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Crossroads – der Auftakt zu Franzens neuer Trilogie

LITERATUR

Die Familie am Scheideweg

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Eine Trilogie über drei Generationen einer deutschstämmigen Familie aus dem Mittleren Westen: Crossroads ist der Auftakt zu Jonathan Franzens Opus magnum!

Es ist das literarische Ereignis des Jahres 2021: Als Jonathan Franzens neuer Roman Anfang Oktober endlich in den Buchhandlungen lag, schoss er nicht nur von null auf Platz eins der SPIEGEL-Bestsellerliste. Schon kurz vor Erscheinen von Crossroads überschlug sich auch die deutsche Presse – wollte doch jeder namhafte Rezensent (tatsächlich sind es mehrheitlich Männer) dieses über 800 Seiten umfassende Werk als Erster besprechen. „Man kommt, wenn man diesen Monolithen von einem Gegenwartsroman liest, aus dem Staunen nicht heraus“, resümiert ein durchweg begeisterter Felix Stephan in der Süddeutschen Zeitung. Seinem Kritiker-Kollegen Alexander Wasner von SWR 2 Lesenswert zufolge spricht es „schon sehr für Jonathan Franzens große Schreibkunst, dass er in Worte fassen kann, wie und wodurch jede seiner Figuren geprägt und gefangen ist“. Und für Adam Soboczynski von der ZEIT ist Crossroads „der erste Roman, der die neue, viel diskutierte Empfindsamkeit unserer Zeit, all die Debatten um Identität, um Rassismus und Sexismus, um wokeness und snowflakes, um kulturelle Aneignung und politische Korrektheit in einen großen geschichtlichen Zusammenhang rückt“. Selten sind sich Presse und Leserschaft so einig: Kein anderer zeitgenössischer Schriftsteller – und leider auch keine Schriftstellerin – begeistert und berührt sowohl beruflich wie privat Lesende so wie Jonathan Franzen, seit er 2001 mit seinem Familienroman Die Korrekturen die literarische Weltbühne betrat. Wie gelingt dem US-Amerikaner dieses Kunststück? Was ist das

literarische Geheimnis dieses Autors? Wie setzt er es in seinem neuen Buch um? Vor allem aber: Worum geht es in Crossroads? Die Handlung spielt an einem einzigen Wintertag – genauer am 23. Dezember 1971 – und erzählt von einer deutschstämmigen Familie in Chicago. Russ Hildebrandt ist evangelischer Pastor in einer liberalen Vorstadtgemeinde. In seiner akuten Midlife-Crisis hat er sich in die zehn Jahre jüngere Witwe Frances verliebt und spielt mit dem Gedanken, seine Frau zu verlassen. Falls Marion ihm nicht zuvorkommt, denn auch sie lebt längst ein eigenes geheimes Leben. Ihr gemeinsamer ältester Sohn Clem kehrt von der Universität nach Hause zurück, um sich freiwillig für den Vietnamkrieg zu melden. Clems Schwester Becky, lange Zeit umschwärmter Mittelpunkt ihres Highschool-Jahrgangs, ist in die aktuelle Musikkultur ausgeschert. Ihr hochbegabter jüngerer Bruder Perry verkauft unterdessen Drogen an Siebtklässler, hat aber den festen Vorsatz, ein besserer Mensch zu werden. Alle fünf Mitglieder dieser Familie stehen vor einer Entscheidung. Sie suchen und hoffen auf eine Freiheit, die jeder der anderen jederzeit zu durchkreuzen droht. In dieser aus mehreren Perspektiven erzählten Geschichte nimmt Jonathan Franzen seine Leserinnen und Leser mit in die Vergangenheit und beschwört die Welt der Siebziger herauf, die in der heutigen Jonathan Franzen Crossroads. Ein Schlüssel zu allen Mythologien 1 deutlich nachhallt. Seine bisherigen fünf Romane spielten „alle in einer leicht wie832 S., 28,00 € dererkennbaren Gegenwart“, sagte eBook 24,99 € der Schriftsteller im Gespräch mit Rowohlt seinem amerikanischen Verleger, „und als ich darüber nachdachte,

wurde mir klar, dass die entscheidenden Jahre meines Lebens, nämlich die ersten sechs Jahre der Siebziger, in meiner Literatur bisher überhaupt nicht vorgekommen sind“. Er habe nie über diese Zeit geschrieben, „obwohl es die prägende Zeit meines Lebens gewesen ist“. Das Besondere ist zudem die für Jonathan Franzen ganz neue Form: Crossroads ist der Auftakt einer Trilogie, in der jeder Band eine andere Zeit beleuchten soll. Nachdem Teil eins Anfang der Siebziger angesiedelt ist, soll der nächste um das Jahr 2000, der dritte wiederum in der Gegenwart spielen. Ursprünglich wollte er einen aus drei Teilen bestehenden Roman schreiben, sagt Franzen. Doch als er über die Hälfte des geplanten Manuskripts fertig und noch nicht mal seine fünf Hauptfiguren eingeführt hatte, beschloss er, sein erzählerisches Vorhaben auf drei eigenständige Romane zu verteilen. „Die Seiten sagten mir, dass ich da zu einer Fülle an Material vorgedrungen war, das bislang offenbar unentdeckt in mir geschlummert hatte.“

Der von Jonathan Franzen gewählte Originaltitel Crossroads – auf Deutsch Wegkreuzung oder Scheideweg – ist mehrdeutig; umso schöner, dass er in der Übersetzung von Bettina Abarbanell erhalten geblieben ist. Wie erwähnt lässt er sich auf die aktuelle Situation der einzelnen Familienmitglieder übertragen, gilt aber genauso für das von Rassismus geprägte, tief gespaltene Amerika in den Siebzigern. Nicht zuletzt ist Crossroads der Name der neuen Gemeinde-Jugendgruppe. Erfolgreich geleitet wird sie von Rick Ambrose – die einem Song entlehnte Bezeichnung schlug jedoch Russ Hildebrandt vor: Originalaufnahmen wie Cross Road Blues von Robert Johnson aus den Vierzigern hätten ihm einst geholfen, den Schmerz zu verstehen, dem er bei seiner Arbeit in einem Schulhort in Harlem begegnet sei. „Denn darum geht es beim Blues ja im Grunde“, sagt Russ zu Frances. „Das ist verlorengegangen, als weiße Bands angefangen haben, den Stil nachzuäffen. In der neuen Musik kann ich überhaupt keinen Schmerz hören.“ Ob Schmerz und Trauer, Überraschung oder Freude: Jonathan Franzen beherrscht die Klaviatur der Gefühle. Mit Crossroads ist ihm ein Familienroman von beispielloser Kraft und Tiefe geglückt, mal komisch, mal zutiefst bewegend und immer spannungsreich: ein fulminantes Werk, in dem seine Gabe, im Kleinen das Große zu zeigen, in Erscheinung tritt wie nie zuvor. Sein gesamtes Projekt trägt übrigens den Haupttitel Ein Schlüssel zu allen Mythologien. Jedem anderen Schriftsteller würde man allein dafür Größenwahn attestieren – ihm trauen wir es unumwunden zu. Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic bezeichnete Jonathan Franzen bereits 2007 in seinem Roman Das bin doch ich als „größten Starautor der westlichen Welt“. Spätestens mit diesem gelungenen Auftakt seines Mammutprojekts beweist Jonathan Franzen, dass ihm dieser Ehrentitel gebührt.

„Ich glaube, für einen Schriftsteller fängt Geschichte ab einem gewissen Zeitpunkt an, interessanter zu werden, weil man dann lange genug gelebt hat, um Dinge wiederkehren zu sehen.“

Jonathan Franzen

Jonathan Franzen

betrat vor exakt 20 Jahren die literarische Weltbühne: Für seinen dritten Roman Die Korrekturen erhielt er 2001 den National Book Award. Der Familienroman wurde ein internationaler Bestseller, und Franzen bestätigte mit weiteren Romanen und Essays sein erzählerisches Ausnahmetalent. Geboren wurde er 1959 in Western Springs (Illinois), 1981 machte er am Swarthmore College in Pennsylvania seinen Bachelor of Arts in Germanistik und studierte dann an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und an der Freien Universität Berlin. Heute lebt er in Santa Cruz, Kalifornien. Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. Für sein Gesamtwerk wurde ihm 2013 der WELT-Literaturpreis verliehen sowie 2017 der Frank-Schirrmacher-Preis.

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