„Hommage à Brahms“
„Mein Horntrio habe ich als ,Hommage‘ Johannes Brahms gewidmet, dessen Horntrio als unvergleichliches Beispiel dieser Kammermusikgattung im musikalischen Himmel schwebt.“
György Ligeti im Einführungstext zur Uraufführung seines Trios für Violine, Horn und Klavier am 7. August 1982
SOMMERWERKE
„Eines Tages – es war im Jahre 1853 – gegen Mittag schellt es; nach Kinderart laufe ich hinaus und mache die Thüre auf. Da sehe ich einen blutjungen, bildhübschen Jüngling mit langen blonden Haaren. Er fragt nach dem Vater.“ So erinnerte sich Marie Schumann, die zu diesem Zeitpunkt zwölfjährige Tochter Clara und Robert Schumanns, an jenen Freitag des 30. Septembers 1853. Der „Jüngling“, der an diesem Tag vor ihrer Wohnung in Düsseldorf erschien, war kein Geringer als Johannes Brahms und die Begegnung zwischen dem Ehepaar Schumann und dem 20-Jährigen sollte in vielerlei Hinsicht folgenreich sein. Begeistert von den kompositorischen und pianistischen Fähigkeiten seines Gastes, veröffentlichte Robert Schumann in der Neuen Zeitschrift für Musik nur knapp einen Monat später seinen Aufsatz Neue Bahnen, in dem er Brahms als musikalischen ,Messias‘ ankündigte, „der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre […]. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor.“ Nach Robert Schumanns Tod am 29. Juli 1856 schloss sich das Band der Freundschaft zwischen Brahms und Clara Schumann noch enger, der um 14 Jahre Jüngere wurde zum Tröster, Begleiter und zeitweise zum Ersatzvater der beiden jüngsten Kinder Eugenie und
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Felix, für die Clara Schumann in ihrem Tagebuch festhielt: „Gott sendet jedem Menschen, sei er auch noch so unglücklich, immer einen Trost, und gewiss sollen wir uns desselben erfreuen und stärken daran. […] Da kam Johannes Brahms. Ihn liebte und verehrte euer Vater, wie außer [Joseph] Joachim keinen; er kam, um als treuer Freund alles Leid mit mir zu tragen; er kräftigte das Herz, das zu brechen drohte, er erhob meinen Geist, erheiterte, wo er nur konnte, mein Gemüt, kurz er war mein Freund in vollstem Sinne des Wortes.“
Als Schumann sich 1862, sechs Jahre nach dem Tod ihres Ehemanns Robert, dazu entschloss, eine neue Heimat im badischen Lichtental (heute: Stadtteil von Baden-Baden) zu suchen, wo sie durch Vermittlung der befreundeten Sängerin und Komponistin Pauline ViardotGarcía ein Haus kaufte, folgte Brahms ihr schon bald nach. Zwischen 1865 und 1872 mietete er sich alljährlich in den Sommermonaten in ihrer Nähe ein. Während seines ersten Aufenthalts in Lichtental im Mai des Jahres 1865, im sprichwörtlichen Wechselbad der Gefühle zwischen dem Wiedersehen mit ihr und dem unerwarteten Tod seiner Mutter Christiane nur wenige Monate zuvor, begann Brahms mit der Komposition seines Trios für Violine, Waldhorn und Klavier Es-Dur op. 40. Der eigentümliche Ton des Werkes zwischen volksliedhafter Schlichtheit und expressiver Melancholie erscheint dabei fast wie ein Spiegelbild der äußeren Begleitumstände. So berichtet etwa der befreundete Komponist und Kapellmeister Albert Dietrich in seinen Erinnerungen an Johannes Brahms 1898: „Als er später einmal mit mir in der Nähe von BadenBaden auf den waldigen Höhen zwischen den Tannen herumwandelte, zeigte er mir die Stelle, wo ihm zuerst das Thema des ersten Satzes dieser Composition gekommen sei.“ Darüber hinaus lässt auch die explizite Verwendung des Waldhorns, also eines Naturhorns anstelle des zu jener Zeit bereits gebräuchlichen Ventilhorns, eine biographische Deutung zu: So hatte Brahms in seinem Elternhaus neben Klavier und Violoncello von seinem Vater, Hornist im Orchester des Hamburger Stadttheaters, auch das Hornspiel erlernt. „Das Horn“, bestätigt auch Brahms’ Biograph Max Kalbeck, „und zwar das besonders als ,Waldhorn‘ (Corno da caccia), im Gegensatze zu dem neueren Ventilhorn, vorgeschriebene Naturhorn war neben Violoncell
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Johannes Brahms Trio Es-Dur für Violine, Waldhorn und Klavier
und Klavier das Hauptinstrument des Knaben Johannes, und er mag seiner Mutter oft ihre in dem Werke angeschlagenen oder angedeuteten Lieblingsmelodien vorgeblasen haben.“ Wie wichtig die explizite Ver wendung des Waldhorns dem Komponisten dabei auch in musikalischer Hinsicht war, verdeutlicht ein Brief an den Geiger und Dirigenten Max Brode: „Ich danke Ihrem Herrn Hornisten sehr, daß er versucht mein Trio auf dem Naturhorn zu blasen und Ihnen Allen wäre ich gar dankbar, wenn Sie es dabei ließen. […] Ich wäre aber ängstlich es mit Ventilhorn zu hören. Ist der Bläser nicht durch die gestopften Töne gezwungen sanft zu blasen, so sind auch Clavier und Geige nicht genöthigt sich nach ihm zu richten. Alle Poesie geht verloren und der Klang
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Johannes Brahms
Trio Es-Dur für Violine, Waldhorn und Klavier
Johannes Brahms, Fotografie von Jean Baptiste Feilner, 1868
ist von Anfang an roh und abscheulich. Ich meine die ersten 16 Takte müßten sofort überzeugen und deutlich zeigen, wie das ganze Stück zu behandeln ist.“ Und auch gegenüber Dietrich, der das Werk wenige Wochen nach der Uraufführung am 28. November 1865 in Zürich, der schon am 4. Dezember eine in Karlsruhe gefolgt war, in Oldenburg zur Aufführung bringen wollte, betonte er nachdrücklich: „Dein Hornist thäte mir einen ganz besonderen Gefallen, wenn er, wie der Karlsruher, einige Wochen das Waldhorn exercirte, um es darauf blasen zu können!“
Sanft tastend, zögernd hebt der Kopfsatz, wie „auf den waldigen Höhen zwischen den Tannen“ wandelnd, mit einer schlichten Melodie an, deren anfangs pastorale, idyllische Stimmung sich in einem von Seufzerfiguren durchzogenen Nachsatz alsbald ins Gespenstische wandelt und dabei etwa die nebelverhangene Atmosphäre des Gedichts Zwielicht Joseph von Eichendorffs in Erinnerung ruft: „Dämmrung will die Flügel spreiten, / Schaurig rühren sich die Bäume, / Wolken zieh’n wie schwere Träume – / Was will dieses Grau’n bedeuten?“ Demgegenüber steht das von motorischen Viertelnoten durchzogene, unsicher zwischen duolischen und triolischen Rhythmen pendelnde Scherzo, in dessen Mittelteil ein melancholisch-volksliedhaftes Trio als Ruhepol fungiert. Das expressive Adagio mesto (mesto = traurig) in der ungewöhnlichen Tonart es-Moll stellt mit seinem von Vorhalten geprägten Klagegesang, dessen variierte Umkehrung sich nach und nach zu immer größerer Klanggewalt ballt, den dramaturgischen Mittelpunkt des Werkes dar, ehe die aufgestaute emotionale Energie sich im abschließenden Allegro con brio im Wortsinne der Vortragsanweisung „mit Elan“ entlädt.
Zwei Jahrzehnte später, abermals während eines Sommeraufenthalts, diesmal am Thunersee im schweizerischen Kanton Bern, komponierte Brahms seine Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 A-Dur op. 100. Wie im Fall des Horntrios entstand das im „Kammermusiksommer“ 1886 komponierte Werk dabei gewissermaßen im Dialog mit der umgebenden Natur, hier der beeindruckenden Berg- und Seelandschaft, aus der Brahms seine Inspiration schöpfte: „Wie schön und wie behaglich in jeder Beziehung es hier ist, davon hast Du keinen Begriff“,
„Kammermusiksommer“: Neben der Violinsonate Nr. 2 vollendete Brahms auch die Violoncellosonate Nr. 2 F-Dur op. 99, das Klaviertrio Nr. 3 c-moll op. 101 sowie weite Teile der Violinsonate Nr. 3 d-moll op. 108.
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Johannes Brahms Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 A-Dur
Johannes Brahms
teilte er etwa dem befreundeten Chirurgen Theodor Billroth am 22. Juli mit. „Du magst Dir selber ausmalen, was dazu gehört – reizende Wohnung, schöne Spaziergänge und Fahrten, gute Wirtshäuser, angenehme Menschen, die denn, namentlich von Bern, für vortreffliche Lektüre sorgen usw., usw.“
Über die besondere Stimmung, die den 53-jährigen Komponisten während dieser Zeit ergriff, berichtete Kalbeck später:
Im ersten Jahre seines Thuner Aufenthalts rührte sich Brahms, kleinere Ausflüge abgerechnet, nicht von der Stelle und lehnte alle Einladungen ab, die ihn aus seiner idyllischen Zurückgezogenheit in das Gewühl der Welt hinauslocken wollten. […] Übrigens empfing Brahms im September selbst Besuch und zwar heimlich erhofften und erwarteten. Hermine Spies, die, wie Brahms wußte, im Sommer die Südschweiz und das Berner Oberland bereisen wollte, kam endlich und ließ durch einen Boten fragen, ob Freunde aus Wiesbaden im Vorbeigehn Guten Tag sagen dürften? „Und gleich hinterdrein erschienen Herminens lachende Augen in der Tür. Ein Spätsommertag war’s. Die Nachmittagssonne stand vor ihrem Untergange und strahlte golden über die Wasser und durch die geöffneten Fenster zu uns herein. Die Blumengehänge, die über die Ufer des Sees herabfielen, wurden zu neuen glutvollen Farben erweckt und sandten ihren Duft herüber. Hermine sang dazu. Zwei neue, noch ungedruckte Lieder lagen auf dem Notenpult des Flügels, ,Immer leiser wird mein Schlummer‘ und ,Wie Melodien zieht es‘. Brahms begleitete. – – ,Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn, wie Frühlingsblumen blüht es und schwebt wie Duft dahin –‘. Abends stand der Vollmond über dem See. Ein bewimpeltes, mit bunten Lichtern geziertes Schiff, mit fröhlicher Tanzmusik zog an uns vorüber, als wir uns von Brahms verabschiedeten, um in unsern Gasthof einzukehren.“ … So schreibt Minna Spies in ihrem Gedenkbuche. Und so oder ähnlich mag es wohl auch Brahms geträumt haben, als er „in Erwartung der Ankunft einer geliebten Freundin“ die Violinsonate in A-dur komponierte […].
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Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 A-Dur
Tatsächlich zitiert Brahms im Seitenthema des ersten, mit Allegro amabile überschriebenen Satzes sein kurz zuvor für die junge Sängerin
Hermine Spies komponiertes Lied „Wie Melodien zieht es mir leise durch den Sinn“, das er 1888 als erstes der Fünf Lieder op. 105 veröffentlichte. „,Amabile‘ ist so das richtigste Wort“, bekräftigte Billroth, nachdem Brahms ihm das Manuskript des Satzes geschickt hatte. „Man schwelgt in den schön hinfließenden Linien der Melodien; eine wonnige, so rein musikalische Behaglichkeit, ähnlich wie in der Regenliedsonate [GDur op. 78], durchströmt die Spieler wie die Hörer.“ Im
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Johannes Brahms Sonate für Violine und Klavier Nr. 2 A-Dur
Johannes Brahms, Fotografie von Erwin Hanfstaengl, 1882
anschließenden Satz wechseln eine lyrische Kantilene und ein leichtfüßig tänzelndes Scherzo einander ab, ehe das Finale, dessen dunkle Klangfarben erst nach und nach in immer größerer Leuchtkraft erstrahlen, mit seiner liedhaften Schlichtheit und der zumeist im tiefen Register singenden Violinstimme unerwartet bedächtige Töne anschlägt. „Ich wüßte keine zweite Sonate, die in solchem Maße auf das scharfe Contrastiren der einzelnen Sätze verzichtete“, urteilte dahingehend der einflussreiche Kritiker Eduard Hanslick nach der Uraufführung am 2. Dezember 1886 im Kleinen Saal des Musikvereins Wien. „Die drei Sätze bilden einen reinen Dreiklang einheitlich wohlthuender Stimmungen; ein friedliches Selbstgenießen und heiteres Ausruhen des Gemüths. […] Bewunderungswürdig ist dabei die knappe Form. Junge Componisten, die keinen Unterschied mehr zwischen einer Sonate und einer Symphonie kennen, mögen hier erfahren, daß tiefe Gedanken, leidenschaftliche Empfindungen sich auch in gedrängtem Vortrag, ohne breite Geschwätzigkeit aussprechen lassen.“ Und auch Brahms selbst war, wie er seinem Verleger Fritz Simrock nach der Drucklegung des Werkes im Frühjahr 1887 aus Thun schrieb, vollends zufrieden: „Es scheint, wir haben uns mit den neuen Sachen nicht grade blamiert?“
ALTE FORMEN, NEUE KLÄNGE
Nach monatelanger Schaffenspause beschäftigte sich der 74-jährige Arnold Schönberg, dessen kompositorische Produktivität infolge eines Herzinfarkts im August 1946 rapide nachgelassen hatte, im März des Jahres 1949 mit gleich drei Werken zugleich. Neben der Arbeit am letztlich Fragment gebliebenen „Israel exists again“ und dem schließlich am 20. April vollendeten „Dreimal tausend Jahre“ op. 50A – beide Werke für Chor a cappella –, entstand auf Anregung des Geigers Adolph Koldofsky zwischen dem 3. und 22. März die Phantasy für Violine mit Begleitung des Klaviers op. 47. Wenig später teilte Schönberg seinem Schwager, dem Geiger Rudolf Kolisch, mit: „Ich habe vor einer Woche ein Stück für ViolinSolo mit Begleitung des Klaviers fertiggestellt. Dein Vetter, Richard Hoffmann, der, wie Du weißt, hier ist, hat es mit [Leonard] Stein schon gespielt. Es ist sehr schwer, aber alles ist sehr gut ausführbar und soll sehr gut klingen. Ich habe es noch nicht gehört. Willst Du es sehen? Dann lasse ich für Dich eventuell
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Arnold Schönberg
Phantasy für Violine mit Begleitung des Klaviers
BRAHMS, DER FORTSCHRITTLICHE
Fortschritt in der Musik besteht in der Entwicklung von Darstellungsmethoden, die den gerade beschriebenen Bedingungen entsprechen. Es ist der Zweck dieses Aufsatzes zu beweisen, daß Brahms, der Klassizist, der Akademische, ein großer Neuerer, ja, tatsächlich ein großer Fortschrittler im Bereich der musikalischen Sprache war.
Dies mag einem eingefleischten „Alt-Wagnerianer“ als anfechtbar erscheinen, gleichviel ob er einer der ursprünglichen altgewordenen Wagnerianer ist oder einfach ein „Alt-Wagnerianer“ von Geburt. Waschechte „Alt-Wagnerianer“ wurden noch in meiner eigenen Generation geboren und sogar noch zehn Jahre später. Als Wegbereiter des musikalischen Fortschritts einerseits und als Hüter des heiligen Grals der wahren Kunst andererseits hielten sie sich für berechtigt, mit Verachtung auf Brahms, den Klassizisten, den Akademischen, hinabzuschauen.
Gustav Mahler und Richard Strauss waren die ersten, die diese Begriffe klärten. Beide waren gleichermaßen in der traditionellen wie in der fortschrittlichen, in der Brahmsischen wie in der Wagnerischen Weltanschauung erzogen worden. Ihr Beispiel verhalf uns dazu, uns bewußt zu werden, daß es bei Wagner ebensoviel Ordnung, wenn nicht gar Pedanterie in der Organisation gab, wie bei Brahms Wagemut, wenn nicht gar bizarre Phantasie. Läßt die mystische Übereinstimmung der Zahlen ihrer Lebensdaten nicht irgendeine geheimnisvolle Beziehung zwischen ihnen vermuten? Das Jubiläum des hundertsten Geburtstags von Brahms 1933 war das Jubiläum des fünfzigsten Todestags von Wagner. Und jetzt, da dieser Aufsatz umgeschrieben wird, feiern wir den fünfzigsten Todestag von Brahms. Geheimnisse verbergen eine Wahrheit, aber sie drängen die Neugierde, diese Wahrheit zu enthüllen.
Ausschnitt aus Arnold Schönbergs Aufsatz Brahms, der Fortschrittliche (Original: Brahms the Progressive), bei dem es sich um eine Überarbeitung eines Vortrags vom 12. Februar 1933 im Frankfurter Rundfunk anlässlich des hundertsten Geburtstags von Johannes Brahms handelt, 1947
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auch eine Kopie machen.“ Die vom Komponisten selbst mehrfach betonte bewusst unterschiedliche Gewichtung der beiden Instrumente liegt dabei bereits in der Genese des Werks begründet: So brachte Schönberg zunächst den Solopart der Violine vollständig zu Papier, ehe er den begleitenden Klaviersatz auskomponierte. Die Phantasy ist dabei gleichermaßen strukturell in Schönbergs „Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ verhaftet, in der die konventionelle Tonalität zugunsten einer Gleichberechtigung aller zwölf Töne der chromatischen Tonleiter aufgelöst wird, wie sie formal die traditionelle Gattung der Phantasie aufgreift. Spielerisch und virtuos wechseln eine mit Grave überschriebene Einleitung, ein lyrischer, mit einem langsamen Sonatensatz vergleichbarer Lento-Abschnitt, ein im neckischen Walzertakt wiegender Teil und eine sich zur grandiosen Schlussgeste steigernde Coda einander ab. Gerade dieses virtuose Ende erschien dem Widmungsträger Koldofsky allerdings tatsächlich „sehr schwer“, sodass Schönberg für die Uraufführung anlässlich seines 75. Geburtstags am 13. September 1949 ein alternatives Ende komponierte.
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Arnold Schönberg
Phantasy für Violine mit Begleitung des Klaviers
Arnold Schönberg und Adolph Koldofsky, Fotografien von Franz Roehn, 1949
Trio für Violine, Horn und Klavier
VEXIERSPIELE
György Ligeti über sein Trio für Violine, Horn und Klavier
Zwischen 1977 und 1982 habe ich, außer zwei kleinen Cembalostücken, keine Komposition beendet. Gearbeitet habe ich jedoch kontinuierlich, nur wanderten dann Hunderte von Skizzen in den Papierkorb. Es war keine „private Krise“, sondern eine allgemeine, die viele Komponisten (nicht alle) betraf. Der Primat der „Darmstädter Schule“ wurde in den siebziger Jahren von mehreren Komponisten verschiedener Generationen in Frage gestellt. Selbstverständlich war dieser Primat nur eine Illusion von Künstlern und Journalisten, die zum inneren Kreis gehörten – wie ich, wenn auch locker und mit Skepsis. Die Idee „Darmstadt“ in den fünfziger und sechziger Jahren gründete noch auf „unbefleckter“ Kunst. Durch das Fernsehen und die anderen Massenmedien setzte etwa Mitte der siebziger Jahre – auch in den bildenden Künsten – eine Kommerzialisierung ein. Natürlich gibt es dieses Phänomen, seit Menschen überhaupt Erzeugnisse austauschen. Doch der Umfang der Kommerzialisierung veränderte das Gleichgewicht zwischen Kunst und Reklame.
Sich zu beklagen, dass früher noch „idealistische Kunst“ möglich war, ist zwecklos: In vieler Hinsicht hat die Explosion der technologischen Möglichkeiten, die Flut der nicht notwendigen, gleichwohl machbaren „Gadgets“ das Alltagsleben der Menschen (nicht aller!) qualitätsmäßig verbessert. Ich hoffe aber, dass es trotz allem „Event Marketing“ weiterhin Nischen für Kunst und Kultur, für Bücher aus Papier und für Musik auf akustischen Instrumenten geben wird.
1982 habe ich mich entschlossen, das Spiel um die „Krise“ nicht mehr mitzumachen. Selbstverständlich bin ich – unbewusst – immer etwas modisch, und so entstand das halb ironische, halb tiefernste (viersätzige!), konservativ-postmoderne Trio für Violine, Horn und Klavier, wobei ich als Kernmotiv und „Hommage à Brahms“ ein falsches Zitat aus Beethovens Les Adieux-Sonate [Nr. 26 Es-Dur op. 81a] verwendet habe. Die traditionellen Formschemata aller vier Sätze sind offensichtlich – und ich habe diese Schemata auch aus einer Art Aufmüpfigkeit gegen die etablierten Konventionen der Avantgarde heraus zitiert. Doch zielte mein Protest und „Anderswollen“ nicht in
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Ligeti
György
die Richtung der Slogans von „neuer Einfachheit“, „Minimalismus“ oder „Neoexpressionismus“ – das Trio ist zwar expressiv, doch nicht expressionistisch. Es lässt sich nicht in einer vorgefertigten stilistischen Schublade unterbringen, denn es hat Ecken und falsche Böden, die nirgendwo hinpassen.
Auch gibt es in dieser Musik verschiedene Schichten, die in ihrem Zusammenwirken absolut keine „postmoderne“ kompositorische Konzeption markieren. Zum einen gibt es da eine emotionale Schicht, vor allem im vierten Satz, die mit tradierten Kategorien nicht erfassbar ist. Nostalgie nach einer nicht mehr existierenden Heimat? Ferner gibt es eine Schicht von kulturellen Konnotationen – im zweiten Satz etwa eine Art imaginärer, synthetischer Folklore aus lateinamerikanischen und balkanischen Elementen. Sowohl Samba und Rumba als auch die balkanischen „hinkenden“ Aksak-Tanzrhythmen basieren auf asymmetrischer Metrik. Exotismus? Keinesfalls, und auch nicht Folklore. Ebenfalls keine Folklore im vierten Satz, dennoch Allusionen an die in meiner Kindheit sehr intensiv erlebte Zigeunermusik. Im Marschteil des dritten Satzes gibt es eine Geste, die – nicht wirklich, doch in manchen Konturen – Beethoven’sche Scherzi zitiert. Und der PseudoBeethoven’sche Gestus wird überlagert von der Steve-Reich’schen Idee der Phasenverschiebung. Der vierte Satz als „Passacaglia“ beruht auf fallender Chromatik, das ist ein Klischee aus der Barockmusik. Doch all diese Schichten und Elemente verdecken nur eine ganz anders geartete musikalische Wirklichkeit, die nicht entschlüsselbar ist. Das Intonationssystem dieses Trios ist heterogen: Das Klavier spielt so, wie es gestimmt wurde – temperiert. Die in reinen Quinten gestimmte Violine weicht, wie immer bei Kammermusik für Streicher und Klavier, von der temperierten Stimmung erheblich ab. In einer klassisch-romantischen Violin-Klavier-Sonate bemüht sich der Geiger, annäherungsweise der Stimmung des Klaviers zu folgen (jedenfalls in langsamen Sätzen), was aber immer approximativ bleibt – und das gehört zur Aura der Gattung. In meinem Trio aber habe ich die technischen Möglichkeiten des Ventilhorns auf die Spitze getrieben, nicht nur hinsichtlich der Virtuosität – da ich kein Instrument richtig gut beherrsche, ist es mein geheimer Ehrgeiz, absolut instrumentengerecht zu komponieren. So schrieb ich diesen Part eigentlich nicht für ein
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György Ligeti Trio für Violine, Horn und Klavier
Ventilhorn in F/B, sondern für eine Gruppe von Naturhörnern. Auf einem echten Naturhorn wäre das Klangergebnis viel schöner, doch dann bräuchte der Hornist eine kurze Pause, um den Aufsatzbogen zu wechseln. Dafür reicht die Zeit nicht, deshalb ist das Stück für Ventilhorn geschrieben, doch konzipiert ist es in Naturhornstimmungen, und diese sind in der Partitur angegeben. So erklingen vorwiegend untemperierte Obertöne, die dann den Geiger in seinen Griffen verwirren. Das ist Absicht und gehört zu den Vexierspielen dieser nichtevidenten Musiksprache.
Einführungstext von György Ligeti für das Begleitheft zur CD György Ligeti Edition 7. Chamber Music bei Sony Classical, 1998
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György Ligeti Trio für Violine, Horn und Klavier
Andreas Meier
György Ligeti, Fotografie von Marcel Antonisse, 1984
KAMMERMUSIKHIGHLIGHTS
DO 14 SEP 19:30
MITTLERER
DI 26 SEP 19:30
MITTLERER
FR 29 SEP 19:30
MITTLERER SAAL
MI 4 OKT 19:30
MITTLERER SAAL
SA
7 OKT
19:30
MITTLERER SAAL
JULIA HAGEN & ALEXANDER ULLMAN
„Eine Violoncellistin […] –dieß fehlte noch!“
LISE DE LA SALLE & QUATUOR HERMÈS
Musenmusik
SITKOVETSKY
TRIO
Klaviertrios von Cécile Chaminade, Elfrida Andrée, Laura Netzel und Clara Schumann
BENJAMIN APPL & KIT ARMSTRONG
Liederabend
SCHUMANN QUARTETT
Die Musikmäzenin Elizabeth Sprague Coolidge
25 Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerfest.at
SAAL
SAAL
Julia Hagen | Violoncello
Lise de la Salle | Klavier
Sitkovetsky Trio
Benjamin Appl | Bariton
Schumann Quartett
Akamus
Bläserharmonien
Samstag, 29. April 2023, 19:30 Uhr
Mittlerer Saal, Brucknerhaus Linz
Werke von Antonio Salieri, Wolfgang Amadé Mozart
Mitglieder der Akademie für Alte Musik Berlin
Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at
Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz
Redaktion: Andreas Meier | Der Text von Andreas Meier ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
Biographien & Lektorat: Romana Gillesberger | Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer
Abbildungen: Arnold Schönberg Center, Wien (S. 14), L. Borges/Sony Classical (S. 25 [4. v. o.]), Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck (S. 8), D. M. Deuter (S. 26), S. Gallois (S. 25 [2. v. o.]), H. Hoffmann (S. 25 [5. v. o.]), K. Kikkas (S. 19), S. Knoll (S. 23), Nationaal Archief, Den Haag (S. 17), V. Ng (S. 25 [3. v. o.]), privat (S. 11), J. Saksala (S. 21), Shutterstock (S. 24), J. Wesely (S. 25 [1. v. o.])
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VORSCHAU : Kammermusik in der Saison 2022/23