Moderne Aufbruch in die
Thomas Dausgaard & Bruckner Orchester Linz
Dänemarks Aufbruch in die Moderne
Mittwoch, 15. Februar 2023, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Saison 2022/23 – Das Große Abonnement VI
6. von 10 Konzerten im Abonnement
Programm
Rued Langgaard (1893–1952)
Sinfonie Nr. 6 in einem Satz über ein Motiv (Das Himmelreißende), BVN 165 (1919–20, rev. 1928–30, 1944–46)
Thema (Versione I). Corrosif miserable religieux –
Thema (Versione II). Corrosif – Maestoso – Movibile religioso –Variation I (Introduzione). Allegro non troppo –Variation II (Fuga). Frenetico marziale (Tutta la forza). Corrosif –Variation III (Toccata). Poco a poco furioso mosso –Variation IV (Sonata). Maestoso frenetico – Movibile magnifica- mente – Più furioso – Magnificamente – Frenetico, poco a poco allegro furioso – Completo furioso. Prestissimo – Variation V (Coda). Corrosif religieux – Glorificazione
Carl Nielsen (1865–1931)
Konzert für Klarinette und Orchester, op. 57 (1928)
Allegretto un poco – Allegro non troppo – Tempo I –
Poco adagio – Allegro non troppo – Adagio –
Allegro vivace – Poco adagio – Tempo I
– Pause –
Upaaagtede Morgenstjerner (Unbeachtete Morgensterne)
für Streichorchester, II. Satz aus: Sinfonie Nr. 14 für Chor und Orchester, BVN 336 (1947–48)
Carl Nielsen
Sinfonie Nr. 4 (Das Unauslöschliche), op. 29 (1914–16)
I Allegro –
II Poco allegretto –
III Poco adagio quasi andante –
IV Allegro – Tempo giusto
Konzertende ca. 21:45
Besetzung
Pablo Barragán | Klarinette
Bruckner Orchester Linz
Thomas Dausgaard | Dirigent
Ungleiche Kontrahenten
„CARL NIELSEN, UNSER GROSSER KOMPONIST“
Das Verhältnis zwischen Carl Nielsen und Rued Langgaard, zweier fraglos herausragender Komponisten am Übergang zwischen Romantik und Moderne, hätte ambivalenter kaum sein können: Für Langgaard war der um eine Generation ältere Nielsen Projektionsfläche, verhasstes Aushängeschild einer ,modernistischen‘ Kunstauffassung ebenso wie verehrtes Idol, an dessen exzeptioneller Stellung als „Nationalkomponist“ Dänemarks er sich zeitlebens vergebens abarbeitete. 1948 etwa, Nielsen war bereits seit 16 Jahren tot, komponierte der 55-Jährige ein chorsinfonisches Werk mit dem sarkastischen Titel Carl Nielsen, vor store komponist (Carl Nielsen, unser großer Komponist). Im Vorwort des „der Musikwelt in Dänemark“ gewidmeten Stücks, das er mit der – freilich vergeblichen – Bitte um eine Aufführung an die staatliche Rundfunkanstalt Statsradiofonien schickte, verlieh der Komponist seiner Verzweiflung Ausdruck, sein Leben lang die von Nielsen ,infizierte‘ Luft Dänemarks geatmet haben zu müssen. Der Umfang des Werks: lediglich 32 Takte; der Text: ausschließlich die Worte „Carl Nielsen, unser großer Komponist“; die Spielanweisungen: „Mit Gewalt und Kraft“ – „Der Pauker soll die Schlägel hoch in die Luft heben und auf die Pauke schlagen“ – „Der Posaunist soll sich nach hinten beugen“ – „Soli – aufstehen!“; über dem letzten Takt die Anmerkung: „Wiederholen bis in alle Ewigkeit“
Und Nielsen? Er kannte Langgaards Werke, schätzte manche, kritisierte andere und scheint darüber hinaus nur wenig Notiz von seinem energischen Kontrahenten genommen zu haben. Exemplarisch seien an dieser Stelle sämtliche Passagen der 12-bändigen Briefausgabe Nielsens aufgeführt, in denen Langgaards Name erwähnt wird:
LANGGAARD, DER HIMMELREISSENDE
Fraglos: Rued Langgaard, geboren 1893 in Kopenhagen, war ein Einzelgänger, ein Exzentriker, der in seinem künstlerischen Idealismus und musikalischen Individualismus schon früh in Opposition zum Status quo, dem der staatlichen Kulturinstitutionen ebenso wie dem namhafter Kollegen, trat. Und dennoch ist das allen voran durch die posthume Wiederentdeckung geprägte Bild des „ekstatischen Außenseiter[s]“, wie der Musikwissenschaftler Bo Wallner den Komponisten 1968 in seinem Buch über Neue Musik im Norden nannte, ein allzu einseitiges: Zumindest bis Ende der 1920er-Jahre wurden Langgaards Werke regelmäßig gespielt und dabei – neben teils harscher Kritik – zumeist positiv aufgenommen. Der fruchtbarsten Periode seines Schaffens, in der sich Langgaard intensiv mit der Musik Nielsens auseinandersetzte und zugleich versuchte, eigene sinfonische Wege zu beschreiten, entstammt die Sinfonie Nr. 6 in einem Satz über ein Motiv BVN 165. Die Idee hierzu kam ihm, wie er im Manuskript vermerkte, am „3. Sept. 1919 auf der Kvaesthus-Brücke [am Kopenhagener Hafen] im Gedanken an den Frühling 1894“, an eine Zeit also, als er noch nicht einmal ein Jahr alt gewesen war. Im regelrechten Schaffensrausch brachte Langgaard das Werk zwischen dem 14. September und 1. Oktober zu Papier, orchestrierte es bis zum 7. Dezember und schloss die Reinschrift der Partitur am 28. Mai 1920 ab. Erst Knapp drei Jahre später, am 15. Jänner 1923, konnte er die zu diesem Zeitpunkt noch als Nr. 5 gezählte Sinfonie mit dem Badischen Landestheater-Orchester in Karlsruhe, wo zwei Jahre zuvor bereits sein Orchesterwerk Sfinx BVN 37 und seine Sfærernes Musik (Sphärenmusik) erklungen waren, mit großem Erfolg zur Uraufführung bringen. So lobte etwa Anton Rudolph in der Zeitschrift Die Musik:
Den stärksten Eindruck hinterließ die „Sinfonie in einem Satze“ von Rudolf Langgaard, einem jungen dänischen Komponisten.
Er ist eine durchaus aktiv gerichtete Natur, eigenwillig, herb und vor allen Dingen keusch. Ein vertrauenserweckendes Zukunftsbild tat sich auf: Die musikalische Jugend Karlsruhes bereitete dem schönen, charaktervollen, sehr modernen Werk begeisterte Ovationen.
Rued Langgaard, anonyme Fotografie, 1951
Etwas differenzierter wusste die Frankfurter Zeitung zu berichten:
Die Uraufführung der fünften Sinfonie des Dänen Rud Langgaard brachte in unser stillgewordenes Musikleben etwas Abwechslung. Langgaard lebt ganz in der Atonalität, er hat nur noch lose Beziehungen zu ehedem. Aus seinem Werk spricht Geist und Nervenkraft und spricht ein Eigener, der auf festen Füßen steht. Die Zungen, mit denen er zu reden weiß, sprechen in Harmonie, Rhythmik und Takt eine seltsame schwierige Sprache, die nur nach und nach in unserem Ohr Resonanz findet. Langgaard benützt dabei einen großen, komplizierten Apparat, den er stets in voller Bewegung zu halten weiß.
Rud: Langgaards Taufname lautet Rud, ab 1932 nannte er sich jedoch konsequent Rued.
Nr. 6: Inzwischen hatte er ein 1917–20 entstandenes Werk als Sinfonie Nr. 5 betitelt.
Da Langgaard große Teile der Sinfonie in seiner 1921–23 komponierten, zeitlebens jedoch nie auf die Bühne gebrachten Oper Antichrist verwendet hatte, wurde das Werk bei seiner dänischen Erstaufführung am 26. September 1923 im Kopenhagener Odd Fellow Palais mit dem Untertitel „Über Motive aus Antichrist“ angekündigt und rief dabei einen veritablen Skandal hervor, den Frejlif Olsen, passenderweise unter dem Pseudonym „Mefisto“, im Ekstra-Bladet eindrucksvoll beschrieb:
Die Zuhörer fielen von einer Überraschung in die andere, entlang der Stuhlreihen hörte man Kichern, Keuchen, Zähneknirschen, unterdrücktes ,O mein Gott‘ […] die einen stöhnten, die anderen spuckten, eine ältere Dame stürzte und musste hinausgetragen werden und als das Stück endlich zu Ende war, ging ein heftiges Zischen, Zischen, Zischen durch den ganzen Saal, höhnisches Geschrei und Lachanfälle übertönten einen kühlen Applaus.
Von der Zurückweisung seiner Landsleute gleichermaßen enttäuscht und angespornt, begann Langgaard daraufhin, seine Sinfonie zu überarbeiten. Bereits 1924 nahm er kleinere Kürzungen vor, 1925 gab er ihr den Titel Det uforenelige (Das Unversöhnliche) und stellte damit erstmals explizit eine Verbindung zu Nielsens 1916 vollendeter Sinfonie Nr. 4 mit dem Beinamen Det Uudslukkelige (Das Unauslöschliche) her. Anlässlich einer geplanten Aufführung im April 1928 gab Langgaard der nunmehr als Nr. 6 gezählten Sinfonie den Titel Dance macabre (Totentanz) und formulierte ein erklärendes Programm zu seiner Musik:
Ein sanftes, ätherisches Motiv erklingt in der Ewigkeit, tritt in den Kampf des Daseins ein, wird gequält, vergewaltigt, entstellt, windet sich, führt verzweifelt einen endlosen, unglücklichen Kampf wie zwischen Messern und kehrt schließlich blutend und völlig benommen, aber aufrecht (gehärtet) und zielstrebig (geschärft) in die Ewigkeit zurück.
Doch noch immer hatte das Werk seine endgültige Form nicht gefunden. Noch einmal unterzog Langgaard seine Sinfonie in den Jahren
1928–30 einer umfassenden Revision, kürzte und straffte Passagen, schärfte die dynamischen Konturen, erweiterte das Instrumentarium um Harfe, Celesta und vier zusätzliche Trompeten und strukturier te sein Material zu einer Abfolge eines zweimalig vorgestellten Themas mit Variationen. Nachdem er die Partitur zwischenzeitlich mit Disastro (Purgatory) (Katastrophe (Fegefeuer)) überschrieben hatte, tauchte im Zuge einer Aufführung dieser Version am 29. Mai 1935 im Rahmen eines Rundfunkkonzerts des Stockholmer Radioorkestern unter Launy Grøndahl schließlich erstmals der Titel Det Himmelrivende (Das Himmelreißende) auf. Noch zwei weitere Male wurde die „,gefährliche‘ Sinfonie“, so Langgaard in einem Brief an Grøndahl, in Rundfunkkonzerten aufgeführt, ehe der Komponist die Partitur 1944–46 ein weiteres Mal überarbeitete und dabei sogar noch melodische Änderungen am Hauptmotiv vornahm. In dieser Letztfassung kam die Sinfonie Nr. 6 erstmals am 17. März 1949, abermals mit Launy Grøndahl und dem Radioorkestern, zur Aufführung, wobei sich Langgaard abermals veranlasst sah, eine erläuternde Programmnotiz zu verfassen:
Rued Langgaards Sinfonie Nr. 6 „Das Himmelreißende“ [...] schildert den Kampf zwischen Jesus und den „bösen Geistern unter dem Himmel“, von dem Paulus im Brief an die Epheser, 6. Kap., 12ter Vers erzählt, auf den sich das Motto der Sinfonie bezieht. Es ist teils nach [dem dänischen Hymnendichter Hans Adolph] Brorson, teils nach Paulus und lautet wie folgt: „Da griff unser Jesus ein mit Macht und zerriss das reißende Heer im Himmelraum.“
Die Sinfonie, die aus einem Satz besteht, ist streng-konsequent auf einem Motiv aufgebaut, dessen Intervalle sogleich eine Musik ankündigen, die sich gleichzeitig in alle Tonarten einfrisst.
Eine Musik, die durch die strenge Anwendung dieser Intervalle auf alle möglichen Arten allmählich nach moderner Musik klingt, aber sie ist es nicht
Das „Himmelreißende“ als Ausdruck des ewigen Kampfes zwischen Gut und Böse: Nicht erst mit der Wahl dieses Titels war die Sinfonie
für Langgaard zum Schauplatz des eigenen Kampfes um Anerkennung, des Hervortretens aus dem Schatten Nielsens geworden. Man wundert sich daher kaum, auf der Partitur, die er 1944 nach Abschluss der letzten Revisionen an die Gesellschaft zur Veröffentlichung dänischer Musik schickte, eine in großen roten Let tern geschriebene Notiz zu finden: „Muss es denn wirklich absolut immer Carl Nielsen sein? Dann können wir es auch auf meine Art machen“
Notiz Langgaards im Manuskript seiner Sinfonie Nr. 6: „Muss es denn wirklich absolut immer Carl Nielsen sein? Dann können wir es auch auf meine Art machen“, 1919
SINFONIE WIDER WILLEN
Schon bald nach Abschluss der Partitur seiner Sinfonie Nr. 6 begann Langgaard mit der Arbeit an einem Werk, das zunächst den Arbeitstitel Fünf Orchesterstücke mit Chor erhielt und das er am 26. Februar 1948 fertigstellte. Nachdem er ihm zwischenzeitlich die Titel Dag naar Dag er buried (Tag, an dem der Tag begraben wird), Morgenklange (Morgenklänge), Dag naar Dag er død (Tag, an dem der Tag stirbt), Død Drømme (Tote Träume) und Vita meschina, Sgràziato (Elendes Leben, Unangenehm) verliehen hatte, reichte er das Werk am 15. März als
Vita viziata (Verdorbenes Leben) beim Statsradiofonien ein, erhielt jedoch schon wenige Wochen später eine Absage. Viermal noch, ein für Langgaard nicht untypisches Verhalten, sandte er sein Manuskript mit der abermaligen Bitte um Aufführung ein: Im Juni 1948 als Naar Dagen begynder (Wenn der Tag beginnt), wobei er als zweiten Teil des Werks die zuvor komponierte einsätzige Sinfonie Nr. 13 angehängt hatte, im Dezember 1949 als Det Skønne (Die Schöne), diesmal um einen Prolog und einen Epilog für Chor und Orchester erweitert, ein drittes Mal im März 1949, nun um den Epilog gekürzt, der inzwischen Eingang in die Søndagssonate (Sonntagssonate) für Violine, Klavier, Orgel und Orchester BVN 393 gefunden hatte, dafür jedoch um deskriptive Titel der einzelnen Sätze ergänzt, und schließlich ein letztes Mal im Jänner 1951, wobei er die Sinfonie Nr. 13 wieder als eigenständiges Stück herausnahm und dem nunmehr siebensätzigen Werk den Titel Morgenen (Der Morgen) gab. Im Mai befand sich die Partitur jedoch schon wieder auf Langgaards Schreibtisch in Ribe, wo er seit 1940 als Domorganist wirkte. Erst jetzt ,beförderte‘ er seine Orchesterstücke zur Sinfonie Nr. 14 und gab den einzelnen Sätzen ihre endgültigen Titel, deren humoristisches Programm – so beschreiben etwa die Sätze 3 bis 5 Der müde Aufbruch ins Leben, RadioCaruso und Zwangsenergie und „Vatis“ eilen ins Büro den schnöden Arbeitsalltag in Kopenhagen – im bewussten Kontrast zur ursprünglichen Konzeption des Werkes als apokalyptisches Bild eines ewigen Morgens steht, wie er in den rahmenden biblischen Texten der Einleitungsfanfare und des Schlusssatzes Sonne und Buchenwald erkennbar ist. Ganz diesen hymnischen Odem verströmt auch das allein dem Streichorchester vorbehaltene, an zweiter Stelle stehende Upaaagtede Morgenstjerner (Unbeachtete Morgensterne), dessen gesonder te Aufführung unabhängig von den restlichen Sätzen der Sinfonie Langgaard selbst autorisierte.
NIELSEN, DER UNAUSLÖSCHLICHE
Als Carl Nielsen 1914 die Arbeit an seiner Sinfonie Nr. 4 op. 29 aufnahm, begann sich sein Ruhm als Komponist durch die 1911 vollendete Sinfonie Nr. 3 (Sinfonia espansiva) und die im Jahr darauf kom ponierte Violinsonate Nr. 2 gerade über die Grenzen seines Heimat-
Anne Marie Brodersen (ab 1891: Anne Marie Carl-Nielsen): Bildhauerin, als deren Hauptwerk das Reiterdenkmal König Christians IX. im Hof des Kopenhagener Schlosses Christiansborg gilt
landes hinaus zu verbreiten, während er in Dänemark spätestens seit dem enormen Erfolg seiner Opern Saul und David (UA: 1902) und Maskerade (UA: 1906) als Nationalkomponist und legitimer Erbe Niels Wilhelm Gades galt. Zugleich befand er sich jedoch in einer Phase großer Umbrüche: Unmittelbar vor Beginn der Komposition seiner ,Vierten‘ hatte Nielsen das Amt des Zweiten Kapellmeisters am Königlichen Theater in Kopenhagen nach langjährigen Konflikten niedergelegt, seine Beziehung mit Anne Marie Brodersen, die er 1891 in Paris geheiratet hatte, verschlechterte sich aufgrund seiner mehrmaligen Untreue stetig – in den folgenden Jahren sollten die Eheleute sogar getrennt voneinander leben – und nicht zuletzt waren die drohenden Schatten des Ersten Weltkriegs bereits am Horizont zu erahnen. „Das Nationalgefühl“, fasste der Komponist seine dahingehenden Sorgen zusammen, „das bis anhin als etwas Hohes und Schönes empfunden wurde, ist zu einer Art geistiger Syphilis geworden, die die Gehirne zerfrißt und durch die leeren Augenhöhlen mit geisteskrankem Haß hinauslächelt.“ Vor diesem Hintergrund versuchte Nielsen die immanente Dringlichkeit und unerschöpfliche Kraft des Lebens als solches in seiner Sinfonie Nr. 4 einzufangen. So schrieb er am 3. Mai an seine Frau:
Ich habe eine Idee für ein neues Werk, das kein Programm hat, sondern das ausdrücken soll, was wir unter Lebensdrang oder dem Lebensgefühl verstehen, also: alles was sich bewegt, was Leben will, was weder als böse noch als gut bezeichnet werden kann, weder hoch noch niedrig, groß noch klein, sondern einfach: „Das, was Leben ist“ oder „Das, was Leben will“ – verstehst du: keine besondere Idee von irgendetwas „Großartigem“ oder etwas „Feinem und Zartem“ oder Heißem oder Kaltem (vielleicht Gewalttätigem), sondern einfach Leben und Bewegung, aber verschieden, sehr verschieden, aber in einem Kontext und als ob es ständig fließen würde, in einem großen Satz, in einem Strom. Ich muss ein Wort oder einen kurzen Titel finden, der das ausdrückt; das genügt. Ich kann nicht wirklich erklären, was ich will, aber was ich will, ist gut. Ich fühle es alles in mir, wenn ich darüber nachdenke, aber Worte können hier nicht wirklich etwas ausrichten.
Wenige Monate darauf teilte er dem befreundeten Sänger und späteren Direktor von Statsradiofonien Emil Holm mit:
Ich kann Ihnen sagen, dass ich gut mit einem neuen, großen Orchesterwerk vorankomme, eine Art Sinfonie in einem Satz, die alles darstellen soll, was man über das Konzept, das wir Leben nennen oder besser gesagt „Leben“ im weitesten Sinne, fühlt und denkt. […] Alles kann unter diesen Begriff fallen, und die Musik ist, mehr als die anderen Künste, ein Ausdruck des Lebens, denn sie ist entweder vollkommen tot – in dem Moment, in dem sie nicht klingt – oder vollkommen lebendig und kann daher den Begriff des Lebens von der elementarsten Ausdrucksform bis zur höchsten geistigen Ergriffenheit ausdrücken.
Am 27. Jänner 1916 – um „drei Uhr in der Früh“ –, nur fünf Tage vor der Uraufführung, konnte Nielsen die Arbeit an seiner Sinfonie abschließen, die nunmehr den Titel Det Uudslukkelige (Das Unauslöschliche) trug. Das Konzert am 1. Februar durch den vom Komponisten geleiteten Kopenhagener Musikverein im Odd Fellow Palais geriet zu einem großen Erfolg, infolgedessen das Stück als „ein Hauptwerk der dänischen Musik“ gerühmt wurde. Für das Programmheft fertigte Nielsen, aus Zeitgründen von seinem Schüler Knud Jepessen unterstützt, eine Zusammenfassung der philosophischen Idee hinter seiner Musik an:
Mit dem Titel „Das Unauslöschliche“ hat der Komponist versucht, in einem einzigen Wort das auszudrücken, was nur die Musik selbst vollständig auszudrücken vermag: den elementaren Willen zum Leben. Bei solchen Aufgaben: das Leben abstrakt auszudrücken, wo die anderen Künste ohnmächtig sind, gezwungen, Umwege zu machen, Ausschnitte zu beleuchten, zu symbolisieren, da und nur da ist die Musik in ihrem ureigensten Bereich zu Hause, ganz in ihrem Element, einfach dadurch, dass sie, einzig weil sie sie selbst ist, ihre Aufgabe erfüllt hat. Denn sie ist das Leben, wo das andere das Leben nur darstellen und umschreiben. Das Leben ist unbezwingbar und unauslöschlich; es wird bekämpft, gebrochen, gezeugt und verzehrt, heute wie gestern, morgen wie heute, und alles kehrt irgendwann zurück. Noch einmal: Musik ist Leben und wie dieses unauslöschlich. Daher mag das Wort, das der Komponist über sein Werk gesetzt hat, überflüssig erscheinen; er hat es jedoch benutzt, um den streng musikalischen Charakter seiner Aufgabe zu betonen. Kein Programm, sondern ein Wegweiser in das Reich der Musik selbst.
„GEGACKER, GEQUAKE, GEPIEPSE, GEBRÜLL“
1928, zwölf Jahre nach Abschluss seiner Sinfonie Nr. 4, komponierte Nielsen mit dem Konzert für Klarinette und Orchester op. 57 sein letztes Orchesterwerk. Die Ursprünge dafür liegen wiederum im Jahr
1921, als der Komponist einer Probe des Kopenhagener Bläserquintetts beiwohnte und von der stupenden Virtuosität und herausragenden
Musikalität der Mitglieder derart fasziniert war, dass er dem Ensemble
Konzert für Klarinette und Orchester
im Jahr darauf sein Bläserquintett op. 43 auf den Leib schrieb und plante, ein Solokonzert für jedes Mitglied zu komponieren. Nachdem der Fagottist Knud Lassen angesichts der Komplexität von Nielsens Musik dankend abgelehnt hatte, komponierte er 1926 zunächst sein Konzert für Flöte und Orchester FS 119 für Gilbert Jespersen, ehe er sich im April 1928 der Klarinette und damit dem ebenso genialen wie temperamentvollen Aage Oxenvad zuwandte. Der Kompositionsprozess gestaltete sich dabei im permanenten persönlichen und brieflichen Austausch mit dem Solisten, dem Nielsen immer wieder Manuskriptseiten des „Biests“, wie er das Konzert scherzhaft nannte, zusandte. So ist etwa auf der letzten Seite der handschriftlichen Solostimme folgender Dialog zu lesen:
Lieber O.!
C. N. „Wie kann hier das Atmen funktionieren? Gott!“
A. O. „Es wird schon gehen; mir wird schon etwas einfallen.“
C. N. „Danke! Das dachte ich mir schon!“
Nachdem Nielsen die Arbeit an der Partitur Mitte August 1928 abschließen hatte können, fand die Uraufführung des Werkes einen Monat später, am 14. September, im privaten Rahmen des Sommerhauses des befreundeten Carl Johan Michaelsen mit Mitgliedern der Königlichen Kapelle Kopenhagen unter Leitung von Emil Telmányi statt. Erstmals öffentlich erklang das Werk am 11. Oktober 1928 mit denselben Mitwirkenden im Odd Fellow Palais. Die komplexe Struktur des Konzerts, das zwischen idyllisch-volksliedhaften Melodien und martialischen Rhythmen changiert und dabei einen hochvirtuosen Solopart aufweist, ebenso wie die ungewöhnlichen Klangfarben, die nicht zuletzt aus dem Verzicht auf hohe Bläserstimmen im Orchestersatz resultieren, führten dazu, dass Publikum und Kritik dem Werk zunächst mit Argwohn begegneten. So klagten etwa die schwedischen Dagens Nyheter (Tagesnachrichten) anlässlich einer Aufführung am 5. Dezember 1928 in Stockholm:
Das absolut Schlimmste aber [...] ist das Klarinettenkonzert, das als neues Werk angekündigt wurde und dessen Gegacker,
Gequake, Gepiepse, Gebrüll und dessen grunzender Solopart vom Dänen Aage Oxenvad übernommen wurde. Hier bekennt sich Carl Nielsen offen zur Kakophonie. [...] Weh den Eseln oder Pferden, so die Bettler reiten werden.
Nur wenige, wie etwa Hugo Seligman in der Kopenhagener Zeitung Politiken, vermochten hinter der radikalen Neuartigkeit des Werkes auch dessen im Wortsinne zeitlose künstlerische Qualität zu erkennen:
[E]r hat die Seele der Klarinette entfesselt, nicht nur ihre wilde animalische Natur, sondern auch ihre besondere Art von – rauer
Lyrik. Seine Orchesterbesetzung ist äußerst schlicht: Streicher, zwei Hörner, zwei Fagotte und – hier sehr wichtig – eine kleine Trommel. Aber mit diesen wenigen Mitteln erschafft er eine phantastische Sinfonie, die sich bald als eine bis zum Bestialischen gesteigerte Rhythmusorgie, bald in lyrisch-melodischem Material zu erkennen gibt, das meist nicht offen erkennbar vor uns liegt, sondern das versteckt ist und dem wie einer Goldader nachgespürt werden muss.
Etwas lakonischer fasste es der Solist Oxenvand zusammen: „Er [i. e. Nielsen] ,muss‘ doch selber Klarinette spielen, sonst wäre es ihm nicht möglich gewesen, die am absolut schwierigsten zu spielenden Töne zu finden!“
EPILOG. „WIEDERHOLEN BIS IN ALLE EWIGKEIT“
Eine der letzten Notizen, datiert auf den 4. November 1951, die Rued Langgaard vor seinem Tod am 10. Juli 1952 zu Papier brachte, lautet: „Das Leben wird ,das Unauslöschliche‘ in der Schönheit von Klang und Licht ertränken.“
Pablo Barragán
Klarinette
Enthusiastisch und entdeckungslustig zeigt sich der Klarinettist Pablo Barragán sowohl in seinen Programmgestaltungen als auch in seinen Konzerten, die ihn bereits durch viele Länder Europas und Südamerikas geführt haben. Der in Andalusien geborene Wahlberliner tritt solistisch mit Orchestern wie dem Sinfonieorchester Basel, den Symphonikern Hamburg und dem Orquesta Sinfónica de RTVE sowie mit kammermusikalischen Projekten beim Schleswig-Holstein Musik Festival, beim Molyvos International Music Festival oder beim Mar tha Argerich Festival in Buenos Aires auf. 2022 erschien sein jüngstes Album BOUNDLESS, auf dem er mit der Pianistin Sophie Pacini Sonaten von Weinberg, Bernstein, Prokofjew und Poulenc vereint hat.
Die Saison 2022/23 begann für Pablo Barragán mit Festivals wie den Murten Classics in der Schweiz und dem Heidelberger Frühling. Im November 2022 gastierte er mit Mozarts Klarinettenkonzert bei der Slowakischen Philharmonie, im Dezember gab er seine Debüts beim Franz Liszt Chamber Orchestra mit Hartmanns Kammerkonzert sowie bei der Philharmonie Baden-Baden mit Webers Klarinettenkonzert Nr. 1. Im April tritt er mit dem Kölner Kammerorchester auf. Kammermusikalische Höhepunkte sind im März 2023 fünf Konzerte beim Festspielfrühling Rügen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, bei denen er unter anderem mit der künstlerischen Leiterin und Geigerin Noa Wildschut auftreten wird. Zudem gibt er im Februar gemeinsam mit dem Schumann Quartett sein Debütkonzert in der Londoner Wigmore Hall.
Ausgebildet wurde Pablo Barragán am Conservatorio Superior de Música „Manuel Castillo“ in Sevilla, der Barenboim-Said Akademie in Berlin sowie an der Musik Akademie Basel. Viele Jahre lang war er Mitglied des West-Eastern Divan Orchestra. Seit einigen Jahren gibt der Exklusivkünstler der Klarinettenmanufaktur Backun selbst Meisterkurse und ist seit 2020 Dozent an der Barenboim-Said Akademie.
Bruckner Orchester Linz
Das Bruckner Orchester Linz zählt zu den führenden Klangkörpern Mitteleuropas, blickt auf eine mehr als 200-jährige Geschichte zurück und trägt seit 1967 den Namen des Genius loci. Markus Poschner und sein BOL sind einer ureigenen Spielart von Bruckners Musik auf der Spur und lassen diese in einem unverwechselbaren oberösterreichischen Klangdialekt hören, die sich im Konzert und in einer Gesamtaufnahme aller Sinfonien bis zum Brucknerjahr 2024 manifestieren wird. Mit Poschner vollzieht das BOL einen Öffnungsprozess, der neue Formate generiert, überraschende Wege findet und für künstlerische Ereignisse sorgt, die bei Publikum und Presse auf große Resonanz stoßen. Zuletzt wurde der Klangkörper in Montreux und in Seoul gefeiert. Das BOL hat seit 2020 eine eigene Konzertreihe im Brucknerhaus. 2020 wurde es beim Österreichischen Musiktheaterpreis als „Bestes Orchester des Jahres“ ausgezeichnet.
Der dänische Dirigent Thomas Dausgaard begeistert sich für die Auseinandersetzung der Musik mit den Themen unserer Zeit, für ihr Potenzial als vitale und innovative Kraft im Leben. Vor Kurzem beendete er seine Amtszeit als Chefdirigent des BBC Scottish Symphony Orchestra. Er ist Ehrendirigent des Swedish Chamber Orchestra, des Danish National Symphony Orchestra und des Orchestra della Toscana. Außerdem war er Erster Gastdirigent und Musikdirektor der Seattle Symphony. Er wurde von der dänischen Königin mit dem Dannebrogorden ausgezeichnet und in die Königlich schwedische Musikakademie gewählt. Zu den Höhepunkten der Saison 2022/23 zählen seine Konzerte mit dem Tokyo Metropolitan und KBS Symphony Orchestra, der Brussels und der NFM Wrocław Philharmonic, der Dresdner Philharmonie, dem Luzerner Sinfonieorchester, dem Orchestre de chambre de Paris und dem Orquesta Sinfónica de RTVE.
AUFBRUCH
„DAS
EWIG-WEIBLICHE ZIEHT UNS HINAN.“
ORCHESTERHIGHLIGHTS
MI 11 OKT 19:30
VORSCHAU : Das Große Abonnement in der Saison 2022/23
Wayne Marshall & RSO Wien
Bad Boys of Music
Donnerstag, 9. März 2023, 19:30 Uhr
Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Werke von Charles Ives, George Antheil, George Gershwin
George Li | Klavier
Mozartchor des Musikgymnasiums Linz
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Wayne Marshall | Dirigent
Oscar Jockel | Zweiter Dirigent (Ives-Sinfonie)
18:30 Uhr: Konzerteinführung
Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at
Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz
Redaktion: Andreas Meier | Der Text von Andreas Meier ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
Biographien & Lektorat: Romana Gillesberger | Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer
Abbildungen: C. Best (S. 26), M. Borggreve (S. 25 [3. v. o.]), L. Castilla (S. 21), D. Cerati (S. 25 [1. v. o.]), Det Kgl. Bibliotek, Kopenhagen (S. 7, 9, 12, 15 & 16), T. Grøndahl (S. 23), N. Navaee (S. 25 [4. v. o.]), S. Pauly (S. 25 [2. v. o.]), Shutterstock (S. 24), R. Winkler (S. 22), O. Wuttudal (S. 25 [5. v. o.])
Programm-, Termin- und Besetzungsänderungen vorbehalten
LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz