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Evidenzbasiertes Modell für patientenzentrierte Therapie

EVIDENZBASIERTES MODELL FÜR PATIENTENZENTRIERTE THERAPIE

Text Jonathan Schneidemesser

Zur patientenzentrierten Therapie wurde in den letzten Jahren viel geforscht, dementsprechend viel Evidenz hat sich angesammelt. Da ist es nicht leicht, den Überblick zu behalten. Daher stellen wir in diesem Artikel ein aktuelles Modell, das 2022 publiziert wurde, vor, das viele Erkenntnisse zusammenfasst und zu einem großen in der Praxis anwendbaren Modell verschmelzen lässt.

Ein aktuelles wissenschaftliches Paper

Als Grundlage für die patientenzentrierte Therapie entwickelten die Wissenschaftler ein Modell, das sich aus drei Prinzipien zusammensetzt. Das sind das biopsychosoziale Verständnis für die Schmerzerfahrung des Patienten, die patientenzentrierte Kommunikation und Hilfe zur Selbsthilfe. Zusätzlich wird das Modell in drei Phasen unterteilt: Identifikation und Zielsetzung, Unterstützung bei der Selbsthilfe und die Evaluation. Dargestellt wird das in Abb. 1.

Muskuloskelettale Behandlung alleine reicht nicht

Die Ausbildung eines Physiotherapeuten fokussiert sich stark auf die körperliche und biomechanische Behandlung des Patienten. Was häufig vernachlässigt wird, ist der psychosoziale Aspekt der Behandlung. Für eine ganzheitliche Patientenzentrierung sollten aber alle Aspekte betrachtet werden. Konkret kann das bedeuten, neben den körperlichen Symptomen auch zu betrachten, welche biopsychosozialen Konsequenzen der aktuelle Gesundheitszustand für den Patienten haben kann oder auch welche Unterstützung er zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen benötigt. Das setzt voraus, dass Physiotherapeuten sich mit diesem Modell auskennen und nicht nur die körperlichen Symptome betrachten.

Im vorhergehenden Artikel warfen wir einen intensiven Blick auf die patientenzentrierte Kommunikation. Diese ist ein wichtiges Standbein in der patientenzentrierten Therapie, um eine gute Bindung zum Patienten aufzubauen, die sich wiederum positiv auf den Be-

handlungserfolg auswirkt. Da dieses Thema bereits ausführlich betrachtet wurde, soll an dieser Stelle nur noch ergänzt werden, dass die Kommunikation auch das Setzen von Zielen beinhalten sollte und vor allem bewertende und verurteilende Aussagen vermieden werden.

Gemeinsam hilfreiche Werkzeuge erarbeiten

Bei den meisten muskuloskelettalen Problemen reichen die bei Kassenpatienten üblichen sechs Therapietermine in den meisten Fällen nicht aus, um effektive Fortschritte erzielen zu können. Daher sollte sich das Verständnis verändern, wie in diesen Terminen mit den Patienten gearbeitet wird. Der Therapeut sollte nicht versuchen, möglichst viel Behandlung in die eh knappe Zeit zu investieren, um einen möglichst großen, aber nur kurzfristigen Therapieerfolg zu erzielen, sondern sich die Zeit nehmen, mit dem Patienten eine Art Werkzeugkasten zu erarbeiten, auf den er zurückgreifen kann, um seine Beschwerden in den Griff zu bekommen. Das können Übungen für zu Hause, eine aktive Trainingstherapie oder auch alltagsnahe Tipps zur Stressvermeidung sein.

Die Therapeuten-PatientenBeziehung stärken

Neben den drei Prinzipien des Modells werden zusätzlich drei Phasen identifiziert. Hier wirkt die Therapeuten-Patienten-Beziehung als Bindeglied zwischen den Prinzipien und den Phasen. Diese wird in diesem Kontext frei nach McCabe et al. 2021 definiert als ein sicherer Raum zwischen Patient und Therapeut, der sich auf professioneller, aber auch persönlicher Ebene entwickelt, wenn eine bedeutungsvolle Beziehung durch die gemeinsame Arbeit in der Physiotherapie aufgebaut wird. Hierbei ist insbesondere die Wichtigkeit der bedeutungsvollen Beziehung herauszustellen. Denn genau diese sind es, die dafür sorgen, dass Patienten bessere Behandlungserfolge erzielen, zufriedener mit der Behandlung sind und sich eher an ihre Behandlungspläne halten. Im Rahmen dieser Beziehungen fühlen sich Patienten eher gehört, gesehen und wertgeschätzt. Damit nicht jeder Therapeut für sich ein passendes System entwickeln muss, kann man auf spezielle Modelle zurückgreifen, um im hektischen Alltag eine gute Patientenbindung zu schaffen. Eines davon wurde von Miciak et al. bereits 2019 publiziert. In diesem Modell wird die Bindung zum Patienten auf drei Wegen erreicht: Annerkennen des Gegenübers, den Körper als Dreh- und Angelpunkt verwenden und etwas von sich selbst mit in die Beziehung hineingeben. Das Anerkennen des Gegenübers sollte eigentlich selbstverständlich in der Patienten-Therapeuten-Beziehung sein, wird in der Praxis aber nicht immer zu 100 % gelebt. Die Voraussetzungen dafür sind, dass der Thrapeut seinem Patient als Ebenbürtiger gegenübertritt, dessen Erfahrungen z. B. im Bezug auf Schmerz anerkennt und seine Behandlung individuell an ihn und seine Bedürfnisse anpasst.

Der Körper des Patienten sollte in der Therapie der Dreh- und Angelpunkt sein, schließlich geht es um diesen. Dazu sollten die physischen Probleme erkannt und benannt werden, genauso wie mögliche Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Darüber hinaus sollte es der Therapeut dem Patienten leichter machen, eine Verbindung zum eigenen Körper herzustellen. Im Falle, dass sich eine der beiden Seiten mit der Verbindung schwertut, kann der Therapeut Berührungen als Brücke verwenden. Selbst bei einer aktiven Therapie kann es hilfreich sein, erst mal manuell zu arbeiten, um die Patienten-Therapeuten-Verbindung zu stärken.

Ein schwieriger Punkt ist sicherlich, wie viel der Therapeut von sich selbst in die Beziehung hineingeben möchte. Nicht nur, weil er selbst sich unsicher ist, sondern auch aufgrund von Regularien des Arbeitgebers. Zudem ist nicht klar, wie der Patient darauf reagiert, daher ist bei diesem Punkt eher ein langsames Vorgehen geboten. Klar ist aber, dass sich eine Öffnung von Therapeutenseite her in vielen Fällen positiv auswirken kann. Nach diesem kurzen Exkurs schauen wir uns die einzelnen Phasen etwas genauer an.

Anerkennen der Individualität

Begegnung auf Augenhöhe

Anerkennen der Patientenerfahrung

Indviduell behandeln

Körper ist Dreh- und Angelpunkt

Physische Probleme erkennen und benennen

Verbindung zum Körper erleichtern

Berührung als Brücke verwenden

Etwas von sich geben

Während der Behandlung Außerhalb der Behandlung

Möglichkeiten zur Etablierung bedeutungsvoller Beziehungen nach Hutting et al. 2022

Die drei Phasen des Modells

Bei der Identifikation und Zielsetzung geht es darum herauszufinden, welche Gedanken und Glaubenssätze der Patient hinsichtlich seiner Schmerzerfahrung gemacht hat. Zusätzlich sollten Punkte wie Eigenwirksamkeit, soziale Einflussfaktoren und Einstellungen be-

Biopsychosoziales Verständnis der Patienten(schmerz-)erfahrung Patientenzentrierte Kommunikation Hilfe zur Selbsthilfe

Therapeuten-Patienten-Beziehung

Identifikation und Zielsetzung

Identifizieren Gemeinsame Entscheidungsfindung Ziel(e) setzen

Coaching zur Selbsthilfe

Algemeine Fähigkeiten vermitteln Spezifisches Wissen, Fähigkeiten und Werkzeuge erarbeiten

Evaluation

Ziele festlegen Für die Zukunft planen Langfristige Maßnahmen planen

Abb. 1 zeigt das Modell zur patientenzentrierten Therapie von Hutting et al. 2022

trachtet werden. Zu den Faktoren, die dabei wichtig sind, gehören auch die Bereitschaft zu Veränderung des Alltags und die Erwartungen des Patienten an die Zukunft. Gemeinsam können der Therapeut und Patient dann, basierend auf den Wünschen und Bedürfnissen des Patienten, gemeinsame Ziele setzen. Die gemeinsamen Entscheidungen geben den Patienten einen Anteil am Behandlungsprozess und involvieren ihn dadurch stärker. Das klingt nun alles etwa abstrakt – hierfür gibt es allerdings bereits Vorlagen wie z. B. die OPTION scale.

Nach der Evaluation der Situation wird in Abhängigkeit von den entsprechenden Zielen und Symptomen des Patienten festgestellt, inwieweit ein Ansatz mit Hilfe zur Selbsthilfe umgesetzt werden kann. Je nach Voraussetzungen des Patienten kann das mehr oder weniger sein, versucht werden sollte es aber immer. Wichtige Ressourcen, auf die ein Patient dabei zurückgreifen kann, sind Problemlösung, Entscheidungsfindung, effiziente Verteilung der eigenen Ressourcen und die Fähigkeit, die Maßnahmen selbst zu überwachen. Für den Therapeuten sollte das oberste anzustrebende Ziel bei diesem Punkt sein, die Fähigkeiten des Patienten zu stärken und ihn zu motivieren, die notwendigen Fähigkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität zu erwerben. Laut aktueller Evidenz wird dieser Punkt von Therapeuten häufig vernachlässigt.

Die Wissenschaftler schlagen zudem vor, welche weiteren Fähigkeiten Patienten bei der Selbsthilfe unterstützen können. Dazu zählen die Akzeptanz und der Umgang mit Schmerzen, Verbitterung, negativen Emotionen, Erschöpfung, Stress, mentalen Barrieren, Lifestylefaktoren wie Schlaf oder Ernährung, hemmenden Kognitionen und die Wiedereingliederung in das frühere Leben. Das hört sich jetzt nach einer unlösbaren Aufgabe für Therapeuten an, sie müssen aber nicht die ganze Arbeit machen. Natürlich sollen sie auch wertvollen Input geben, vielmehr aber wie eine Art Coach vertrauenswürdige Ressourcen im Sinne von Weiterbildung und Werkzeugen bereitstellen. Zudem können sie etwas leisten, das diese Ressourcen nicht so gut leisten. Sie können Patienten im sozialen Kontext positiv verstärken und auf Probleme eingehen.

Wie bei jeder Behandlung sind eine Reflexion über die Behandlung und eine Evaluation der Ergebnisse ein wichtiger Bestandteil der Arbeit mit dem Patienten. Das ist insbesondere bei der Hilfe zur Selbsthilfe entscheidend, sodass der Patient sehen kann, ob er sich in eine positive Richtung entwickelt oder nicht. Prinzipiell können alle Themen, die in den Phasen der Identifikation und der Zielsetzung besprochen werden, auch evaluiert werden. Im Praxisalltag ist das aufgrund des großen Umfangs eine beinahe unlösbare Aufgabe. Daher sollte man sich auf die aussagekräftigsten Parameter beschränken. Darüber hinaus kann es sein, etwas in die Zukunft des Patienten zu denken – also welche Herausforderungen werden ihm nach der Behandlung begegnen und wie kann er diesen begegnen? Sicherlich wird es auch Rückschläge geben. Darauf muss der Patient vorbereitet sein. Als Praxis könnte man dem Patienten sogar anbieten, regelmäßige Evaluationen via Telefon oder in persönlichen Terminen auf Basis von Selbstzahlerleistungen wahrzunehmen, um den Behandlungserfolg langfristig zu erhalten.

Fazit

Viele der im Modell dargestellten Punkte werden tagtäglich in der physiotherapeutischen Arbeit bewusst oder unbewusst eingesetzt. Eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten erfordert aber auch ganzheitliche Modelle und daher ist es sinnvoll, sich mit diesen auseinanderzusetzen, um die Therapie noch patientenzentrierter ausüben zu können.

Quellen:

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