Die Vollendung des Unvollendeten
„EWIG NUR WERDEN, NIE VOLLENDET“
Ob Johann Sebastian Bachs Die Kunst der Fuge BWV 1080, über deren Niederschrift der Komponist dem Bericht seines Sohnes Carl Philipp Emanuel zufolge angeblich verstarb, Wolfgang Amadé Mozarts Fragment gebliebenes Requiem d-moll KV 626, dessen bis heute eher durch Mythen popularisierte als durch historische Fakten gesicher te Entstehungsgeschichte immer wieder Anlass zu Spekulationen gibt, oder Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-moll WAB 109, statt deren bis zu seinem Tod unvollendeten Finalsatzes der Komponist angeblich sein Te Deum C-Dur WAB 45 aufführen lassen wollte: Seit jeher wird das künstlerische Fragment, das unvollendete Werk vom Nimbus des Mysteriösen und Geheimnisvollen umweht. Dabei stemmt sich die Nachwelt immer wieder gegen die als Unrecht empfundene Zumutung, unvollständig zurückgelassene Kompositionen als bewussten oder auch unfreiwilligen letzten Willen ihrer Schöpfer*innen zu akzeptieren. So erklärt sich auch die Vielzahl der Komplettierungsversuche, mit denen bis heute mit der Vollendung des Unvollendeten gewissermaßen die Quadratur des Kreises versucht wird. Dabei war das Fragment entgegen der heutigen Wahrnehmung gerade zu Beginn des 19. Jahrhunderts sogar zum eigenständigen Gattungsprinzip erhoben worden. „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bey der Entstehung“, hielten etwa die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel im 1798 erschienenen ersten Band ihrer Zeitschrift Athenaeum fest. Mit ihrer Idee einer progressiven Universalpoesie, in der sich sämtliche Bereiche des Lebens und der Kunst, des Traumes und der Wirklichkeit zu einer offenen, durchlässigen literarischen Form verbinden sollten, erhoben sie gemeinsam
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mit dem unter dem Pseudonym Novalis bekannten Schriftsteller Friedrich von Hardenberg das Offene, Unaufgelöste und Fragmentarische zur Dichtkunst: „Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden. Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden [...].“ Was also treibt uns immer wieder dazu, die Vollendung des Unvollendeten anzustreben? „Wie sinnvoll es ist, ein unvollendetes Werk fertigzustellen“, so der Musikwissenschaftler Barry Cooper anlässlich seiner Auseinandersetzung mit dem Skizzenmaterial zu Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 10, „hängt von verschiedenen Faktoren ab. Zunächst: Wie nahe ist es bereits seiner fertigen Gestalt? Wie genau kann das fehlende Material erschlossen werden? Hatte der Komponist selbst vorgehabt, es überhaupt zu Ende zu schreiben? Worin liegt seine historische Bedeutung? Wie wertvoll ist das erhaltene Skizzenmaterial?“ Sowohl die historische Bedeutung als auch der Wert der Skizzen stehen im Fall der im heutigen Konzert erklingenden Werke außer Frage. Darüber hinaus handelt es sich bei keiner der Bearbeitungen um Versuche einer „Vollendung“ im Wortsinne. Es sind Rekonstruktionen, Restaurierungen, Orchestrierungen, die nicht den Anspruch erheben, die Gestalt des Originals authentisch wiederzugeben, sondern in denen vielmehr der Versuch unternommen wird, das Material zu durchleuchten, um es zuletzt in neuem Licht erstrahlen zu lassen.
EIN MUSIKALISCHES PUZZLE
Während im Fall von Mozarts Requiem oder dem Finale von Bruckners ,Neunter‘ immerhin genügend originäres musikalisches Material überliefert ist, das eine Aufführung der Werke als Fragmentfassung einerseits, als Rekonstruktion oder Bearbeitung anderseits möglich macht, ist von Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 10 Es-Dur nur eine überschaubare Zahl meist kurzer Skizzen erhalten. Einer der wenigen Hinweise des Komponisten selbst über die Existenz und geplante Vollendung des Werkes findet sich in einem Brief, den er am 18. März 1827, acht Tage vor seinem Tod, an seinen Kollegen Ignaz Moscheles schrieb, der in jenen Tagen als Vermittler zwischen Beethoven und der Philharmonic Society of London wirkte:
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Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 10 Es-Dur
Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 10 Es-Dur
1000 fl: Conv: Münze: 1000 Gulden
ConventionsMünze; österreichische Währung von 1816 bis zur
Wiener Münzkonvention von 1857
Rücksichtlich der Accademie [i. e. des Konzerts], welche die philharm[onische] Gesellschaft für mich zu geben beschlossen hat, bitte ich die Gesellschaft, ja dieses edle Vorhaben nicht aufzugeben, und diese 1000 fl: Conv: Münze, welche sie mir jetzt im voraus schon übermachen ließ, von dem Ertrage dieser Accademie abzuziehen. Und will mir die Gesellschaft den Überrest noch zukommen lassen, so verpflichte ich mich der Gesellschaft dadurch meinen wärmsten Dank abzustatten, indem ich ihr entweder eine neue Simphonie, die schon skizzirt in meinem Pulte liegt, oder eine neue Ouverture, oder etwas anders zu schreiben mich verbinde, was die Gesellschaft wünscht.
Äußerer Anlass für die Arbeit an dem Werk war ein Auftrag, den Beethoven seitens der Philharmonic Society bereits zehn Jahre zuvor erhalten und bei dem er sich zur Komposition zweier Sinfonien verpflichtet hatte. Obwohl es noch bis ins Jahr 1824 dauerte, ehe Beethoven mit seiner Sinfonie Nr. 9 d-moll op. 125 zumindest eines der Werke fertigstellen konnte, finden sich bereits auf einem Skizzenblatt aus dem Frühjahr 1818 Notizen zu einer Sinfonie Nr. 10, die hier als „2te“ in Abgrenzung zur bereits skizzierten ,Neunten‘ bezeichnet wird:
Adagio Cantique / Frommer Gesang / in einer Sinfonie / in den alten Tonarten. / entweder / für sich allein / oder als Einleitung / in eine Fuge / „Herr Gott Dich loben wir / alleluja“ / vieleicht auf diese weise die / ganze 2te Sinfonie charakteri- / sirt wo alsdenn im letzten / Stück oder schon im adagio / die Singstimmen eintreten / die orchester Violinen etc werden beym letzten Stück verzehnfacht. / Oder das adagio wird auf gewiße weise im lezten / Stücke widerholt wobey alsdann erst die Singstimmen / nach u[nd] nach eintreten – im adagio text / griechischer Mithos Cantique Eclesiastique / im Allegro Feyer des Bachus.
Um 1822 arbeitete Beethoven erneut zeitgleich an beiden Sinfonien, von denen jedoch letztlich nur die erste, also die heute bekannte ,Neunte‘, ausgearbeitet wurde, in die er auch den ursprünglich für die ,Zehnte‘ vorgesehenen Eintritt des Chores integrierte. Als die Londo-
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ner Philharmonic Society ihre Anfrage am 20. Dezember 1824 wiederholte, versprach Beethoven abermals, die Arbeit an seiner Sinfonie Nr. 10 voranzutreiben und tatsächlich brachte er auch im folgenden Jahr einige Skizzen zu Papier. Von einer Vollendung oder zumindest der Wunschvorstellung, das Werk „schon skizzirt in meinem Pulte“ liegen zu haben, blieb er jedoch bis zuletzt weit entfernt. Kein Wunder
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Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 10 Es-Dur
Ludwig van Beethoven, Lithographie nach einer Kohlezeichnung von Max Wulff, 1912
also, dass der Mythos der ,Zehnten‘ nach dem Tod des Komponisten immer wieder Anlass zu Diskussionen und Spekulationen gab. 1844 etwa veröffentlichte die Leipziger Zeitschrift Musikalischkritisches Repertorium aller neuen Erscheinungen im Gebiete der Tonkunst einige Beispiele „Aus Beethoven’s Skizzenbüchern“ aus der Hand seines ehemaligen Sekretärs Anton Schindler, unter denen sich auch „Skizzen zur 10. Symphonie“ befanden. Wenige Jahre später hielt der Archäologe und Musikwissenschaftler Otto Jahn nach einem Gespräch mit dem Geiger Karl Holz, einem engen Vertrauten des Komponisten, fest: „Zur 10ten Symphonie war die Einleitung in Es-Dur, ein sanfter Satz, und ein gewaltiges Allegro in Cmoll im Kopfe fertig und auf dem Klavier Holz schon vorgespielt.“ Erst in den 1980er-Jahren jedoch, nachdem die auf unterschiedliche Hefte und Notenblätter verstreu-
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Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 10 Es-Dur
A B
Skizzen Beethovens zur Sinfonie Nr. 10 Es-Dur mit dem Hinweis „2 theile“ (A), vermutlich auf die zweiteilige Anlage des Kopfsatzes als Abfolge bezogen, und einer ersten Version der Rückleitung vom Allegro in das Andante (B), 1823
ten Skizzen gesammelt und umfassend analysiert worden waren, begann der Mythos der ,Zehnten‘ mit einem Mal reale Gestalt anzunehmen. So konnten aus dem insgesamt rund 350 Takte umfassenden Quellenkonvolut – wobei sich das Material in nicht unerheblichem Maße überschneidet und teilweise korrigierend widerspricht – zwei zentrale Themenkomplexe ausgemacht werden, deren musikalische Gestalt der von Holz beschriebenen „Einleitung in EsDur“ und dem „gewaltige[n] Allegro in Cmoll“ entsprachen. Auf dieser Grundlage wagte der Musikwissenschaftler Barry Cooper 1988 das Unterfangen, Beethovens Skizzen kompositorisch auszuarbeiten und dabei „einen Kopfsatz [zu] ergänzen, der annähernd an das herankommt, was ihm selbst vorschwebte“ Dass ihm dies gelang, ohne, wie er selbst anmerkte, „dabei allzu weit in das Reich der Phantasie abzugleiten“, ist dem Umstand zu verdanken, dass sich Cooper streng auf das überlieferte Material beschränkte und der Versuchung widerstand, etwaige Lücken frei auszufüllen: „Wenn man die übliche Anzahl von Phrasenwiederholungen, Wiederaufnahmen, Rekapitulationen und andere einander entsprechende Takte einbezieht, wie sie auch sonst in Beethovens Sätzen mit Sonatenform vorkommen“, hielt er dabei fest, „erhält man aus den Skizzen genug Material für die ganze AndanteEinleitung und nahezu die gesamte Reprise, plus fast die Hälfte für das Allegro.“ Keine ,Zehnte‘ Beethovens also, aber doch der faszinierende Versuch, den Kopfsatz von Beethovens geplanter Sinfonie in ungefähr jener Form hörbar zu machen, in der er zum Zeitpunkt des Todes des Komponisten skizziert vorlag.
DIE RESTAURIERUNG EINES FRESKOS
„[...] ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt. Denk Dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will, u[nd] der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, denke Dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der Liebe u[nd] Freundschaft nichts biethen als höchstens Schmerz […]“.
Mit diesen erschütternden Zeilen wandte sich Franz Schubert am 31. März 1824 an seinen Freund, den Maler Leopold Kupelwieser. Etwa ein
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Franz Schubert/Luciano Berio Rendering
Franz Schubert/Luciano Berio
Rendering
Jahr zuvor hatte er an sich erste Symptome einer Syphiliserkrankung entdeckt und während eines längeren Aufenthalts im Wiener Allgemeinen Krankenhaus die melancholisch-todessehnsüchtigen Lieder seines Zyklus Die schöne Müllerin D 795 komponiert. In den folgenden Monaten verbesserte sich sein Zustand nach und nach. So schrieb
Banaderl: Panadelsuppe (frz. panade = Brotsuppe); traditionelle österreichische Rindsuppe mit Semmeln und Ei
Moritz von Schwind am 6. März 1824 an Schuberts Freund, den Dichter Franz von Schober: „Schubert ist schon recht wohl. Er sagt, in einigen Tagen der neuen Behandlung hätte er gefühlt, wie sich die Krankheit gebrochen habe und alles anders sei. Er lebt noch immer einen Tag von Banaderl, den andern von einem Schnitzel und trinkt schwelgerisch Thee, dazu geht er öfters baden und ist unmenschlich fleißig.“ Mitte des folgenden Monats ergänzt er: „Schubert ist nicht ganz wohl. Er hat Schmerzen im linken Arm, daß er gar nicht Klavier spielen kann. Übrigens ist er guter Dinge.“
Trotz anhaltender gesundheitlicher Rückschläge manifestierte sich Schuberts „unmenschlich[er]“ Fleiß in mehreren Kammermusikwerken, mit denen sich der Komponist, wie er in dem vielzitierten Brief an Kupelwieser vom 31. März 1824 selbst ankündigte, „den Weg zur großen Sinfonie bahnen“ wollte: „Das Neueste in Wien ist, d[a]ß Beethoven ein Concert gibt, in welchem er seine neue Sinfonie […] produciren läßt. – Wenn Gott will, so bin auch ich gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben.“ Mit der „neuen“ Sinfonie war keine Geringere als die ,Neunte‘ Beethovens gemeint, die einen Monat später, am 7. Mai, im Kärntnertortheater ihre Uraufführung erlebte. Schuberts Anwesenheit bei dieser denkwürdigen Akademie gilt als sicher, sein Entschluss danach stand fest: Nun wollte auch er mit der Konzeption eines großen sinfonischen Werks beginnen, um dadurch dem übermächtigen Vorbild Beethoven nachzueifern oder es sogar zu übertreffen. Seit der Vollendung seiner Sinfonie Nr. 6 C-Dur D 589 im Jahr 1818 hatte er dahingehend lediglich drei bruchstückhafte Entwürfe skizziert. Mit seiner ,unvollendeten‘ Sinfonie Nr. 7 h-moll D 759 von 1822 fand er zwar einen individuellen Zugang zur sinfonischen Form, die nach den Maßstäben seiner Zeit unvollkommene Zweisätzigkeit konnte seinem Anspruch an eine „große Sinfonie“ jedoch nicht genügen. In den Jahren 1825 und 1826 beschäftigte er sich, neben der
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heute als Nummer 8 gezählten „Großen“ Sinfonie C-Dur D 944, schließlich mit ersten Ideen zu einer Sinfonie in D-Dur, die er vermutlich vom Sommer 1828 an bis unmittelbar vor seinem Tod am 19. November desselben Jahres ausarbeitete und deren Fragmente heute unter der Werkverzeichnisnummer D 936 A katalogisiert sind. Die als Particell notierten Entwürfe ergeben in Umfang und Ausarbeitung im Vergleich zu Beethovens Sinfonie Nr. 10 ein weitaus vollständigeres Bild, das den Komponisten Luciano Berio Ende der 1980er-Jahre zur Komposition seines Orchesterwerks Rendering (übersetzt etwa Interpretation oder auch Übertragung) anregte:
In den letzten Wochen seines Lebens fertigte Franz Schubert vielerlei Skizzen zu seiner Zehnten Symphonie in DDur (D 936 A) an. Diese Entwürfe sind ziemlich komplex und von vollendeter Schönheit. Es sind dies weitere deutliche Hinweise für Schuberts Entwicklung, welche vom Einfluß Beethovens wegführt. Rendering mit seiner zweifachen Autorenschaft soll eine Restaurierung
Particell: eine mit Anmerkungen zur Instrumentation versehene Klaviernotation
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Franz Schubert/Luciano Berio Rendering
Franz Schubert am Klavier (2. Version), Ölgemälde von Gustav Klimt, 1899
Franz Schubert/Luciano Berio Rendering
Giotto in Assisi: Gemeint ist Giotto di Bondones Freskenzyklus mit 28 Szenen aus dem Leben des Heiligen Franziskus in der Basilika San Francesco in Assisi.
dieser Skizzen sind, keine Vollendung oder Rekonstruktion. Diese Restaurierung folgt den Richtlinien einer modernen Freskorestaurierung, die auf eine Auffrischung der alten Farben abzielt, ohne die durch die Jahrhunderte entstandenen Schäden kaschieren zu wollen, wobei sogar leere Flecken im Gesamtbild zurückbleiben können (wie etwa im Falle Giotto in Assisi).
Gelegentlich finden sich in den Entwürfen, welche hauptsächlich in Form eines Klaviersystems notiert sind, auch Instrumen tationshinweise. Diese sind jedoch meist in Kurzschrift geschrieben und mußten vor allem in den mittleren und unteren Stimmen ergänzt werden. Die Orchestrierung folgt jener der „Unvollendeten“, aber während die offensichtlich schubertschen Klangfarben erhalten blieben, zeigen sich in der musikalischen Entwicklung der Komposition Episoden, die sich an Mendelssohn anzunähern scheinen, und die Orchestrierung möchte dies widerspiegeln. Darüber hinaus läßt die Expressivität des zweiten Satzes aufhorchen, welchem der Geist Mahlers innezuwohnen scheint.
Die Skizzen sind durch ein sich ständig wandelndes musikalisches Gewebe verbunden, immer „pianissimo“ und „fern“, untermischt mit Anklängen an das Spätwerk Schuberts (die Klaviersonate BDur [D 960], das Klaviertrio BDur [D 868], usw.) und durchsetzt mit polyphonen Passagen aus Fragmenten derselben Skizzen. Dieser musikalische „Zement“ bildet den fehlenden Zusammenhang und füllt die Lücken zwischen den einzelnen Entwürfen. Er wird stets durch Celestaklänge angezeigt und soll „quasi senza suono“ und ohne Ausdruck gespielt werden. [...]
Das beschließende Allegro ist gleichermaßen beeindruckend und der wohl polyphonste Orchestersatz, den Schubert jemals komponiert hat. Diese letzten Entwürfe sind trotz ihres sehr fragmentarischen Zustandes von hoher Homogenität und zeugen von Schuberts Versuchen, ein und dasselbe thematische Material auf verschiedene Art und Weise kontrapunktisch zu verarbeiten. Diese Skizzen zeigen abwechselnd den Charakter eines Scher-
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Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll
zos und eines Finales. Diese Zweideutigkeit (welche Schubert wahrscheinlich in einer neuartigen Weise gelöst oder aber verschärft hätte) war von besonderem Interesse: der musikalische „Zement“ soll neben anderen Besonderheiten ebene diese Doppelbödigkeit strukturell hervorheben.
EIN ABGESCHLOSSENES WERK VOLLENDEN
Anders als im Falle Beethovens und Schuberts ist das Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll M.S. 78 von Niccolò Paganini als vollständig komponiertes, in sich abgeschlossenes Werk überliefert. Das einzige Problem, das einer Aufführung des Konzerts im Wege steht, ist der Umstand, dass von Paganinis Hand einzig die Stimme des Soloinstruments existiert, in die der Komponist sporadisch die Hauptmelodien des Orchestertuttis und einzelne Hinweise zur Instrumentierung notierte. Diese Tatsache ebenso wie der Umstand, dass es keine Hinweise auf eine zeitgenössische Aufführung des Werkes
Beginn des Kopfsatzes in Schuberts Skizzen zur Sinfonie D-Dur, 1828
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Niccolò Paganini
gibt, legen die Vermutung nahe, dass Paganini es nie vollendete, die Notation des Orchesterparts und die Instrumentierung, die er stets als letzten Arbeitsschritt anzufertigen pflegte, also schlichtweg nie zu Papier brachte. Da das Violinkonzert Nr. 5 auf einer Werkliste Paganinis, die dieser um 1830 erstellte, noch nicht aufscheint, lässt sich das Stück auf die Jahre danach, nach aktuellem Forschungsstand etwa
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Niccolò Paganini Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll
Niccolò Paganini, Ölbild von Eugène Delacroix, 1831
auf 1834 datieren, eine Zeit also, in der sich sein gesundheitlicher Zustand merklich verschlechterte, was eine rapide Abnahme seiner Konzert- und Kompositionstätigkeit zur Folge hatte. Die eigentliche ,Laufbahn‘ des Violinkonzerts Nr. 5 begann daher erst nach dem Tod Paganinis im Jahr 1840, infolge dessen sämtliche Manuskripte in den Besitz seines Sohnes Achille, nach dessen Ableben 1895 wiederum in den Besitz von dessen Kindern überging. Diese ließen sämtliche bis dahin unveröffentlichte Werke 1908 von einer Expertenkommission bewerten, die „nach langen Überlegungen“ schließlich die Violinkonzerte Nr. 3, 4 und 5 für würdig befanden, „den Gelehrten zugänglich gemacht zu werden“. Diese Entscheidung hatte jedoch einen genau gegenteiligen Effekt: Während die als weniger bedeutsam eingestuften Manuskripte zum größten Teil versteigert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, blieben die drei Konzerte im Privatbesitz der Erben und konnten erst 1973 vom italienischen Staat angekauft und der römischen Biblioteca Casanatense übergeben werden. Hatte Federico Mompellio für seine im Jahr 1958 durch die Accademia Musicale Chigiana veranlasste Orchestrierung des Violinkonzerts Nr. 5 mit einer Bearbeitung für Violine und Klavier vorlieb nehmen müssen, konnte etwa Francesco Fiore in seiner 2002 für den Geiger Massimo Quarta angefertigten Fassung auf die autographe Stimme Paganinis zurückgreifen. Am heutigen Abend feiert nun jene Orchestrierung ihre Weltpremiere, die der Pianist und Komponist Leslie Howard 2010 für die neue Gesamtausgabe der Werke Paganinis des römischen Istituto Italiano per la Storia della Musica erstellt hat und für die er dem Brucknerhaus Linz dankenswerterweise seine Partitur überließ, aus der eigens für dieses Konzert das Stimmenmaterial erstellt wurde. Im Vorwort des elften Bandes der Paganini-Gesamtausgabe beschreibt Howard seine Vorgehensweise wie folgt:
Das überlieferte MS [i. e. Manuskript] ist keineswegs ein Entwurf, ihm geht eindeutig ein anderes MS voraus; es gibt praktisch keine Korrekturen oder Änderungen und die Struktur ist perfekt und klar ersichtlich. Die Instrumentation des Konzerts ist unter Berücksichtigung aller Angaben im MS vervollständigt worden,
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Niccolò Paganini Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll
Concerto no. 5 per violino e orchestra in la minore
Erste Seite von Niccolò Paganinis Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll in der Orchestrierung von Leslie Howard, 2010
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Allegro maestoso Allegro maestoso I Strumentazione di Leslie Howard Niccolò
Niccolò Paganini Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll
Paganini
1 Flauto 2 Ottavino 1 Oboe 2 1 Clarinetto in la 2 1 Fagotto 2 1 Corno in fa 2 1 Tromba in sib 2 1 Trombone 2 3 Trombone 4 Timpani Triangolo in mi Piatti Gran Cassa Violino principale Violini I Violini II Viole Violoncelli Contrabbassi pp cresc. pp cresc. pp cresc. pp cresc. pp cresc. pp cresc. Primo tempo tacet Primo tempo tacet Primo tempo tacet [Tutti] pizzicato f [cresc.] pizz. f cresc. legato pp cresc. legato pp cresc. pp cresc. pp cresc.
aber das Konzert Nr. 4 diente ebenfalls als Modell für die Größe des Orchesters, die Paganinis Werk erfordert. Eine Neuerung, die sich aus dem dritten Satz im MS ableiten lässt, ist die Einbeziehung von nicht weniger als vier Posaunen. Es ist wahrscheinlich, dass es sich bei der dritten und vierten Posaune um Bassposaunen handelt, und es ist sogar denkbar, dass die vierte Stimme für das Cimbasso gedacht war. Die Verwendung einer gestimmten Triangel folgt ebenfalls den Beispielen des zweiten und vierten Konzerts. Wenn Paganini dieses MS mit der Absicht hinterlassen hat, es später zu orchestrieren, und es sich nicht um eine Art Reduktion einer verschollenen Partitur handelt, dann muss die Instrumentierung aus dem vorhandenen Material abgeleitet werden. Im ersten Satz sind die oft wiederholten Muster von Sechzehnteln im Bass aus der ersten zusätzlich notierten Angabe der Begleitstimmen abgeleitet; die absteigende Sechzehntelfigur ist rückwärts gelesen aus der eröffnenden Solopassage nach dem großen Tutti abgeleitet. Beim zweiten Thema deutet Paganini eine kontrapunktische Imitation an und der Verfasser war so frei, diese Technik in mehreren anderen Passagen in Nachahmung eines Stils zu verwenden, der etwa in den Ouvertüren Rossinis nicht selten zu finden ist, zu denen das Eröffnungstutti eine deutliche Ähnlichkeit aufweist.
Andreas Meier
Cimbasso: im 19. Jahrhundert variable Bezeichnung für die tiefste Blechbläserstimme; heute Bezeichnung für eine Bass- oder KontrabassVentilposaune
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Niccolò Paganini
Konzert für Violine und Orchester Nr. 5 a-moll
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Werke von Sergei Rachmaninoff, Igor Strawinski, Sergei Prokofjew
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Herausgeberin: Linzer Veranstaltungsgesellschaft mbH, Brucknerhaus Linz, Untere Donaulände 7, 4010 Linz
CEO: Mag. Dietmar Kerschbaum, Künstlerischer Vorstandsdirektor LIVA, Intendant Brucknerhaus Linz; Dr. Rainer Stadler, Kaufmännischer Vorstandsdirektor LIVA
Leiter Programmplanung, Dramaturgie und szenische Projekte: Mag. Jan David Schmitz
Redaktion: Andreas Meier | Der Text von Andreas Meier ist ein Originalbeitrag für dieses Programmheft.
Biographien & Lektorat: Romana Gillesberger | Gestaltung: Anett Lysann Kraml, Lukas Eckerstorfer
Abbildungen: D. Acosta (S. 25 [2. v. o.]), X. Bender (S. 25 [4. v. o.]), M. Borggreve (S. 25 [3. v. o.]), M. Brescia & R. Amisano (S. 26), D. Cerati (S. 25 [1. v. o.]), A. Grilc (S. 22), M. Hofer (S. 23), L. Howard (S. 18), privat (S. 9 & 13), Shutterstock (S. 24), Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz (S. 10), The Phillips Collection, Washington, D.C. (S. 16), J. Wesely (S. 21), Wienbibliothek im Rathaus (S. 15), O. Wuttudal (S. 25 [5. v. o.])
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