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Spuren legen und Fährten lesen

Der Philosoph Peter Natter nimmt sich im Bregenzerwald ein Buch vor und liest es mit Blick auf seine unmittelbare Umgebung. Diesmal: „Tage des Lesens“ von Marcel Proust

Eigentlich fängt jeden Tag ein neues Jahr an. So kann jeder Tag einer des Durchstartens werden, ein Anfang für neue Projekte und ein Anlass für die berühmten guten Vorsätze, oder gleich für ganz konkrete, mehr oder weniger einschneidende Vorhaben. Etwa das, den Koloss „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ des Jahrhundertautors Marcel Proust (1871–1922) ein weiteres Mal zu lesen. Dieser Plan begleitet, nein: führt mich zu Jahresbeginn in mein Großdorfer Refugium, an einen bevorzugten Ort meiner Kindheit und, wie es ausschaut, meines Alters, wo die Umsetzung mit einer intensiven Phase des Einlesens starten wird. Um in Schwung zu kommen, fange ich mit einem der Vor-Texte Prousts an: „Tage des Lesens“.

Das ist noch nicht das ganz große Werk dieses Autors, aber es ist bereits Teil der Suche nach der verlorenen Zeit. Es ist im buchstäblichen und im übertragenen Sinn ein Vorwort. 1905 erstmals publiziert, sind die Gedanken von „Journées de lecture“ ein Plädoyer in eigener Sache. Es geht um die Frage, was aus dem Umgang mit Literatur, also aus dem Lesen, entstehen kann. Im Idealfall entsteht daraus wiederum Literatur, was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als dass das Lesen ins Schreiben mündet. Tatsächlich gibt es praktisch kein Schreiben, das nicht aus dem Lesen käme, aus dem Lesen und aus dem Vorlesen. Das Schreiben will ich dabei großzügig verstanden wissen, als Zeichensetzung, als Hinterlegung und Fixierung einer Nachricht, einer Botschaft, mehr noch: als Werk, genauer: als Lebenswerk.

In seinem Buch erinnert sich Proust an Bücher und ans Lesen in seinem quasi fiktiven Kindheitsparadies Combray: „Es gibt vielleicht keine Tage unserer Kindheit, die wir so voll erlebt haben wie jene, die wir glaubten verstreichen zu lassen, ohne sie zu erleben, jene nämlich, die wir mit einem Lieblingsbuch verbracht haben.“ Einmal abgesehen davon, dass es meistens die anderen waren, die glaubten, wir gingen am wirklichen Leben vorbei, da wir diese Tage nur mit Lesen verbrachten. „Werch ein Illtum!“, möchte man da mit dem Dichter Ernst Jandl ausrufen.

Es geht nicht darum, das Lesen mit falschen Funktionen zu überfrachten: „Das Lesen liegt an der Schwelle des geistigen Lebens; es kann uns darin einführen, aber es ist nicht dieses Leben.“ Das geistige Leben ist das Leben der Fantasie, der Imagination, der unendlichen Möglichkeiten angesichts der einen Wirklichkeit. So merke ich, wie es mich immer wieder in dieses Ecklein der Welt zieht, dieses kleine Stück Wirklichkeit im Bregenzerwald, weil es die Macht hat, mich mit all den Möglichkeiten der großen weiten Welt zu versöhnen. Ich muss mir nicht einreden, hier sei es am schönsten und nichts käme diesem Ort gleich. Ich mache mir nichts vor, ich bin einfach ich und da (und Amen!).

Lesen: Ein neuerdings vielfach beklagtes Phänomen, jenes der Einsamkeit bzw. Vereinsamung in der globalisierten, vernetzten, entzauberten, säkularisierten, banalisierten Welt der modernen Kommunikationswege und -medien, kann nicht diskutiert werden ohne den Rückgriff auf das Lesen und ohne Berücksichtigung der Prägungen, die von der Kindheit ausgehen, sofern sie nicht fatalerweise ausbleiben, aufgelöst in die reinen Luftzeichen virtualisierten Tuns, eines Spielens zum Beispiel, das keine Erinnerungen und keine Spuren hinterlässt (höchstens von irgendwem in irgendeiner Wolke gespeicherte Daten), also Leere erzeugt.

Ich habe den ersten Band von Marcel Prousts Hauptwerk mitgenommen ins Großdorf: „In Swanns Welt“, „Du côté de chez Swann“. Die Welt des vornehmen, kunstsinnigen Monsieur Swann ist auch die Kindheitswelt des Erzählers. Combray ist ein kleines Provinzstädtchen 100 Kilometer südlich oder südwestlich von Paris. Für den Marcel des Romans ist Combray das, was das

Großdorf, das Siebaner Hüsle für mich ist: ein verlorenes, mithin ein wahres Paradies.

Soeben komme ich von einem längeren Spaziergang ins Subersachtal zurück, über Alois Negrellis Gschwendtobelbrücke nach Lingenau und in weitem Bogen retour. Wie wäre es anzustellen gewesen, habe ich mich unterwegs gefragt, den großen Proust hierher zu lotsen, den Stadtmenschen aus der Weltmetropole Paris, den höchstens exklusive normannische Seebäder mit ihren Grand Hotels und Casinos oder der Luxus und die Kunstschätze von Venedig aus seiner Schreibklause gelockt haben. Wie wäre es ihm, dem auf den ersten Blick mondänen Salonmenschen, schmackhaft zu machen gewesen? „Marcel“, hätte ich zu ihm gesagt, denn natürlich

wären wir nach dreißig Jahren des Austauschs per Du gewesen, „viens, ici tu seras toi, Marcel“: „Komm her, Marcel, hier wirst du sein, der du bist.“ Ob ihn das überzeugt hätte? Natürlich, denn das war sein großes Projekt, das schließlich in die gut 5.000 Romanseiten mündete: ganz zu werden, das Flüchtige fliehen zu lassen und das Essenzielle zu fassen. Nach St. Moritz ist er ja auch gereist, um in abgelegenen Berghütten kryptische Botschaften ins Gästebuch zu kritzeln.

Es ist nicht zwingend, mit einem solchen Buch, mit einem solchen Plan (ganz zu werden), in den Bregenzerwald zu fahren, aber es ist logisch: la logique du coeur, die Logik des Herzens, wie dieses Werkzeug der Selbstwerdung bei Blaise Pascal heißt. Dieser Logik folgend, bin ich heute auf

Vorsäß Klausberg in Schwarzenberg

einem Weg gewandert, den ich bislang, obwohl naheliegend und einladend, noch nie genommen habe. Jetzt habe ich das Gefühl, ich selbst bin dieser Weg, so logisch hat er sich angeboten. In meiner Kindheitswelt Bregenzerwald widerfährt mir immer wieder dieses Zeichen: Selbst das zu sein, was zuerst nur wie irgendeine Sache, eine beliebige Möglichkeit, ein äußerliches Faktum ausschaut. Wie schildert Proust seinen Helden, nachdem dieser beim Lesen eingeschlafen ist: „Im Schlaf hatte ich unaufhörlich über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte: eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz I. und Karl V.“ Der Bregenzerwald, c´est moi.

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