Music Bad of Boys
Wayne Marshall & ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Bad Boys of Music
Donnerstag, 9. März 2023, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Saison 2022/23 – Das Große Abonnement VII 7. von 10 Konzerten im Abonnement
Bad Boys of Music
Donnerstag, 9. März 2023, 19:30 Uhr Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Saison 2022/23 – Das Große Abonnement VII 7. von 10 Konzerten im Abonnement
Charles Ives (1874–1954)
Central Park in the Dark für kleines Orchester (1906, 1909, rev. 1936)
George Antheil (1900–1959)
A Jazz Symphony für Klavier und Orchester (1925)
George Gershwin (1898–1937)
Rhapsody in Blue (1924) [Fassung für Klavier und Sinfonieorchester (1942) von Ferde Grofé (1892–1972)]
– Pause –
Charles Ives Sinfonie Nr. 4 für Klavier, Orchester und gemischten Chor (1912–18, 1921–25)
I Prelude. Maestoso
II Comedy. Allegretto
III Fugue. Andante moderato (con moto)
IV Finale. Very slowly, Largo maestoso
Konzertende ca. 21:15
Ein Radiomitschnitt des Konzertes ist am Donnerstag, 23. März, um 19:30 Uhr auf Ö1 in der Sendereihe Das Ö1 Konzert zu hören.
George Li | Klavier
Mozartchor des Musikgymnasiums Linz
Stefan Kaltenböck | Einstudierung
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Wayne Marshall | Dirigent
Gottfried Rabl | Zweiter Dirigent (Ives-Sinfonie)
Gershovitz:
Um 1895 änderten seine Eltern den Familiennamen zu Gershwine, nach und nach anglisierten alle Familienmitglieder ihre Vornamen und wählten ab Mitte der 1910erJahre den Nachnamen Gershwin.
Hier liegt der Leib von George Gershwin.
Amerikanischer Komponist.
Komponist?
Amerikaner?
Diese Worte wählte George Gershwin 1925, als er von der Zeitschrift Vanity Fair gebeten wurde seine eigene Grabinschrift zu formulieren und brachte damit, freilich nicht ohne Augenzwinkern, zwei in der Retrospektive erstaunliche Tatsachen zum Ausdruck: Der von vielen als „Amerikanischer Komponist“ schlechthin gefeierte Künstler verstand sich zu diesem Zeitpunkt nämlich keinesfalls selbstverständlich als solcher, weder als Komponist noch als Amerikaner.
1898 in Brooklyn als Jacob Gershovitz, Sprössling einer russischjüdischen Immigrantenfamilie, geboren, kam Gershwin in seiner Kindheit und Jugend in gleichem Maße mit der europäischen Musiktradition wie auch mit der Musik des Jazz sowie derjenigen der BroadwayMusicals in Berührung und zeigte schon früh seine außerordentliche Begabung. Eine nach dem Schulabschluss 1912 aufgenommene Ausbildung an der New Yorker High School of Commerce gab er schon nach kurzer Zeit auf, um im Mai 1914 eine Stelle als „Piano pounder“ beim Popularmusikverlag Jerome H. Remick & Company anzutreten. Seine Aufgabe war es dabei, der Kundschaft auf Nachfrage Songs aus dem Verlagskatalog auf dem Klavier vorzuspielen. Zwei Jahre später erschien unter dem Namen Geo Gershwin sein erster eigener Song mit dem eingängigen Titel „When you want ’em, you can’t get
’em, when you’ve got ’em, you don’t want ’em“, 1920 feierte er schließlich mit dem Hit Swanee seinen Durchbruch. Es folgten Aufträge für die Revuereihe George White’s Scandals, erste Broadway-Produktionen machten seinen Namen stadtbekannt, sodass 1923 schließlich kein Geringerer als der Bandleader Paul Whiteman, selbsternannter „King of Jazz“, der es sich in den Sinn gesetzt hatte „größere Dinge im Jazz“ zu vollbringen, auf ihn aufmerksam wurde. Für ein Konzert unter dem Titel An Experiment in Modern Music in der New Yorker Aeolian Hall erbat er sich von Gershwin ein Werk, das Elemente des Jazz mit jenen der europäischen Sinfonik verbinden sollte. Gershwin war zunächst unschlüssig, nicht zuletzt da er bisher noch nie für ein
größeres Ensemble, geschweige denn für ein Orchester, komponiert hatte. Umso erstaunter war er, als er am 4. Jänner 1924 in der New York Tribune folgende Ankündigung sah: Whiteman-Juroren benannt: Komitee wird entscheiden „Was ist amerikanische Musik?“
Zu den Mitgliedern der Jury, die beim Paul Whiteman-Konzert am Dienstagnachmittag, dem 12. Februar in der Aeolian Hall über die Frage „Was ist amerikanische Musik?“ entscheiden wird, gehören Sergei Rachmaninoff, Jascha Heifetz, Efrem Zimbalist und Alma Gluck.
Leonard Liebling, Herausgeber des Musical Courier, wird den Vorsitz des Kritikerkomitees übernehmen, das sich aus den führenden Musikkritikern der Vereinigten Staaten zusammensetzen wird.
Ein paar Zeilen weiter unten las er: „George Gershwin arbeitet an einem Jazzkonzert“. Obwohl er Whiteman noch nicht verbindlich zugesagt hatte, wusste Gershwin, dass es nunmehr kein Zurück gab. Am 7. Jänner begann er mit der Arbeit an seiner Rhapsody in Blue, deren Manuskript in einer Fassung für zwei Klaviere er schon wenige Tage später an Whitemans Arrangeur Ferde Grofé weitergab, welcher die Instrumentierung des Werkes nur eine Woche vor der geplanten Uraufführung am 12. Februar 1924 abschloss. Grofé war es auch, der die Rhapsody in Blue 1942 für großes Sinfonieorchester bearbeitete und damit die heute populärste Fassung des Stückes schuf.
Zur selben Zeit, als Gershwin in New York an seiner Rhapsody in Blue arbeitete, befand sich sein knapp zwei Jahre jüngerer Landsmann George Antheil in Paris, wo er seit dem Sommer 1923 sein Quartier in der Rue de l’Odéon 12 aufgeschlagen hatte. Im Erdgeschoss unter ihm befand sich der Buchladen Shakespeare and Company, dessen Besitzerin Sylvia Beach im Jahr zuvor James Joyce’ skandalösen Roman Ulysses veröffentlicht hatte. Antheil, der mit seinen avantgardistischen Kompositionen und elektrisierenden Auftritten als Pianist schon
Mary Louise Bok (geb.
Curtis): Unternehmerin und Mäzenin, die 1924 das Curtis Institute of Music gründete
bald nach seiner Ankunft als Enfant terrible der Pariser Musikszene galt, verband schnell eine enge Freundschaft mit der Verlegerin und dem Schriftsteller, wobei Letzterer ihn sogar mit der Vertonung des Kapitels Cyclops (Zyklopen) aus dem Ulysses betraute. Doch wie so oft im Leben des George Antheil, konnte der Komponist dieses Projekt trotz des prestigeträchtigen Sujets nicht zum Abschluss bringen, zu viele Ideen schwirrten buchstäblich gleichzeitig durch seinen Kopf, zu sehr war der Künstler Antheil auf der Suche nach immer neueren, größeren, revolutionäreren Mitteln, sich auszudrücken; ein Wesenszug, der – glaubt man seinen eigenen Anekdoten, wie sie sich etwa zuhauf in der 1945 veröffentlichten Autobiographie Bad Boy of Music finden –ihm gewissermaßen in die Wiege gelegt worden war: „Als ich etwa drei Jahre alt war, wollte ich Musiker werden. Mehr als alles andere auf der Welt wollte ich ein Klavier. Zu Weihnachten wünschte ich mir ein Klavier, und ich bestand darauf: ein richtiges Klavier und kein Spielzeugklavier, wie man es in den Spielzeugläden findet. Das stellte ich klar. Und dann kauften mir meine Eltern zu Weihnachten ein Spielzeugklavier. Ich kam die Treppe herunter und sah es. Und ohne ein Wort zu sagen, ging ich in den Keller, holte eine Hacke und schlug es entzwei. […] Mit anderen Worten: Ich bin eine Art musikalischer Idealist, ein schöpferischer Mensch – alles oder nichts.“ Alles oder nichts: Für seine Joyce-Oper hieß das in diesem Falle letztlich „nichts“, im Falle zweier anderer fast zeitgleich begonnener Kompositionen wiederum „alles“. Neben dem legendären Ballet Mécanique, dessen Uraufführung am 19. Juni 1926 im Pariser Théâtre des Champs-Élysées mit Instrumenten wie einer elektrischen Klingel, drei Propellern und einer Sirene zu einem der größten Skandale der Musikgeschichte geriet, arbeitete Antheil in jenen Tagen an seiner Jazz Symphony. Den Auftrag hierfür hatte er von niemand anderem als Paul Whiteman erhalten, der im Dezember 1925 abermals ein Experiment in Modern Music plante. Gänzlich unbescheiden schrieb Antheil im Oktober 1925 an seine Unterstützerin Mary Louise Bok: „Letztes Jahr gab es viel Aufregung um ein sehr mittelmäßiges Stück ,Rhapsody in Blue‘ von Gershwin. In diesem Jahr wollen sie es mit einem AntheilStück wiederholen, das von Herrn Antheil selbst gespielt wird, begleitet vom WhitemanOrchester, am 28. Dezember in New York. Da das etwas war, das meinem Sinn
für Humor sehr entsprach, und als eine sportliche Aufgabe, die jeder Amerikaner, der sich Komponist nennt – oder Besser! – jeder Komponist, der sich selbst als Amerikaner bezeichnet, annehmen sollte. Also nahm ich sie an!“ Wenig später verkündete er: „Ich habe ein Stück geschrieben – ein ,ÜberJazzStück‘, wie sie es nennen, und sogar Gershwins beste Freunde versichern mir, dass es Gershwin in den Schatten stellt – es ist eine Tour de force des heutigen Amerika“ Doch anders als Gershwin gelang es Antheil trotz deutlich längerer Vorlaufzeit
Sylvia Beach vor ihrem Buchladen Shakespeare and Company in der Pariser Rue de l’Odéon 12, anonyme Fotografien, 1923
nicht, sein Stück rechtzeitig fertigzustellen, sodass die Uraufführung der Jazz Symphony erst am 10. April 1927 in der New Yorker Carnegie Hall stattfand – auf dem Programm standen außerdem Antheils Violinsonate Nr. 2 mit Klavier- und Schlagzeugbegleitung, sein Streichquartett Nr. 1 sowie die amerikanische Erstaufführung des Ballet Mécanique. Während Letzteres erwartungsgemäß kontrovers aufgenommen wurde, allerdings nicht den erwarteten – und insgeheim erhofften – Skandal hervorrief, wurde die Jazz Symphony fast ausnahmslos mit großem Beifall bedacht, in den auch der anwesende Gershwin einstimmte, wobei er gegenüber einem Reporter der New York World in der Pause des Konzertes betonte: „Ich kann Antheils Jazz wirklich nicht mit meinem vergleichen. Er beschäftigt sich mit Polytonalität und Dissonanz […] folgt Strawinski und den Franzosen. Seine Musik hat humorvolle Momente.“
„The Biggest Musical Event of the Year!“, Plakat der Uraufführung von George Antheils Jazz Symphony, 1927
Mit gutem Recht hat der Kulturjournalist Hans-Klaus Jungheinrich den 1874 in der US-amerikanischen Kleinstadt Danbury (Connecticut) geborenen Charles Ives als „das unüberbotene Originalgenie der amerikanischen Musik“ gepriesen. Praktisch unabhängig von den vielfältigen Strömungen seiner Zeit und mit geradezu stoischem Selbstbewusstsein formte er seinen höchst individuellen kompositorischen Stil, in den er Merkmale unterschiedlicher Epochen ebenso einfließen ließ wie kühne Experimente mit Vierteltönen, Polytonalität und -rhythmik, unorthodoxen Spieltechniken und den Klangwirkungen im Raum verteilter Ensembles. Als Sohn des Kapellmeisters und Bankangestellten George Ives, der während des Sezessionskrieges (1861–65) musikalische Amateurensembles leitete und später als Musiklehrer in seiner Heimatstadt Danbury wirkte, kam Ives schon von Kindesbeinen an mit dem Klang von Marching Bands und „Hymn singings“ bei Kirchenprozessionen, aber auch mit klassischer Musik –zumeist in Gestalt von Opern- und Operettenbearbeitungen – in Berührung. Von seinem Vater, der ihm ersten Unterricht in Theorie und Orgelspiel erteilte, erbte er dabei die Lust am Experimentieren mit Klängen und Tonsystemen sowie an der Vermischung scheinbar disparater musikalischer Stilebenen. Nachdem Ives bereits am Tag seines 15. Geburtstages eine feste Anstellung als Organist an der Second Baptist Church in Danbury erhalten hatte, nahm er 1894 ein Musikstudium an der renommierten Yale University auf, wo er bei Horatio Parker Unterricht in Harmonielehre, Musikgeschichte, Instrumentation und Komposition erhielt. Unmittelbar nach Studienende trat Ives eine Stelle in der Mutual Life Insurance Company of New York an und betrachtete seine Tätigkeit als Organist und Komponist spätestens mit der Niederlegung seines Amtes als Organist der New Yorker Central Presbyterian Church lediglich als ,Nebenerwerb‘, dem er in den Nachtstunden oder an den Wochenenden nachging. Dergestalt entstanden, weitestgehend abgeschirmt von der Öffentlichkeit, einige der innovativsten und avantgardistischsten Werke des frühen 20. Jahrhunderts, so etwa das in vielerlei Hinsicht einzigartige Central Park in the Dark für kleines Orchester. Zwischen Juli und Dezember 1906 unter dem Titel A Contemplation of Nothing Serious or
Charles Ives
Central Park in the Dark
Verknüpfung: Die deutsche Übersetzung
beider Stücke
lautet: Eine Betrachtung
über nichts
Ernstes oder Central Park im Dunkeln in „Der guten alten Sommerzeit“ und Eine Betrachtung einer ernsten Angelegenheit oder Die unbeantwortete
ewige Frage
Central Park in the Dark in „The Good Old Summer Time“ als Teil der Three Outdoor Scenes komponiert, entstand das Werk zeitgleich mit Ives’ vielleicht berühmtester Schöpfung The Unanswered Question, deren ursprünglicher Titel A Contemplation of a Serious Matter or The Unanswered Perennial Question wiederum die ideelle Verknüpfung beider Stücke offenbart. Die bildliche, ja geradezu szenische Klangvision von Central Park in the Dark, die sich aus dem Gegen-, Überund Miteinander einer leisen Folge atonaler Akkorde mit sich darüber ausbreitenden geräuschhaften Motiven speist, beschrieb Ives selbst, als er das Stück 1936 anlässlich der Drucklegung revidierte:
Dieses Stück soll ein Bild-in-Tönen von den Geräuschen der Natur und von Ereignissen sein, die Menschen vor etwa dreißig Jahren (bevor der Verbrennungsmotor und das Radio die Erde und die Luft beherrschten) hörten, wenn sie in einer heißen Sommernacht auf einer Bank im Central Park saßen. Die Streicher verkörpern die nächtlichen Geräusche und die stille Dunkelheit –unterbrochen von Geräuschen aus dem Casino jenseits des Teichs – von Straßensängern, die von der Kreuzung des [Columbus] Circle herüberkommen und bruchstückhaft die Melodien jener Tage anstimmen – von einigen „Nachtschwärmern“ aus dem Healy’s, die das Neueste oder den Freshman March pfeifen – von der „gelegentlich vorbeifahrenden Hochbahn“, einer Straßenparade oder einem „Motorversagen“ in der Ferne – von Zeitungsjungen mit ihren „Extrablatt“-Rufen – von elektrischen Klavieren, die sich in dem Mehrfamilienhaus „hinter der Gar tenmauer“ einen Ragtime-Kampf liefern, eine Straßenbahn und eine Street Band stimmen in den Chor ein – ein Feuerwehrfahrzeug, ein Droschkenpferd läuft davon, landet „hinter dem Zaun und ist weg“, die Spaziergänger rufen – wieder ist die Dunkelheit zu hören – ein Echo über dem Teich – und wir gehen nach Hause.
Erst am 11. Mai 1946 konnte Ives seine Vorstellung der von den „Geräuschen aus dem Casino“ unterbrochenen „nächtlichen Geräusche“ in voller Klangpracht hören, als Central Park in the Dark schließlich
gemeinsam mit seinem Schwesterwerk The Unanswered Question durch das Juilliard Chamber Orchestra unter der Leitung von Theodore Bloomfield zur Uraufführung gelangte.
Die in weiten Teilen zwischen 1912 und 1918 komponierte Sinfonie
Nr. 4 für Klavier, Orchester und gemischten Chor stellt mit ihrer gewaltigen Besetzung, ihrer hochkomplexen Struktur inklusive unabhängig voneinander agierender Orchestergruppen sowie ihrer ambitionierten Dramaturgie fraglos den Höhepunkt von Ives’ Schaffen dar und markiert dabei zugleich einen gravierenden Einschnitt innerhalb seines schöpferischen Wirkens: So gab er das Komponieren nach einem schweren Herzinfarkt 1918 weitestgehend, 1926, wenige Monate nach Abschluss der Revisionsarbeiten an seiner ‚Vierten‘, schließlich vollständig auf. Wie auch im Falle zahlreicher anderer
Werke griff Ives für sein sinfonisches Opus magnum teils auf bereits
zuvor komponiertes Material zurück, das er modifizierte, erweiterte und im Rahmen des Gesamtwerkes neu kontextualisierte. So basiert der erste Satz Prelude etwa auf der um 1914 komponierten Violinsonate Nr. 1, in der Ives das Kirchenlied „Watchman! tell us of the night“ verarbeitete. Schon die ersten Takte offenbaren das dualistische Prinzip, aus dem sich die Dramaturgie des gesamten Werkes speist: Nachdem Streicher und Soloklavier zu Beginn ein unheilvoll-drohendes Einleitungsmotiv intonieren, erklingt, gespielt von einem gesondert platzierten Fernensemble aus zwei Violinen, Flöte und Harfe (in der Partitur als „Vox angelica“ und „Distant Choir“ bezeichnet), das Kirchenlied „Nearer, my God, to Thee“, dessen friedvolle Zuversicht
in der Folge immer wieder von den schroffen Klängen des Orchestertutti überlagert wird. Bald darauf setzt der Chor seinerseits mit „Watchmen! tell us of the night“ ein. Beide Melodien stammen aus der Feder des (Kirchenlied-)Komponisten Lowell Mason und bringen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise die Hoffnung auf Erlösung durch die Kraft und Güte eines allmächtigen Gottes zum Ausdruck. Die zum Schluss verklingenden Worte „Trav’ler see! […] See, see! Oh, see! Trav’ler see!“ („Wand’rer sieh! […] Sieh, sieh! Oh, sieh! Wand’rer sieh!“) scheinen eine Suche, eine Frage zu implizieren, welche Richtung dieser Wanderer einschlagen soll. Eine Frage, deren Antwort in den ätherischen Klängen des „Nearer, my God, to Thee“ zwar anzuklingen scheint, jedoch scheinbar (noch) nicht zu finden ist.
Die erste mögliche ,Route‘ dieser Reise wird im anschließenden Satz Comedy beschrieben, den Ives 1924 als letzten Teil der Sinfonie vollendete. Hierbei griff er auf sein Klavierstück The Celestial Railroad zurück, das wiederum auf dem zweiten, Hawthorne betitelten Satz der Klaviersonate Nr. 2 (Concord, Mass., 1840–1860) basiert.
Hierin griff der Komponist die 1843 veröffentlichte Kurzgeschichte
The Celestial Railroad des Dichters Nathaniel Hawthorne auf, die sich ihrerseits auf die von John Bunyan verfasste christliche Allegorie
The Pilgrim’s Progress aus dem Jahr 1678 bezieht. Während Bunyans Werk die Fußreise eines Pilgers aus der „Stadt der Zerstörung“ in die „Himmlische Stadt“ beschreibt, lässt Hawthorne seinen Protagonisten den steinigen Weg auf bequemere Weise mit dem Zug antreten. Erst zuletzt erweist sich dessen Mitreisender als Inkarnation des Teufels und das ersehnte Ziel auf diesem Weg als unerreichbar. Der Erzähler erwacht, stellt fest, alles nur geträumt zu haben und erkennt: Der einfache Weg führt nicht zur Erlösung. Die auf solche Weise formulierte und im selben Atemzug wieder verworfene ,Antwort‘ der modernen Gesellschaft auf die im Prelude formulierte Frage stellt Ives in Form eines Rondos dar, in dem eine ruhige Melodie zweier zu Fuß wandernder Pilger – das von zwei Soloviolinen intonierte Kirchenlied „The Sweet ByandBy“ – immer wieder von den Geräuschen des ,lasterhaften‘ Lebens in Gestalt von Ragtimemelodien, Märschen, stampfenden Lokomotiven und insgesamt mehr als 30
von Ives zitierten populären Stücken in immer neuen Tonarten und Tempi unterbrochen wird. Letztlich wacht der unruhige Träumer zu den Klängen einer Marschkapelle auf, mit denen die Feierlichkeiten des US-amerikanischen Unabhängigkeitstages zelebriert werden.
Nach dem gewaltigen Lärm des zweiten Satzes bietet die Fugue des dritten eine andere Antwort an. Ives komponierte die dem Satz zugrundeliegende Fuge bereits 1896 während seines Studiums in Yale und verwendete sie bis zur Komposition seiner Sinfonie Nr. 4 ursprünglich für den ersten Satz seines Streichquartetts Nr. 1 (From the Salvation Army). Das elegisch vorgetragene Hauptthema basiert auf dem ebenfalls von Lowell Mason verfassten „From Greenland’s icy mountains“, das zweite auf dem Kirchenlied „All hail the power of Jesus’ name!“. Die Botschaft ist klar: Als Antithese des Chaos im ,weltlichen‘ zweiten Satz soll die Erlösung nun in der fast ausschließlich auf Streicher und Orgel reduzierten ,geistlichen‘ Sphäre zu finden sein. Doch nach und nach schleicht sich das unheilvolle Einleitungsthema des Prelude in die choralhafte Andacht der Fuge, sodass auch die zuletzt von der Posaune zitierten Takte „and heav’n and nature sing“ („und Himmel und Schöpfung singen“) aus dem Weihnachtslied „Joy to the World“ nicht darüber hinwegtäuschen können: Auch die eindrucksvoll zum Ausdruck gebrachte Frömmigkeit vermag keine befriedigende Lösung des Konflikts herbeizuführen.
Umso trostloser erscheint zunächst das Finale, als dessen Leitmotiv ein zu Beginn vorgestellter langsamer Marsch, gespielt von einer im Tempo vom Rest des Orchesters unabhängigen Perkussionsgruppe, in der Partitur als „Beat unit“ bezeichnet, fungiert. Wie eine Frage, die sich längst keine Antwort mehr erhofft, taucht erneut die Einleitungsmelodie des Prelude auf und das Fernensemble – seit dem Eröffnungssatz verstummt – intoniert erneut „Nearer, my God, to Thee“. Es scheint, als läge in dieser Melodie noch immer die Lösung aller Probleme; aber wie lässt sie sich erreichen? Nach und nach nimmt das Orchester Melodien und Motive der vorangegangenen Sätze auf, rekapituliert noch einmal die Irrungen und Wirrungen der Vergangenheit, während die Kontrabässe die Melodie des „Nearer, my
God, to Thee“ wie ein Mantra immer und immer wiederholen. Abermals scheint die Musik sich in den schier endlosen Verzweigungen ihrer komplexen Polyphonie zu verlieren, als mit einem Mal fast alle Stimmen verstummen und unvermutet ein weicher D-Dur-Klang dem Orchestertutti entströmt. Glocken intonieren gleichzeitig das Einleitungsmotiv und die Melodie des Fernensembles, Frage und Antwort überlagern sich zur strahlenden Apotheose. Erstmals seit Beginn des Werkes tritt der Chor, die menschliche Stimme, wieder hervor; wortlos zwar, in seiner Botschaft jedoch klarer als je zuvor:
Tho’ like a wanderer, daylight all gone, Darkness be over me, my rest a stone, Yet in my dreams I’d be nearer, my God, to Thee, Nearer, my God, to Thee, nearer to Thee!
Wenn auch wie ein Wanderer, das Tageslicht verschwunden, Dunkelheit über mir ist, mein Ruheplatz ein Stein, Doch in meinen Träumen käme ich näher, mein Gott, zu Dir, näher, mein Gott, zu Dir, näher zu Dir!
Charles Ives bekam die überwältigenden Klänge des Finales seiner Sinfonie Nr. 4 nie zu Gehör. Zwar fand bereits 1927 eine Teilaufführung der beiden ersten Sätze durch Mitglieder der Philharmonic Society of New York (heute: New York Philharmonic) unter Eugène Goossens statt, doch das vollständige Werk erlebte erst am 26. April 1965, elf Jahre nach dem Tod des Komponisten, in der Carnegie Hall unter der Leitung von Leopold Stokowski, José Serebrier und David Katz mit dem American Symphony Orchestra und der Schola Cantorum of New York seine Uraufführung.
Charles Ives (1874–1954)
Sinfonie Nr. 4
Text: John Bowring (1792–1872)
Watchman! tell us of the night, What its signs of promise are;
Trav’ler, o’er yon mountain’s height, See that glory-beaming star!
[Watchman, aught of joy or hope?
Trav’ler, Yes; it brings the day, Promised day of Israel.
Dost thou see its beauteous ray?]1
1 Bowring: Watchman! does its beauteous ray Aught of joy or hope foretell?
Trav’ler! yes, it brings the day, Promised day of Israel.
Wächter! Erzähl uns von der Nacht, was ihre Zeichen der Verheißung sind; Wand’rer, über jenes Berges Höhen, sieh diesen prachtvoll strahlenden Stern! Wächter, gibt es Freude oder Hoffnung? Wand’rer, ja; er bringt den Tag, den verheißenen Tag Israels. Siehst du seinen schönen Strahl?
Übersetzung: Andreas Meier
Spätestens seit dem Gewinn der Silbermedaille beim Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb 2015 gilt George Li weltweit als einer der talentiertesten und kreativsten jungen Pianisten und tritt regelmäßig mit einigen der international führenden Orchester und Dirigent*innen auf, darunter Gustavo Dudamel, James Gaffigan, Gustavo Gimeno, Manfred Honeck, Andrés Orozco-Estrada, Yuri Temirkanov, Xian Zhang und Michael Tilson Thomas.
Zu den jüngsten Konzerthöhepunkten zählen Auftritte mit den Philharmonikern von Los Angeles, New York City, London, Rotterdam, Oslo, Sankt Petersburg und Buffalo, den Sinfonieorchestern von San Francisco, Frankfurt am Main, Valencia, Sydney, Tokio, North Carolina, Nashville, Montréal und Baltimore sowie mit dem Philharmonia Orchestra in London, dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin und dem Orchestre national de Lyon. Zu den Höhepunkten der Saison 2022/23 gehören Konzerte mit dem Cleveland Orchestra in New Jersey, Miami, Dallas, Detroit, Kansas City, Indianapolis, Portland und Arkansas sowie mit dem Orchestre Philharmonique Royal de Liège in Belgien. Mit Recitals kehrt er in die Carnegie Hall in New York City zurück und tritt in zahlreichen weiteren Städten der USA auf.
Als Solist trat George Li in der Davies Symphony Hall in San Francisco, dem Symphony Center in Chicago, dem Mariinski-Theater in Sankt Petersburg, der Elbphilharmonie in Hamburg, dem Gasteig München, dem Auditorium Michel Laclotte im Pariser Musée du Louvre, dem Seoul Arts Center, der Hamarikyu Asahi und der Musashino Civic Cultural Hall in Tokio, dem National Center for the Performing Arts in Peking, dem Shanghai Poly Grand Theater, bei Amici della Musica in Florenz, beim Festival de Pâques in Aix-en-Provence sowie bei Festivals in Edinburgh, Verbier und Ravinia auf. Als Kammermusiker arbeitete er bereits mit Benjamin Beilman, Noah Bendix-Balgley, James Ehnes, Daniel Hope, Sheku Kanneh-Mason und Kian Soltani.
Das Musikgymnasium Linz, 1974 von Balduin Sulzer als Spezialzweig am Adalbert Stifter Gymnasium der Diözese Linz gegründet, zählt zu den wichtigen Musikinstitutionen des Landes Oberösterreich und wird seit dem Schuljahr 2019/20 von Michael Wruss und Stefan Kaltenböck geleitet. Im Mozartchor wirken aktuell alle 107 Schüler*innen mit. Die Corona-Zeit war auch für das Musikgymnasium von Entbehrungen geprägt, mit Johann Sebastian Bachs „JohannesPassion“ konnte schließlich im April 2022 im Alten Dom gleichsam ein ,Auferstehungskonzert‘ gefeiert werden. Ein Benefizkonzert für die Ukraine im Juli und ein Adventkonzert im Dezember 2022 waren die letzten größeren Projekte. Für die nahe Zukunft stehen Ludwig van Beethovens Messe C-Dur, Carl Philipp Emanuel Bachs Magnificat mit dem Euridice Barockorchester und Anton Bruckners Messe (Nr. 2) e-moll mit den St. Florianer Sängerknaben auf dem Programm.
Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien (RSO Wien) ist ein weltweit anerkanntes Spitzenorchester, das für seine außergewöhnliche Programmgestaltung bekannt ist. Seit September 2019 ist Marin Alsop dessen Chefdirigentin. In Wien spielt das RSO Wien zwei Abozyklen im Musikverein und im Konzerthaus und tritt darüber hinaus bei großen Festivals im In- und Ausland auf. Seit 2007 hat sich das RSO Wien durch seine Zusammenarbeit mit dem MusikTheater an der Wien als Opernorchester etabliert. Auch im Genre der Filmmusik ist das Orchester heimisch. Zu den Gästen des RSO Wien zählen international gefeierte Dirigent*innen und Solist*innen. Seine umfangreiche Aufnahmetätigkeit umfasst Werke aller Genres – schon fünfmal wurden CDs des RSO Wien mit dem OPUS KLASSIK ausgezeichnet. Außerdem bietet das das Orchester ein breit angelegtes Education-Programm.
Wayne Marshall genießt als Dirigent, Organist und Pianist weltweit gleichermaßen hohes Ansehen. Von 2014 bis 2020 war er Chefdirigent des WDR Funkhausorchesters in Köln und von 2007 bis 2013 Erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano. Er ist ein gefeierter Interpret der Musik von George Gershwin, Leonard Bernstein und anderen amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Zu den jüngsten Höhepunkten als Dirigent gehören seine Debüts mit den Berliner Philharmonikern auf der Waldbühne 2021 sowie jene mit den Münchner Philharmonikern, dem Seattle und dem Chicago Symphony Orchestra. 2020 dirigierte er Gershwins Porgy and Bess am MusikTheater an der Wien. Zudem trat er als Solist und als Dirigent bei den BBC Proms auf. Für die Saison 2023/24 sind seine Debüts als Dirigent beim Vancouver, Nashville und Baltimore Symphony Orchestra sowie beim Orchestre national de Lyon geplant.
zerte des ORF einstudiert. Er ist erster Dirigent des Synchron Stage Orchesters und künstlerischer Leiter des Ensembles Kontrapunkte.
„DAS
EWIG-WEIBLICHE ZIEHT UNS HINAN.“
ORCHESTERHIGHLIGHTS
MI 11 OKT 19:30
VORSCHAU : Das Große Abonnement in der Saison 2022/23
Die Vollendung des Unvollendeten
Dienstag, 18. April 2023, 19:30 Uhr
Großer Saal, Brucknerhaus Linz
Werke von Ludwig van Beethoven, Franz Schubert/Luciano Berio, Niccolò Paganini
Sergey Malov | Violine Orchester Wiener Akademie
Martin Haselböck | Dirigent
Karten und Info: +43 (0) 732 77 52 30 | kassa@liva.linz.at | brucknerhaus.at
Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz
Redaktion: Andreas Meier | Der Text von Andreas Meier ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
Biographien & Lektorat: Romana Gillesberger | Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer
Abbildungen: L. Beck (S. 25), C. Best (S. 26), M. Borggreve (S. 29 [3. v. o.]), D. Cerati (S. 29 [1. v. o.]), Charles Ives Society, Inc. (S. 15), S. Fowler (S. 23), M. Hofer (S. 30), N. Navaee (S. 29 [4. v. o.]), S. Pauly (S. 29 [2. v. o.]), J. Pfaffeneder (S. 24), privat (S. 7, 8, 11, 12, 16 & 27), Shutterstock (S. 28), O. Wuttudal (S. 29 [5. v. o.]) Programm-, Termin- und Besetzungsänderungen vorbehalten
LIVA – Ein Mitglied der Unternehmensgruppe Stadt Linz