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Christof Gasser über die Geister der Vergangenheit

LITERATUR

„Die Berührung war sanft, warm in der eisigen Tiefe. Sie öffnete die Augen. Das bleiche Gesicht war schön, jung. Blonde Locken umspielten es. Ihre Augen leuchteten blau. Wer war sie?“

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aus: Wenn die Schatten sterben, Christof Gasser

Christof Gasser

träumte schon als kleiner Junge davon, ein bekannter Schriftsteller zu werden. Dennoch absolvierte er zuerst eine kaufmännische Berufsausbildung, ließ sich zum Exportfachmann und Betriebswirtschaftler ausbilden und übernahm Führungsfunktionen in Großbetrieben der Uhrenindustrie. Bis 2011 lebte er mehrere Jahre in Südostasien, wo er Produktionsbetriebe in Thailand und Malaysia leitete. Dann war es so weit: „Fest entschlossen, Solothurn auf die Krimi-Landkarte der Schweiz zu setzen, begann ich zu schreiben“, verrät er auf seiner Homepage. Mit Erfolg: Seit seinem 2016 erschienenen Debüt Solothurn trägt Schwarz veröffentlicht er Kurzgeschichten und Kriminalromane, die regelmäßig auf der Schweizer Bestsellerliste landen und stets in seiner Heimat spielen: 1960 in Zuchwil bei Solothurn geboren, lebt Gasser heute mit seiner Frau dort ganz in der Nähe am Jurasüdfuß.

Geister der Vergangenheit

In seinem neuen Kriminalroman legt Christof Gasser eine düstere Spur zu historischen Ereignissen in der Schweiz während des Nationalsozialismus

Im Juli 2006 reist Rebecca Kolberg, genannt Becky, mit ihrem Sohn Adrian von Lübeck nach Solothurn. Es ist eine Reise ins Ungewisse: Beckys Großmutter Barbara Felicitas von Colberg, eine Geborene von Aaregg, war Nachfahrin einer der wenigen Familien, die die Stadt und die angrenzenden Gebiete bis zur französischen Besetzung 1792 regiert hatten. Obwohl Beckys Wurzeln also in Solothurn liegen, hat sie die Stadt zuvor noch nie besucht. Tatsächlich war sie zuvor lediglich zweimal in die Schweiz gereist: als kleines Mädchen mit ihren Eltern ins Tessin und irgendwann später einmal zu Freunden der Familie nach Luzern. Dass Becky mit ihrer Herkunft hadert, zeigt auch ihre Entscheidung, ihren Familiennamen ändern zu lassen: „Damit er weniger adelig klingt“, hat sie das C gegen ein K getauscht. Nun aber tauscht sie ihr gesamtes Leben ein: Nach einer schicksalhaften Nacht, in deren Folge Becky „ihr komfortables und eintöniges Leben“, ihre Eltern und auch ihren Mann Jan verlor, hat sie sich entschlossen, von Neustadt in Holstein in die Schweiz überzusiedeln: „Was in Neustadt passiert war, sollte in Neustadt bleiben. Sie wollte ein Leben in einer neuen Umgebung, ohne das starre Gewicht der Familie, ohne die Ostsee, ohne Jan.“ Doch als Becky ihr neues Zuhause erstmals erblickt, ist sie sich nicht sicher, ob sich ausgerechnet hier die Geister der Vergangenheit abschütteln lassen: Das von zwei Wohntürmen flankierte düstere Anwesen aus dem 17. Jahrhundert ist von großen Bäumen umrahmt, die kaum einen Sonnenstrahl durchlassen. Dass diese umgehend gefällt werden müssen, steht für Becky fest. Überhaupt ist eine ganze Reihe an Umbauten geplant, die auch umgehend starten.

Bei den Renovierungsarbeiten stoßen die Bauarbeiter auf die teilweise mumifizierte Leiche einer jungen Frau, die in den 1940er-Jahren offensichtlich erschossen wurde. Obwohl die Tat verjährt ist, lässt Becky keine Ruhe. Unterstützt von ihrem neuen Nachbarn Dominik Dornach – mit dessen achtjähriger Tochter Pia sich Adrian unversehens anfreundet – stellt Becky eigene Nachforschungen an. Sie stößt auf Fotografien und Tagebücher aus jener Zeit, als die Schweiz vom Faschismus umzingelt war. Emma Kummer, so hieß die Tote, arbeitete damals in der Waffenfabrik im Ort, die zu einem deutschen Großkonzern unter nationalsozialistischer Kontrolle gehörte. Fasziniert taucht Becky in dieses fremde Frauenleben ein, bis die Schatten aus früheren Zeiten auch nach ihr greifen. Dass der Name von Colberg ein Synonym für Sturheit ist, wie Beckys Mutter stets behauptete, kommt ihr bei alldem durchaus zugute … Mit Wenn die Schatten sterben erweitert Krimimeister Christof Gasser seine erfolgreiche Solothurn-Reihe: Fans des Schweizer Schriftstellers begegnen einigen bekannten Figuren wie Dominik Dornach, Leiter der Ermittlungen der Solothurner Kantonspolizei, und dessen Tochter Pia. Darüber hinaus widmet sich Christof Gasser einem Thema, das in der Kriminalliteratur bislang wenig Beachtung fand: Eindrucksvoll schildert er die bedrückende Atmosphäre der Schweiz zur Zeit Christof Gasser Wenn die Schatten sterben des Nationalsozialismus und zeigt, wie erschreckend fragil Freiheit 352 S., 15,00 € und Frieden von jeher sind. Freuen eBook 11,49 € Sie sich auf Swiss Noir vom FeinsEmons ten von einem der ganz Großen seines Fachs!

LITERATUR

Stefanie vor Schulte Junge mit schwarzem Hahn 224 S., 22,00 € eBook 18,99 € Diogenes

Der Teufel kann nicht krähen

Es ist eine kalte und lieblose Kindheit, in der der elfjährige Martin aufwachsen muss. Eine Kindheit ohne Fürsorge und Schutz. Doch er hat einen besten Freund, Behüter und Vertrauter zugleich: seinen schwarzen Hahn. Die Dorfbewohner halten den Hahn für den Teufel und meiden Martin. Doch seine Gutmütigkeit nutzen sie schamlos aus. Als Martin mitansehen muss, wie ein schwarzer Reiter – der Legende nach raubt er jedes Jahr Kinder – ein Mädchen entführt, zeigt Martin seine wahre Größe. Er wird dem Spuk ein Ende setzen und die verschwundenen Kinder finden. Mit einem Maler verlässt der Junge mit dem schwarzen Hahn das Dorf und bricht zu einem großen und gefährlichen Abenteuer auf. Stefanie vor Schulte ist ein mitreißender und verzaubernder Roman gelungen. Lektürepflicht!

Das Glück beginnt an jedem Morgen

Einfach nur richtig leben

Die drei Geschwister der Familie Gabel haben sich auseinandergelebt. Der Tod ihrer Eltern hat sie einander völlig entfremdet. Die alleinerziehende Sidsel arbeitet als Restauratorin in einem Kopenhagener Museum, ihr Bruder Niels schlägt sich als Plakatierer ohne festen Wohnsitz durchs Leben. Und Ea, die älteste der drei – sie lebt seit Jahren in San Francisco – versucht mit Hilfe einer Seherin Kontakt zu ihrer verstorbenen Mutter aufzunehmen. Familie, das war einmal. Doch eines Tages müssen sie sich völlig unerwartet ihrer Vergangenheit stellen. Und ihrer Beziehung zueinander. Der Panzer des Hummers scheint sich zu lösen. Caroline Albertine Minors zärtliches Buch zieht den Leser Seite für Seite tiefer in ein beglückendes Leseerlebnis hinein.

Caroline Albertine Minor Der Panzer des Hummers 336 S., 24,00 € eBook 20,99 Diogenes

Florian Knöppler Kronsnest 448 S., 24,00 € eBook 18,99 € Pendragon Ein holsteinisches Dorf in den 1920er-Jahren: Das Dorf und der kleine elterliche Hof in der Elbmarsch sind seine ganze Welt. Eine enge Welt, die durch den gewalttätigen Vater und die Schikanen in der Schule nicht erträglicher wird. Zuflucht findet der empfindsame Hannes allein in der Natur und in seinen Büchern. Doch als er beginnt, sich zu wehren, gerät er unversehens in die politischen Spannungen der Dorfgemeinschaft von Kronsnest. Dabei will er doch eigentlich nur eines – die geheimnisvolle Mara für sich gewinnen, die so ganz anders ist als all die Mädchen im Dorf. Ein anderes Leben, denkt Hannes, muss doch möglich sein. Florian Knöppler ist ein faszinierendes Sittengemälde aus einer nicht allzu fernen Zeit gelungen. Einfühlsam, spannend und von großer erzählerischer Kraft.

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