄT

Um die reflexive Stabilität eines Athleten und damit seine größte Schutzkompetenz gegenüber äußeren Kräften zu überprüfen, sollten wir diese Systeme vor allem auch reflexiv, also aus der Bewegung heraus testen. Es stellt sich die Frage: Wie schnell schafft es der Körper des Athleten, nach Perturbation (Gleichgewichtsverlust durch äußere Einwirkungen) oder Standortbewegung wieder ins Gleichgewicht zu kommen?

Da das Nervensystem unmittelbar auf jeden Drill und jeden Stimulus reagiert, nutzen wir im Neurotraining eine „Test – Drill – Retest“Strategie. Dazu wählen wir einen Test aus, bewerten diesen, probieren anschließend einen Drill und gehen wieder zurück zum Ursprungstest, um zu überprüfen, ob eine Verbesserung erkennbar ist. Im Anschluss an einen Stimulus oder Drill findet eine Neuorganisation der Bewegung statt. Ob diese nun besser oder schlechter funktioniert, kannst du u. a. mit den auf der nächsten Seite in der Randspalte vorgestellten motorischen Tests checken.

TEST IN BEWEGUNGSRICHTUNG DER VERLETZUNG

In den meisten Fällen testen wir die Bewegungsrichtung, in der sich der Sportler verletzt hat. Stell dir dazu vor, du stehst in der Mitte eines Kompasses. Ist die Verletzung, der Schmerz oder die Instabilität bei einer Bewegung nach vorn, nach hinten oder zur Seite passiert? Wenn ja, hast du wahrscheinlich

Probleme mit der reflexiven Erfassung des hori

zontalen Raums; wir haben 360-Grad-Sensoren, die die Bewegungen im Raum um uns herum erfassen sollten. Oder hast du dich aus einer Drehbewegung heraus verletzt? Wenn ja, in welche Richtung? Hast du vielleicht Probleme mit vertikalen (hoch oder runter) Bewegungen und bist bei deiner Landung umgeknickt oder fühlst dich beim Treppengehen instabil? All diese Faktoren spielen in der Rehabilitation eine Rolle.

DETEKTIVARBEIT

Aus therapeutischer Sicht haben wird unendlich viele Möglichkeiten des Testens und Trainierens. Das mag sich zunächst sehr zeitaufwendig und kompliziert anhören, doch letztlich gibt dir die Verletzungsrichtung einen sehr guten Hinweis darauf, welche konkrete Bewegung zu rehabilitieren ist. Du musst lediglich ein bisschen Detektivarbeit leisten und versuchen, die Situation, in der die Verletzung/das Trauma entstanden ist, so gut wie möglich nachzustellen. Nur so schaffst du es, die „Schutzsoftware“, die dein überfürsorgliches Nervensystem um die Bewegung herum gebaut hat, wieder zu normalisieren. Das spielt für das Gehirn eine große Rolle, denn es speichert und kartiert immer exakt die genaue Körper-, Kopf- und Augenposition, in der wir uns bei der Entstehung des Traumas befunden haben. Hier liegt also der goldene Schlüssel zur Wiedererlangung verlorener Fähigkeiten und zur Rehabilitation.

ROMBERG-TESTS

Klassischer Romberg-Test

Du stehst mit geschlossenen Augen und geschlossenen Füßen auf der Stelle und achtest darauf, ob du wankst oder es dich tendenziell in eine Richtung zieht. Wenn ja, ist häufig das vestibuläre System im Innenohr jener Seite inaktiv, zu der es dich zieht. Achte darauf, wie die initiale Reaktion ist, sobald du die Augen schließt.

Romberg-Test mit Perturbation

Für diese Übung benötigst du einen Partner, der dich unterstützt. Optimalerweise lässt du dich filmen. Wenn du generell eine sehr gute Balancefähigkeit hast, kannst du diesen Test auch einbeinig durchführen. Wie beim klassischen Romberg-Test stehst du ruhig auf der Stelle. Dein Partner bringt dich jetzt mit leichten, akzentuierten Schubsern auf Höhe der Hüft- oder Schulterachse aus dem Gleichgewicht, ohne dich komplett umzustoßen.

Achte dabei auf deine Reaktion: Schaffst du es, schnell wieder ins Gleichgewicht? Wie sieht dieser Test im Seitenvergleich aus? Dieser ist wichtig, weil in den allermeisten Fällen eine Seite schlechter ist bzw. mehr Probleme verursacht.

FOLGE VON SCHLECHTEM INPUT

Schmerzen und Instabilitäten können ebenfalls als Folge von schlechtem Input entstehen. Ein Beispiel: Eine Läuferin hat Achillessehnenprobleme. Nach eingehenden Tests stellt sich heraus, dass ihre Zähne etwas mit dem Problem zu tun haben könnten. Nach einem Vibrations-Input auf die Zähne ist auf einmal der Achillessehnenschmerz stark reduziert. Wo ist hier die Verbindung? Wahrscheinlich im Hirnstamm: Dieser integriert Informationen aus dem Mundraum über die Hirnnerven und ist ebenfalls wie beschrieben an allerlei Anti-Schwerkraft-Aktionen beteiligt.

Das zeigt, wie wichtig es ist herauszufinden, welches Trauma dieser Körper erlebt hat. Wo ist die Integrität beeinträchtigt? Welcher Bereich des Körpers sendet keinen Input? Narben, Tattoos, Piercings, Brüche oder interozeptive Dysfunktionen wie ein schlechtes Darmnervensystem – all das kann eine Rolle spielen.

WEITERE TESTS:

• Schmerzskala Schmerz reagiert als „Output“ des Gehirns zwar manchmal ein bisschen verzögert, aber grundsätzlich ähnlich unmittelbar wie Bewegung und kann entsprechend einer Schmerzskala (z. B. 1–10) „live“ getestet werden. Wir suchen natürlich nach genau denjenigen Drills, die eine Reduzierung der Schmerzen bewirken. • Gehtest Der Gang ist die natürlichste Bewegungsform des Menschen und wird zu großen Teilen vom Nervensystem subkortikal, also unbewusst organisiert. Er ändert sich manchmal von Stimulus zu Stimulus bzw. Drill zu Drill. Die Ganganalyse ist grundsätzlich eher komplex. Als direktes Testkriterium für den Einstieg kannst du die subjektive Leichtigkeit des Gangs vor und nach dem Drill testen. So bekommst du einen Hinweis darauf, ob das Nervensystem die Bewegung nun insgesamt wieder besser orchestriert.

Um hilfreiche Übungen, Drills oder Stimuli zu kreieren, müssen wir uns zunächst einmal anschauen, welches System im Nervensystem welchen Job erledigt und damit dazu beiträgt, die reflexive Stabilisation zu verbessern.

VESTIBULÄRES SYSTEM

Dieses System ist im Innenohr und gleichzeitig deine Wasserwaage und dein Gyroskop. Es reagiert auf Kopf-/Lageveränderungen und stabilisiert damit die Augen auf ein Sehziel, wenn du in Bewegung bist. Wenn du deinen Kopf z. B. nach rechts drehst, sollten deine Augen automatisch nach links gehen, sofern du dich gerade auf ein Sehziel fokussierst.

Das kleine Organ kann aber noch viel mehr: Es stabilisiert den gesamten Körper gegenüber der Schwerkraft und gegenüber bewegungsbedingten Fliehkräften. Es ist also der Hauptmotor, der dafür sorgt, dass Sprung-, Knie- und Hüftgelenke sowie die Wirbelsäule in Bewegung stabil sein können. Wenn du dauernd umknickst, hat das meistens viel mehr mit deinem Innenohr und dessen Projektionsarealen im Hirnstamm und Kleinhirn zu tun als mit „ausgeleierten“ Bändern und Sehnen.

So aktivierst du dieses System:

Stell dich auf das zu rehabilitierende Bein und stell dir vor, du hättest einen Laserpointer, der direkt aus deiner Nasenspitze auf die gegenüberliegende Wand zielt. Nun malst du langsam und so sauber wie möglich eine „8“ mit dem Pointer auf die Wand. Teste jeweils vorher und nachher dein Gleichgewicht mit den oben beschriebenen Tests. Da die Augen sehr eng mit dem vestibulären System verschaltet sind, kannst du ebenfalls verschiedene Augenbewegungen in dieser Position testen. Dazu führst du mit deinem Daumen vor deinem Gesicht eine langsame Kreis- oder Achterbewegung aus und folgst mit den Augen.

SENSORISCHES SYSTEM

„Was du nicht erfühlen kannst, kannst du nicht (gut) bewegen.“ Das ist keine konfuzianische Weisheit, sondern Fakt. Denn das Gehirn greift zur Produktion von Bewegungsinformationen (im motorischen Kortex) vor allem auch auf sensorische Fühlinformationen (im sensorischen Kortex) zurück. Sofern du also nach deiner Verletzung eine Narbe (nach einem Bruch sind innen liegende Narben vorhanden) davongetragen hast, wird die Rehabilitation dieses Systems besonders wichtig sein.

Nimm dir eine elektrische Zahnbürste, einen Z-Vibe oder einen Vibrationsball und lege das Tool eine Weile auf die betroffene Stelle auf. Teste danach, ob der Stabilisationssprung besser und problemfreier geworden ist.

MOTORISCHE KONTROLLE

Im Gegensatz zur herkömmlichen Sichtweise denken wir im Neurotraining nicht so sehr an die Muskeln um das Gelenk herum, sondern reden vielmehr von der Verbesserung der Bewegungskarte im motorischen Kortex. Gefüttert mit Informationen aus den sensorischen Kortizes, hat dieser jetzt im Optimalfall bestmögliche Informationen, um das Sprung-, Knie- und Hüftgelenk optimal zu steuern. Das Gelenk soll in jeder Position unter Kontrolle sein. Dafür benötigt es eine schlaue Bewegungssoftware!

Je nach Dauer und Grad der Verletzung bzw. Bewegungseinschränkung können diese Hirnareale entweder nur „etwas eingeschlafen“ oder gänzlich degeneriert sein. So oder so – du bemerkst es an unrunden und unkontrollierten Bewegungen.

STABILISATIONSSPRUNG

Wie gut und schnell schaffst du es, dich aus der Bewegung heraus zu stabilisieren?

Springe dazu aus dem beidbeinigen Stand nach vorn und lande auf einem Bein. Deine Hände umgreifen durchgehend deine Taille. Die Fragestellung lautet: Kann ich auf dem rechten und

linken Bein gleich gut und gleich schnell ein

stabiles Gleichgewicht finden? Kann ich überhaupt einbeinig landen und mich stabilisieren? Bei der schwächeren Seite merkst du meistens schnell, dass du hier zu lange in Knie, Hüfte und aufwärts wackelst. Achte vor allem auf das verletzte oder schmerzende Gelenk.

Nun wiederholst du diesen Test mit Sprüngen zur Seite. Teste jeweils drei Sprünge nach

rechts und drei Sprünge nach links.

ZU BEACHTEN:

• Versuche, möglichst kreisförmige Bewegungen oder Achterbewegungen mit diesem Gelenk zu machen anstatt nur lineare (Flexion/Extension). • Spiele mit Bewegungsgeschwindigkeiten. Starte in Super Slow Motion (20 Sekunden pro Kreis!).

Das kann mühsam sein, aber gleichzeitig extrem viel Brainpower auf das betroffene Gelenk richten. • Nimm dir ein Gummiband zur Hand und übe damit etwas Widerstand aus verschiedenen Richtungen auf die Bewegung aus. Darauf reagieren das Gehirn und vor allem das Kleinhirn sehr gut.

FAZIT

Ich habe versucht, die wichtigsten Systeme und ihren Beitrag in der Rehabilitation in Kürze zu veranschaulichen. Grundsätzlich können zudem auch weitere Systeme wie die monosynaptischen Spinalreflexe, die Qualität der peripheren Nervenleitung und die Signalintegration wichtige Rollen in der Verletzungsrehabilitation spielen.

Trainern sollte immer bewusst sein, dass es nach einer Verletzung, einer längeren Schonung oder einem Trauma nicht ausschließlich um das schmerzende Gelenk als solches oder das betroffene Körpersegment gehen muss, sondern vielmehr der gesamte Körper und dessen Ansteuerung vom „Central Gouverneur“ holistisch miteinbezogen werden müssen. W

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