Leseprobe | Konzept und Werkbegriff

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Konzept und Werkbegriff Die p lastische Gestaltung in der Architekturausbildung Michael Schulze zur Publikation



Inhalt Vorwort

4

Kuppelmotiv

Körperformmöbel

216

Biografische Anteile

6

Alle Tassen im Schrank?

102

Mein Stuhl, dein Stuhl

218

Lehrstuhl Plastik

8

Mosaik des Alltags

106

Biegeformen

222

Vogel in Stein

110

Silberschmieden

226

Aufgabentypologien Zur Propädeutik Plastik

12

98

Versuch einer Zielbestimung: Fähigkeiten und Fertigkeiten

Berufsbezogene Aspekte 114

zur Architektur

230

Workshop Extrem Räume

16

Entwicklung eines Raummoduls 18 Grundlehre

Stegreif

Exkursion

Ein Ding, ein Licht

134

Lehmofen

232

Telefon

138

Natur Ressource

234

Hut

142

Bigger than life

236

Additive Formen

20

Schuhe

144

Lebensgroß

238

Durchdringung farbig

22

Jacke wie Hose

146

Playstation 1–3

240

Durchdringung in Beton

24

Le Frisur

148

Vier Elemente:

Drahtgitter-Durchdringung

26

Schraubst du noch ... oder

Geometrische Körper

sägst du schon?

und Flächen

28

Wo häng’ ich meine

Kupferbauten

30

Jacke hin?

Quaderrelief

32

Kollektivplastik

150 152

Feuerinszenierung

244

Übers Wasser

246

Stein auf Stein

248

Über den Pneu

250

Gestaltungslehre und Wahlfach

Kunstpraxis

254

kubisch/organisch

34

Über das Maß hinaus

156

Kollektiver Turm

38

Ein Ding, ein Licht

160

Bachelorarbeit

Gipsraum

41

Ikarus trifft Leonardo

164

Einheits- und Freiheitsdenkmal

Kollektiver Formkreis

42

Form und Klang

168

Berlin

258

Wasserbecken

44

Schale in Lindenholz

170

Ein Bühnenbild für Tosca

264

Gesteckte Statik

48

Handlandschaft

174

Fidelio

268

Raumstruktur

52

Falten

176

Rhythmus einer Hand

54

Keramikwerkstatt

179

Masterarbeit

Drahtfigur

56

Makrobauten

180

Morphologische Methode der

Tischkinetik

60

Dinner for one

184

Begriffsgenerierung I

272

Ansicht oder Durchsicht?

62

Lampenfieber

186

Mahnmal Loveparade

274

Windspiel

64

Steinhof

188

Keramikfassade

278

Kinetik

66

Malerei wird Skulptur

190

Drei Akte

282

Organische Form in Kupferblech

70

Ich bin Plastik

192

Morphologische Methode der

Organische Form in Holz

74

Akt modellieren

194

Begriffsgenerierung II

284

Profiler

76

Kunststoffwerkstatt

196

Nathan der Weise

286

Nutella-Plastik

78

Träume aus Kunststoff

198

Status quo

290

Kissenplastik

80

My Personal Hero

202

Forschung in der

Plastisches Logo

84

Lichtfänger und andere

My Personal Hero

86

optische Verführer

Performative Inszenierung

88

Metallwerkstatt

Fingerabdruck einer Landschaft 90 Hals über Kopf

94

Gestaltungslehre

293

204

Anhang

299

206

Beteiligte

300

Metallgestaltung

208

Literatur

301

Wire Chair

212

Biografie

302

Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Vorwort Der Titel „Konzept und Werkbegriff“ als Leitmotiv

Beide,

Konzept

und

Werkbegriff,

fördern

den

für dieses Buch ergab sich einerseits aus meinem

Transfer in eine gestalterisch- und materialgerechte

eigenen Denken und Handeln als Künstler, bei dem es

Anwendung in der Praxis des Architekten. Konzept

mir immer fern lag, Kunst als Selbstzweck, „l’art pour

und Werkbegriff bilden eine Interdependenz in der

l’art“, zu begreifen; und andererseits aus der Haltung

Ausbildung elementarer Grundlagen.

und den Erfahrungen, die ich als Gestaltungslehrer

Als Lehrer und Studierender sind wir gemeinsam

am Lehrstuhl Plastik, innerhalb der Fakultät für Archi-

Beobachter erster Ordnung (N. Luhmann) in der

tektur an der RWTH-Aachen, machen durfte.

Betrachtung der Dinge aus Realität und Wirklichkeit.

Das Korrelat von Planen (Konzept) und Erstellen

Wir nehmen diese wahr und beschreiben sie mit

(Werken) ist der Plastik und der Architektur gleicher-

trivialen Begriffen. Als Künstler und Lehrer bin ich mir

maßen eigen. Nur, in der plastischen Gestaltung

meiner Erfahrungen als Beobachter zweiter Ordnung

arbeitet der Künstler in der Regel mit den eigenen

bewusst, nämlich das trivial-vorhandene Beobachtete

Händen. Der Architekt indes übergibt das Bauen an

in einen neuen Zustand – durch Konzept, Form und

Fachkräfte und schweres Gerät. Dieser Transfer von

Material – übersetzen zu können. Diese Kompetenz

Prozessen des konzeptuellen Denkens mit dem „eige-

ist ein Kernpunkt künstlicher Gestaltungslehre. Der

nen Kopf“ und des Machens mit den „eigenen Hän-

Studierende soll Methoden erlernen, die ihn in die

den“ ist wichtig für die Entwurfsphase des Architekten

Lage versetzen, im Idealfall zum Beobachter zweiter

und verlangt entsprechende Fähig- und Fertigkeiten.

Ordnung zu werden.

Diese möchte ich als Arbeitsergebnisse in diesem

Die künstlerischen Ergebnisse dabei sind

Buch methodisch-didaktisch erläutern und vorstellen.

austauschbar und nur so gut wie die Zielvorgaben,

Weiterhin möchte ich Begriffe separieren, die

für die sie entwickelt wurden. Das soll nicht heißen,

als grundlegende Leitbegriffe in der Beschreibung

dass diese beliebig sind, sondern nur, dass sie als

der Ziele von Gestaltungslehre Verwendung finden.

Simulationsmodelle im Raum der Kontingenz, als

Besonders vor dem Hintergrund der Diskussionen um

Resultat einer Methode entstanden sind. Kontingenz

arbiträre Methoden und Übernahmen aus der freien

meint hier die Möglichkeitsform des Andershandelns

Kunst in die aktuellen Gestaltungslehren könnte der

vor der ästhetischen Entscheidung, mit den aus der

Blick auf diese Ziele eine Relativierung und Neube-

Logik des Systems entstandenen Kriterien.

wertung bewirken.

Daher gehe ich in der Lehre nicht davon aus,

Während das konzeptuelle Denken dem

dass wir „Kunst“ produzieren; lediglich davon, dass

Studierenden in der Bildungssozialisation öfter begeg-

wir mit künstlerischen Methoden ein gestalterisches

nete, verhält es sich mit dem Ansatz oder der Anwen-

Ziel verfolgen.

dung eines Werkbegriffs schon ganz anders: Werken

Bezogen auf die komplexe Tätigkeit des

als Bildungsfach ist an vielen Schulen Deutschlands

Architekten sind die künstlerischen Fähigkeiten und

abgeschafft, obwohl durch Reformpädagogen und

Fertigkeiten zwar elementare Anteile, aber eben „nur“

Alternativschule die ganzheitliche Bedeutung dieser

Anteile eines umfangreichen generalistischen Über-

Tätigkeit hervorgehoben wurde.

baus. Aus dieser dienenden Haltung heraus entwickle

Werken meint hier nicht das Basteln, sondern

ich meine Lehre in der Architekturausbildung.

den produktiven und erkenntnisfördernden Umgang

Weiterhin ist feststellbar, dass wenig Literatur als

mit ästhetischen Objekten. Im Werkbegriff geht es

propädeutisches Instrument über die Lehre der plas-

um grundlegende Vorgänge, ästhetische Erfahrungen

tischen Gestaltung in der Architekturausbildung exis-

durch Wahrnehmung in Gestaltung zu ermöglichen.

tiert, was mich auch veranlasste, meine Erfahrungen

4 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


und unsere Ergebnisse hier zusammenzufassen. Bro-

tenzen der plastischen und bildnerischen Gestaltung

schüren, Kataloge und originelles Anschauungsma-

ersetzt oder gar überflüssig gemacht werden könnten.

terial über künstlerische Projekte und Ausstellungen

Auch durch die Nutzung und Entwicklung im Bereich

aus der künstlerischen Lehre gibt es zuhauf. Diese

von Rapid Prototyping werden die Kompetenzen der

zeigen aber selten Einblicke in eine pädagogische,

künstlerischen Gestaltung nicht ersetzt, sondern nur

didaktische oder anwendungsbezogene Haltung,

die Werkzeugpalette erweitert.

sondern präsentieren meist „künstlerisch wertvolle“

Zu Beginn meiner Tätigkeit musste ich

Ergebnisse dieses Fachs, deren Nichtnachvollzieh-

feststellen, dass die Zielsetzungen meiner künstleri-

barkeit mich ähnlich beeindruckt,

schen Aufgaben und Ansprüche, insbesondere in der

wie es gleichermaßen die Gegen-

Grundlehre und des Hauptstudiums (damals noch

wartskunst immer öfter tut. Das

Diplomordnung), eine Überforderung durch zu hohen

Modul Gestalten und Darstellen

Freiheitsgrad in der Themen- und Formentscheidung

an der Fakultät für Architektur der

des Studierenden darstellte. Ich musste erkennen,

RWTH-Aachen ist durch die Lehr-

dass intrinsische Motive einer künstlerischen Inten-

bereiche Darstellende Geometrie,

tion (wie z.B. an Kunstakademien) in der Regel bei

CAAD, Bildnerische Gestaltung

Architekturstudierenden nicht vorausgesetzt werden

und Plastik vertreten.

konnten.

Die künstlerischen Ergebnisse dabei sind austauschbar und nur so gut wie die Zielvorgaben, für die sie entwickelt wurden

Die Fakultät für Architektur

Der Lehrstuhl Plastik sollte nicht genutzt werden,

hat sich an die Traditionen gehalten, die ihren guten

um Kunstwerke zu produzieren. Vielmehr hatte ich

Ruf innerhalb der bundesdeutschen Architektur-

eine „Firmenidee“, die aus einem „Kundenservice“

ausbildungsstätten mitbegründet: Die Darstellende

bestehen und elementare Anteile in das Gesamtsys-

Geometrie bildet nach wie vor einen wichtigen und

tem Architektur liefern sollte: gestalterischer Elemen-

elementaren Beitrag zum Raumverständnis, zur

tarunterricht als Dienstleistung, der die Methoden des

Konstruktion des Raumes und des räumlichen Den-

Entwurfs mit unterstützt, fördert und bereichert.

kens. Die zwei separaten Lehrstühle Bildnerische

Unter der Prämisse „Werkbegriff“ mangelte es

Gestaltung und Plastik bilden einen Schwerpunkt der

an handwerklichen und technischen Fertigkeiten bei

künstlerischen Gestaltung in der Grundlehre, und ich

den Studierenden, was mich wiederum veranlasste,

hoffe, dass sich dieser Doppelpack zukünftig auch

unterschiedliche Werkstätten zu gründen, in denen

weiterhin so bewähren wird.

die Gestaltung und die Berührung mit Materialien

Durch CAAD ist eine wichtige und zeitgemäße

operativ geübt und für konkrete Gestaltungsaufgaben

Disziplin in das Modul Gestalten und Darstellen ein-

eingesetzt werden konnten. Neben den für den Bild-

gezogen, dessen Eigendynamik und Effizienz für die

hauer traditionellen Materialien wie Gips, Ton, Stein

Zukunft noch nicht abzuschätzen ist. Es ist zu beob-

war mir die Erweiterung auf Metall, Holz, Kunststoff

achten, dass die Neuzugänge von Studierenden schon

sowie Beton wichtig. Aus dieser Intention heraus

bei Studienbeginn gute bis sehr gute Kenntnisse in der

entstanden jeweils materialeigene Werkstätten. Eine

Anwendung von CAAD-Programmen aufzeigen. Das

Werkstatt für Glas musste ich aus personellen wie

lässt vermuten, dass die Priorität und Bedeutung, die

räumlichen Gründen jedoch verwerfen. Dennoch hat

diesem Fach noch vor einigen Jahren apodiktisch bei-

sich eine operative Infrastruktur entwickelt, deren

gemessen wurde, immer mehr an Bedeutung verliert.

Anspruch und Ergebnisse hier als Selektion sichtbar

Es war eine Chimäre zu glauben, dass der Umgang

und nachvollziehbar gemacht werden sollen.

mit dem Instrument Computer die Ziele und Kompe-

5 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Versuch einer Zielbestimmung

Als Zielvorgabe in der plastischen Gestaltung

für müssen Werkstätten zur Verfügung stehen, in de-

bildet sich ebenfalls das Korrelat von Fähigkeit und

nen die Prozesse von Idee und Materialisierung kon-

Fertigkeit, das in seiner Interdependenz spiegelbildlich

kret geprobt und umgesetzt werden können.

dem Korrelat von Konzept und Werkbegriff weitgehend

Fähigkeiten qualifizieren und manifestieren sich daher in materialisierter Form quasi

entspricht.

Kunst kann ein Geheimnis haben, Gestaltungslehre aber sollte diametral dazu ihr Ziel offenlegen können

Als Fähigkeiten möchte ich die Anlage von mög-

als Externalisation geistiger Ideen.

lichen persönlichen Qualitäten und Quantitäten be-

Um diesen entsprechend Darstellung

zeichnen, die jeder Mensch in sich trägt. Diese sind

und Ausdruck zu verleihen, bedarf es

durch sozialisationsbedingte Faktoren unterschiedlich

der Fertigkeiten als operative manu-

ausgeprägt und können durch Training gefördert wer-

elle oder mechanische Techniken zur

den. Daher bilden intrinsische Anteile eine wichtige Vo-

Sichtbarmachung und zur Bewertung

raussetzung beim Studierenden. Diese Anteile können

der Fähigkeiten. In der künstlerischen

und sollen durch eine Aufgabe und Übung aktiviert und

Gestaltung benötigen wir Material, das ermöglicht, der

motiviert werden, um eine schöpferische Identifikation

Idee, dem Konzept oder der bloßen Ahnung einer Idee

zu erreichen.

Ausdruck zu verleihen. Von der Qualität dieses Aus-

Fähigkeitsbildende Anteile in einer Gestaltungsaufgabe können im Diskurs der Vermittlung oft nicht

drucks hängt also die Stärke der Gestaltungsinformation ab.

einzeln betrachtet werden, da sich Anteile verschie-

Diese Qualität kann auch einem Paradoxon ent-

dener Leit- und Zielmotive oft überlappen oder sich

sprechen, wenn Ergebnisse lose, improvisiert und

gegenseitig bedingen. So kann zum Beispiel eine

scheinbar „unsauber“ hergestellt sind, aber der Form-

Aufgabe, eine Übung das Ziel mehrerer Fähigkeits-

und Ideenfindung große Dienste leisten (siehe Steg-

ansprüche oder Fertigkeitstechniken in sich vereinen.

reifentwürfe).

Dennoch gibt es zielimmanente Aspekte, die in einer

Als Künstler würde man mit Recht pauschal sagen,

Aufgabe Priorität besitzen und benannt werden sollten.

dass grundsätzlich all die oben genannten Fähigkeiten

Aufgaben und Übungen sollten nicht aus osten-

und Fertigkeiten ständig in der Tätigkeit des künstleri-

tativen Motiven oder nur ihrer ästhetischen Ergebnisse

schen Arbeitens immanent sind. Als Lehrer muss ich

wegen ausgewählt werden. Meine Intention ist es, mit

mir jedoch Gewissheit verschaffen, dass eine Aufgabe

einem Zielkatalog an Leitbegriffen, die mir elementar

die speziellen Aspekte der Fähigkeitsbildung sozusa-

und wichtig erscheinen, zu operieren und dafür spezi-

gen selektiv freistellt, eingrenzt und relativ zielgenau

elle Übungen zu generieren.

verfolgt sowie Anforderungen an die materialgeeigne-

Eines dieser Leitmotive im Bereich der Fertigkei-

te Umsetzungstechnik nachvollziehbar macht. Daher:

ten ist der Aspekt der Materialkenntnis als praktizierter

Kunst kann ein Geheimnis haben, Gestaltungslehre

Werkbegriff, dem ich hohen Stellenwert einräume. Da-

aber sollte diametral dazu ihr Ziel offenlegen können.

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Schon Walter Gropius stellte in der Genealogie des

theorie psychische und soziale Systeme und heißt

Bauhauses fest: „Kunst kann man nicht lehren, das

übersetzt „Selbstherstellung“. Das Gehirn, als ein sol-

Handwerk dagegen schon.“

ches operational geschlossenes System verstanden,

Hier nun benenne ich Basisbegriffe der plastischen

funktioniert weitgehend autonom und auf sich selbst

Gestaltung, die als Lehr- und Lernziele besonders An-

bezogen. In der Vergangenheit ging man davon aus,

wendung finden:

dass das Gehirn nur ein Abbild der Wirklichkeit wiedergebe bzw. Sinnesdaten aufnehme und Informationen verarbeite. Heute wissen wir, dass das Gehirn für sich

Fähigkeiten

ein eigenes autonomes System darstellt, das aus sich heraus eine Eigendynamik entwickeln kann. Diese in-

Kreativität

nere autopoiesische Dynamik spielt bei der Kreativität

„Weise ist, wer mehr Träume in seiner Seele besitzt, als die Realität je bieten kann.“ (Indianer Nordamerikas)

eine ausschlaggebende Rolle. Vorangetrieben wird dieser Prozess durch die Kräfte der intrinsischen Motivation, einer psychischen

Der Begriff der Kreativität wird heute in fast allen Berufsbereichen benutzt. Er umschreibt umgangssprachlich den Anspruch, geeignete Lösungen für ein aufgetretenes Problem zu finden. Dabei zeigt sich, dass die Kreativität eines Menschen nicht mit

Energie, die ständig im Integrationsprozess mit den Einflüssen der sozialen Umwelt steht.

„Weise ist, wer mehr Träume in seiner Seele besitzt, als die Realität je bieten kann“ (Indianer Nordamerikas)

seinem IQ korreliert. Lernbe-

Edward L. Deci und Richard M. Ryan erwähnen in ihrer Selbstbestimmungstheorie

insbesondere

die

Intuition als Motor von Kreativität: „In Übereinstimmung

hinderte und sogar schwer Geisteskranke können au-

mit vielen anderen modernen Theorien der mensch-

ßerordentlich kreativ sein. Andererseits soll es hochin-

lichen Motivation (z.B. Heider/Lewin) stützt sich auch

telligente Menschen geben, deren Kreativität sich auf

die Selbstbestimmung auf das Konzept der Intentio-

dem Niveau eines Kleinkindes bewegt.

nalität, um die Steuerung des Verhaltens zu erklären.

Johann Wolfgang von Goethe z.B. hatte

Menschen gelten als dann motiviert, wenn sie etwas

aus vielen seiner psychischen Krisen schöpferische

erreichen wollen – wenn sie mit dem Verhalten einen

Impulse gewonnen. In Faust und Werther beschreibt

bestimmten Zweck verfolgen. Die Intention zielt auf ei-

er nichts anderes als den Zustand der Selbstüberwin-

nen zukünftigen Zustand, gleichgültig ob er wenige Se-

dung und Erneuerung durch Kreativität.

kunden oder mehrere Jahre entfernt liegt. Dazu gehört

Niklas Luhmann nennt diesen Prozess systemisch

auch die Bereitschaft, ein Mittel einzusetzen, das den

„Autopoiesis“. Dieser Begriff beschreibt in der System-

gewünschten Zustand herbeiführt. Intentionale und in-

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sofern motivierte Handlungen gehen von der Person

daher entsprechende Vorbereitungen zu treffen, damit

aus und richten sich entweder auf eine unmittelbar

die Studierenden vertrauenswürdig kooperieren und

befriedigende Erfahrung (der Sachverhalt wird als in-

sich offen auf einen kreativen Prozess und entspre-

teressant, spannend oder aufregend empfunden) oder

chende Kommunikation einlassen.

auf ein längerfristiges Handlungsergebnis, z.B. das Bestehen einer Prüfung.“

Besonders Studierende der ersten Semester kommen in einen Kurs mit der Erwartung, dass ihnen

Intuition, die im Folgenden auch noch beschrieben wird, erscheint mir als ein wichtiges unsichtbares

hier Formeln und Rezepte geliefert werden, und unterschätzen den Zustand der Selbstbestimmung.

Werkzeug, das sich jeder Studierende selbst aneignen

Kreativität und Schöpfung bewegt sich, system-

sollte. Wir als Lehrende sind nur Attraktoren. An den

theoretisch betrachtet, zwischen den beiden Polen von

Schulen wird Intuition nicht unbedingt gefördert, daher

Problem und Ziel. Innerhalb dieses Systems möchte

sind es meist außerschulische, künstlerisch-musische

ich den Prozess in fünf verschiedene Phasen aufteilen:

Situationen, in denen Stimmungen und Zustände ent-

1. Die Vorbereitungsphase: Begrüßung und einleitende

stehen, in denen Intuition gefordert, empfunden und

Worte zum Ziel der Aufgabe/Übung. Erläuterung zum

erlebt wird.

Material und den damit verbundenen Möglichkeiten.

In der Vergangenheit wurden diese Bewusst-

Frage nach Verständlichkeit.

seinszustände der Selbstvergessenheit (Immersion)

2. Entdeckungs- und Reifephase, Recherche, Brain-

und kreativen Eingebungen oft überpersönlichen In-

storming: Erste Skizzen und Modelle. Anschauungs-

telligenzen oder als ein mystisches Geführtwerden

beispiele und Eingrenzung der Aufgabe.

erlebt und beschrieben (Musenkuss). Daher ist auch

3. Einsicht und Aha-Erlebnis. Einstieg in den Prozess:

zu verstehen, dass der kreative Prozess mit einem be-

Trial-and-Error-Methode, Zufall und Wille treffen sich.

sonderen Bewusstseinszustand (Trance oder Floating)

4. Selbstbewertung und Kritik: Abwägen von Qualitäten

zu beschreiben ist und oft mit dem Verlust des Zeit-

und Klischees, handwerkliche Fertigkeiten.

bewusstseins einhergeht. Kreative Prozesse können

5. Ausarbeitung: Autonomes Arbeiten und Gestalten,

auch im Schlaf oder Vorschlaf ablaufen, wie André Bre-

handwerkliche Fertigkeiten nehmen zu. Evidenz und

ton in seinem „Surrealistischen Manifest“ beschrieb:

Identifikation mit dem gestalteten Objekt.

„Warum sollte ich vom Exponenten des Traums nicht

Aus meiner Sicht ist eine Betreuung im plasti-

noch mehr erwarten als ich von einem täglich höhe-

schen Gestalten bei einer Gruppengröße von über

ren Bewusstseinsgrad erwarte? Kann nicht auch der

zwölf Personen durch einen Betreuer problematisch,

Traum zur Lösung grundlegender Lebensfragen die-

da der Dozent bei einer Zeit von drei Wochenstunden

nen?“ Wir erkennen, Kreativität kann durch viele Sti-

pro Lehrveranstaltung keine optimale individuelle Be-

mulationsmethoden bedient werden.

treuung durchführen und der gewünschte Effekt einer

Um sich auf einen Stimulationszustand in der

Kreativsituation nicht mehr entstehen kann.

Lehre einzulassen, bedarf es einer ausgeglichenen,

Anders verhält es sich bei Übungen, in denen

stressfreien Situation, die der Hochschulalltag nur sel-

ein kollektives Ziel als Gruppe erreicht werden soll.

ten zur Verfügung stellt. Als Gestaltungslehrender sind

Gerade hier schließt Kreativität mit ein, dass der Stu-

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dierende teamfähig und kompromissbereit agiert. Mit

tische Erfahrungen bezeichnet werden? Plato nannte

Gruppen bis zu 200 Studierenden sind meine Erfah-

sie sogar „göttlichen Wahnsinn“. Die intuitive Fähigkeit,

rungen derart, dass diese zwar gemeinsam in einem

Eigenschaften und Emotionen in Sekundenbruchteilen

Raum arbeiteten, aber in Zehnergruppen aufgeteilt wa-

unbewusst oder bewusst komplex und instinktiv zu er-

ren. In solchen Situationen gewinnt die Eigendynamik

fassen, ist entwicklungsgeschichtlich vermutlich eine

an Verve und es entsteht ungewollt eine Wettbewerbs-

Einstellung, die der Unterscheidung von Freund und

situation, die sehr beflügelnd und befreiend auf viele

Feind dienen musste (evtl. Kampf- oder Fluchtreak-

Studierende wirkt. Diese scheinbar nicht messbaren

tion) – jedenfalls unbewusste Gründe für eine bestimm-

Leistungen bilden nicht nur das kognitive Wissen, son-

te Entscheidung oder Handlung. Für die Redewendung

dern erhöhen den Level an Intuition, Sensitivität sowie

„Das habe ich aus dem Bauch heraus entschieden“

emotionale Intelligenz. Plastik formt nicht nur die mate-

stehen auch Begriffe wie Instinkt, Spürsinn, siebter

rielle sichtbare Masse, sondern auch das unsichtbare

Sinn, Ahnung, Riecher, Eingebung, Gedankenblitz

Bewusstseinsvolumen der Teilnehmer.

oder Geistesblitz. Intuition hat einen engen Zusammenhang mit der inneren Logik der Gegebenheiten

Intuition

und mit früheren Erfahrungen. Daher kommt Louis

„Intuition ist direktes Begreifen, ohne Verwendung

Pasteur zu dem Schluss: „Der Zufall trifft nur einen vor-

von bewusstem Nachdenken. Es handelt sich um eine

bereiteten Geist.“ Intuition braucht also Vorgaben. Ra-

kognitive Funktion, ein psychisches Organ, das die

tionalität und Intuition bilden daher keinen Gegensatz

Wahrheit in ihrer Gesamtheit greifen kann. Intuition schreitet nicht wie analytisch-wissenschaftliches Vorgehen vom Teil zum Ganzen, sondern erfasst direkt das Ganze.“ Catholic Encyclopedia Das Wort Intuition hat seine Wurzeln im lateini-

„Durch Logik beweisen wir, aber durch Intuition entdecken wir“ Henri Poincaré

schen „intueri“ und bedeutet anschauen, betrachten,

und sind verbindlich für die Wahrnehmung. Verstand

erwägen. Intuition bedeutet ein spontanes, ganzheit-

und Gefühl sind zwei komplementäre Formen, um die

liches Erkennen oder Wahrnehmen von Situationen,

Welt zu begreifen.

Ereignissen oder Zuständen. Für Rousseau war Intu-

Was wir Intuition nennen, ist keine übernatürliche

ition „… die souveräne Intelligenz, die mit einem Blin-

Kompassnadel, die uns auf geheimnisvolle Weise un-

zeln die Wahrheit aller Dinge erkannte, im Gegensatz

fehlbar in die richtige Richtung führt, sondern eine un-

zum leeren und enttäuschenden Bücherwissen“, und

bewusste, ganzheitliche Verarbeitung und Bewertung

für Newton zeigte sich die Intuition bei der müßigen

der Wahrnehmung durch emotionale Eindrücke und

Beobachtung eines fallenden Apfels zur Entdeckung

rationale Erkenntnisse. Daher: „Durch Logik beweisen

der Gravitation verantwortlich.

wir, aber durch Intuition entdecken wir“, so Henri Poin-

Was sind diese unplanbaren, überraschenden,

caré.

nicht rational ableitbaren Momente, die als Resultat in-

Für die Künste war und ist die Anwesenheit von

tuitiver Erkenntnis und als übersinnliche oder gar mys-

Intuition immer schon ein produktives Prinzip. Das Auf-

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gehen in einer Tätigkeit oder in einem Medium, das

Planeten ein Großteil der Menschheit noch in steinzeit-

„Fließen“ setzt das bewusste Denken, Planen und

ähnlichen Verhältnissen lebt und wirkt, relativiert für

Organisieren aus. Im Zustand des künstlerischen Ar-

mich das Dasein eines hohen technologisch-zivilisa-

beitens ist vollkommene Konzentration anwesend. In

torischen Anspruchs in unserer Hightech-Gesellschaft.

diesem Zustand laufen komplexe Denkreaktionen har-

Ich versuche, die Dinge einfach und elementar zu

monisch ab, ohne durch bewusstes und zielstrebiges

sehen.

Denken beeinflusst zu werden. Intuition und Kreativität sind zwei Seiten einer Medaille.

In unserer hektischen und bildüberfluteten Zeit, in der insbesondere unsere Klientel, die Studierenden, sozia-

Es ist nicht erwiesen, dass Intuition erlernbar ist.

lisationsbedingt von dieser Flut immens beeinflusst ist,

Sie ist ein persönliches Merkmal mit unterschiedlicher

ist es schwierig, einen naiven, unverbrauchten Blick zu

Ausprägung und ein wichtiger Wesenszug von Talent

aktivieren. Naiv wird hier als etwas Positives genannt,

und Begabung. Es ist daher überflüssig, die Bedeu-

im Sinne von Unvoreingenommenheit, frei von geisti-

tung der Intuition für das Architekturstudium zu beto-

gen Fesseln, mit dem Vermögen zur Eigenheit, einem

nen; nicht nur für den kreativen Akt, sondern darüber

Phänomen frei von Wissen neutral gegenüberzutreten

hinaus auch für ein ganzheitliches Verhalten im Leben

und offen zu sein für eigene Entdeckungen und Erfin-

eines jeden Menschen.

dungen. Eine antipathische und skeptische Haltung dem begrifflichen Leben gegenüber, das normalerwei-

Wahrnehmung

se dem Wissen oder der Erkenntnis kaum einen Vorbe-

Im Dschungel Amazoniens wurde ein Indianerstamm entdeckt, der zuvor noch nie mit Weißen in Berührung gekommen war. In einer zentralen Hütte entdeckte man Holzskulpturen,

deren

Ausdruck

stark Erinnerungen an Flug-

Beim Architekten könnte man pauschal unterstellen, wenn er den menschlichen Körper kennt und versteht, dass er besonders prädestiniert ist, für diese Spezies Behausungen und Lebensräume zu bauen

oder Vogelobjekte wachriefen.

halt gegenüberstellt. Daher folgen hier einige system- und erkenntnistheoretische Gedanken zur Wahrnehmung: Wahrnehmung ist ein Austausch von Selbstreferenz (Mitteilung) und Fremdreferenz (Information), so Niklas Luhmann. Weiter: Die Markierung

Es stellte sich dann auch bald heraus, dass über dem

durch den Beobachter (auf dem Papier oder Stein etc.,

Dorf eine Fluglinie täglich ihre Bahnen zog. Die Einge-

also der marked space als Kunstraum) macht erst die

borenen, in Unkenntnis dieses Phänomens, nahmen

beiden unterschiedlichen Systeme von Beobachter

die Flugzeuge wahr, und interpretierten diese als sa-

und Betrachtetem (dem un-marked space als Reali-

krale Zeichen und bauten sie mit ihren Mitteln nach.

täts- und Wirklichkeitsraum) deutlich.

Dieser echte und unverbrauchte Blick der Einge-

Die Beobachtung erster Ordnung und die Be-

borenen beeindruckt mich sehr und gilt mir als Leitmo-

obachtung zweiter Ordnung ist insgesamt die Beob-

tiv bei den Methoden der Herangehensweisen im Um-

achtung einer Medaille mit Vorderseite und Rückseite.

gang mit Gestaltung. Die Tatsache, dass auf unserem

Die Beobachtung erster Ordnung ist das interessierte

118 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Beobachten der Welt. Das Beobachten der zweiten

Verständnis an, was ein Baum sein kann oder was er

Ordnung ist das aus der ersten Ordnung heraus konzi-

ist. Die Zeichnung ist nur Hilfsmittel, um meine Beob-

pierte Gestalten, also die Umsetzung, die der Gestal-

achtung zu verifizieren. Die Qualität der Zeichnung do-

ter vollzieht, wenn er Beobachtetes in eine neue Be-

kumentiert nicht nur meine handwerklichen Fertigkei-

obachtung (des Werkes) überführt. „Das Werk macht

ten mit dem Zeichenstift, sondern auch die Intensität

die Wahrnehmung für Kommunikation erst verfügbar.“

und Genauigkeit meiner Beobachtung. Diese evidente

Wahrnehmung als Zusammenwirken von Information

Erfahrung ist nur ein Synonym für Methoden der Wahr-

und Referenz (Subjekt).

nehmung mit künstlerischen Mitteln.

In der plastischen Gestaltung läuft dieser Prozess

Übertragen wir dieses Schema auf den Bereich

in der Regel über ein Medium (z.B. Ton, Gips etc.) und

der plastischen Gestaltung, stehen uns auch viele

der Gestalter wird zum Beobachter zweiter Ordnung.

Möglichkeiten des Sehen-Lernens bereit. Besonders

Der ungewohnt aufwendige Schwierigkeitsgrad dieser

im Akt- und Porträtmodellieren wird die Perzeption

Umsetzung macht mehr Arbeit als ein Klick am Com-

gefordert. In der akademischen Disziplin Plastik war

puter, der den Baum, das Auto oder die Figur in der

das Modellieren nach der Natur (Akt, Porträt, Tier und

virtuellen Zeichnung erscheinen lässt! So sieht in der

Ding etc.) in der Vergangenheit selbstverständlich:

Regel die Benutzung des Computers in der CAAD-Pra-

Diese Tradition wurde an den Kunsthochschulen und

xis des Zeichnens bei Studierenden aus.

den Technischen Hochschulen in der Architekturaus-

Wenn wir den Architekturstudenten als einen

bildung lange weitergeführt. Nicht nur aus Anwen-

Beobachter der zweiten Ordnung verstehen wollen,

dungsgründen der späteren, eventuell figürlichen oder

dann ist die Übernahme der Abbildung nur eine einsei-

freikünstlerischen Darstellung, sondern aus Gründen

tige Fremdreferenz als Information, denn ein Element

der Wahrnehmungsschulung. Beim Architekten könnte

in der Wahrnehmungsleistung fehlt: die Mitteilung als

man pauschal unterstellen, wenn er den menschlichen

Selbstreferenz.

Körper kennt und versteht, dass er besonders prädes-

Um beim Wahrnehmungsmodell „Baum“ zu bleiben: Wenn ich einen Baum zeichne, nähere ich mich ihm

tiniert ist, für diese Spezies Behausungen und Lebensräume zu bauen.

nicht nur physisch, sondern auch mit meinen Blicken

Richtig ist, dass der Architekt z.B. über die

und Empfindungen. Der Baum steht in allen Dimen-

Kenntnis und das kausale Verstehen von Stand- und

sionen vor mir. Ich kann ihn anfassen, besteigen, rie-

Spielbein eine elementare Einsicht in Masse, Volumen

chen und fühlen. Ich beginne ihn zu zeichnen. Nehme

und Statik erfährt; dass er weiterhin über den Aufbau

Maß, betrachte seinen Stamm, seine Wurzeln, seine

der Anatomie mechanische Zusammenhänge (Druck-

Äste und Blätter. Versuche, die gesamte Gestalt zu be-

und Zugkräfte) sowie konstruktive Einsichten erhält,

greifen. Ich suche zu verstehen, wie der Ast aus dem

und letztlich, dass er durch das Verstehen der Pondera-

Stamm wächst, und dokumentiere diese Erkenntnis mit

tion, also dem Ausgleich der Gewichtsverhältnisse des

dem Zeichenstift auf das Papier als Beobachter zweiter

menschlichen Körpers, ein wunderbares Formgebilde

Ordnung. Bei all diesen Unternehmungen nähere ich

der Natur vorgeführt bekommt. Auch die Begriffe Me-

mich dem Wesen des Baumes, ich nähere mich dem

tamorphose oder Morphologie lassen sich anhand der

119 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Entwicklungsgeschichte des menschlichen Körpers

bei bewegt er sich in einem festgelegten Themenfeld,

anschaulich erläutern. Ein ähnliches Erkenntnisuniver-

in dem er seiner Intention Ausdruck und Gestalt ver-

sum setzt das Porträtmodellieren frei.

leihen soll, andernfalls reden wir nur

Mir lag, als ich den Lehrstuhl für Plastik über-

von einer nicht verifizierbaren Idee!

Die konzeptuelle Leistung beinhaltet keine starren Regeln, sondern das Suchen, Finden und Erkennen einer geeigneten Form für das Thema der Unternehmung

nahm, sehr daran, dass die Lehrinhalte des Naturstu-

Die konzeptuelle Leistung bein-

diums eine besondere Gewichtung erhalten sollten.

haltet keine starren Regeln, sondern

Mir war auch bewusst, dass ich mit solchen tradierten

das Suchen, Finden und Erkennen

Übungen gegen den Mainstream gegenwärtiger Lehr-

einer geeigneten Form für das The-

konzepte „schwamm“, denn konzeptuelle und folglich

ma der Unternehmung. Daraus wie-

materialarme Übungen in der Architekturausbildung

derum entsteht das Verhalten, eine

standen und stehen noch immer hoch im Kurs. Die

konsequente Entscheidung im Form-

studentische Nachfrage gibt mir aber recht: Die Selbst-

oder Gestaltungssystems zu gewin-

porträtkurse sind in jedem Semester voll ausgelastet.

nen. Hinzu kommt eine angemessene handwerkliche

Was erlernt der Architekturstudierende bei der Wahr-

Materialumsetzung zur Sichtbarmachung des Kon-

nehmungsübung „Selbstporträt modellieren“? „Er lernt

zeptes. Nach dieser Kreativphase wird verifiziert und

sich selbst zu sehen und erkennt dadurch auch sein

reflektiert.

Gegenüber neu!“

Da das geschilderte System auf Phasen aufbaut, die sich miteinander rückkoppeln, entstehen wiederho-

Konzeptuelles Denken

lende Abläufe (Iteration). Jede Wiederholung hat eine

Als wichtige Schlüsselkompetenz nimmt das

Variation der Bedeutung zur Folge, die dem ursprüngli-

konzeptuelle Denken in der Architekturausbildung

chen Prozess davor etwas hinzufügt und ihn bereichert.

grundsätzlich eine bedeutende Stellung ein. Die Kom-

Gemessen an der Zielformulierung entscheidet sich,

plexität der vielfältigen Komponenten in der Architek-

ob in eine zurückliegende (Kreativ-)Phase neu einge-

tur setzen konzeptuelles Denken und Handeln voraus.

griffen wird. Als schriftliche Reflexion über das Konzept,

Der Generalist Architekt wäre ohne diese Fähigkeit

den Prozess und das Resultat folgt eine vergleichende

verloren.

Einordnung und Beschreibung der entstandenen Plas-

Im konzeptuellen Denken treffen sich verschiedene

tik: im Kontext der Stil- und Kunstgeschichte sowie Pa-

Fähigkeitskompetenzen, die ein Handeln auf ein Ziel

rallelen zu Werken der Gegenwart. Die Aufgabe wird

ermöglichen sollen. Es gibt ein Problem (z.B. die Gestal-

mit diesem Werkbericht abgeschlossen. Konzeptuelles

tungsaufgabe), für das eine (ästhetische) Lösung ge-

Denken in der Plastik ist umfassend und nicht mit der

funden werden soll. Die Zielformulierung ist in diesem

Spielart der Conceptual Art zu verwechseln, bei der

Prozess von eminenter Bedeutung. Daher offerieren

nur die Idee separiert wird und solitär als „Kunst-Werk“

wir den Studierenden ausführlich die Ausgangsmoda-

steht. Zwangsläufig würde dann die Materialisierung in

litäten des Aufgabenkomplexes: Thema, Objektgröße,

den Hintergrund treten bzw. an Bedeutung verlieren.

Material, Zeit und Technik. In diesem Rahmen entwi-

Für den Studierenden der Architektur ist die Kenntnis

ckelt der Studierende sein künstlerisches Konzept. Da-

über das Phänomen Conceptual Art durchaus wichtig.

120 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Im Sinne einer ästhetischen Erfahrung jedoch sind die

gegenwärtiger Zeit, es enstand nicht erst durch CAAD-

daraus resultierenden Objekte meist weniger geeignet,

entworfene Architektur!

da sich dort der ästhetische Anspruch ausschließlich

Eine Ursache dieses Mangels liegt im Ver-

in und durch die Idee manifestiert. Konzept und Werk-

lust von räumlichem Denken und Empfinden begrün-

begriff als Symbiose stehen für mich im Vordergrund

det. Um dieser Fehlentwicklung entgegenzuwirken, ist

einer künstlerischen Lehre im Architekturstudium.

es in der Ausbildung des Architekten unerlässlich, die Vermittlung und Heranführung an das Thema als eine

Räumliches Denken

Ur-Aufgabe zu begreifen, da schon hier in den Anfän-

Das menschliche Gehirn wird in der Neurobiologie

gen die Weichen einer evidenten Haltung gestellt wer-

als ein operational geschlossenes System verstanden

den. Daher ist das plastische Gestalten die elementare

(H.D. Huber) und ist in der Lage, Räume zu imaginie-

Tätigkeit, bei der räumliches Denken konkret erfahren,

ren, die sich jenseits des bewusst wahrgenommenen

geschult und umgesetzt wird.

Wirklichkeitsraumes redundant bilden können. Für den euklidischen Raum sind diese Dimensionen inkommensurabel. Auch wenn die Architekturgeschichte auf dem euklidischen Geometriesystem aufbaut, so befinden wir uns heute im Zustand eines Paradigmenwechsels im Umgang mit Raumkonzepten. Nicht nur in dessen darstellerischen Vorstellungsgrenzen, sondern auch in konkret formbildenden Elementen im Raum.

In meiner Lehrpraxis erfahre ich immer wieder durch Nachfragen, dass die Begegnung mit plastischen Methoden in der Sozialisation und Bildung der Studierenden viel zu kurz kamen

Gemeint ist hier CAAD, das in seiner Anwen-

Zur Veranschaulichung das Beispiel frühkindlicher

dungsdynamik ungeahnte Weitblicke generieren kann,

Erziehung: Das Kleinkind macht eine kausal räumlich-

dessen Repertoire in der Entwurfsarbeit derzeitig von

haptische Elementarerfahrung, indem es mit kleinen

vielen noch etwas skeptisch betrachtet und nur von

Spielzeugen hantiert, die ihm zur Verfügung gestellt

wenigen Architekten souverän genutzt wird. Postbau-

werden. Neben einer positiven Entwicklung der Fein-

haus- und postmoderne Entwurfsmethoden herrschen

motorik erlebt das Kind durch die spielerische Konfron-

vor.

tation die Evidenz einer räumlichen Situation. Die große Gefahr in dieser Technik liegt für mich

Ein Verlust dieser Bewusstseinserfahrungen

in der Vorstellung begründet, dass zukünftige Entwürfe

zeigen als Extreme die Fälle „Kasper Hauser“ oder die

jenseits einer menschlich nachvollziehbaren räumlich-

der sogenannten „Wolfskinder“, aber auch das „Höh-

haptischen Wahrnehmung entwickelt werden und dass

lenbeispiel“ von Platon bildet ein Gleichnis zur räum-

sich deren Dimension, Form und Struktur von dem

lichen Bewusstseinsbildung. Vor diesem Hintergrund,

Menschlichen in Maß und Empathie so weit distan-

im Sinne einer Gestaltsozialisation und Gestaltmoral,

ziert, dass die Unerträglichkeit einer ästhetischen und

sind diese konkreten Raumerfahrungen nicht zu un-

räumlichen Redundanz entsteht. Dieses Phänomen

terschätzen. In meiner Lehrpraxis erfahre ich immer

kennen wir aber schon aus vergangener und auch in

wieder durch Nachfragen, dass die Begegnung mit

121 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


plastischen Methoden in der Sozialisation und Bildung

Gegenstandes zugrunde: Dieser Baum ist deswegen

der Studierenden viel zu kurz kamen. Diesbezüglich

ein Baum, weil er teilhat an der Idee des Baumes,

sind die Bildungsträger in der Verantwortung, denen

welche selbst nicht raumzeitlich lokalisiert ist und

aber mehr an einem anderen Bildungsprofil gelegen

auch nicht einfach nur durch Abstraktion, sondern

ist, wie die PISA-Studien zeigen. Im Umgang mit Ton

durch Wiedererinnerung an die Idee des Baumes

oder sonstigen für plastisches Arbeiten geeigneten

erkannt wird. Dieser erkenntnistheoretischen Hypo-

Materialien haben nur wenige Studierende jemals Er-

these gegenüber ein etwas pragmatischerer Ansatz:

fahrungen gesammelt. Und wenn, dann liegen diese

Ein Baum hat viele Äste und Blätter. Die Rinde ist nicht

meistens in der Kindergarten- und selten in der Schul-

glatt. Der Baum ist ein heterogenes Formgebilde. Wenn

zeit. Von dieser Prämisse ausgehend, ist die Grund-

dieser abstrahiert wird, werden die vielen Einzelheiten

lehre als plastisches Propädeutikum unerlässlich.

unsichtbar und nur noch die Grundformen gewinnen

Die Auseinandersetzung mit den Methoden der Plastik

Ausdruck, als wäre der Baum z.B. eine Kugel auf ei-

sind ein ständiges Wechselspiel von additivem oder

nem senkrechten Zylinder.

subtraktivem Verfahren sowie das intensive Erleben von Positiv- und Negativform, die exemplarisch durchgespielt und untersucht werden. Alle diese Methoden bilden und fördern neben den Fertigkeiten des operativen Umgangs mit Werkzeug und Material die Fähigkei-

Das Abstraktionsvermögen gibt den Grad der Fähigkeit zum Abstrahieren an und äußert sich in der Materialisation

ten des räumlichen Denkens. Wenn wir in der Plastik von Abstraktion sprechen,

Abstraktionsfähigkeit

dann ist das Abstrahieren von etwas Gegenständ-

Abstraktionsfähigkeit ist ein induktiver Prozess:

lichem gemeint. Das Abstraktionsvermögen gibt den

das Herleiten vom Einzelnen zum allgemein Wesent-

Grad der Fähigkeit zum Abstrahieren an und äußert

lichen. Das Wort Abstraktion (lat. „abstractus“ – ab-

sich in der Materialisation. Die Konkretion dagegen be-

gezogen, oder „abstrahere“ – abziehen, entfernen,

zeichnet das Gegenteil von Abstraktion. Sie beschreibt

trennen) bezeichnet daher nicht nur in der Plastik das

die Anwendung eines abstrakten Konzeptes auf eine

Weglassen von Einzelheiten zugunsten des Wesent-

spezifische gestalterische Situation. Bei der Konkre-

lichen.

tion handelt es sich um die Umsetzung einer geistigen

Es soll sich das Augenmerk auf das Wesentliche

Idee, die in einer Handlungsebene materialisiert wird:

konzentrieren, das heißt auf so erfasste spezielle Merk-

Ein Plan z.B. ist etwas Abstraktes und wird durch die

male. Was als wesentlich gilt, bestimmt einerseits die

Umsetzung zunehmend konkreter.

Kreativität und die Ausdrucksqualität des Gestalters

Für den Architekturstudierenden ist die Erkennt-

und andererseits die Wahrnehmung des Betrachters.

nis von Abstraktionsprozessen ein wichtiger Bestand-

Alle Strömungen der abstrakten Kunst erfordern Fä-

teil der Entwurfsmethoden. Die Auseinandersetzung

higkeiten der Wahrnehmung und der Interpretation.

mit der Methode des Abstrahierens in den Plastikübun-

Platon legte jedem Ding eine vollkommene Idee des

gen ermöglicht durch diese Erfahrung einen Transfer in

122 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


das Formverständnis und dessen gezielte Anwendung

getrennt zu betrachten oder zu quantifizieren. Diese

für die Studierenden, z.B. in morphologischen Fragen

Fähigkeit ist sozusagen eingebunden in den Komplex

der Stadtplanung oder gestaltformalen Lösungen der

des Gestaltens. Kombinatorik ist also permanent an-

Stadterneuerung. Hier ist das Abstraktionsvermögen,

wesend, sobald man sich in einen Gestaltungsprozess

das Erkennen und Verwandeln vorhandener Formen

einlässt. Das Gegenteil von Kombinatorik wäre das

auf das Wesentliche und die Anpassung neuer Formen

Rezept.

als eine wichtige Kompetenz anzusehen.

In der mathematischen Kombinationslehre geht es um eine typische Fragestellung: Wie viele Möglichkei-

Kombinationsgabe

ten gibt es? Mit dieser Logik wird in der Plastik nicht

„Wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, muss es

nachgefragt. Im künstlerischen Verfahren beinhaltet

auch einen Möglichkeitssinn geben.“ (Robert Musil)

Kombinatorik Variations- und Handlungsmöglichkei-

Dem Karten- und Fußballspieler, dem Detektiv und

ten, wie ein Verhalten in einem „Irrgarten“. Immer ist

dem Mathematiker und vielen anderen Berufen mehr

der Architekturstudent als Kreator herausgefordert zu

werden Kombinationsgaben attestiert. Beim Architek-

reagieren und entsprechend der „Logik“ seines Sys-

ten wird diese Eigenschaft vorausgesetzt.

tems konzeptuelle und, den materiellen Vorgaben ge-

Eine Wesensvoraussetzung ist Kontingenz. „Der

mäß, handwerkliche Entscheidungen zu treffen. Das

Begriff wird gewonnen durch Ausschließung von Not-

Suchen, Finden und Verwerfen (trial and error) ist die-

wendigkeit und Unmöglichkeit. Kontingent ist etwas,

sem Wechselprozess permanent eigen. Mut und Flexi-

was weder notwendig noch unmöglich ist; was also

bilität gehören zu diesem Zustand.

so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch

Im Gegensatz zum Rätsel, bei dem es aus

anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Ge-

den Regeln entsprechend eine Lösung gibt, legt der

gebenes (Erfahrenes, Erwar-

Plastiker die Regeln seines „Spiels“ selbst fest. Dieses

tetes, Gedachtes, Fantasier-

Kontingenzverhalten entwickelt sich aufgrund von Ak-

tes) im Hinblick auf mögliches

zidenzen (Zufälligkeiten) aus dem Prozess und Mate-

Anderssein; er bezeichnet Ge-

rial, das mögliche Formansätze provoziert; aber auch

genstände im Horizont mögli-

aus intuitivem Verhalten. Aufbauend aus dem kombina-

cher Abweichungen. Er setzt

torischen Reagieren, entsteht gewissermaßen ein Per-

die gegebene Welt voraus, be-

mutationsresultat: das Vertauschen einzelner Elemen-

zeichnet also nicht das Mögli-

te innerhalb eines Gestaltungssystems. Im Idealfall

che überhaupt, sondern das,

entsteht so etwas wie Emergenz: also neue Qualitäten

was von der Realität aus gese-

durch das Zusammenwirken dieser Faktoren.

Im künstlerischen Verfahren beinhaltet Kombinatorik Variations- und Handlungsmöglichkeiten, wie ein Verhalten in einem „Irrgarten“

hen anders möglich ist.“ (Luhmann: Soziale Systeme,

Originalität

1987) In den Kontingenzprozessen der Plastik treffen

Originalität ist nicht anzuordnen und von der Willkür

sich an vielen Stellen Eigenschaften der Kombinato-

bloßer Einfälle zu trennen. Absonderlichkeit, Kuriosität

rik, daher ist es schwer, diese Fähigkeit prozessual

und Eigentümlichkeit sind Wesenszüge von Originali-

123 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


tät; aber auch von Ausnahme, Eigenständigkeit, Cha-

sel zu einem Raum, in dem ein geheimes System

rakter und Individualität. Im Akt von Originalität treffen

herrscht, dessen Ausrichtung Innovation, Erfindung

sich alle wichtigen Fähigkeiten wie Intuition, Kreativität,

und Ingeniösität beinhalten. In der Zusammenführung

Inspiration und Imagination als Ausdruck von Einzig-

dieser subjektiven Launen entsteht auch manchmal

artigkeit. Die Vortäuschung von Originalität ist Plattheit,

Poesie, als Ausdruck empathischer Form- und Mate-

wie ein schlechter Witz! Humor und Ironie sind auch

rialbeschreibung, die geheime Auskunft über die per-

Merkmale origineller Äußerung, die z.B. dem Meister

sönliche Befindlichkeit des Studierenden offenbart. Ein

des „Ready made“, Marcel Duchamp, bescheinigt wur-

Werk erweist seine Ursprünglichkeit, seine Originalität

de.

dadurch, dass es als die „eine“ eigene Schöpfung „ei-

Für die Lehre in der Plastik heißt dies, dass Aufgaben

nes“ Geistes erscheint, wie aus einem Guss, aus ei-

überhaupt ein Potenzial haben müssen, um originelle

nem Ton, sich selbst produziert hat, als Macht der Ein-

Entfaltung zu ermöglichen. Auch hier gilt: „Der Zufall

maligkeit, der echten Freiheit und des Substanziellen.

trifft nur einen vorbereiteten Geist“, daher sind origi-

Kein Rezept zu haben war sowieso das große Rezept

nelle Arbeiten von Studierenden öfter in den Wahl- und

in der Kunst wie in der Gestaltung.

Wahlpflichtbereichen ab dem dritten Studienjahr anzutreffen, da hier eine breitere Kenntnis der Fertigkeiten, des Materials und der Methoden besteht.

Poesie „Poesie und Prosa sind voneinander unterschieden wie Essen und Trinken. Man muss vom Wein nicht for-

Für die Lehre in der Plastik heißt dies, dass Aufgaben überhaupt ein Potenzial haben müssen, um originelle Entfaltung zu ermöglichen

dern, dass er auch den Hunger stillen soll, und wer, um das zu erreichen, ekelhaft Brot in seinen Wein brockt, mag das Schweinefutter selbst ausfressen.“ (Franz Grillparzer, 1833) Die Poesie (gr. „Erschaffung“) bezeichnet ursprünglich eine Textgattung. Nach aristotelischer Poetik waren dies das Drama, das Epos und kleinere lyrische Gattungen. Das Gegenteil von Poesie ist Pro-

Originelle Studierende sind „Selbstläufer“ und über-

sa. Pauschal gesagt gibt es zwei Arten, die Welt zu

zeugen durch ihre Selbstständigkeit, auch in Momen-

betrachten: die wissenschaftliche und die kontempla-

ten des Scheiterns, die dann zum Anlass genommen

tiv-beschauliche. Die erste basiert auf Wahrnehmung

werden, um einen neuen Anfang zu formulieren, was

durch das Erkenntnisvermögen: vom Wahrnehmen zu

oft schmerzhaft erscheint. Antrieb und Fleiß bedürfen

Begriffen, dann zu Urteilen und Schlüssen. Also ein de-

keiner Bewusstmachung, alles ist in dieser Situation

duktives Verhalten. Die kontemplativ-beschauliche Art

selbstverständlich.

geht vom Einzelnen zum Allgemeinen und hat indukti-

Es gehört für mich zu den „Sternstunden“ in der

ve Verhaltensweisen. In diesem Verhalten ist die Po-

Lehre, junge Menschen in diesem Zustand erleben zu

esie beheimatet. „Wissenschaft und Kunst oder, wenn

dürfen. Diese subjektive Begeisterung ist der Schlüs-

man will: Poesie und Prosa, unterscheiden sich von-

124 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


einander, wie eine Reise und eine Spazierfahrt. Der

lisch-humorvolle Grundstimmung. Die Ziege erhält

Zweck der Reise liegt im Ziel, der Zweck der Spazier-

eine „Lebendigmachung“, eine neue Realität, die sich

fahrt im Weg.“ (Franz Grillparzer)

aus den (Erzähl-)Strukturen der Dinge neu zusam-

Die Metaphorik von „Empfindung des Verstandes“

mensetzt. Diese Einmaligkeit des subjektiven und ver-

und „dem Denken des Gefühls“ weist in den Bereich

wandelnden Blicks kommt ohne weitere Beglaubigung

von künstlerischer Sichtweise und Wahrnehmung zur

aus und erweist sich in der Rezeption als ein universel-

Beschreibung von Realität.

les Verstehen: „Empfindung des Verstandes“ und „das Denken des Gefühls“.

„Wissenschaft und Kunst oder, wenn man will: Poesie und Prosa, unterscheiden sich voneinander, wie eine Reise und eine Spazierfahrt. Der Zweck der Reise liegt im Ziel, der Zweck der Spazierfahrt im Weg“ Franz Grillparzer

In unserer prosaisch ausgerichteten Zeit, mit der Hegemonie des Strebens nach einem Zweck, ist es nicht einfach, ein poetisches Verhalten zu vermitteln bzw. zu manifestieren. So gesehen, handelt es sich um emotionale Intelligenz, die gefördert werden muss. Kants Definition trifft dafür zu, wenn er die „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ beschreibt. Dieses Kriterium stellt für die Architektur ein scheinbares Paradoxon dar, werden doch der Zweck und die Funktion als wichtige Prämisse hervorgehoben. Für den Umgang mit Gestaltungsprozessen ist die Empfindung für Poesie jedoch eine fundamenta-

Die Hochzeit dieser Haltung war in Deutschland die Romantik, mit der tief fühlenden und emphatischen

le Eigenschaft, da sie für die Wirkung von Raum- und Formgebung letztlich den Charakter bildet.

Wiedergabe der sichtbaren Realität, vor einer höheren

In unserer Lehre ist daher der Anspruch

göttlichen Ordnung. In Werken Philipp Otto Runges

an Poesie in den Aufgaben immer anwesend. Ich stelle

oder Caspar David Friedrichs finden sich solche stark

jedoch fest, dass Ergebnisse mit auffallend poetischen

emotionalen, erzählerisch-sinnlichen Elemente.

Qualitäten von Studierenden hervorgebracht werden,

Aber auch die Künstler der Moderne pflegten die-

deren antreibendes Potenzial in den intrinsischen Moti-

se Haltung, wenn auch mit anderen formalen Mitteln.

ven der jeweiligen Person zu suchen ist. Als separates

Pablo Picasso z.B. schuf die Bronzeplastik „Ziege“, die

Gestaltungsziel ist Poesie jedoch aus meinen Erfah-

aus Fundstücken wie Weidekorb, Flaschen und sons-

rungen nicht lernbar, da die Konditionen und Ausrich-

tigen Alltagsgegenständen zusammengesetzt war. Der

tungen der Studierenden zu unterschiedlich sind.

Transfer in den Kontext „Ziege“ ist ein Beispiel, um eine poetische Haltung in der Plastik zu verdeutlichen: Die eingebauten Dinge erzählen von ihrem Schicksal. Sie weisen auf eine sensible Haltung des Künstlers den Dingen gegenüber hin und erzeugen eine melancho-

125 Leseprobe aus: Michael Schulze, Konzept und Werkbegriff © vdf Hochschulverlag 2013


Stegreif

Le Frisur Was Friseure können, können nur Friseure! Aber die Zukunft der Frisur voraussagen, oder die Frisur der Zukunft kreieren ...? Architekten müssen für die Zukunft entwerfen, die Zukunft vorherdenken, dabei Moden kritisch analysieren, Trends spüren und diese unter Aspekten der Nachhaltigkeit in Pläne gießen. Dabei die Tradition nicht vergessen, aber auf keinen Fall traditionell sein. Machen Sie sich Gedanken über die Frisur der Zukunft? Denken Sie dabei nicht an handelsübliche Perücken, die „plastische Perücke“ kann konstruktiv, abstrakt oder geometrisch konzipiert sein. Oder ist die Frisur der Zukunft organisch, dekonstruktiv, unbeschreiblich und nicht zu bändigen? Oder ein Stück zweite Natur? Vielleicht wird sie überraschend aktiv, produziert Sauerstoff oder absorbiert Umweltgifte; vielleicht ist sie Kommunikationsmedium, Werbefläche oder im extremsten Fall eine gläserne Projektionsfläche unserer Psyche. Überlegen Sie dabei auch, welche gesellschaftliche, politische oder meteorologische Entwicklung den jeweiligen Stylingtrend verursachen wird. Prognostizieren Sie Unwetter oder Naturkatastrophen, denen die Frisur standhalten muss. Ein Stück Seelenleben hat die Frisur immer schon repräsentiert, vom praktischen Kurzhaarschnitt bis zum affektierten Schwinger. Oder lange Zöpfe, die man abschnitt, um einen Freiheitsgrad zu erreichen. Oder war sie zum Anbeißen, erinnerte an Gebäck wie die Schnecken von Prinzessin Leia oder die Zopfkränze von Julia Timoschenko. Bauen Sie aus Materialien Ihrer Wahl einen Prototyp (1:1), den Sie selbst wie eine Perücke vorführen können. Achten Sie darauf, Methoden und Techniken anzuwenden, die Sie kennen und beherrschen. Natürlich wird auch eine handwerkliche Qualität erwartet, jedoch eine, die Sie sich auch selbst leisten können. Lassen Sie nichts produzieren, fräsen oder lasern, greifen Sie in diesem Fall lieber zu Heißkleber, Stecknadeln, Klebeband und Co. Im Vordergrund steht Ihre Improvisationsgabe: die Kosten klein- und die Fantasie hochzuhalten. Dabei soll die Geschichte schon schlüssig sein, eine Modenschau, bei der die Models erzählen, wie sie zudem wurden, was sie im Augenblick sind. Oder wie sie wären, wenn alles so käme, wie sie vermuten.

Titel Le Frisur Betreuer Axel Friedrich Fähigkeit Kreativität, Intuition, Wahrnehmung, konzeptuelles Denken, Kombinationsgabe, Originalität

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Fertigkeit Zeichnen, Materialkenntnisse, Formfindung, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Diverse Kategorie Design, Performance

Curriculum Stegreif Zeitfenster 3 Wochen unbetreut Text Axel Friedrich


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Stegreif

Schraubst du noch ... oder sägst du schon? Rohstoff IKEA – das unmögliche Möbelhaus bringt fast alle Stilrichtungen und Geschmäcker auf einen Nenner. Es gibt kaum jemanden, der bei IKEA keinen Gegenstand kaufen würde. Haben Sie schon einmal den Katalog auf dem Kopf gelesen? Der einfache Trick ermöglicht eine andere Sicht auf die durchgestylten Objekte, auch neue Funktionalität kann assoziiert werden. Betreten Sie ein IKEA-Kaufhaus wie ein Rohstofflager? Oder wie einen Steinbruch? Aus den Fundstücken entstehen ganz neue Gegenstände: Entdecke die Möglichkeiten! Der Stegreif war eine Entwurfsübung zum Thema Objekt-Design/Objekt-Recycling; hierbei allerdings wurden nagelneue Produkte zu Versatzstücken einer neu zu erfindenden Ästhetik. Schon der Titel forderte zum kritischen Hinterfragen unserer Warenwelt auf und eine andere, bekannte Schwedin bringt es auf den Punkt: „Ich mach mir die Welt: widde widde, wie sie mir gefällt.“ Gebrauchsgüter, wie sie von IKEA für fast jede Lebenslage bereitgestellt werden, sind fast immer als Großserien oder Massenartikel angelegt, sie sollen die Ästhetik möglichst vieler Menschen ansprechen, sich dem Zeitgeschmack stetig anpassen und den Bedürfnissen der Masse entsprechen – dabei soll der einzelne Käufer jedoch das Gefühl haben, das Produkt sei auf ihn persönlich zugeschnitten. Die Teilnehmer des Stegreifs waren aufgefordert, das Warenangebot nach ihren eigenen Bedürfnissen „auszuschlachten“, was wörtlich zu nehmen war! Der kritische Blick auf die Dinge erschloss dabei neue Möglichkeiten der Nutzung sowie des Designs: Was konnte ein Plastikbecher noch sein außer einem Plastikbecher? Wie konnte man seine Form, seine Farbe, seine Statik umnutzen, um beispielsweise aus vielen Bechern eine Lampe oder ein Kleinmöbelstück zu erstellen? Wie entsteht aus den kostenlosen Bleistiften ein Leimbinder, der wieder als Rohblock für eine Holzschale diente? Oder wie näht man aus der großen blauen IKEA-Tasche einen Wintermantel für den Hund? Studierende verzweifeln manchmal an der gestalterischen Freiheit einer Aufgabenstellung, nicht jedoch bei diesem Stegreif; hier schäumte die Kreativität förmlich über, die neue Sicht auf bekannte Gegenstände scheint deren Einsatzmöglichkeiten zu vervielfachen – Plutimikation, würde wohl die Schwedin sagen.

Titel Schraubst du noch ... oder sägst du schon? Betreuer Axel Friedrich Fähigkeit Kreativität, Intuition, Wahrnehmung, konzeptuelles Denken, Kombinationsgabe, Originalität, Poesie

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Fertigkeit Zeichnen, Komposition, Materialkenntnisse, Formfindung, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Diverse IKEA-Produkte Kategorie Objekt, Design

Curriculum Stegreif Zeitfenster 6 Wochen unbetreut Text Axel Friedrich


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Stegreif

Wo häng´ ich meine Jacke hin? Im Rahmen des „Solar Decathlon Europe“ (http://solar.arch.rwth-aachen.de) wurde für ein nachhaltiges Wohnkonzept nach unkonventionellen Möglichkeiten einer Garderobe geahndet. Diese sollte durch die intelligente Benutzung von direktem oder indirektem „Objekt-Recycling“ geprägt sein und weiterhin platzsparende Eigenschaften aufweisen. Die Materialwahl war offen, sollte aber ökologisch unbedenklich sein. Ebenso war die Neuinterpretation bestehender Dinge oder Objekte als Ready-made oder Fundstück eine legitime Methode, die Intention der Zweckentfremdung, Anwendung und Nachhaltigkeit durch aufmerksame Neubetrachtung der Dinge, die uns umgeben, zu unterstützen. Aufgabe: Entwickeln Sie unter diesen Prämissen ein Wandobjekt (1:1 als Prototyp), das die Funktion einer Garderobe übernehmen kann und durch seine Originalität, Kombinatorik und Materialität überzeugt.

Titel Wo häng´ ich meine Jacke hin? Betreuer Hyesug Park Fähigkeit Kreativität, Intuition, Wahrnehmung, konzeptuelles und räumliches Denken, Kombinationsgabe, Originalität, Poesie

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Fertigkeit Zeichnen, Materialkenntnisse, Formfindung, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Diverse Kategorie Objekt, Produktdesign

Curriculum Stegreif Zeitfenster 6 Wochen unbetreut Text Michael Schulze



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Wahlfach

Über das Maß hinaus Die Dinge sind nicht nur das, was sie sind. Wir können ihnen durch den künstlerischen Prozess eine neue Aura, eine neue Bedeutung geben. Ausgehend von trivialen und banalen kleinen Gegenständen, die sich jeder Studierende nach eigener Sympathie aussuchte, sollte eine maßstabsgetreue Vergrößerung dieses Gegenstands Umsetzung finden: eine Blow-UpSituation, wie sie in der Popart z.B. von Claes Oldenburg praktiziert wurde. Die Analyse und Proportionsuntersuchung über die Zeichnung im gewünschten Maßstab (ca.1:10) stellte die erste Annäherung zur Lösung dieser Aufgabe dar. Hier zeigte sich Wahrnehmung und Darstellung als Korrelat in einem ersten Verständigungsverhältnis. Zeichnen war hier eine Bewusstmachung des Objektes mit seinen charakteristischen Formen, Strukturen und Oberflächen. Der nächste Schritt war der Einstieg ins Modellieren mit Ton. Masse und Volumen wurden eingeschätzt und angetragen. Aus dieser Masse heraus näherte sich der Studierende der Grundform seines „Modells“. Geben und Nehmen des Tons bestimmten in dieser Phase das Geschehen. Als bildhaften Vergleich für dieser Prozesse in Ton nenne ich hier den Blick durch das Fotoobjektiv im Zustand der Unschärfe, hin zur optischen Schärfe des Gegenstandes: aus der „unscharfen“ Masse Ton entsteht nach und nach eine klare Form. Die „Scharfstellung“ beinhaltet auch letztendlich die Behandlung der Oberfläche als Relief. Im endgültigen Zustand dieser Plastik boten wir zwei Möglichkeiten der Formduplizierung an: die Formübernahme durch die „Verlorene Form“ in Gips, aus der lediglich nur ein Unikat resultiert; oder das Verfahren mit einer Silikonform, bei der, neben dem zweimaligen Auftragen eines liquiden und thixotropen Silikons, eine oder mehrere Teile einer Stützform aus Gips erstellt werden mussten. Wie ein „Geburtsakt“ stellte sich dann das Abziehen des Silikonüberzugs von der positiven Tonform dar, bei dem der Studierende die Einblicke in das „Negativ“ der neuen Form mit staunendem und interessiertem Verhalten registrierte. War ihm bisher die Positivform in seiner Wahrnehmung verhaftet, so offerierte ihm der räumliche Eindruck der Negativform eine neue Raumwahrnehmung. Nach Fertigstellung dieser Negativform wurden Silikon- und Stützform wieder zusammengebaut und mit Gurten fixiert. Nun stand die Negativform zum Abguss mit Beton bereit.

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Titel Über das Maß hinaus Betreuer Michael Schulze Fähigkeit Wahrnehmung, räumliches Denken, Formfindung

Fertigkeit Zeichnen, Proportionierung, Materialkenntnisse, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Ton, Silikon, Beton Maße ca. 40–70 cm

Kategorie Plastik Curriculum Wahlfach Zeitfenster 14 x 3 SWS Text Michael Schulze

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Wahlfach

Ein Ding, ein Licht In dieser Aufgabe trafen Merkmale des Produktdesigns in seiner Anwendungsbezogenheit und Methoden der Formfindung zusammen. Hier sollte ein Objekt gestaltet werden, das einerseits einer Lichtdramaturgie folgt und andererseits durch Form und Material einen Ausdruck finden sollte: Plastik als Lichtobjekt. Zur Umsetzung standen diverse Materialien zur Verfügung: Beton, Gips, Glas, Metall, Holz, Papier, Kunststoffe (gefärbt, laminiert oder gegossen), etc. Den Anfang bestimmte ein Brainstorming, bei dem das Thema Licht auf sprachliche, triviale, mythologische oder sonstige Wesensmerkmale hin betrachtet und untersucht wurde. Über Zeichnungen und Modelle in Pappe, Holz oder Ton näherte sich der Studierende seiner Idee an. Technische und elektronische Installationsbedingungen wurden hier vorläufig ausgespart. Erst wenn eine Form- und Materialentscheidung getroffen war, sollten diese technischen Aspekte in die Planung mit einbezogen werden. Die Chance und Eigenart dieser Aufgabe zeichnete sich dadurch aus, dass jeder Studierende individuell seiner Formentwicklung folgen konnte. Durch diese Heterogenität in der Gruppe war es möglich, unterschiedlichste Formtypen exemplarisch zu behandeln und Wesensmerkmale von z.B. organischen, technoiden oder amorphen Formen aufzuzeigen. Die ästhetische Unterscheidung von Natur-, Technik- und Kunstschönem fand hier ein geeignetes Erklärungsmodell. Jeder Entwurf bedurfte eines eigenen Herstellungsverfahrens. Oftmals mussten spezielle Werkzeuge und Verfahren neu erfunden werden, um dem Anspruch einer Gestaltungsidee gerecht zu werden. Durch diese Methodenvielfalt lernten wir als Lehrer und Studierende untereinander und voneinander.

Titel Ein Ding, ein Licht Betreuer Michael Schulze Fähigkeit konzeptuelles Denken, Intuition, Kreativität, Kombinationsgabe, Originalität, Poesie

Fertigkeit Zeichnen, Proportionierung, Komposition, Materialkenntnisse, Formfindung, Farbkenntnisse, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Beton, Glas, Kunststoff, Metall Maße ca. 30–60 cm

Kategorie Design, Plastik, Objekt Curriculum Wahlfach Zeitfenster 14 x 3 SWS Text Michael Schulze

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Wahlfach

Ikarus trifft Leonardo Die Titelwahl des Kurses deutet schon an: Hier ging es um Mythos (Ikarus) und Erfindung (Leonardo). Der Mythos des Fliegens findet in Ikarus eine bezeichnende Metapher von Aufstieg und Scheitern. Wir nahmen nur bescheiden den Anlass des Fliegenwollens, um uns in Prozesse einzulassen, die das Fliegen quasi unterstellen. Reduktion, Fragilität und Leichtigkeit waren Attribute, die sich in Material und Form wiederfinden sollten. In Annäherung an das Thema entstanden Skizzen und Zeichnungen sowie kleinere Arbeitsmodelle mit Stäbchen aus gespaltenem Bambus. Diese ermöglichten es, leichte und fragil wirkende Konstruktionen zu erstellen: ideal zur Herstellung von Flugobjekten. Stäbchen aus gespaltenem Bambus bilden in ihrer Anwendung viele Ausdruckseigenschaften, die der grafischen gezeichneten Linie sehr ähnlich sind: neben schraffurähnlichen Strukturen sind auch tangentiale Verdichtungen möglich. Diese so entstandenen Stäbchenkonstruktionen erregten bei den Studierenden immer wieder Erstaunen und Aufmerksamkeit darüber, dass ihre Konstruktion und Leichtigkeit auf Grund der dichten Verstrebungen außerordentlich stabil und bruchsicher sind. Durch die Bespannung mit einer dünnen Papiermembrane entstanden Flächen, die diesen Objekten plötzlich Flügel wachsen ließen. Außerdem führten Experimente mit Kunststoffen (Kunstharz, Polyurethan) zu Möglichkeiten und Kombinationen, die den Imaginationsgehalt der Aufgabe steigerten. Erst durch diese Experimente und Materialproben entstanden Erkenntnisse, die in ein Gestaltungskonzept mündeten. Materialreize wurden ausgespielt, mechanische Zusammenhänge erprobt, Bewegungsabläufe simuliert: ein Spiel der Kontingenz. Triviale, reale und fiktive Flugmaschinen sind uns meist bekannt. Diese sollten aber nicht im Fokus des Interesses stehen. Das naive, unvoreingenommene Spielerische über das Material sollte als Schlüssel den Raum der Erfindungen öffnen. Innerhalb eines Forschungs- und Entwicklungsprojekts mit der Stadt Baesweiler entstanden im WS 2000 unter dem Thema „Schweben – Fliegen“ eine Reihe von Objekten, die speziell für das ITS in Baesweiler (Internationales Technologie- und Service-Center) entwickelt wurden. Ziel war, das Treppenhaus und den Konferenzbereich durch die Flugobjekte zu akzentuieren und die Leichtigkeit und Transparenz der Glaskuppel in poetischer Weise zu erweitern, so dass die Nutzer dieses Gebäudes über den üblichen „Gebrauch“ von Architektur hinaus in einen imaginären Raum schauen sollten.

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Titel Ikarus trifft Leonardo Betreuer Michael Schulze Fähigkeit Kreativität, Intuition, Wahrnehmung, konzeptuelles und räumliches Denken, Abstraktionsfähigkeit, Kombinationsgabe, Originalität, Poesie

Fertigkeit Zeichnen, Proportionierung, Materialkenntnisse, Formfindung, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Gespaltener Bambus, Heißkleber, Zellpapier, Polyurethan, diverse Kunststoffe Maße ca. 90–200 cm

Kategorie Plastik, Objekt, Installation Curriculum Grundlehre, Wahlfach Zeitfenster 14 x 3 SWS Text Michael Schulze

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Wahlfach

Form und Klang Alle akustischen Instrumente bilden Töne und Klänge, die sich aus ihrer spezifischen Form und dem Material ergeben, aus dem sie hergestellt wurden. Diesem Korrelat von Form und Material galt in diesem Kurs die Aufmerksamkeit, wobei sich Form und Klang gleichberechtigt gegenüberstanden. Klang entsteht physikalisch durch Schallwellen, die durch Luft oder ein anderes Medium erzeugt werden. Das Medium oszilliert seinem Material und seiner Form entsprechend. Über spielerische Experimente wurden diverse Resonanzkörper entwickelt, die durch entsprechende Bespannung, Versaitung oder durch Luft Töne und Klänge erzeugten. Aus diesen Experimenten resultierten konzentrierte Objekte, die die Klang-Form-Prinzipien bündelten und in ihrer Gesamtheit die Ästhetik des Instruments mitbestimmten. Am Ende des Kurses fand eine atonale Form-Klang-Sinfonie statt, wobei die Instrumente und deren Harmonik auch der Kommunikation große Ausdrucksmöglichkeiten boten.

Titel Form und Klang Betreuer Michael Schulze Fähigkeit Kreativität, Intuition, konzeptuelles Denken, Kombinationsgabe, Originalität, Poesie, Klangwahrnehmung

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Fertigkeit Proportionierung, Materialkenntnisse, Formfindung, handwerkliche und künstlerische Techniken Material Diverse Maße ca. 30– 90 cm

Kategorie Objekt, Instrument Curriculum Wahlfach Zeitfenster 14 x 3 SWS Text Michael Schulze


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