Unter freiem Himmel
Unter freiem Himmel Landschaft sehen, lesen, hören
Herausgegeben von Kirsten Voigt und Pia Müller-Tamm
Veröffentlicht mit großzügiger Unterstützung der „Freunde der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe e. V.“
4
5
INHALT Landschaft Anmerkungen zu einer grenzüberschreitenden Gattung Pia Müller-Tamm 13
Zeugnis ablegen Jenny Erpenbeck 24
Die Landschaft, Wohnung der Eremiten und Heiligen – Abglanz des Paradieses in der Welt Dietmar Lüdke 32
Kein Löwe weit und breit Anita Albus 40
Nah und fern – Zivilisation im Rahmen der Natur Tanja Michalsky 46
Lebensentwürfe im Vergleich Felix Thürlemann 54
Freie Liebe Frank Fehrenbach 60
Aus- und Einsicht Nils Büttner 66
Vor dem Gewitter Nora Bossong 74
Vier Kühe Brigitte Kronauer 80
Wie es losgeht Ulrich Raulff 86
Ein Kultbild Oskar Bätschmann 92
gedicht dem brasilianischen angenähert Ulf Stolterfoht 98
Bäume der Erkenntnis Marion Poschmann 102
Abseits des Weges Holger Jacob-Friesen 106
Von der Leichtigkeit der Eiszeit Alex Capus 114
Leberecht im Jammertal Hermann Kinder 120
franz de hamilton: konzert der vögel Jan Wagner 126
„… ich erblickte, was man in seinem Leben nur einmal sieht!“ Reinhard Piechocki 130
Buschbrand Linus Reichlin 136
Venedig unter dem Himmel Erna Fiorentini 140
Mühsal, Lust und Schrecken im Gebirge Richard Hoppe-Sailer 148
Die Idylle, die keine ist Friedrich Christian Delius 154
Passüberquerung auf Säumerpfaden Bruno Streit 160
Landschaft mit Biss Oliver Jehle 166
Die Sogkraft des Tors Ilma Rakusa 172
Der Mond und die fehlenden Berge Cornelia Funke 178
So groß wie klein – ein Eisberg von Stein Katja Lange-Müller 184
Eine Landschaft offenbart sich Norbert Miller 188
Ausdruck kosmischer Ordnung Christina Storch 194
Eine „Parforcejagd“ Astrid Reuter 200
Aufbruch in den hellen Tag der Wirklichkeit Reinhard Wegner 210
Die menschenabgewandte Seite der Natur Martin Seel 218
Von der Übermacht des Gestrüpps Hans-Ulrich Treichel 222
Mein Kalenderblatt Klaus Gallwitz 228
Die Serpentara bei Olevano Eine Annäherung Esther Kinsky 234
Kuhlmanns Visionen Kathrin Schmidt 240
Juni Tessa Friederike Rosebrock 246
Dromedar und Dinosaurier Valerie Fritsch 252
Multiperspektivität Karen Gloy 256
Die menschliche Erdgebundenheit Arno Geiger 264
Schöpfungsmorgen Gertrud Leutenegger 270
Eine zarte Empfindung erinnerten Glücks Fred Licht 274
Violette Brotlaibe, halluzinogene Eissorten, gestrandete Wale Ralph Dutli 280
Himmel und Erde Angelika Krebs 286
„Der Genesis Dauer verleihend“ Christoph Wagner 296
Der Idylle misstrauen Udo Weilacher 304
Wechselnde Horizonte Kirsten Voigt 310
Schöpfung ohne Schöpfer Siegmar Holsten 316
Gegenanstalten. Marlene Streeruwitz 322
Surrealistische Landschaftsökonomie Pia Müller-Tamm 328
veilchenweise! Friederike Mayröcker 334
Vor der weißen Waldwand Peter Härtling 338
Ein Gipfeltreffen Alexander Eiling 342
Lesarten Zur Ideo-Diversität und Affekt-Resonanz der gelesenen Landschaft Kirsten Voigt 347
Biografien 364
Anhang 395
destectet ende volupta nam, que nestemp oratet doluptis explautae im apit quas aut reprerferum expero odi ut quaepudit, untur mo omnis molendis cuptaquo berferias ex et lab id que voluptat pera sincienis acestia quis dolumquo vel et harcillab ipiet alis eium sequo eto. Edut minciis untiae pa volorerumquo volor res etur as antiamus, aliberum faccati unduci con re dolenihicit eaturiam, offici omniento cum faces quas incit harum aut lit adicatibus mi, oditi dolor suntius alignimust, quodit, ni nonesti onsequid es diandunditam eos eate sequam, solorer epudaep rovita veliqui officiis estion ea volupitas am quibusantem ut erectaspedi ulpa nisquat emporeiciis rem verrum reicatiunt, eum volupta quunt faccusape dusae vernam nihitate volo beri quis enis in parum quibus volorem volori comni odissed qui vendam etur Acimolorum que pro illabore dolupta turemporitam dis di cusa nossit omniam qui di atin provit la sitis que laboriam fugitat abori omniti officil ipsum m, voluptae con rati simagnis re iumqui bla is unt et experem derum destectet ende volupta nam, que nestemp oratet doluptis explautae im apit quas aut reprerferum expero odi ut quaepudit, untur mo omnis molendis cuptaquo berferias ex et lab id que sequo et, od ut minciis untiae pa volore ca. 3000 Zeichen
Prof. Dr. Pia MĂźller-Tamm
12
Vorwort 13
Landschaft Anmerkungen zu einer grenzüberschreitenden Gattung Pia Müller-Tamm
Wie verwandelt sich ein Museum in einen Raum, in dem Bild und Sprache gleichberechtigt wahrgenommen werden? Diese Frage stand hinter dem Ausstellungs- und Buchprojekt Unter vier Augen, das die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe im Jahr 2013 realisiert hat. Es handelte von 50 Porträts aus 500 Jahren, die sich im Besitz unseres Museums befinden – vom Bildnis eines Gelehrten des sogenannten Meisters des Marienlebens von 1480 bis zu Franz Gertschs Simone von 1982. Die besondere Pointe dieses Projekts: Der Vielfalt der Porträts wurde eine entsprechende Vielfalt an Annäherungen und Auslegungen im Medium der Sprache an die Seite gestellt – 50 Porträts und 50 Geschichten, Bilder und Texte in einem paritätischen Neben- und Miteinander. Dieses Konzept hat sich als überaus erfolgreich erwiesen, sodass wir 2017 das Nachfolgeprojekt Unter freiem Himmel präsentieren. Im Zentrum stehen diesmal 53 Landschaftsbilder aus 600 Jahren aus der Sammlung der Kunsthalle – vom Besuch des Jesusknaben bei Johannes in der Wüste, gemalt von einem namentlich nicht bekannten Oberrheinischen Meister in der Zeit um 1410/20, bis zu Daniel Roths Landscape echoes von 2007. Darunter befinden sich Höchstleistungen der europäischen Landschaftskunst von Joachim Pa14
tinir, Bartholomäus Spranger, Aelbert Cuyp, Jacob van Ruisdael, Claude Lorrain, Jakob Philipp Hackert, Joseph Anton Koch, Caspar David Friedrich, Karl Blechen, Camille Pissarro, Paul Cézanne, Alexej Jawlensky und Max Slevogt, aber auch Trouvaillen weniger bekannter Künstler. Die ausgewählten Landschaftsbilder demonstrieren sowohl das hohe Qualitätsniveau der Karlsruher Sammlung als auch die Vielfalt an Gestaltungs- und Interpretationsmöglichkeiten der europäischen Landschaftskunst vom Spätmittelalter bis in die Gegenwart. Dieser zeitliche Rahmen, der sich mit dem Sammelgebiet der Kunsthalle deckt, umfasst neben einigen Zeugnissen aus der Frühphase der Entdeckung der Landschaft als Beiwerk und Folie für die Darstellung von biblischer Geschichte zahlreiche Kompositionen aus der klassischen Epoche der neuzeitlichen Landschaftskunst, in der für Jahrhunderte gültige, kanonische Formeln und Schemata variiert wurden. Unsere Werkauswahl belegt den Verzicht auf kompositionelle Absicherung in den skizzenhaften Darstellungen der Pleinairisten, in denen sich die Pinselhandschrift der Künstler frei artikulieren konnte; und sie bezeugt die wachsende Subjektivierung der Erfahrung von Natur in den stimmungsvollen Bildern der Romantiker, die Landschaft und Seelenleben als analoge Räume verstanden. In den Bildern der Ausstellung spiegelt sich die symptomatische Bedeutung der Gattung in der Moderne des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, in der die Landschaft zum bevorzugten Experimentierfeld einer sich ihrer selbst bewussten Kunst avancierte, so zum Beispiel in den subversiven Gedankenbildern der Surrealisten, in denen Bildkritik im Medium der Landschaft vorgetragen wird. Mit den begrenzten Mitteln einer einzigen Sammlung könnten diese Werke eine mögliche Geschichte der Landschaftskunst erzählen; doch diese Geschichte wird hier nicht erzählt. Unter freiem Himmel steht bewusst als Titel über diesem mehrfach grenzüberschreitenden Projekt. Landschaft zeigt sich hier buchstäblich als weites Feld künstlerisch-intellektueller Interpretation. Als klassische Bildgattung war die Landschaft – der für das Bild zugerichtete Ausschnitt von Welt – in dem seit der Renaissance ausdifferenzierten Gattungsgefüge relativ niedrig platziert. Zwischen Porträt und Stillleben war sie weit davon entfernt, die höchsten Ziele der Kunst – die der Historienmalerei an der Spitze der Gattungshierarchie vorbehalten waren – zu verwirklichen. Doch ein überschreitender Gestus ist schon im Gattungsdenken selbst angelegt. Denn Gattungen haben, wie der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp betont, keine fest definierten, undurchlässigen Grenzen. Im Gegenteil: Die Übergänge zwischen den einzelnen Gattungen konnten fließend sein, und die genuine 15
Aufgabe der Kunst war es – auch und gerade in den klassischen Jahrhunderten des Gattungsdenkens –, Zusammenhänge zu stiften. Die Kunst „kann gar nicht anders als grenzenziehend Grenzen zu überschreiten“. Und von daher heißt für Kemp „das Gesetz einer künstlerischen Gattung […], eine Welt […] eingrenzen und dann das Ausgegrenzte in gattungsförmig anverwandelter Form wieder zulassen. Eine Gattung ist also eine komplementäre Ganzheit, eine potenzierte Einheit aus dem Eigenen, dem Nächsten und dem anderen. Und eine Gattung untersuchen heißt: den historischen Stand der Vermittlung zwischen dem Ein- und Ausgegrenzten erforschen.“ 1 Im Blick auf die Gattung Landschaft bedeutet dies, den Fokus auf die Ränder und Schwellenbereiche zu setzen – räumlich und semantisch. Natur als Landschaftsraum wahrzunehmen, setzt zunächst ein Bewusstsein für die Bedingungsfaktoren jeder Landschaftserfahrung voraus: Jenseits der unerlässlichen Naturphänomene wie Felder, Flüsse, Berge und Bäume geht es um Ein- und Ausgrenzungen, um Grenzmarkierungen und um die kulturellen und sozialen Einschreibungen, die den Raum zu einer vom Menschen besiedelten Landschaft machen. Das Landschaftsbild ist die Projektion dieses dreidimensionalen Raumes mit all seinen Bestimmungen auf die zweidimensionale Fläche des Tafelbildes. Die jüngere Kunstgeschichte entfernt sich insoweit von dem verbreiteten Verständnis, nach dem (im Anschluss an den Philosophen Joachim Ritter) Landschaftserfahrung und damit jede Form ihrer künstlerisch-poetischen Wiedergabe Ausdruck der Distanz von der Natur und Zeugnis eines vorrangig ästhetischen Weltverhältnisses sei. An die Stelle der Geschichte der Landschaftskunst als einer autonomen Gattung tritt das Interesse an einer disziplinenübergreifenden Geschichtsschreibung, in der die ästhetische Wahrnehmung der Natur sich mit unterschiedlichen Wissensfeldern verschränkt: Zwischen die Erfahrung der Welt als Landschaft und die Schöpfung der Form des Landschaftsbildes können Wissenschaft und Technik treten, so z. B. Geografie und Geologie, Kartografie, Optik und Vermessungskunde, Physiologie und Botanik. Die Neigung zum Entdecken, Erklären und Verstehen von Natur gilt als eine der wesentlichen Motivationen auch für die künstlerische Darstellung von Landschaft. Skeptisch gegenüber linearen Erzählungen in der Kunstgeschichte, eröffnet unser Projekt die Chance zur Annäherung aus unterschiedlichsten Perspektiven. Der Blick der Gegenwart des 21. Jahrhunderts auf die Manifestationen der Landschaftskunst regt interessante neue Betrachtungsweisen an, gerade in Bezug auf die ältere Kunst. So werden heute die Sphären Natur / Welt / 16
Landschaft / Mensch / Tier in ihrer notwendigen und unentrinnbaren Vernetzung gesehen: Landschaft nicht nur als der zurechtgelegte Ausschnitt von Welt, sondern in einem emphatischen Verständnis als Lebensraum, Umwelt und Habitat des Menschen. Im grenzüberschreitenden Dialog der Künste und Wissenschaften gelingt der Blickwechsel vom zweidimensionalen Bild der Kunstgeschichte zum mehrdimensionalen Denken der Gegenwart, die gerade im weiten Feld des Naturdenkens rhizomatische Modelle favorisiert und unser Bewusstsein für das Eingebundensein des Menschen in den übergreifenden Naturzusammenhang schärft. Landschaftskunst gewinnt in der Verschränkung dieser unterschiedlichen Zeitskalen und Betrachtungsebenen Aktualität und ethische Dimensionen. Landschaft und Sprache sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Der Landschaftsmaler verwendet die suggestiven Mittel der Kunst – seine individuelle Bildsprache –, um die Landschaft als seine Schöpfung zu verlebendigen. Jedes Landschaftsbild ist insoweit ein mehr oder weniger dichtes Kommunikationsangebot an den Betrachter und ein beredtes Zeugnis für die sich historisch wandelnden Idiome, Rhetoriken und Stilhöhen, die den Künstlern in unterschiedlichen Epochen zur Verfügung standen. Die dialogische Beziehung zwischen Landschaft und Künstler, die unter freiem Himmel zur anschaulichen Form des Landschaftsbildes gerinnt, verschiebt sich, wenn sich ein Autor der Landschaftsdarstellung zuwendet und sie zum Gegenstand einer sprachlichen Annäherung macht. Unter freiem Himmel meint vor allem diese produktive Konstellation, die sich zwischen einem Landschaftsbild und einem Autor in seiner Doppelrolle als Betrachter und Verfasser neu herstellt. 53 Autoren und Autorinnen sind der Einladung der Kunsthalle gefolgt und haben sich jeweils einem Landschaftskunstwerk schauend und schreibend genähert. Vor uns liegt ein breites Spektrum an Texten, von denen einige den Überblick und die Gesamtschau wagen, während andere gleichsam von ungesichertem Terrain aus das weite Feld des Landschaftlichen in der Kunst in den Blick nehmen. Sie hinterfragen die etablierten Blickhierarchien, defokussieren unsere Wahrnehmung, weg vom Sinnzentrum, hin zu den unscharfen Rändern und den marginalen Motiven des Bildes, oder lassen den Leser am Vergnügen des Autors beim Schweifen und Innehalten teilhaben. Literarische Bildgeschichten und Bestandskataloge dieser besonderen Art sind heute nicht ungewöhnlich. Im deutschsprachigen Raum gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Ausstellungs- und Museumsprojekten, in denen Schriftsteller neue Zugänge zu Werken der bildenden Kunst eröffnet haben. 17
So erschien 2003 das umfangreiche Buch Muscheln und Blumen, ein Sammlungskatalog unter Mitwirkung von 40 Autoren, herausgegeben vom Aargauer Kunsthaus in Aarau. Anlässlich der Caravaggio-Ausstellung des Museum Kunstpalast in Düsseldorf 2006 wurden Krimiautor / innen zu fiktionalem Schreiben eingeladen. Das Wallraf-Richartz-Museum in Köln hat 2006 die Anthologie Bilder-Geschichten – Schriftsteller sehen Malerei veröffentlicht. Im Jahr 2007 wurde vom Literaturbüro NRW die Reihe Museumsschreiber initiiert, bei der die Düsseldorfer Museen mit jeweils einem ausgewählten literarischen Autor auf ihre Sammlung aufmerksam gemacht haben. Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt nahm 2008 die Ausstellung Impressionistinnen zum Anlass für den Erzählband Meisterinnen des Lichtes, der von vier Autorinnen verfasst wurde, und Lou A. Probsthayn und Karin Schumacher veröffentlichten im selben Jahr die Textsammlung Gedankenspiele. Dialoge zwischen Malerei und Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2009 publizierte die Hamburger Kunsthalle den Band Ut pictura poesis mit fünf literarischen Bildbeschreibungen zu Werken des Museums; 2013 folgte mit Erstaunliche Einsichten der umfangreichere zweite Band, an dem 19 Autoren mitgewirkt haben. 2010 lud das Kunsthistorische Museum in Wien unter dem Titel Ganymed Boarding 16 Schriftsteller ein, über Werke der Sammlung zu schreiben. 2012 hat das Museum Moderner Kunst in Frankfurt ein solches Projekt mit acht Autoren durchgeführt. Die Berliner Gemäldegalerie legte – anknüpfend an den Band Imagined Lives der Londoner National Portrait Gallery von 2011 – mit Galerie der Namenlosen im Jahr 2013 fiktionale Biografien zu Porträts der Sammlung vor. Die Besonderheit der Karlsruher Projekte Unter vier Augen und Unter freiem Himmel liegt einerseits in der Breite des Ansatzes in Bezug auf Schreibformate und Texttypen, andererseits in der jeweiligen Spezialisierung auf eine Bildgattung – das Porträt beziehungsweise die Landschaft. Die implizite Voraussetzung lautet: Wo immer Bilder produziert und wahrgenommen werden, stehen Texte und in Sprache gefasstes Wissen im Hintergrund. Umgekehrt gilt, dass bei allen Texten, nicht nur bei literarischen, eine grundlegende Dimension der Bildlichkeit im Spiel sein kann, die ästhetisch wirksam wird. Wir haben deshalb ganz bewusst die Einladung an Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Sparten ausgesprochen: an belletristische Autoren und Lyriker ebenso wie an Philosophen und Naturforscher, an Literatur- und Sprachwissenschaftler sowie nicht zuletzt auch an Kunsthistoriker. Literarisches und wissenschaftliches Schreiben gelten gemeinhin als zwei grundlegend verschiedene Zugangsweisen: methodisch fundiert und ana18
lytisch das eine, poetisch oder fiktional das andere. Doch diese Trennung entstand erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als sich das Schreiben über Kunst in einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin – der Kunstgeschichte – ausdifferenzierte. Vorher war das Schreiben über Bilder eine der Aufgaben der Schriftsteller. Unser Projekt eröffnet die Möglichkeit des wissenschaftlichen und des literarischen Schreibens als gleichberechtigte Antworten auf eine ästhetische Wahrnehmung von Bildern. Unser Anliegen war es deshalb, allen Autoren und Autorinnen gleichermaßen Freiräume zu eröffnen: für ein Schreiben unabhängig von den kanonischen musealen Textformaten, mit der Lizenz zu Einseitigkeiten und methodischen Zuspitzungen, mit der Option der fiktionalen Ausschweifung. Der literarische Bildkommentar ist insoweit nur ein – allerdings höchst markanter – Spezialfall unter den Texten zur Kunst, denn er funktioniert im Sinne einer subtilen Infragestellung eingeübter Text-Bild-Relationen. Viele unserer Autor/innen bleiben nahe bei den Bildern und liefern doch keine erklärenden, „dienenden“ Texte, sondern solche mit Eigensinn und Eigenrecht – also keine Kongruenz von Text und Bild, sondern eher eine Analogiebeziehung zweier künstlerischer Formen, die sich wechselseitig befruchten. Die Autor/innen dieses Buches haben die ihnen eröffneten Spielräume höchst eindrucksvoll ausgeschöpft, haben ihr Erkenntnisinteresse in der Wahrnehmung des Bildes geschärft und das „Präsenz-Erleben“ (Gumbrecht) des Landschaftsbildes in die schriftstellerische wie in die wissenschaftliche Arbeit integriert. In jedem Fall geben sie uns ein Mehr an Wissen, an Sichtbarkeit und an Erfahrung, nicht zuletzt auch ein Bewusstsein für die visuelle Andersheit des gemalten Bildes. Für die Besucher der Ausstellung Unter freiem Himmel wird dieser Dialog der Medien von Malerei und Sprache zu einer Qualität des Ausstellungsbesuchs. Um diese erweiterte Form des musealen Erlebnisses vorzubereiten, eröffnen die Autor/innen selbst den Rundgang: Im ersten Raum werden sie – mit Fotografien und Kurzbiografien – porträtiert. Sie stimmen auf eine museale Präsentation ein, die ausnahmsweise nicht horizontal – als organisches Gleiten der Wahrnehmung von Bild zu Bild – organisiert ist; stattdessen werden dramaturgische Brüche, Neuansätze, manchmal auch irritierende Nachbarschaften unter den Werken sichtbar. Jedes Landschaftsbild erscheint als eine Welt für sich – ebenso wie jeder der Kommentare, die die Autor/innen ihnen an die Seite stellen. Der Besucher kann sich entscheiden, ob er eher als Lesender (mit Katalogbuch) oder als Hörender (mit Mediaguide) die Bilder der Ausstellung erschließen möchte. Aber das Angebot ist zu umfangreich, um jede Text/Bild-Geschichte in den Räumen der Ausstel19
lung zu lesen oder zu hören. Eigeninitiative und Entscheidungen sind hier vom Besucher gefordert. Doch die Verweildauer vor den Einzelwerken wird sich in jedem Fall erhöhen, denn jetzt geht es nicht mehr allein um das simultane und augenblickliche Erfassen eines Bildes, sondern um den zeitlich gedehnten Nachvollzug der Texte. Hörend oder lesend wird der Betrachter genauer schauen und sich – geleitet von den Kommentaren der Autor/innen – in Details verlieren, die sonst vielleicht ungesehen blieben. Im Ergebnis wird sich für jeden Besucher eine ganz individuelle Ausstellungserfahrung einstellen – je nachdem, welche Bilder er betrachtet, welche Texte er gelesen und welche Stimmen er gehört hat. Das Buch- und Ausstellungsprojekt Unter freiem Himmel entstand ebenso wie Unter vier Augen in der kuratorischen Verantwortung von Kirsten Voigt. Ausgewiesen durch ihre Studien zu Naturphilosophie, -ästhetik und Landschaftskunst sowie durch ihre hervorragenden Kenntnisse der zeitgenössischen Literatur war sie für dieses Vorhaben optimal vorbereitet. Ihr ist für die Auswahl der Autor/innen, die mit Gespür vorgenommene Zuordnung von Bild und Autor (wenn es zu Überschneidungen bei den Wunschbildern kam) sowie die sorgfältige Betreuung von Ausstellung, Katalogbuch, Mediaguide und Begleitprogramm herzlich zu danken. Unser gemeinsamer Dank gilt allen Autorinnen und Autoren, die sich für dieses museale Projekt begeistern ließen. Dank der zahlreichen klugen, originellen und überraschenden Beiträge ist abermals eine eindrucksvolle Hommage an die Sammlung der Kunsthalle gelungen. Teil dieser Hommage ist auch die wunderbare Bebilderung des Kataloges, für die unsere Foto-Abteilung, namentlich Annette Fischer und Heike Kohler, mit ihren Aufnahmen verantwortlich zeichnen. Der für die Wahrnehmung der Ausstellung unerlässliche Mediaguide wurde von Antenna Audio produziert, wobei der SWR Baden-Baden die Aufnahme der Texte übernommen hat. Zu danken ist Gerwig Epkes, der uns ein wichtiger und verlässlicher Kooperationspartner war. Die vorliegende Publikation, die eine DVD mit allen Texten enthält, erscheint im Kerber-Verlag in Bielefeld/Berlin. Für die verlegerische Betreuung und für das Lektorat danken wir Christof Kerber und Ilka Backmeister-Collacott. Die grafische Gestaltung des Buches lag, dem Modell des vorausgehenden Bandes von Lilly Hummel folgend, in den bewährten Händen von Larissa Pelka vom Grafikbüro Fine German Design, Frankfurt. Zu danken ist den Sprechern des Hörbuches Doris Wolters, Frank Arnold und Sebastian Mirow sowie den Fotografen, die die Autorenporträts für Buch und Ausstellung zur Verfügung gestellt haben. Sehr zu Dank sind wir den Freunden der Staatlichen 20
Kunsthalle Karlsruhe e.V. und ihrem Vorsitzenden Dr. Siegmar Holsten für die großzügige Unterstützung beim Druck dieser Publikation verpflichtet. Im Rahmen der Ausstellungseröffnung werden Angelika Krebs, Gertrud Leutenegger, Kathrin Schmidt und Ralph Dutli ihre Texte in der Kunsthalle lesen. Während der Laufzeit der Ausstellung bieten wir ein reiches Begleitprogramm an, das in Kooperation mit Gerwig Epkes und Carsten Otte vom SWR entstand. Die Autor/innen Marlene Streeruwitz, Brigitte Kronauer und Katja Lange-Müller haben wir zu Lesungen eingeladen; außerdem sind ein Lyrikpodium mit Marion Poschmann und Ulf Stolterfoht und ein Vortrag von Götz Großklaus zur Geschichte der Naturwahrnehmung vorgesehen. Ihnen allen gilt unser herzlicher Dank. Eine Autorin hat sich in besonderer Weise für unser Projekt engagiert: Cornelia Funke ist nicht nur die Verfasserin eines Textes im vorliegenden Buch; in der Jungen Kunsthalle und im Hauptgebäude zeigt sie (ab 18.3.2017) unter dem Titel Zauberwelten eine Ausstellung mit originalen Zeichnungen und Gemälden zu einigen ihrer bekanntesten Bücher. Die Begleitausstellung und die Vermittlungsprogramme wurden von Sibylle Brosi, Petra ErlerStriebel und Sandra Trevisan entwickelt, wofür ihnen vielmals zu danken ist. Auch in ihrem Namen danke ich Cornelia Funke herzlich für die stets kooperative und inspirierende Zusammenarbeit. Unter den Landschaften der Ausstellung finden sich einige, die nicht in dieses Buch aufgenommen wurden. Sie sind Gegenstand eines Projekts der Kunstvermittlung, die im Rahmen einer Schreibwerkstatt von Jugendlichen und Erwachsenen kommentiert werden. Die innovative Arbeit mit der Sammlung in einem medienübergreifenden Ansatz, die Verlebendigung von Bildern durch schriftlichen Ausdruck, die Übersetzung von visuellem Erleben in Sprache – dies sind auch museumspädagogische Ambitionen, die das Projekt Unter freiem Himmel verfolgt.
21
Beiträge 22
23
Oberrheinischer Meister Besuch des Jesusknaben bei Johannes in der Wüste Um 1410 / 20
Zeugnis ablegen Jenny Erpenbeck
Besuch des Jesusknaben bei Johannes in der Wüste wird das Bild genannt, das der unbekannte, sogenannte Oberrheinische Meister, wahrscheinlich in der Straßburger Gegend, um 141o geschaffen hat. Aber was sehen wir? Einen Paradiesgarten, von Felsen eingefasst – durchaus keine Wüste. Und in dem Garten zwei Kinder, die miteinander ein Geschäft haben. Der eine: Sohn Gottes, der andere sein Cousin, der dies bezeugen soll. Kein Zufall, dass die beiden wie auseinandergelegte Zwillinge in den Bäuchen ihrer zwei Mütter schon auf der ersten Tafel der Bildfolge zu sehen sind. Die Schwangeren stehen auch in einem ähnlichen Garten und beinahe in derselben Haltung wie später ihre Kinder. Und doch sieht die Landschaft, in der die Kinder stehen, anders aus: Sie ist in Bewegung geraten. In den Evangelien, die uns heute geläufig sind, begegnen sich die beiden Propheten erst in dem Moment, in dem Jesus Johannes aufsucht, um sich von ihm taufen zu lassen, also als erwachsene, junge Männer. Der oberrheinische Meister jedoch bezieht sich, wie zu seiner Zeit durchaus noch üblich, nicht auf die Bibeltexte, sondern auf mittelalterliche Legenden und apokryphe Evangelien, in denen davon erzählt wird, wie Jesus und Johannes bereits als Kinder und Jugendliche mehrmals in der Wüste zusammentreffen. 24
25
26