Christian Saehrendt SCHNEEWITTCHEN UND DER KOPFLOSE KURATOR
Christian Saehrendt SCHNEEWIT TCHEN UND DER KOPFLOSE KURATOR Der Reiseführer für documenta-Besucher, Romantiker und Horrorfans
Februar 2017 DuMont Buchverlag, Köln Alle Rechte vorbehalten Erschien erstmals unter dem Titel: ›Ist das Kunst oder kann das weg? Kassel. documenta-Geschichten, Märchen und Mythen‹ © 2012 DuMont Buchverlag, Köln Für die überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe: © 2017 DuMont Buchverlag, Köln Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln Umschlagabbildung: © Neubauwelt Satz: Fagott, Ffm Gesetzt aus der Proforma und der Antenne Druck und Verarbeitung: CPI books, Leck Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8321-6308-2 www.dumont-buchverlag.de
INHALT
I Hessenland, Märchenland, Heimatland des Horrors 7
II Auf der Deutschen Märchenstraße in die documenta-Stadt 35
III Die Altlast des Schönen. Kassels Kunst und Kassels Kriege 77 IV Das Schwarze Kassel
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V Die Geschichte der documenta, der wichtigsten Kunstausstellung der Welt 125 documenta-Kurator = Kunstdiktator? 133 So wird man documenta-Künstler 142 Die beste documenta aller Zeiten 151 Auf den Schwingen des Phönix. Die erste documenta 153 Abstrakt über alles. Die zweite documenta 158 Dr. Allwissend weiß nicht weiter. Die dritte documenta 162 Als die Riesenwurst platzte. Die documenta 4 167 »Individuelle Mythologien« und andere merkwürdige Thesen. Die documenta 5
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Dunkle Bohrlöcher im hellen Licht der Theorie. Die documenta 6 178 Verirrt im Zauberwald der Kunst. Die documenta 7 183 Der Tod, der Teddy und der Punk. Die documenta 8 190 Manege frei! Königin Beatrix im großen Kunstzirkus. Die documenta IX 195 Schneewittchen liest den sieben Bodezwergen die Leviten. Die documenta X 202 Hereinspaziert ins große Welttheater! Die documenta 11 207 Die wundersame Wanderschaft der Stühle, Bilder und Chinesen. Die documenta 12 211 Die gute Fee Carolyn. Die documenta 13 217 Der kopflose Kurator. Die documenta 14 222 Anmerkungen 231 Bildnachweis 239
I HESSENL AND, MÄRCHENL AND, HEIMATL AND DES HORRORS
Es war einmal ein Land mit sumpfigen Flusstälern, windigen Bergkuppen, kargen Böden und dunklen Wäldern. Der Universalgelehrte Alexander von Humboldt notierte 1789 auf der Fahrt von Kassel nach Marburg: »Selten habe ich schlechtere, ärmlichere, hässlichere Dörfer gesehen als im Hessischen (…), große Menschen sieht man hier fast gar nicht, aber sie sind meist sehr muskulös, sehr grob von Haut und Knochen.«1 Wer nur konnte, wanderte aus. Historische Briefe geben noch heute über die Strapazen und Hoffnungen der Auswanderer Auskunft. In einem Brief vom 23. März 1852 berichtet Christoph Berthold seiner Familie in Korbach von der Einschiffung in Richtung USA in Bremerhafen: »Mit der Auswanderung ist es ganz schrecklich. (…) Hessen, Baiern, Württemberger und Sachsen sind die mehrsten, und die Überfahrtspreise steigen mit jedem Tage.«2 Johann Führer hingegen, angekommen im gelobten Land, schwärmt am 31. Dezember 1850 der Kasselerin Elisabeth Focken von den Verdienstmöglichkeiten für Tagelöhner und Handwerker vor. »Da trifft man welche darunter, die in Deutschland Grafen, Professoren, Kaufleute und dergleichen waren.«3 Für die Zuhausegebliebenen ist das Leben nicht leicht: Die Angehörigen des nach Amerika ausgewanderten Johann Jost Barthel aus Knickhagen im Fuldatal berichten ihm über die Nahrungs9
knappheit nach der schlechten Ernte 1859 und richten den Blick hoffnungsvoll gen Himmel: »Vergangenen Sommer stanth ein Stern am Himmel, der hatte große Strahlen anzusehen, waren sie zehn Fuß lang und breit acht Fuß. Der bedeuthet was, des Abends stanth er über dem Heu’schen Berg und des Morgens über dem Gahrenberg.«4 Heute ist das Auswandern wesentlich leichter, denn viele Verkehrsadern durchziehen Nordhessen: Die A 7 führt acht 10
Kolkraben (Corvus corax) im Reinhardswald über dem Wolfsgehege des Tierparks Sababurg.
spurig an Kassel vorbei und wird für 2030 sogar zehnspurig (!) projektiert. Von der Stadt aus führen die A 44 in Richtung Ruhrgebiet und die A 49 in Richtung Süden. Hinzu kommen streckenweise autobahnartig ausgebaute Bundesstraßen. Der unaufhörliche Straßenausbau ist eine entfesselte Maschinerie, die die Landschaft in immer kleinere Stücke schneidet. Verkehr zieht weiteren Verkehr nach sich und potenziert den Flächenverbrauch durch immer neue 11
Parkplätze, Zubringer, Umgehungsstraßen und Tankstellen. Das manische Bedürfnis nach schnellem Durchfahren und eiligem Wegkommen aus dieser Region kam auch im ambitionierten Ausbau des regionalen Flughafens Kassel-Calden zum Ausdruck. Selbst der Wind weht eilig durch das Land. Fast schon rührend erscheint der Versuch, durch immer neue gigantische Windkraftanlagen auf den Hügeln die fliehenden Lüfte zu bremsen, damit etwas von ihrer Energie dableibe. Es ist wie eine Obsession: Jeder scheint hier wegzuwollen. Liegt ein Fluch auf dem Land? Viele hessische Dörfer sind im Laufe der Geschichte aufgegeben worden, vor allem in Zeiten der Pest und des Klimawandels im Mittelalter, sie wurden »wüst«. Immer wieder hörten Bauern und Wanderer an diesen verlassenen Orten Stimmen und Rufe, manchmal sogar Glockengeläut aus der Tiefe des Bodens. Von Wüstungen wurde in den Volkssagen auch berichtet, dass die dort wachsenden Bäume stets welkes Laub und niemals Früchte trugen. Und niemand nahm gern Bauholz aus dem darauf wachsenden Wald, um den Fluch nicht ins eigene Haus zu übertragen. Zahlreiche Sagen ranken sich um die gesunkenen Dörfer. Man sah dort bisweilen nächtliche Lichter und mied diese Orte nach Möglichkeit. Einer hessischen Sage zufolge wurde ein furchtloser Jäger Abend für Abend auf dem Nachhauseweg von einem dieser Irrlichter verfolgt, das ihn mit jammernder Stimme anflehte, es zu erlösen. An einem besonders dunklen und kalten Winterabend bat der Geist ihn dringender als je zuvor darum. Doch der raue Bursche schoss voller Wut auf das Licht, das mit einem furchtbaren Klageton verlosch: »Den Jäger ergriff ein eiskalter Schauer. Er eilte nach Hause, wie gepeitscht von unsichtbaren Händen, matt und kraftlos kam er an und warf sich auf sein Bett. Am nächsten Morgen fand man ihn kalt und todt.«5 12
Im Reinhardswald befand sich im Tal des Elsterbaches einstmals das Dorf Gebhardshagen. Doch aufgrund der Hungersnöte des frühen 14. Jahrhunderts, spätestens während der Pest 1349, muss der Weiler verlassen worden sein. Östlich der Lägerteiche, wo heute dichter Wald wächst, stand die Kirche des Ortes. Noch 400 Jahre lang wurde die Ruine der Ratterkirche als »Heiliges Haus« bezeichnet – ein einsamer Rinderhirte habe darin kampiert, war in der Sababurger Waldchronik von 1658 zu lesen. Dann wurde es still um diesen Ort, nur noch eine kleine Anhöhe zeugt heute vom Standort der Kirche. Waldgänger aber berichteten immer wieder von merkwürdigen Lichterscheinungen und Geräuschen im Elsterbachtal. Die Angst vor dem dunklen Wald und seinen Dämonen gehörte schon immer zur hiesigen Mentalität. Dies versteht noch heute, wer den in der Nähe des Tierparks Sababurg im Reinhardswald gelegenen Urwald besucht. Wo in früheren Jahrhunderten das Vieh von den umliegenden Dörfern geweidet hat, prägen heute 500-jährige Baumruinen, ausgehöhlte Stämme alter Eichen und Buchen, nachwachsende Erlen und Birken und ausgedehnte Adlerfarnfelder das Landschaftsbild. Bemerkenswert sind die surrealen Tot holzstrukturen in diesem Urwald – wahre Monumente der Fäulnis, die Insekten und Pilzen aller Art Nahrung bieten, darunter seltenen Arten wie dem Gelbweißen Gallertbecher, dem Stummelfuß-Rötling, dem riesenhaften Klapperschwamm, dem Eichenzungenporling, dem giftgelb leuchtenden Hochthronenden Schüppling, dem übel riechenden Stinkschwindling oder dem blutfarbenen und bisweilen saftig triefenden Leberpilz. Der Besuch ist idealerweise bei dichtem Nebel oder in der Dämmerung zu empfehlen. Ganz dunkel wird es im Urwald ohnehin nie. Dies liegt an der Fähigkeit mancher Pilze, durch ihr phosphoreszierendes Mycel das von ihnen durchdrungene Holz auf geheimnisvolle Weise zum Leuchten zu bringen. 13
Die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna).
Die alte Angst vor den Dämonen des Waldes kann auch von den psychotropen Pflanzen und Pilzen des Landes verstärkt worden sein, die die Hessen in früheren Jahrhunderten unabsichtlich oder rituell verzehrten. Der Schwarzen Tollkirsche verdankten sie Halluzinationen, Rededrang, starke Erregung, in höherer Dosis allerdings Koma und Herzstillstand. Volksnamen wie Schwindelkirsche, Schlafkirsche, Teufelskirsche, Walkerbeere, Irrbeere, Wutbeere, Wolfsbeere oder Tollkraut zeigten an, dass man hier unberechenbare Dämonen am Werk sah. Weniger gefährlich, aber ebenso in eine Wahnwelt führend, war der Verzehr von Fliegenpilzen, die im Mittelalter als Hexenmittel verschrien und deshalb von der Kirche verdammt waren. Rausch und Trugbilder erzeugte auch der Genuss des Spitzkegeligen Kahlkopfs, eines unscheinbaren Weidepilzes. Als wahrhaft teuflisches Unheil mag der Mutterkornpilz (auch Krähenkorn oder Tollkorn genannt) gegolten haben, der 14
heute durch den Einsatz von Fungiziden unschädlich gemacht wird. Mit Mutterkorn verunreinigtes Roggengetreide führte im Mittelalter zu epidemisch auftretenden Vergiftungen mit Halluzinationen, Krämpfen und lebensbedrohlichen Durchblutungsstörungen. Durch die heftigen Krämpfe verblieben die Gliedmaßen oft in abnormer Stellung – wie dauerhaft »verhext«. Noch heute findet der Wanderer all diese Pflanzen und Pilze in hessischen Wäldern und Fluren. Wer von ihnen kosten mag, dem sei hier ein letzter Gruß entboten, denn es ist ungewiss, ob er aus jener anderen, fremden Welt je wieder zurückgelangt. Jene andere, fremde Welt leuchtet uns auch aus vielen Ortsnamen Nordhessens entgegen: etwa Schrecksbach, Schröck, Schocketal, Zwergen, Morschen, Maden, Metze, Wabern, Wichte, Wüstfeld, Wahnhausen. Ein Fluch scheint auf einem Land zu lasten, in dem die Dörfer Namen tragen wie Machtlos, Stärklos, Friedlos, Lieblos, Sieglos, Sargenzell, Schadges, Schadenberg, Sterbfritz, Übelgönne, Ungedanken, Abgunst. Unheilvoll klingt auch die Reihung: Schachten, Gruben, Gehau, Schlitz und Strang. Eine ungesunde Aura verströmen Eiterfeld, Eiterhagen, Eitra und Aua. Den Leidenberg bei Homberg möchte man ungern besteigen. Gleiches gilt für den Lei chenkopf bei Gleichen. Und wer in Gegenden wie Wüstegarten und Höllenthal wandert oder auf dem Großen Schreckenberg die Aussicht genießt, wird bald bemerken: Die Schönheit Hessens ist fragil, die heitere Stimmung, die auf der Landschaft liegt, kann rasch einer Düsternis Platz machen, die wie kalter Nebel aufzieht. Es ist wie der Blick auf ein Kornfeld, dessen wogende Ähren bei Sonnenschein lieblich wirken, bis Wind aufkommt und Wolken den Himmel verfinstern: Plötzlich erscheint das Feld abweisend grau und unruhig. Die hessische Volkskultur kannte dafür die Redensart: »Die Mutter ist im Korn.« Die Kornmuhme saust durch die Halme und verhext das Korn mit dem giftigen Pilz.6 15
Literatur und Landschaft erzeugen einander wechselseitig. Schriftsteller und Dichter werden von der Landschaft inspiriert, und die Reisenden und Bewohner nehmen die Landschaft erst durch die Lektüre bewusst wahr. Der Literaturtourismus kam bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Ein besonders intensives Leseerlebnis weckte den Wunsch, die Schauplätze eines Romans in natura zu sehen. Wenn diese Schauplätze im Buch nicht ausdrücklich benannt waren, neigten manche Literaturtouristen dazu, sie in einer bestimmten Landschaft zu suchen und sie dort hinein zuinterpretieren. Eine gelungene Wiedererkennung (oder die Autosuggestion, man habe Originalschauplätze entdeckt) macht es möglich, sowohl Text als auch Landschaft nochmals intensiver zu erleben. Manchmal verschwimmen dabei die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und wirklichem Erleben. Kassel und Umgebung sind hier auf besondere Weise geprägt worden: durch die Märchen der Brüder Grimm. Vor gut 200 Jahren haben sie ihre Kinderund Hausmärchen vorgelegt, die seitdem in 160 Sprachen übersetzt worden sind. Jacob und Wilhelm Grimm waren Sprachforscher und Universalgelehrte. Sie gelten aufgrund ihrer historisch-systematischen Bestandsaufnahme des deutschen Wortschatzes und der deutschen Sprachaltertümer als Begründer der Germanistik. Beide verbrachten ihre Schuljahre in Kassel und waren später lange Jahre in der Stadt tätig, u. a. als Bibliothekare. Die Grimms sammelten ihre Geschichten in Kassel und Umgebung, dabei standen ihnen mehrere Dutzend Quellen zur Verfügung, darunter Marie Hassenpflug und Dorothea Viehmann (beide stammten aus französischen Hugenottenfamilien, die einstmals ins protestantische Hessen geflüchtet waren). Dorothea Viehmann (1755–1815) erzählte den Brüdern über 30 Märchen. Für viele ihrer Geschichten gab es scheinbar regionale Zuordnungen, so konnte etwa die Sababurg als Dornröschen 16
schloss interpretiert werden – sie war als landgräfliches Jagdschloss im 16. Jahrhundert mit einer drei Meter hohen und fünf Kilometer langen Mauer umgeben worden. Für das Rotkäppchen könnte die Tradition der Schwalm herangezogen werden – dort trugen unverheiratete Frauen bis zu ihrem 30. Geburtstag eine rote Kappe. Und Schneewittchens Zwerge könnten von den kleinwüchsigen Knappen des Kupferbergbaus im Kellerwald inspiriert worden sein. Gleichwohl ist es fragwürdig, Märchen exakt lokalisieren zu wollen – sie sind eigentlich ortlos, Kompilationen aus dem Geschichtenschatz verschiedener Regionen und Epochen. »Alle Märchen«, schrieb einmal der Dichter Novalis, »sind Träume von einer heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist.« So sind Aschenputtel, Rapunzel und Dornröschen unter anderen Namen bereits in der italienischen Märchensammlung des neapolitanischen Dichters Giambattista Basile (1575–1632) nachweisbar, und Rotkäppchen wurde schon durch Charles Perraults französische Publikation Geschichten oder Erzählungen aus vergangener Zeit im Jahr 1697 populär. Es sind europäische Märchen, die sich aber nach langer Reise in Hessen niedergelassen haben. Vielleicht, weil diese Landschaft schon immer als Quelle für Mythen, Sagen und Geschichten diente, bereits lange vor den Grimms? Den Märchen der Grimms gingen zahlreiche Hexen-, Vampirund Werwolfgeschichten aus der regionalen Sagenwelt voran – all das spiegelt sich auch in der Überlieferung der Behörden und Gerichte wider. Im Hessischen Staatsarchiv Wiesbaden findet man beispielsweise in den Ermittlungsakten gegen einen Hirten, der der »Wolfssegnerei« bezichtigt wurde, die Zeichnung eines Gerichtsschreibers aus dem Jahr 1591. Sie zeigt, wie der Hirte in Gestalt eines Wolfes über das Feld schleicht, dabei herrscht laut Begleittext eine »geheimnisvolle Stille«.7 Immer wieder kam es vor, dass Hirten, Mägde und selbst brave Ehefrauen verdächtigt wur17
den, als Werwölfe auf nächtliche Menschenjagd zu gehen. Und immer wieder kam es zu Hexenprozessen . Sobald Unglücksfälle oder Erkrankungen mit dem an sich zufälligen Auftauchen einer bestimmten Person in Verbindung gebracht werden konnten, bestand die Gefahr einer Denunziation. Manchmal kamen sogar ganze Familien oder Dörfer in Verruf. So kam über das Dorf Wohra das Gerücht auf, dort lebten nicht einmal drei Menschen, die keine Hexenkräfte hätten. Offenbar ging man davon aus, dass es in dieser Welt keine Zufälle gebe. Alles Gute sei Gottes Werk und Wille, und alles Schlechte müsse auf den Teufel zurückzuführen sein. Oft waren Missgunst und Eifersucht die eigentlichen Motive für die zum Teil absurden Anschuldigungen. So wurde Gela Stücker 1621 in Ehlen angeklagt, Vieh verhext zu haben. Außerdem soll sie die magische Gabe besessen haben, Butter aus einer Holzbank hervorquellen zu lassen. Teilweise zeigten Kinder Erwachsene an, zum Beispiel 1633 in Kirchvers ein siebenjähriger Knabe seine Mutter. In einigen Fällen bezichtigten sich Geisteskranke selbst: So erzählte eine Frau in Hofgeismar, sie sei für den frühzeitigen Tod des Bürgermeisters verantwortlich gewesen, sie habe ihn verhext. In mehrstufigen Verfahren wurde ermittelt, ob es sich um »echte« Hexerei oder bloß um Irrsinn oder um »schwere Melancholie« handelte. Erhärtete sich der Verdacht, trat die fatale Eigendynamik des »peinlichen Verhörs« in Kraft. Merkwürdiges Gebaren oder »unnatürliche Laute« unter der Folter galten nun erst recht als Hexenbeweis, das Opfer konnte seiner Stigmatisierung nicht mehr entkommen. Einerseits ging die Obrigkeit bisweilen gegen Wahrsagerinnen und angebliche Zauberinnen vor, die es offensichtlich darauf anlegten, ihre Mitmenschen zu betrügen – auch das gab es. Andererseits musste die Bevölkerung in ihren Ängsten ernst genommen werden, weshalb Spukerscheinungen gelegentlich amtlich untersucht wurden. So berichtete der Vogt von Kaufungen 18
1584 dem Landesfürsten Wilhelm über ein Gespenst, woraufhin dieser anordnete, das betreffende Haus und die Zeugen des Gespenstes zu bewachen.8 Reformierte Landesherren gingen bisweilen mit Edikten gegen den hartnäckigen Aberglauben in der Bevölkerung vor, so im »Edikt gegen Zauberei und Wahrsagerei«, das 1606 in der hessischen Herrschaft Nassau-Dillenburg ausgegeben wurde.9 Trotzdem kursierten im 17. Jahrhundert noch allerlei okkulte Schriften und Dokumente wie beispielsweise eine »Gebrauchsanweisung gegen Höllenzwang« oder ein illustriertes Schriftstück aus dem Jahr 1699, das vor den »Gefahren des falschen Schwörens« warnte: Wer unehrlicherweise schwor, so war auf den Abbildungen zu erkennen, dessen Schwurhand werde nach der Bestattung für alle Zeiten aus dem Sarg herausragen.10 Noch Anfang des 19. Jahrhunderts wurden für die Landbevölkerung Fibeln mit Segenssprüchen gedruckt, mit denen man verhexten Menschen und Haustieren helfen könne; hier mischten sich christliches Gedankengut und heidnischer Aberglauben. So solle man zum Beispiel zum Schutz vor dem Teufel den Spruch »Trottenkopf! Ich verbiete dir mein Haus und mein Hof« über das Bett und an die Wand des Stalls schreiben, und einen Dieb könne man aus der Ferne bannen, indem man drei Nägel in einen Birnbaum schlage, der erste treffe den Dieb in den Fuß, der zweite in die Leber, der dritte in die Stirn.11 Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Aberglaube und Wahrsagerei wieder große Konjunktur. Nun weckten Hellseher aller Art die Hoffnung, sie würden die Wiederkehr oder den Aufenthaltsort vermisster Personen erwirken beziehungsweise ermitteln können, und zogen der verarmten Bevölkerung das Geld aus der Tasche.12 Der Hang der Deutschen zum Übersinnlichen beschäftigte auch die alliierten Besatzer in ihren Reeducation-Programmen. 19
»Reeducation« wird im englischen Sprachgebrauch definiert als:
»Attempt to instill a certain ideology or belief system in a subject, usually against their will.«13 Es geht also darum, einer Person gegen ihren Willen eine bestimmte Ideologie oder einen Glauben einzuimpfen, ein Zauber sollte hier offenbar durch einen neuen ersetzt werden. Reeducation versteht sich im Englischen aber auch als mentale Wiederherstellungsmaßnahme gestörter Persönlichkeiten. Die Deutschen wären demnach Verrückte, die Naziideologie wäre Symptom
Bis heute zu Unrecht dämonisiert: Canis lupus – hier im Tierpark Sababurg.
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einer kollektiven Geisteskrankheit. Der Nachrichtendienstoffizier Terence J. Leonard analysierte nach dem Krieg im Auftrag der Textbook Section der britischen Militärregierung deutsche Schulbücher der Jahre 1925 bis 1945. Er stellte fest, dass in diesen Büchern ein »Kult des Morbiden und Okkulten« herrschte, und fragte sich: »Wie können Kinder, die seit frühester Jugend im Geiste eines trügerischen heidnischen Mystizismus (Geister in Bäumen!) großgezogen worden sind, jemals vollständig diese Vorstellungen wieder loswerden?« Die deutsche Philologie sei durchdrungen von einer »Atmosphäre schwarzer Magie«. Den Einwand, die Märchen endeten doch stets gut, ließ der alliierte Umerzieher nicht gelten, denn die Frage sei doch, wie in den deutschen Märchen die Wende zum Guten erreicht werde: »Durch die Hilfe eines missgestalteten Zwerges, einer hässlichen Frau, sprechender Tiere oder aus Bäumen redender Geister. In anderen Fällen werden dem Helden durch eine Fee oder einen Riesen ungewöhnliche magische Kräfte verliehen (…), der Held vollbringt nie etwas aus eigener Kraft, sondern nur, wenn eine übernatürliche Kraft ihm hilft.«14 Seine These im Klartext: Die grausigen Storys reproduzierten sich selbst, wenn aus den zuhörenden Kindern paranoide Erwachsene werden, die dann ebenso grausige Taten vollbringen. Die Märchenlektüre diene als »Vorschule der Grausamkeit«. Kann man durch Grimms Märchen wahnsinnig werden? Ein interessanter Punkt: Offenbar glaubten selbst so vernünftige Tatmenschen wie Mr. Leonard an die magische Kraft von Literatur. Ist es also möglich, dass Märchen und Geistergeschichten in diesem Land ein Eigenleben entwickelten? Vielleicht ist es ja auch kein Zufall, dass sich in Hessen in den letzten Jahren eine weitläufige Esoterikszene ausgebreitet hat. Es gibt Hellseher, Geist heiler, Kommunikationsspezialistinnen für Engel und Einhörner und sogar Damen, die von sich behaupten, richtige Hexen zu sein. 21
Da wäre beispielsweise Beate Trieschmann aus Kassel. Sie stellt sich auf ihrer Internetseite als »Hexe mit echten magischen Fähigkeiten in siebter Generation« vor: »In meinem Besitz befinden sich einige Hasenpfoten, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden und ca. 700 Jahre alt sind. Zu jedem Vollmond werden sie mit neuer Energie aufgeladen und sind dadurch äußerst stark und sehr mächtig.« Im Angebot hat sie »Liebeszauber, Partnerrückführungen, Lottozauber und Karrieremagie«. Und bei wirklich großen Problemen gibt es die Möglichkeit, gleich den kompletten Hexenzirkel Avalon anzuheuern: »Die Gemeinschaft der zehn magischen Schwestern trifft sich, wenn Großes vollbracht werden muss.« (Allerdings »fallen dabei zusätzliche Reise- und Hotelkosten an«.) Zu den magischen Schwestern gehört auch Angela Groetsch aus Bad Vilbel. Sie hilft laut ihrer Website bei akuten Verfluchungen: »Alles geht schief? Wie sehr du dich auch bemühst, du scheiterst? Du bist dauerhaft erschöpft, doch es heißt, du bist gesundheitlich topfit, weil keiner was findet? Du hast das Gefühl, es stimmt was nicht, kannst es aber nicht erklären? Ohne dir Angst machen zu wollen, doch vielleicht wurde gegen dich ein Fluch oder eine Verwünschung veranlasst.« Aber auch Magie schützt nicht vor manchen irdischen Risiken: Im Herbst 2016 erschütterte die Schlagzeile »Zauberer ermordet« die hessische Stadt Gießen. Der 79-jährige Erich Noll, der als Bühnenzauberer Riconelly bekannt war, hatte die ungute Aura seiner Nachbarin nicht deuten können, die schließlich ihn (und weitere Opfer) aus purer Habgier tötete. Manche spüren allerdings böse Geister, wo gar keine sind. Dazu muss man nicht mal verrückt sein. Denn es gibt oftmals höchst normale Erklärungen paranormaler Phänomene. Etwa extrem tiefe, nicht bewusst hörbare Infraschalltöne, die Druckveränderungen der Augäpfel verursachen, welche wiederum zu Halluzinationen 22
führen. So können schon defekte Klimaanlagen, die ungewöhnlich tief brummen, die irrsinnigsten Erscheinungen hervorbringen und bestimmte Gebäude damit »verhexen«. Nicht nur tief im Wald spukt es, sondern auch mitten im Frankfurter Bankenviertel oder auf der B-Ebene des Hauptbahnhofs ist man davor nicht sicher! In Kombination mit einer gefühlten Enge in der Brust und einem kalten Schauer, der dabei über den Rücken läuft, können Infraschalltöne als Spuk erlebt werden. Auch längere Isolation kann die Einbildungskraft beflügeln. Einsame Wanderer in den hessischen Wäldern verspüren manchmal den Zwang, sich ständig umdrehen zu müssen. Es ist dieses diffuse Gefühl, beobachtet zu werden, wie ein Bohren im Nacken. Und dreht man sich um, glaubt man gelegentlich, im Augenwinkel etwas gesehen zu haben, das schattenhaft im Unterholz verschwand. Dieser Geisteszustand wurde in Volkserzählungen dem Wirken von Waldgeistern zugeschrieben, die den Wanderer eine Zeit lang begleiten und die man niemals reizen sollte, wenn man nicht die Orientierung verlieren wolle.15 Auch von Irrwurzeln und Irrgräsern, die von Geistern beseelt seien, berichtet der Volksmund: Bodenpflanzen mit auffälliger roter Färbung, die in der Nähe von Gräbern wachsen. Wer darauf trete, irre benommen im Kreis umher, ohne je wieder aus dem Wald herauszufinden.16 Zum Glück gibt es auch schützende Pflanzen. Schon die Germanen verehrten das Johanniskraut als Lichtbringer. Zu den Sonnenwendfeiern trugen Frauen und Mädchen Kränze aus Johanniskraut. Mit der Christianisierung verschob sich die rituelle Bedeutung auf Johannes den Täufer, nun wurde das Kraut als Heilmittel gegen die gefürchtete Melancholie, den »Dämon der Schwermut«, eingesetzt und bei Teufelsaustreibungen verwendet. Auch die Schlehe , Urform der Pflaume, wurde zur Abwehr des Bösen verwendet – glaubte man doch, die Dornenkrone Christi sei daraus gefertigt worden. Schlehensträuße zu Wal23
purgis schützten den Kuhstall ebenso wie die Kinder im Wohnhaus vor Hexerei. Weiden und Höfe wurden deshalb gern mit Schlehensträuchern umfriedet. Schwarzer Holunder wurde als Schutzpflanze gegen Schwarze Magie, Feuer und Blitzeinschlag, als Lebensbaum und Wohnort gut gesinnter Hausgeister direkt an Gebäuden gepflanzt. Ein verdorrter Ast allerdings zeigte den baldigen Tod eines Hausbewohners an. Unglück und Tod provozierte auch derjenige, der einen Holunderbusch fällte oder zurückschnitt. Und der merkwürdige Geruch des Holunderlaubes soll daher kommen, dass sich Judas einer Legende zufolge an einem Holunderbaum erhängt hat. Der Name des Strauches wird von »Frau Holla« oder »Holda« abgeleitet, einer germanischen Haus- und Fruchtbarkeitsgöttin, die Tier und Mensch zu heilen vermochte – die Brüder Grimm haben ihrem Märchen »Frau Holle« diese mythologische Figur zugrunde gelegt. Ob Fels, Tier oder Pflanze – schon zur Zeit der Germanen galt die Landschaft als von guten und schlechten Geistern bewohnt. In Volkserzählungen, in der Sagen- und Märchenwelt, teils auch im christlichen Glauben, lebten diese Traditionen fort. Der Glaube an Baumgeister führte in einigen Regionen Europas zum Brauch, diese Geister vor dem Fällen des Baumes zum Auszug aus der Pflanze zu bewegen – in der Schweiz sind noch aus dem Jahr 2008 Fälle bekannt, in denen bei Holzeinschlag so verfahren wurde.17 An bestimmten Tagen und Nächten scheint es besonders gefährlich zu sein, in den Wald zu gehen, etwa in den Rauhnächten , die zwischen den Jahren liegen, oder am 2. Januar. Das ist, glaubt man den Sagen im Hessischen und Thüringischen, der Tag des Waldmännchens. Stören es Waldarbeiter, Jäger oder Spaziergänger an diesem Datum, kann das gravierende Folgen haben, bis hin zum Tod. Südwestlich von Bad Hersfeld kam am Jahresanfang 2012 ein Waldbesitzer ums Leben, der nachschauen wollte, wie eine beauftragte Firma mit 24
dem Holzrücken in seinem Wald vorankam. Es sei von einem Unglücksfall auszugehen, sagte ein Polizeisprecher: »Es ist wahrscheinlich, dass er von einem Baum oder Ast erschlagen wurde.« Die Kriminalpolizei ermittelte trotzdem – ohne Ergebnis, das Waldmännchen hatte keine Spuren hinterlassen. Doch auch unabhängig von diesen Terminen scheinen sich bisweilen Waldgeister bemerkbar zu machen. Vielleicht sind es auch Rachegeister, die Angriffe auf die Natur ahnden? In Oberweimar bei Marburg ereignete sich beispielsweise vor einigen Jahren ein eigenartiger Wildunfall. Ein aufgescheuchtes Wildschwein war von einem Jäger mit einem Schuss erlegt worden. Das Geschoss trat aber als Querschläger wieder aus dem Tierkörper aus, änderte die Richtung und traf einen 50 Meter entfernt stehenden Treiber. Hessen ist eine dicht besiedelte mythologische Landschaft. Fast mit jedem Stein und jedem Stock ist eine Geschichte, eine Sage oder ein Märchen verbunden. Heute kokettieren viele Gemeinden damit, Schauplatz eines Grimm’schen Märchens gewesen zu sein, und mit viel Aufwand etablierten Touristiker die »Landesmarke Grimm«. Doch fragt man sich mitunter, ob es für Hessen ein Segen oder ein Fluch ist, als bevorzugte Heimstätte von Märchen und Sagen zu dienen. Denn die Grenze zwischen inszeniertem und echtem Horror kann sich plötzlich auflösen, und der Horror der Literatur wird Realität, wie die Geschichte der Burgruine Frankenstein in Südhessen zeigt. Die Namensgleichheit mit dem Horrorklassiker aus der Zeit der Schwarzen Romantik ist Zufall – unter den adligen Bewohnern fanden sich keine promovierten Mediziner. Allerdings findet auf der Burg eines der größten Halloweenfeste Deutschlands statt, in Darmstadt stationierte US -Soldaten begründeten in den 1970er-Jahren diese Tradition. Bei diesem jährlichen Event werden die Besucher von verkleideten Schauspielern und durch gru25
selige Spezialeffekte unterhalten. Im September 2012 fanden Pilzsammler am Fuß der Burg ein merkwürdiges Paket. Sie öffneten es vorsichtig und erschraken: Im Inneren befand sich eine tätowierte Männerleiche, aber ohne Kopf und Beine. Bereits einige Jahre zuvor war auf einem Parkplatz unterhalb der Burg eine kopflose Männerleiche gefunden worden. Von Frankenstein ins nordhessische Frankenberg : Die Theater-AG der Edertalschule probte und 26
Eulen umgibt bis heute die Aura des Geisterhaften. Das Weibchen des Waldkauzes (Strix aluco) ruft »Kuwitt«, und das Männchen antwortet darauf mit »Hu«. Der Ruf des Weibchens wurde im Volksaberglauben als »Komm mit!« des Todes missdeutet. Waldkauz im Tierpark Sababurg.
spielte regelmäßig im Frankenberger Dampfmaschinenmuseum, das sich auf einem aufgegebenen Industriegelände befindet. Am 7. Mai 2010 gab man das Stück Rocky rocks Frankenstein – eine Kombination beider Horrorklassiker – vor gut 200 Zuschauern. Nach der Vorstellung stromerten Riff Raff, Rocky & Dr. Frank N. Furter in Feierlaune noch ein wenig auf dem Areal herum und kletterten in einen schmalen Schacht nahe des riesigen Schornsteins. Am 27
Schneewittchen, hier dargestellt von der gebĂźrtigen Bergfreiheiterin und heutigen Biologielehrerin Stefanie Wilke.
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Grunde des Schachts stießen sie auf einen obskuren Gegenstand, der sich im Schein ihrer Taschenlampen als höchst reale, wenngleich stark verweste Leiche erwies! Schlagartig ernüchtert, holten die Jugendlichen die Polizei. Die Obduktion ergab: Es handelte sich um einen früheren Schauspielerkollegen. 2007 war ein ehemaliges Mitglied der Theater-AG spurlos verschwunden. Er hatte zuletzt in Darmstadt gewohnt und war an diesen abgelegenen Ort zurückgekehrt – niemand weiß, warum. Auch bildende Künstler, deren Werke eine subtil-morbide Seite haben, leben in Hessen gefährlich: Auf das Kartenmotiv, das Adolf Buchleiter im Herbst 1999 für seine große Ausstellung im Kasseler Kunstverein verschickte, reagierten viele Empfänger verstört, denn das übermalte Polaroid wirkte wie das Porträt eines Kranken oder Sterbenden. Drei Monate später war der Künstler tot. Zur Vorbereitung einer weiteren Ausstellung hatte er im Frühjahr 2000 in seinem Atelier in Kaufungen sein Œuvre gesichtet. Plötzlich kamen einige seiner großformatigen, mit Holz und Plexiglas gerahmten Bilder, die an der Wand lehnten, ins Rutschen, kippten um und verletzten ihn tödlich. Ziehen Horrorgeschichten echten Horror nach sich? Verhält es sich hier wie mit der romantischen Literatur, die eine Landschaft erst durch ihre Beschreibung erfindet? Die Realität in Hessen schreibt ihre eigenen Schauergeschichten. Doch auch diese höchst realen Ereignisse gehen irgendwann in den Fundus der Sagenwelt ein. Wie werden kommende Generationen darüber denken und schreiben? Werden diese Unglücksfälle und Verbrechen, wenn sie erst lange genug zurückliegen, dann auch als »Kunst« ästhetisiert oder im Tourismusmarketing verwurstet? Pünktlich zum 200. Jubiläum von Grimms Märchen hatten US - Fernsehsender und Hollywood-Regisseure das Genre des Märchenfilms wiederentdeckt, wenngleich sie sich vom ursprünglichen 29
Märchentext lösten und Filme präsentierten, die eher einen Mix aus Märchen, Fantasy-, Action- und Horrorgenre darstellten. Große Stars wie Julia Roberts, Jeremy Renner, Amanda Seyfried oder Angelina Jolie wurden in den letzten Jahren für Hauptrollen in diesen Filmen engagiert, und die Kinogänger erfreuten sich an technisch aufgemotzten Varianten von Rotkäppchen, Schneewittchen, Dornröschen, Hänsel und Gretel u. a. Bereits 2005 hatte Hollywood den Film Brothers Grimm in die Kinos gebracht, mit Matt Damon und Heath Ledger in den Hauptrollen (Regie: Terry Gilliam). Im fiktiven nordhessischen Städtchen Marbaden wurden die Grimms als Anti-Spuk-Special-Force eingesetzt und mit außer Rand und Band geratenen Märchenfiguren konfrontiert. »Marbaden« klingt in amerikanischen Ohren deshalb so gruselig, weil die Worte »night mare« und »bad« darin stecken. Übersetzt man den englischen Begriff für »Albtraum« – »nightmare« – wörtlich, kommt man zum Nachtmahr, einer schwarzen, katzenartigen Gestalt, die laut hessischen Sagen nachts durchs Fenster einzudringen vermag und sich auf die Brust des Schläfers legt. In der Schwalm erzählte man sich von Nachtmahren, die Menschen auf diese Weise hätten schwächen und schließlich töten können, und häufig habe sich der Geist einer nahestehenden Person, manchmal sogar der Geliebten oder der Ehefrau, in diesem Dämon verborgen.18 Doch auch abseits von Hollywood und Halloween hat Hessen im kulturellen Bewusstsein der Amerikaner einen zweifelhaften Ruf, denn im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg waren Tausende hessischer Soldaten in britischen Diensten eingesetzt worden. Sie sollten verhindern, dass die Kolonie selbstständig wurde. Die Propaganda der Kolonisten machte aus ihnen Horrorgestalten, menschenfressende Ungeheuer mit doppelten Zahnreihen. Schon bevor die ersten Truppen angelandet worden waren, eilte ihnen ein mörderischer Ruf voraus, für den amerikanische Prediger verantwortlich waren. Der Pfarrer 30
Heinrich Kümmel (1753–1830) begleitete die hessischen Truppen nach Nordamerika. Über den Fall von New York schrieb er: »Die mehrsten der hiesigen Bewohner waren rebellisch gesinnt (…), fast die Hälfte der Häuser stand ledig.« Doch nach und nach kehrten die in Panik geflohenen New Yorker zurück, nachdem die Hessen und Briten die Stadt besetzt hatten: »Man hatte ihnen gesagt, daß die Hessen Kinder fräßen.«19 »Hessian« (’hε∫ǝn) wurde zeitweilig zum Synonym für ein Volk, das sich freiwillig versklavte, um fremden Tyrannen zu dienen und die Freiheit anderer zu verhindern. »Hessian« ging als Synonym für käufliche Politiker, Söldner und gedungene Mörder in den amerikanischen Wortschatz ein. Im amerikanischen Bürgerkrieg beschimpften die Konföderierten die Yankees als »Hessians of the North«.20 Und selbst im Kalten Krieg, als ein neues deutsch-amerikanisches Bündnis geschmiedet wurde, war der Hessen-Hass noch nicht verschwunden: Als der amerikanische NATO -Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower 1951 auf dem Frankfurter Flughafen eintraf, ließ er verlauten: »Die Deutschen sind gute Soldaten. Ich freue mich, Deutsche unter meinem Kommando zu haben, d. h. natürlich mit Ausnahme der Hessians.«21 Der Hesse als das Böse an sich: Da ist es nur logisch, dass sich zeitweise sogar ein amerikanischer Rockerclub »The Hessians« nannte. Eine neuere Version des Horror-Hessen lieferte Hollywood. 1999 kam Sleepy Hollow mit Johnny Depp, Christina Ricci und Christopher Walken in den Hauptrollen in die Kinos (Regie: Tim Burton). Es handelt sich um die Legende eines hessischen Söldners, der nach seiner Hinrichtung als kopfloser Reiter weiterspukt und noch zahlreiche brave Amerikaner mit dem Schwert tötet. Der kopflose Geist spielt auch in der deutschen Sagenwelt eine Rolle. Manche behaupten, es sei der Geist eines Mörders, der seinerseits Menschen geköpft habe, andere halten ihn für den Teufel persönlich, wiederum andere glauben, wer mit ihm in Berührung komme, sei ver31
loren.22 Auch in Hessen tauchte er immer wieder nachts an entlegenen Orten auf, mal als Reiter, mal als Jäger mit Hund, Flinte und Ranzen – so wurde es am Vogelsberg oder im Kinzigtal beobachtet.23 Im Jungstal bei Heringen an der Werra ging die Sage eines kopflosen Kutschers um, der sein Vierergespann in rasendem Tempo über die Wege jagte – der Pfarrer will ihn gesehen haben. In Altenburschla bei Wanfried will eine Holzsammlerin dem kopflosen Reiter begegnet sein, der auf einem Schimmel herangebraust und von einem Rabenschwarm begleitet worden sei. Flammen und Funken hätten Hufe und Mähne des Pferdes umstoben. In Todesangst habe sie ihr Holzbündel fortgeworfen und sei geflohen. Und in Nordshausen bei Kassel wurde von der Erscheinung eines kopf losen Mädchens berichtet, die häufig zur Adventszeit aufgetreten sei. Es soll sich um den Geist einer Nonne gehandelt haben, der ihr unsittlicher Lebenswandel zum Fluch wurde.24 Etwa seit dem Jahr 2000 wurde eine neue Variante des kopflosen Geistes in Hessen gesichtet. Wiederholt berichteten Besucher von Museen und anderen großen Kunstausstellungen von der plötzlichen Erscheinung eines kopflosen Kurators. Dies ereignete sich u. a. in Kassel bei der documenta 2002 und 2007; 2003 und 2005 in Frankfurt im Städel, im gleichen Jahr im Museum für Moderne Kunst; 2004 im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt und seitdem auch an anderen Museumsstandorten in Gießen und Arolsen. Die traumatisierten Zeugen berichten übereinstimmend von einer schemenhaften, schwebenden und leise klagenden Gestalt, die sich beim Herannahen des Sicherheitspersonals verflüchtigt habe. Die Fälle sind zu häufig und die Beschreibungen zu präzise, um sie als Halluzinationen einzelner übermüdeter oder hochsensibler Ausstellungsbesucher abzutun. Theoretiker bemühten sich, das Phantom als »Sinnbild des Orientierungsverlusts im gegenwärtigen Kunstdiskurs«, als »übersinnliche Manifestation eines 32
leergelaufenen und ideenlosen Kunstbetriebs« zu deuten. Psychiater erblickten hier eine neue Variante des legendären Stendhal- Syndroms, der emotionalen Überforderung bei der Begegnung mit weltberühmter Kunst, die im 19. und 20. Jahrhundert in Italien auftrat. Geistheiler und Spukspezialistinnen sagen hingegen, das Gespenst werde erst dann gebannt sein, wenn man den fehlenden Schädel des Geistes finde und bestatte. Seither wird in Hessen fieberhaft nach einzelnen Totenschädeln gefahndet, und auch wir hoffen inständig, diesen Schädel auf unserer Hessentour zu finden – rechtzeitig, bevor die nächste documenta beginnt.