Leseprobe | Louise Bourgeois

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Chr istiane Meyer-Thoss

Konstr uktionen für den freien Fall 

Designing for Free Fall 

Louise Bourgeois

Im Gespräch mit Chr istiane Meyer-Thoss 

In Conversation with Chr istiane Meyer-Thoss 

Louise Bourgeois

Selbstausdr uck ist heilig und verhängnisvoll

Standpunkte 

Self-Expression Is Sacred and Fatal

Statements 

Zeichnungen / Drawings 

Er ver schwand in vollkommenem Schweigen 

He Disappeared into Complete Silence 

Der Puritaner 

The Pur itan 

Anhang / Appendix

Abbreviated Biog raphy 

Impor tant Solo Exhibitions 

Selected Bibliog raphy 

Selected Films 

List of Illustrations / Photograph Credits 

Autor in / Author 

Danksagung / Acknowledgements 

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„Die Dinge brauchen uns Heimatlose, um irgendwo zuhause zu sein.“

Konstruktionen für den freien Fall

Das Studio von Louise Bourgeois im New Yorker Stadtteil Brooklyn diente in früheren Zeiten einer Kleiderfabrik. Das Beleuchtungssystem dieser Fabrik ist noch erhalten: Jede Näherin hatte ihre eigene Glühlampe, und über jedem ehemaligen Nähplatz hängt noch heute die Reißschnur zum Justieren des Lichteinfalls. Dieses elektrische Relikt ermöglicht es Louise Bourgeois, sich den gigantischen Raum nach Belieben zu unterwerfen, um sich ihm überlassen und anvertrauen zu können. Durch Betätigen der unzähligen Schnüre unterteilt sie ihn in viele unabhängige Bereiche – bewegliche, schwerelose Lichtinseln.

Louise Bourgeois betont, sie habe den riesigen Studioraum erst von dem Moment an nutzen können, als ihr in den Sinn kam, ihn auf diese Weise zu gliedern. So fühlt sie ihre absolute Macht über den Ort, indem sie kurz an einer Schnur zieht und es plötzlich Licht werden läßt – oder mit einem weiteren Zug Finsternis auslöst. Animiert durch diesen eindrücklichen, stets wandelbaren Raum, haben die Skulpturen, die sich hier im Lauf der Jahre ansammelten, ein eigenes Leben begonnen. In der vollendeten Isolation des Ateliers sind die Beziehungen untereinander hemmungslos geworden. Es liegt in Louise Bourgeois’ Absicht, sie verwildern zu lassen. Diese Verwilderung ist begleitet von der Hoffnung, sie könnten hier einander flüchtig und ohne Absicht berühren. Mit jeder Veränderung der Lichtverhältnisse kommt es zu immer neuen Verwandtschaften innerhalb der wüsten Ordnung.

Louise Bourgeois’ Studio erschien mir wie ein labyrinthischer Garten, eine gewachsene und doch streng inszenierte Wildnis voller Fluchtwege. Jeden Morgen zur gleichen Stunde betritt sie diesen Ort, ihren vergessenen Himmel, und macht die Runden, verändert wieder und wieder die Stapel und Ansammlungen aus Stoffbändern, Holzwürfeln oder Metallrohren. So sind im Studio im Lauf der Zeit Wege entstanden, wie nur Tiere sie auf der Flucht durchs Unterholz anlegen. Nach einiger Zeit erkannte ich in diesen Fluchtwegen, die so wandelbar sind wie das Licht in diesem Raum, die Richtung der Louise Bourgeois, ihre Art und Weise, sich zu bewegen. Sie folgt stets nur der frischen Spur.

Die Dichte, in welcher die Skulpturen in ihrem Studio beieinanderstehen, hat eine

Louise!Bourgeois.!Konstruktionen!für!den!freien!Fall!von!Christiane!Meyer Thoss!(Textauszüge)

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überwältigende Wirkung. Sie machen den Eindruck herausfordernder Endgültigkeit; ihre Gelassenheit und Klarheit ist gebieterisch. Sie scheinen Naturkatastrophen, Verwüstungen entkommen zu sein und behaupten ihr Wissen um einen als verhängnisvoll erfahrenen emotionalen Zusammenhang, verkörpern die Suche nach Gesetzen für das Unwägbare eines seelischen Zustands.

Nicht selten klingt die persönliche Lebensgeschichte im Werk an, wie eine vielstimmige, autobiographische Debatte, die nicht zu Ende kommen kann. In ihrer Arbeit geht es um das Überleben, um einen täglichen, radikalen Beginn am Nullpunkt. Jede Skulptur, die neu geschaffen wird, ist Bewältigung, „liquidation of the past“. Dabei geht es Louise Bourgeois nicht um Verdrängen, Wegschneiden der Geschichte, sondern um das Aufbrauchen und damit Auflösen der Vergangenheit im Fortschreiten des eigenen Lebens. Louise Bourgeois wendet sich der eigenen Vergangenheit zu, um ihr ins Wort zu fallen, Widerspruch, Berufung einzulegen. Oder mehr noch, es scheint, daß die schwer zu fassende Vergangenheit ihr auf den Fersen bleibt, „keeps knocking at the door until it is admitted“

„Happy people have no stories“, pflegt Louise Bourgeois zu sagen. Louise Bourgeois’ Vater predigte unerschütterlich das Ideal der ehelichen Liebe und betrog dabei offen seine Frau, machte die Englischlehrerin Sadie, die dem Mädchen Louise Sprachunterricht erteilte, zu seiner Geliebten und ließ sie während zehn Jahren mit der Familie unter einem Dach leben. Im Frankreich jener Jahre war diese sexuelle Doppelmoral an der Tagesordnung und absolut üblich, Scheidung so gut wie unbekannt. Es war nichts Ungewöhnliches, daß eine Ehefrau die Gegenwart der Geliebten ihres Mannes duldete. Louise Bourgeois fühlte sich folglich nicht nur vom Vater, sondern auch von ihrer Mutter betrogen. Darüber hinaus war ihr Vater ein autoritärer Patriarch, der es anscheinend genoß, seine Tochter bei jeder sich bietenden Gelegenheit vor anderen lächerlich zu machen und in Verlegenheit zu bringen. Seine Bloßstellungen nahmen die Form von Anschlägen an, die auf ihre sexuelle Identität zielten: „Mein Vater schnitt die Gestalt eines Mädchenkörpers aus einer Mandarinenschale, hielt sie vor allen Leuten hoch und rief: ‚Seht alle her, das ist Louise. Sie hat nichts! Alles, was sie zwischen den Beinen hat, sind ein paar dünne, weiße Fäden!‘ Alle lachten mich aus.“ Louise Bourgeois erinnert sich, daß sie bei einer solchen Gelegenheit auf ein Ritual verfiel, um die ihr angetane Mißachtung und Schmach seitens des Vaters auszugleichen. „Während die Familie beim Essen zusammensaß, formte ich heimlich den Körper meines Vaters aus Weißbrotkrumen, die ich wie Lehm mit Speichel vermischte. Als die Figur fertig war, begann ich dann, ihre Glieder mit einem Messer einzeln abzuschneiden. Dies sehe ich als meine erste skulpturale Lösung an. Es war im Augenblick das Richtige, und es hat mir geholfen. Es war eine wichtige Erfahrung und hat meinen weiteren Weg bestimmt.“ Indem sie das Problem physisch anging, die Aggression zur Komponente des Plastischen machte, war Louise Bourgeois nun in der Lage, es unter Kontrolle zu bringen. Das Environment The Destruction of the Father (1974) nimmt dieses Trauma der Vergangenheit wieder auf, wiederholt noch einmal die ursprüngliche Lösung.

Louise Bourgeois’ Werk operiert mit den Emotionen, die von Aggression, Leidenschaft und Verzweiflung entfesselt werden. Es agiert in einem unbarmherzigen

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Zustand der Rohheit. Zugleich geht von den Skulpturen eine spezifische, fassungslose, seltsam betäubte Euphorie aus.

„A sculpture has to stand.“ Was auch immer geschieht, ihre Skulpturen fallen nicht. Mehr noch, sie monumentalisieren seelische Verletzungen, zeigen, wie machtvoll und grausam sie auf die Menschen wirken. Auf diese Weise kann eine „inoffizielle“ Krönung einer heruntergekommenen Größe stattfinden und ihr nie gekannte Würde verleihen.

Konstruktionen für den freien Fall zu entwerfen, das bedeutet, die Einwände und Widerstände beiseite zu räumen, die den freien Fall behindern könnten, um seinen Verlauf zu beobachten. Es bedeutet auch, der Sehnsucht nach Erleichterung und Auflösung nachzugeben. Der „freie Fall“ läßt als Ergebnis allenfalls eine Kunstfigur entstehen, eine Negativform, die zu betrachten und zu studieren ist. …

Für Louise Bourgeois ist die Skulptur, wie die Liebe oder das Geschlecht, eine Erfindung zur Selbstbehauptung, ein Versuch, Methoden und Instrumente zu entwickeln, „to prove that you are“ „Ein wildes Verlangen nach Unabhängigkeit ist in meinem gesamten Werk präsent. Es findet sich in allen Figuren... eine Entschlossenheit zu überleben, wie brüchig auch immer die Ebene ist, auf der einem das gelingt.“

Louise!Bourgeois.!Konstruktionen!für!den!freien!Fall!von!Christiane!Meyer Thoss!(Textauszüge)

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Viele bewundern das Schockierende an Ihrem Werk und in Ihren Äußerungen. Ihre Art, Erinnerungen preiszugeben, der bekenntnishafte Ton und die Direktheit, ist Ihnen das nicht manchmal peinlich?

Ich will nicht schockieren, ich will genau sein. …

Ich habe bei Ihren Arbeiten immer ein Gefühl von Dialog. Es ist, als würde Ihren Skulpturen eine eigene, reale Persönlichkeit innewohnen: sie sind beseelt. Und einige Ihrer Werke scheinen tatsächlich wie szenische Schauplätze zu sein, die nach menschlicher Mitwirkung verlangen, indem sie die Spannung der Gegenwart des Anderen voraussetzen. Ich glaube, Sie haben sie manchmal tatsächlich lebendig werden lassen, in Performance ähnlichen Environments.

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CM
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CM

Lieben Sie Ihre Skulpturen länger als drei Minuten? Was empfinden Sie für sie?

LB Meine Liebe zur Bildhauerei hört niemals auf, denn die Bildhauerei ist das einzige, was mich wirklich herausfordert. Doch genügt das auch wiederum nicht. Denn wenn ich heute ausgedrückt habe, was ich darstellen wollte, gut, es ist eine Minute lang wahr und gültig, doch dann muß ich mich wieder beweisen. Also fange ich mit einer neuen Arbeit an.

Weil ich mich so tief auf meine Skulpturen einlasse, sind sie für mich irgendwie heilig. Ich übertrage meinen Mutterinstinkt auf sie, und der ist sehr stark. Ich würde sie niemals zerstören. Aber habe ich sie einmal gemacht, kümmern sie mich eigentlich nicht mehr groß. Trotzdem würde ich es nie zulassen, daß sie zerstört oder zertrümmert würden. Ich sorge für sie.

CM

Don Juan, Verführung, Mütterlichkeit: noch einmal, wenn Sie über Ihre Arbeit sprechen, dann häufig in Begriffen, die sich auf Körperlichkeit, Sexualität beziehen; menschliche Beziehungen spielen eine große Rolle.

LB Mit Empfindungen geht stets eine physische Reaktion einher –Herzschlag, Atem, Schweiß. Der Körper nimmt immer teil. Vor einiger Zeit habe ich eines meiner frühen Objekte betrachtet, das ich lange nicht gesehen hatte. Das emotionale Zittern und Beben, das ich empfunden hatte, als ich daran gearbeitet habe, stellte sich sofort wieder ein. Die Magie liegt in der Identifikation des Künstlers mit der eigenen Arbeit, und diese Magie überträgt sich dann auch auf andere. Kunst zu schaffen heißt, im Zustand eines Verlangens zu erwachen, eines Verlangens danach, seinen Ärger, seine Wut loszuwerden. Es ist kein lineares Voranschreiten: es ist wie bei einer Uhr. Jeden Tag, zu einer ganz bestimmten Stunde, stellt es sich wieder ein. Es ist ein bestimmter Rhythmus, der täglich wiederkehrt. Und es ist heilsam, Kunst zu machen. Wenn man unter Spannung steht, verschwindet diese auf dramatische Weise. Kunst hervorzubringen verschafft dir aber auch Einsicht in die Quellen, aus denen die Zwänge entstehen. Aus einem unbekannten Grund baut sich Spannung auf, doch kann man der Sache auf den Grund gehen. Denken Sie an einen Dampfkochtopf, bei dem sich das Ventil öffnet und Dampf freisetzt, oder an das Nachlassen einer sexuellen Spannung. Solch ein Verlangen, wie auch das Verlangen nach etwas Eßbarem, löst sich vielleicht, wenn

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man versteht, worin seine eigentliche Bedeutung liegt. Können Sie zum Beispiel auf Schokolade verzichten? Vielleicht ist der Wunsch nach Schokolade mit der Erinnerung an einen Kuß verknüpft, den man nicht bekommen hat; das Verlangen wurde nicht befriedigt, und man verspürt immer noch einen schmerzlichen Mangel. Kunst ist das Privileg, in das Verlangen Einsicht zu nehmen. Das Verlangen wird nicht kuriert, aber es wird ausgelebt, es darf gewähren, und man versteht es bis zu einem gewissen Grad.

In meiner Arbeit sehe ich die Dinge vom Standpunkt des Verführers. Die Tatsache, daß ich ohne mein Zutun verführerisch wirken könnte, kommt mir überhaupt nicht in den Sinn; ich bin es, die auf der Jagd ist und aktiv versucht, jemanden zu verführen. Natürlich ist diese Anstrengung immer wieder vergebens, doch findet sie immer wieder von neuem statt. Ich bin zugleich der unglückliche wie der unermüdliche Verführer. An die Tatsache, daß ich jemand anderem als verlockend erscheinen könnte, denke ich nicht mal.

CM

In dieser Beziehung sind Sie also immer der aktive Part.

LB Das Leben selbst ist eine Bewegung von passiv zu aktiv. Man überlebt immer nur aufgrund des eigenen Willens. Ich bin nicht das Opfer, der andere ist es. Ich bleibe am Leben. Ich verachte Opfer; ich lehne es ab, mich in diese Rolle drängen zu lassen, doch muß ich zugeben, daß ich die Spielregeln nicht recht kenne.

CM Sprechen wir doch einmal von einem konkreten Werk. Ich habe Ihre Arbeit Rabbit (Abb. S. 30) aus dem Jahre 1970 immer als Selbstportrait verstanden. Wie spiegelt sich in dieser Arbeit Ihre Zurückweisung der Rolle als Opfer?

LB Viele Arbeiten setzen in einem passiven Stadium ein. In einer reglosen Haltung zu verharren bedeutet, im Chaos zu hausen. Mit dem Chaos muß man fertig werden, man muß Ordnung hineinbringen. Wenn man aktiv ist, organisiert man eine Ordnung. Man fühlt sich besser, fühlt sich sicher.

Ich habe damals an einer kleinen Skulptur von etwa fünfunddreißig Zentimetern Höhe gearbeitet. Sie hockte mitten auf dem Tisch. Ich wurde unruhig, bekam immer schlimmere Angstzustände. Es waren physische Qualen, und doch steckten sie tief in der Skulptur.

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Was mit ihr nicht stimmte, stimmte auch mit mir nicht. Würde ich herausfinden, was bei der Skulptur nicht funktionierte, hätte ich Klarheit über mich selbst. Um diese Verschiebung von der Skulptur auf den Menschen zu bewirken, muß man sich sehr gelöst fühlen, sehr empfänglich, sehr ergeben. Es kam mir in den Sinn, daß die Skulptur nichts hatte, worauf sie stehen konnte, es fehlte ihr ein Bezug zum Boden. Eine Hälfte ihres Daseins war durch den Tisch abgeschnitten. Ich hatte das Gefühl, daß man mich selbst in zwei Hälften zerschneiden könnte. Da war diese gewaltige, intensive Identifikation mit der Skulptur. Ich fühlte mich entzweigeschnitten. Ich hatte die Vision einer Karyatide oder einer zweigeteilten Frau, dachte an das Hackmesser in der Küche und an die Angst vor dem Messer, das mich entzweischneiden würde. Ich identifizierte mich mit einem Tier, das ich in den Kochtopf stecke. Um die Taille empfand ich solch eine Spannung und erlebte wieder diese Angst, wie sie kleine Kinder haben. Doch ich hielt an dem Gedanken fest: „Du bist keine Karyatide, du bist kein Tier, du bist nicht passiv. Du bist aktiv. Laß das nicht mit dir geschehen. Füg es einem anderen zu.“ Da ließ der innere Druck nach. Ich gab der Skulptur einen neuen Aufbau, und zwar vom Boden her.

Dazu möchte ich bemerken, daß das sehr anstrengend ist. Die Qualität und Unmenge von Energie, die es kostet, das Unbewußte ins Bewußtsein zu heben, ist ungeheuerlich. Das ist wie beim Geschlechtsakt: er erschöpft einen, doch am Ende findet man Frieden und ist furchtbar müde. Übrigens können Leute, die gleich danach reden, keine wirkliche Erfahrung dabei gemacht haben. Sie haben nichts erlebt oder konnten nichts erleben. Hätten sie eine wirkliche Befreiung empfunden, wären sie erschöpft und würden nicht intellektuell herumtheoretisieren.

Der Text des vorliegenden Interviews ist eine redigierte, autorisierte Fassung von Gesprächen, die während der Jahre 1986 und 1989 in NewYork geführt wurden.

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Aus dem Amerikanischen von Jörg Trobitius

Standpunkte

Ich brauche meine Erinnerungen. Sie sind meine Dokumente. Ich wache über sie. Sie bilden meine Intimsphäre, und ich hüte sie eifersüchtig. Cézanne sagte einmal: „Ich hüte eifersüchtig meine kleinen ‚sensations‘.“

In Erinnerungen zu schwelgen und Tagträumereien nachzuhängen bringt nichts ein. Man muß zwischen den Erinnerungen unterscheiden. Wendest du dich ihnen zu, oder kommen sie zu dir? Wenn du dich ihnen zuwendest, verschwendest du Zeit. Nostalgie ist unproduktiv. Kommen sie zu dir, sind sie der Keim einer Skulptur.

Mein Vater provozierte bei mir einen ständigen Verlust an Selbstachtung. Meine Mutter zeigte Selbstvertrauen. „Kümmere dich nicht darum, du weißt, wie die Männer sind. Man gibt ihnen recht, hält sie bei Laune; Männer sind wie Kinder.“ Sie überzeugte mich. Es war ihre Form von Feminismus. 49

Wenn jemand Künstler ist, garantiert schon das seine Vernunft. Er ist in der Lage, seine Qual durchzustehen.

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Selbstausdruck ist heilig und verhängnisvoll
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Selbstausdruck ist heilig und verhängnisvoll. Er ist eine Notwendigkeit. Sublimierung ist eine Gabe, ein Glücksfall. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.

Mit meiner Skulptur sage ich in der Gegenwart, was ich in der Vergangenheit nicht herausfinden konnte. Es war Angst, die mir ein Verstehen unmöglich machte. Angst ist die Hölle. Sie lähmt einen. Durch meine Bildhauerei bin ich imstande, diese Angst wiederzuerleben, ihr eine physische Gestalt zu verleihen, auf die ich einschlagen kann. Die Angst wird zu einer handhabbaren Realität. Durch eine Skulptur kann ich die Vergangenheit noch einmal erleben, die Vergangenheit in ihren objektiven, realistischen Proportionen erkennen. Angst ist ein passiver Zustand. Ziel ist, aktiv zu werden und die Kontrolle zu übernehmen. Die Bewegung geht vom Passiven zum Aktiven. Gelingt es einem nicht, die Vergangenheit in der Gegenwart aufzuheben, zu negieren, lebt man nicht wirklich. Man durchläuft seine Emotionen wie ein Zombie und verpaßt dabei das Leben. Da die Ängste der Vergangenheit mit Körperfunktionen verknüpft waren, erscheinen sie auch wieder durch den Körper. Für mich ist die Skulptur der Körper. Mein Körper ist meine Skulptur.

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Kunst ist ein Opfer des Lebens selbst. Der Künstler opfert sein Leben der Kunst, nicht weil er dies will, sondern weil ihm nichts anderes übrigbleibt. …

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Ein Thema kommt direkt aus dem Unbewußten. Die formale Vollendung ist dabei der wichtige Teil und wird äußerst bewußt angegangen. Die Form muß absolut streng und rein sein.

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Am liebsten möchte ich mich verstecken und das Objekt selbst sprechen lassen. Meine Arbeiten sollen von meiner Gegenwart unabhängig sein, sie müssen noch lange nach mir bestehen. Auch abseits von den Menschen und der Geschichte sollen die Skulpturen ihre Bedeutung behalten. Sie müssen einen inhärenten Wert besitzen, andernfalls sind sie mißglückt.

Aus dem Amerikanischen von Hans Jürgen Balmes

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Designing for Free Fall

Louise Bourgeois’s studio in Brooklyn, NewYork, was once a garment factory.The factory’s light system has never been replaced: each seam- stress had her own fluorescent bulb, and a pull-chain hangs over each place where a sewing machine once stood.These electrical relics give Bourgeois the ability to adjust the vast space at will, and to yield to it, dividing it into independent regions delineated by shifting, substance- less islands of light. Bourgeois believes she only learned to use the huge room when it occurred to her to break it down this way. She feels that she has absolute dominion over the place. Let there be light, she is able to say with the pull of a chain. Or, with another tug of the chain, Let there be darkness. Animated by the studio’s mutable visual space, the sculptures that have accumulated over the years have their own life. In the perfect isolation of the studio, relationships among them are more uninhibited; Bourgeois wants these relationships to run rampant. Only such solitude will enable them to touch each other fleetingly and with no ulterior motives. With every change of light, affinities realign in the wild disarray.

I found Bourgeois’s studio to be a labyrinthine garden, an organic yet orchestrated wilderness riddled with escape routes. Every morning at the same time, Bourgeois enters her space, her forgotten sky, and makes the rounds, rearranging as she goes the stacks and assemblages of ribbons, wooden blocks, metal tubing. As time passes, she wears paths through the studio like those that animals make to flee through underbrush. After a while, these escape routes, as changeable as the light, show where Bourgeois is going. She is only interested in fresh trails.

The density of Bourgeois’s sculptures in her studio has an overpowering impact. They are of daring finality; their serenity is imperious. They seem to have escaped natural

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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“Things need us homeless ones in order to have a home somewhere.”
Ingeborg Bachmann
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catastrophes, devasta- tion. They seem to know about the fatal consequences of emotional involvement; they embody the quest for laws that will govern spiritual imponderables.

Often there is a sense of personal history, of undergoing once again the fragments of the past. The work is about survival, about starting from scratch every day; each new sculpture is an overcoming, a “liquidation of the past.” This does not mean that she suppresses or excises history, but rather that she exhausts and dissolves the past in the forward thrust of her own life. Louise Bourgeois turns to the past only to interrupt, contradict, and oppose herself in the process. Or rather, it’s the elusive past that turns to her, “keeps knocking at the door until it is admitted.”

“Happy people have no stories,” she likes to say. Bourgeois’s father, who liked to hold forth on the virtues of conjugal love, openly betrayed his wife, making Louise’s childhood English tutor his mistress and keeping her under the same roof with the family for ten years. A sexual double-standard was common in France in those times, when divorce was almost unknown. It was not unusual for a wife to suffer the presence of her husband’s mistress. The consequence for Bourgeois was that she felt betrayed by both her father and her mother. Furthermore, her father was a macho, domineering man who seems to have enjoyed belittling and embarrassing his daughter, especially in front of an audience. His subterfuges took the form of assaults on her sexual identity: “My father cut the shape of a girl out of a tangerine peel, and then he held it up and said,‘Look everybody, this is Louise. She has nothing! All she’s got between her legs is a couple of white threads!’ Everybody laughed at me.” Bourgeois recalls a rite that she enacted to compensate for the contempt and shame her father caused her. “Once when we were sitting together at the dining table, I took white bread, mixed it with spit, and molded a figure of my father.When the figure was done, I started cutting off the limbs with a knife. I see this as my first sculptural solution. It was right for the moment, and it helped me. It was an important experience and certainly determined my future direction.” By making the problem physical, Bourgeois was now able to deal with it and control it. The Destruction of the Father (1974) reenacts this trauma of the past and her original solution.

Louise Bourgeois’s work operates through the emotions of aggression, suffering, despair. It is in a relentless state of rawness. Yet at the same time, the sculptures characteristically impart a stunned euphoria.

“A sculpture has to stand,” Bourgeois says. No matter what, her sculptures do not fall. In fact, they monumentalize spiritual injuries; they show how mighty and cruel is their effect on us. A state of degeneration thus rises to crowning heights and is informed with untold dignity.

Designing for Free Fall means clearing away whatever resists it, then looking at the results. It means addiction to relief and dissolution. At most, free fall results in an artificial

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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figure, a negative shape to be examined and studied.

Sculpture, like sex or love, is an affirmation, an attempt to devise methods and instruments “to prove that you are.” “A ferocious desire for independence is present in all the work. It is in all the figures. . . a determination to exist at whatever fragile level you can achieve.”

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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Material

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American version by Catherine Schelbert

Many people admire the shocking quality of your work and your voice. Are you embarrassed by the character of your recollection, its confessional tone and bluntness?

I want to be accurate, not shocking. CM

I always have that feeling of dialogue in your work. It’s as if your sculptures were filled with a real interior personality: they are ensouled. And some of your pieces actually seem like sets demanding human action, implying the tension of the other’s presence. I believe that you have in fact animated them sometimes, in performance-like works.

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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CM

And do you love your sculptures for longer than three minutes? What is your feeling for them?

LB I love sculpture eternally, because sculpture is the only thing that challenges me. But it is also not enough. If I have expressed today what I wanted to express, good, it’s true for a minute, but then I have to prove myself again. So I start a new one.

Because I have been involved so deeply in my sculptures, they are kind of sacred to me. I have transferred my maternal instinct, which is very strong, to them. I would never destroy them. But on the other hand, once I’ve made them, I don’t care for them any more. My feeling for them is that I wouldn’t let them be destroyed or broken. I take care of them.

CM

Don Juan, seduction, maternity: again, when you talk about your work, you often use the language of the body, of sexuality, of human relationships.

LB With the emotions there is always the physical reaction – the heartbeat, breathing, perspiration. The body always takes part. A while ago I was looking at an early sculpture that I hadn’t seen in a long time. The trembling emotions that I felt when I made it came right back. The magic is in the artist’s own identification with the work, and that magic brings it back to other people.

To make art is to wake up in a state of craving, a craving to discharge resentment, rage. It’s not a linear progression; it goes like a clock; every day, when you reach a certain spot on the clock, it recurs. It’s a certain rhythm occurring every day. And the making of art has a curative effect. A tension you are under disappears, dramatically. The making of art is an insight into the source of compulsion, a relief and a deflation of compulsion. Tension builds for an unknown reason, and yet it can be explored. Think of the top coming off a pressure cooker, and the steam releasing; or of the relief of sexual tension. Cravings like this, or like the craving for food, may be solved by understanding what they mean. Can you do without chocolate, for example? Perhaps the craving for chocolate is tied to a recollection of a kiss you did not get; the craving was not satisfied, and you feel the painful emotion. Art is the privilege of insight into craving. The craving is not cured, but it is acted out, indulged, and in some way understood.

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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In my work, I see from the point of view of the seducer. The fact that I might be passively seductive doesn’t even enter my mind; I am the hunter who actively tries to seduce someone else. Of course, this effort is eternally in vain, but also eternally repeated. I am both the unfortunate seducer and the indefatigable seducer. The fact that I might appear seductive to someone else doesn’t even occur to me.

CM

In this relationship, you are always the active one.

LB The move from the passive to active is life itself. It means survival through your own will. I am not the victim, the other is. I am alive. I despise victims; I refuse to be cast as a victim, even if I admit that I don’t know how to play the game.

CM

Let’s take a specific sculpture. I have always thought of your piece Rabbit (Ill. p. 30) as a self-portrait. How does that work reflect your rejection of the role of victim?

LB Many works begin with a passive role. To be in a passive role is to inhabit chaos. The chaos has to be dealt with and put into order. If you are active you organize order. You feel better and safe. I was working on a small sculpture about 15 inches high. It was sitting in the center of the table. I became uneasy, progressively anxious, terrified. The pain was physical, and yet it was so deep within the sculpture. What was wrong with the sculpture was what was wrong with me. Knowing what was wrong with the sculpture would enlighten me. To effectuate this shift from the sculpture to the person, you have to feel very loose, very accepting very humble. What crept into my mind was that the sculpture had nothing to stand on, no relation to the floor. One half of its being was cut off by the table. I had this feeling that I might be cut in half myself. There was this terrific, intense identification with the sculpture. I felt cut in two. I visualized the caryatid or a woman cut in two. I thought of the kitchen cleaver, and of the fear of the cleaver, which would cut me in half. I had an identification with an animal I put into the cooking pot. I had this tension around my waist and I relived this fear of a little child. But I kept thinking, “You’re not a caryatid, you’re not an animal, you’re not passive. You’re active. Don’t let this happen to you. Just do it to someone else.” The compulsion subsided. I rebuilt the sculpture from the floor up. I will add that this kind of experience is very tiring. The quality

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

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and amount of energy it takes to go from the unconscious to the conscious is enormous. It’s like the sexual act: it’s exhausting, yet at the end you are at peace, and completely tired. People who talk after the sexual act, by the way, have not really had an experience. They did not or could not take part in the experience. If they had had a release, they would be tired instead of intellectualizing.

This interview is an edited version of conversations that took place between 1986 and 1989 in New York.

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Self-Expression Is Sacred and Fatal Statements

I need my memories.They are my documents. I keep watch over them. They are my privacy and I am intensely jealous of them. Cézanne said, “I am jealous of my little sensations.”

To reminisce and woolgather is negative.You have to differentiate between memories. Are you going to them or are they coming to you. If you are going to them, you are wasting time. Nostalgia is not productive. If they come to you, they are the seeds for sculpture. …

My father provoked in me a continual loss of self-esteem. My mother represented self-confidence. “Don’t bother, you know how men are. You agree with them, humor them; men are like children.” She convinced me. It was her form of feminism.

If a person is an artist, it is a guarantee of sanity. He is able to take his torment.

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts) copyright: INK PRESS – public use only with permission – www.ink-press.ch

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Self-expression is sacred and fatal. It’s a necessity. Sublimation is a gift, a stroke of luck. One has nothing to do with the other.

I am saying in my sculpture today what I could not make out in the past. It was fear that kept me from understanding. Fear is the pits. It paralyzes you.

My sculpture allows me to re-experience the fear, to give it a physicality so I am able to hack away at it. Fear becomes a manageable reality. Sculpture allows me to re-experience the past, to see the past in its objective, realistic proportion.

Fear is a passive state. The goal is to be active and take control. The move is from the passive to the active. If the past is not negated in the present, you do not live. You go through the emotions like a zombie, and life passes you by.

Since the fears of the past were connected with the functions of the body, they reappear through the body. For me, sculpture is the body. My body is my sculpture.

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Art is a sacrifice of life itself. The artist sacrifies life to art not because he wants to but because he cannot do anything else.

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The subject comes directly from the unconscious. The formal perfection is the important part and very conscious. The form has to be absolutely strict and pure.

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I want to hide and have the object define itself. I don’t want my objects to depend on my presence. The sculptures have to last long after me. They have to have a value outside of people, outside of history. They have to have an intrinsic value, otherwise they are not successful.

Louise Bourgeois. Designing for Free Fall by Christiane Meyer-Thoss (Extracts)

copyright: INK PRESS – public use only with permission – www.ink-press.ch

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