Camenzind #2

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Camenzind Zeitschrift für Architektur

Nr.2

Mai 2005 2 Fr / 1 €


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Impressum Herausgeber: Benedikt Boucsein, Axel Humpert, Tim Seidel Anschrift: Benedikt Boucsein, Gsteigstr. 31, CH-8049 Zürich camenzind@bhs-arch.com http://www.bhs-arch.com Camenzind erscheint vierteljährlich und ist bei den Herausgebern sowie Autoren erhältlich. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Photographien kann keine Haftung übernommen werden. Rücksendung nur bei Rückporto. Die Verwertungsrechte an den Beiträgen liegen bei den Autoren. Nachdruck der Texte nur mit Genehmigung der Urheber und mit Quellenangabe. Nachdruck der Zeichnungen/ Photographien nicht gestattet.

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Konzept Camenzind ist eine Zeitschrift, die ganz am Anfang steht. Die erste Ausgabe soll Startpunkt für eine produktive und langfristige Entwicklung sein. Regeln, Ausrichtung und Umfang sollen sich mit der Diskussion entwickeln. Formal und inhaltlich wird vorerst festgelegt: a. Camenzind beschäftigt sich mit aktuellen Fragen der Architektur. b.Die Artikel liefern Denkstoff für formale, pragmatische, ökonomische, politische und ethische Aspekte von Architektur. c. Die Zeitschrift zielt nicht darauf ab, den etablierten, internationalen Diskurs nachzuvollziehen, sondern will Potential aus der „zweiten Reihe“ schöpfen. d. Jeder Autor illustriert seinen Artikel selbst (oder auch nicht) und ist für die Copyrights an den Illustrationen verantwortlich.

dreispaltig, ca. 1500 Wörter ohne Bilder) als auch zeichnerische bzw. fotographische Beiträge (Reproduktion in s/w). Für den Vertrieb vorgesehen:

ist

1. der Postweg - verschickt von den Redakteuren (auf Anfrage und Überweisung der Herstellungsund Portokosten) 2. Ausgaben werden verkauft/ausgelegt: Zürich (ETH Hönggerberg), TU Graz, RWTH Aachen. Weitere Stellen sollen mit der Zeit folgen. 3. Jeder Autor hat das Recht, einfach geheftete „Kopierexemplare“ zum Selbstkostenpreis zu vertreiben. Inhalt Seite 6 Morskoj Promenad Selenagradsk Seite 7 Stadt mit Mauer Seite 12 Das Schattenzentrum

e. Camenzind möchte kein Hochglanzmagazin sein. Der Inhalt und seine effiziente Vermittlung stehen im Vordergrund.

Seite 16 Das Blob-Problem

Jede Ausgabe umfasst mindestens zehn Artikel. Ein Beitrag wird von einem Vertreter der älteren Generation und ein weiterer von einem NichtArchitekten verfasst. Die Artikel der ersten Ausgabe sind auf zwei DIN A4 Seiten beschränkt. Möglich sind sowohl schriftliche Beiträge (Times 10pt, einfacher Zeilenabstand,

Seite 20 Illustration Juliane Haberach

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Seite 18 Form und Funktion

Seite 22 Mies Meets Wright Seite 24 Fassadenkritik

Fotografien: Bene Redmann


Editorial „Es macht keinen Sinn, etwas zu erfinden, es sei denn, es handle sich um eine Verbesserung.“ (Adolf Loos) Im Vorfeld der zweiten Ausgabe von Camenzind kam uns die Frage auf, was eigentlich für ein Zusammenhang zwischen den Autoren bestehe, außer, dass sie alle über Architektur schreiben. Denn jede Zeitschrift hat einen bestimmten Esprit, der sie zusammenhält – oder sollte ihn zumindest haben. Sie versucht eine bestimmte Lücke zu finden, sich in einer kleinen Nische des herrschenden Stimmenwirrwarrs Gehör zu verschaffen, und so zu überleben. Klar ist, dass es sich bei Camenzind um ein Organ des Austauschs außerhalb der herrschenden internationalen Fachdiskurse handelt, und auch vornehmlich um einen Austausch innerhalb unserer Generation. Innerhalb dieser Generation ist es aber auch wieder eine spezifische Gruppe, die für Camenzind schreibt. Die einen Sinn in diesem Schreiben sieht, und damit auch etwas darin sucht. Ein Ziel dieser Suche ist sicherlich, eine Meinung öffentlich zu äußern und sich damit zu exponieren. Ein Vorgang, der wach macht, anregt, und damit zur Schärfung der eigenen Gedanken führt. Wenn man länger darüber nachdenkt, scheint es noch einen tieferen Grund zu geben, sich solchermaßen

theoretisch zu beschäftigen. Die akademische und gesellschaftliche Situation, in der wir uns bewegen, ist extrem verwirrend und vielstimmig, die Fülle der Informationen und Wahlmöglichkeiten sind für den Einzelnen kaum mehr erfassbar. Das Feld spannt sich zwischen dem everything goes und der minimal art, zwischen SOM und Peter Zumthor auf, mit allen denkbaren Schattierungen – und trotzdem hat man nur 24 Stunden am Tag, und nur ein paar Jahrzehnte zum Leben. An diesem Punkt stellt sich die Frage: Was ist die von Loos geforderte „Erfindung“, die Camenzind und seine Autoren machen? Und was bringt sie? Es ist der Versuch, trotz der Komplexität, trotz der Unübersichtlichkeit und trotz dem Gefühl, alles sei schon geschrieben und gesprochen worden, einen eigenen und zeitgemäßen Weg zu finden. Sich weder an den Wunschträumen der 50-jährigen aufzuhängen, noch in die totale Beliebigkeit abzugleiten, sondern einen subjektiven, konsistenten und individuellen Zugang zur Wirklichkeit zu finden.

Deshalb wurde auch in dieser Ausgabe nicht nur keine thematische, sondern auch keine Layoutvorgabe gemacht – nur die Seitenränder standen fest. Die erwarteten Grafikexplosionen kamen freilich nicht... Ganz am Anfang und sehr weit von einer Lösung entfernt, hoffen wir dennoch, dass die zweite Ausgabe von Camenzind uns unserem Ziel einen Schritt näher gebracht hat. Und dem Leser gefällt! Diskussionsbeiträge, begeisterte Ausrufe, ätzenden Spott und perverse Fotos empfängt, ab jetzt, camenzind@bhs-arch.com. Die Redaktion Benedikt Boucsein Axel Humpert Tim Seidel

Die Lösungen sind dabei abseits vom Ausgetretenen zu suchen – und in vielen Fällen auch abseits der zwanghaften Innovationssucht. In bestimmten Details, in merkwürdigen Kombinationen wird oft mehr zu finden sein als in dem unbedingt Gesuchten – und diese Heterogenität und Ungezwungenheit sucht Camenzind.

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nes Manifests der spiessigen bürgerlich-deutschen Spaziergangskultur. 4. Skelette Zwei Teenager verschwinden in der Ruine des 70er-Jahre-Ausflugsrestaurants Priboij, dessen Skelett, zwei riesige, schwebende Stahlbetonplatten, die von einem Versorgungstrakt aus über der Plattform der Promenade - bei Flut auch über dem Meer - auskragen. Markus Podehl

Die Baukunst der alten Sowjets Teil 1:

MORSKOJ PROMENAD SELENAGRADSK 10 ostalgische Punkte 1. Bühne Knapp zehn Jahre nach dem Mauerbau (1961), als im Moskauer Vertrag (1970) die deutschen Ostgrenzen endgültig als „unverletzlich“ ausgewiesen1 werden, bündeln sich im Kaliningrader Gebiet die Energien zum Bau neuer Bühnenbilder des Sozialismus. Morskoij Promenad in Selenagradsk wird montiert. 2. Grau 21. Januar 2005; es schneit es regnet und es hagelt, Salzwasser spritzt über die Stahlbetonbrüstung. Der Nordwind bläst einem das alles ins Gesicht, so, dass man es nicht lange aushält auf der Strandpromenade von Selenagradsk. Morskoj Promenad hat den den avantgardistischen Charme einer stillgelegten Industrieanlage. Sie ist, aufgeständert auf Betonträgern, die aus dem Sand ragen. Man geht dort nicht hin, ausser man ist 12 und will Abenteuer erleben, 16 und sucht das Absurde oder Architekt und liebt alten Beton. Morskoij Promenad ist ein grauer Ort heute. 3. Neu 1970/71 – laut Parteiprogramm der KPdSU von 1961 ist die UdSSR „zum Land mit dem kürzesten Arbeitstag“2 geworden. Als Zeichen dafür und „In einem (...) kompromisslosen Kampf gegen die Überreste des Alten3“ installiert der „neue Mensch“ 4 hier, im zweitwestlichsten Kurort der SU, eine zwei Kilometer lange, aus grauen Betonscheiben zusammengesetzte aufgeständerte Plattform längs der Ostsee. Sie ist der fortschrittsorientierte Ersatz für die nur 900 Meter lange Cranzer Holzpromende aus der Mitte des 19. Jahrhunderts5 - eiSeite 6

5. Moral Da es „keinen Sieg der kommunistischen Moral ohne entschiedenen Kampf gegen (...) Müssiggang, (...) Trunkenheit und ähnliches geben“6 kann liegt ein Fluch auf den Vergnügungseinrichtungen Selenagradsks, die in anderen Badeorten Besuchern das Geld aus der Tasche ziehen würden. Ruine reiht sich an Ruine, darin Strassenhunde herumlaufen. 6. Konzentration Morskoj Promenad ist kein musealer Ort, der den ästhetischen Genuss der Elemente von wohltemperierten, schattigen Interieurs aus und durch grosse Glasscheiben - wohlmöglich durch den Genuss eines Heissgetränks verfeinert - erlebbar macht. Sie ist ein purifizierter Spazierweg. Kein Café, kein Restaurant, kein Kiosk parasitiert entlang des langen, einförmigen offenen Wandelgangs und lenkt ab vom Rauschen des Meeres, schützt vor dem Sturm. 7. Brandung Selenagradsk hat die höchste Brandung der ganzen Ostsee7. Eine Gruppe heranwachsender Jungen haben eine Stelle an der Reeling gefunden, an der sich Wellen besonders hoch an ihrer künstlichen Begrenzung aufbäumen und sich platschend auf die Platte ergiessen. Sie machen Mutproben. 8. Palast Morskoij Promenad ist eine fatale Adaptierung der Versailler Spiegelgalerie8 in stalinistischer Tradition. Sie ist ein den Massen gewidmeter, nach aussen verlagerter (,nach der Wende 1991 aber besser als ausgewildert zu bezeichnender) Innenraum. Durch den vernachlässigten Küstenschutz sind ihre Stahlbetonstelzen täglich der Ostseebrandung ausgesetzt9. Die Wellen werden den Spazierweg zum Einsturz bringen, schliesslich Selenagradsk verschlingen.

9. Freiheit Morskoij Promenad ist, wie alle Architektur, Bühne für gesellschaftliche Machtrituale gewesen und geblieben. Wie den grossen leeren Plätzen osteuropäischer und asiatischer Städte, auf denen einmal sozialistische Massen ihre internationale Solidarität demonstrierten oder den Tag der Arbeit feierten, ist Morskoj Promenad eine Epoche reiner Ästhetik angebrochen - eine Zeit zweckfreier Betrachtung. 10. Bescheidenheit Selenagradsk leistet sich in Morskoj Promenad im Gegensatz zu anderen Strandorten mit einer Seepromenade - den verschwenderischen Luxus einer Pomenade für das Meer, Futter für den Nagezahn der Wellen. Trotzdem ist Selenagradsk möglicherweise der unkommerziellste Badeort der Welt, Morskj Promenad die bescheidenste Promenade. Von ihr gibt es keine Postkarte. Ich glaube dass wir Romantik zum Leben, Bauen und als Betrachtungsweise von Architektur brauchen. Die obigen Punkte sind romantische Kritzeleien, Skizzen einer untergegangenen Zivili-sation, die viele von uns fasziniert. 1

Vgl. z. B. [1] Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.) Informationen zur Politischen Bildung 236 Die Sowjetunion 19531991, Bonn 1992. 2 [2] Parteiprogramm der KPdSU von 1961 in: Boris Meissner: Das Parteiprogramm der KPdSU 1903 bis 1961, Köln 1962, S.1 187 ff. in [1]. 2 [3] Referat von L. Breschnew vom 30. März 1971, entnommen aus Oscar Anweiler u.a. (Hg.): Die sowjetische Bildungspolitik von 1958 bis 1878. Dokumente und Texte, Berlin 1976, S.248 in [1]. Vgl. [4] Ferdinand Ranft (Hg.) Marco Polo Reiseführer «Kaliningrader Gebiet» Ostfildern 2004, S76 ff.. 4 S. [3]. 5 Vgl. [4]. 6 Um die Entstehung des Begriffs Promenade und die der dazugehörigen Raumform nachzulesen ist das Buch Eine Kulturgeschichte des Spazierganges von Gudrun M. König, Wien/Köln/Weimar 1996 zu empfehlen. Darin wird u. a. erklärt, wie die Promenade sich aus dem Inneren der barrocken Schlossanlagen in den Aussenraum verlagert hat. 7 Vgl.[4] 3


stadt mit mauer wenn man in diesen tagen in der zeitung fast täglich über den nahostkonflikt liest, ist immer auch die rede vom bau der mauer, die israel vom westjordanland trennen soll. es ist schwierig, sich ein bild davon zu machen, was diese mauer für den realen alltag der dort befindlichen städte und siedlungen – palästinensische wie isrelische – bedeutet.

die mauer seit der gründung des staates israel ist die geschichte des nahen ostens von immer neuen auseinandersetzungen und konfrontationen geprägt. die 1949 von der uno gezogene 300 km lange ‚green line’, die das bis nach dem

2. weltkrieg unter britischem mandat stehende palästina in einen israelischen und einen palästinensischen staat teilen sollte, wurde vom palästinensischen volk nie anerkannt, so dass folgerichtig auch kein staat palästina entstehen konnte, der eine akzeptanz der aufteilung und damit der existenzberechtigung isreals bedeutet hätte. im jahr 1967 kam es zum sechstagekrieg, bei dem israel dem geplanten gemeinsamen angriff ägyptens, syriens und jordaniens durch einen präventivschlag zuvorkam. dabei konnte israel das palästinensische ostjerusalem einnehmen, außerdem das westjordanland, den gaza-

palästinensisch kontrolliertes Gebiet israelisch kontrolliertes Gebiet green line

Jenin

Mauerbau geplanter Mauerverlauf vorgeschlagerner Mauerverlauf

Tulkarm

Mittelmeer

Nablus

Tel Aviv Ramallah

Jericho

Jerusalem Bethlehem

km

10

20

Hebron Totes Meer

Israel

streifen, den sinai und den golan erobern. im folgenden setzte die israelische regierung durch gezielte ansiedlungen von israelischen staatsbürgern in den palästinensischen territorien alles daran, teile des seither umstrittenen landes unwiederbringlich an israel anzubinden. spätestens seit 2000, nach dem scheitern der gespräche von camp david und mit dem beginn der zweiten intifada, die eine welle von gewalttätigen auseinandersetzungen zwischen beiden seiten mit sich brachte, ist der gegenseitige hass scheinbar unüberbrückbar geworden, so dass die reaktion der israelischen regierung – der bau der mauer - drastisch aber doch auch nachvollziehbar scheint. strittig ist jedoch der verlauf dieser physischen trennlinie: gemäss der israelischen territorialpolitik gelten die neu besiedelten gebiete als israelischer boden; diese siedlungen reichen jedoch so weitverzweigt in die palästinensischen gebiete hinein, dass ein einschliessen derselben in die mauer eine weitgehende abweichung von der ursprünglichen green line und vollständige zergliederung des westjordanlandes in reststücke, enund exklaven bedeutet. grosse, schon heute unter israelischer militärkontrolle befindliche teile der westbank werden so dem israelischen mutterland zugeschlagen, die verbleibenden palästinensischen gebiete vollständig voneinander isoliert. die erst in teilen fertigestellte, nur sporadisch von checkpoints unterbrochene mauer führt bereits heute zu unvortellbaren komplikationen im alltag der palästinensischen bevölkerung. wer beispielsweise den weg vom palästinensischen bethlehem ins nahegelegne ramallah antritt, muss sich auf ein mehrstündige reise mit queSeite 7


rung mehrerer militärischer checkpoints vorbereiten – für viele der tägliche weg zur arbeit.

ten gang zu freunden, zur schule oder moschee auf der jeweils anderen seite ermöglicht, gibt es nicht.

jerusalem beispielhaft bekannt wurde abu dis, stadtteil des palästinensischen jerusalem. da die hauptstadt (ungeachtet ihrer ursprünglichen aufteilung in einen israelischen (west-) und einen palästinensischen (ost-) teil) entlang ihrer grenze gesamthaft in die mauer eingeschlossen wird, stadtgrenzen naturgemäss aber selten mit tatsächlichen besiedlungsgrenzen übereinstimmen, ist das am stadtrand gelegene abu dis durch die mauer in zwei teile gespalten. einen checkpoint, der den gewohn-

vollständig innerhalb der stadtgrenzen und damit der mauer, liegt der südöstliche stadtteil sur baher. seine wurzeln reichen bis in die ottomanische zeit zurück, als er nicht mehr als eine ansammlung frei gruppierter bauernhäuser war, seine einwohner alle angehörige eines grossen familienclans. auf mehreren hügelkämmen gelegen, die fruchtbaren zwischentäler für landwirtschaft, namentlich den anbau von oliven, nutzend, vermittelt es auch heute noch den eindruck eines ländlichen dorfes. die veränderungen

die mauer in abu dis, ostjerusalem.

blick auf sur baher, ostjerusalem. Seite 8

der letzten 50 jahre haben seine struktur jedoch einschneidend verändert: in der unmittelbaren nähe sind in den letzten jahren israelische siedlungen entstanden, das land ist durchschnitten von israelischen strassen und militärwegen, die unabhängig vom wesentlich schlechter ausgebauten palästinensischen verkehrssystem funktionieren; die bereits errichtete mauer verunmöglicht die verbindung nach bethlehem oder zu weiteren umliegenden palästinensischen dörfern. trotzdem hat die bevölkerungszahl beständig zugenommen; die geburtenrate liegt allgemein deutlich höher als bei den israelis, ausserdem lockt die sogenannte „center-oflife-policy“ viele palästinenser aus der westbank und aus dem exil, denen mit einem wohnsitz innerhalb der grenzen jerusalems als dem „mittelpunkt ihres lebens“, verschiedene vorteile, wie etwa israelisch ausgestellte id’s und reisedokumente zuteil werden. wohnen illegal traditionell wächst ein palästinesisches haus mit der familie; aus dem einraum-bau wird so über mehrere generationen ein verschachteltes konstrukt von escherhafter komplexität. wer neu bauen möchte, unterzieht sich einem komplizierten, von israelischen behörden kontrollierten prozedere von grunderwerb und einholen der baugenehmigung, das sich über jahre erstreckt und in seinem finanziellen aufwand in keinem verhältnis zu dem eines in israelischen stadtteilen errichteten hauses steht. die bauaktivität im beständig wachsenden sur baher wird durch strenge auflagen der regierung ohnehin empfindlich eingeschränkt. innerhalb der eng gezogenen grenzen des legal bebaubaren gebietes ist kaum ein grund-


stück ungenutzt. gerade junge familien sehen sich so oft gezwungen, das risiko in kauf zu nehmen, sich an den ortsrändern niederzulassen, es kommt zu illegalen baustellen. interessant ist, wie selbst hier noch – wohl in der hoffnung auf zukünftige erweiterung der bebauungsgrenzen und damit verbundener legitimation der anschein legalen bauens gewahrt wird: ein architekt wird angeheuert, abstandsregelungen werden streng eingehalten, die konstruktion erfolgt fachgerecht in verkleidetem stahlbeton. der mangel an legaler infrastruktur wird improvisatorisch behoben; sowohl an die elektrizitäts- und wasserver-, als auch abwasserentsorgung schliesst man sich über offiziell versorgte nachbarhäuser an. gebaut wird mit vorliebe an jüdischen feiertagen; während die israelische gemeinschaft zurückgezogen feiert, summen palästinensische baustellen vor geschäftigkeit. über allem schwebt drohend die angst vor dem abriss. es gilt, baustellen abzuschliessen, ehe das israelische militär aufmerksam wird, neuen häusern den anschein des immer-schon-dagewesenen zu geben: neubauten ausserhalb der vorgeschriebenen grenzen werden rigoros zerstört. trotzdem ragen aus den obersten geschossen immer noch die armierungseisen – mit wachstum wird jederzeit gerechnet. isolation und autonomie die politischen entwicklungen leisten in sur baher einem kaum zu übersehenden autonomiebestreben vorschub. die anzahl von baugeschäften, lebensmittelläden, apotheken ist in den vergangenen fünf jahren beachtlich gestiegen, es gibt ein krankenhaus und zahlreiche schulen und moscheen. die durch die mauer drohende isolation

von palästinensischen dörfern und städten im umland sorgt hier für einen beachtlichen urbanisierungsimpuls, der im begriff ist, aus der dörflichen vorstadt ein eigenständiges städtisches gefüge zu machen. natürlich haben solche entwicklungen im westjordanland begrenzte möglichkeiten. selbstorganisation, bauaktivitäten und stadtplanung, selbstständige infrastruktur wie müllentsorgung etc. werden hier auch mittelfristig eher informellen charakter behalten. die israelische besatzungspolitik als ursprünglicher auslöser der notwendigkeit städtischer organisation wirkt hier gleichzeitig als entwicklungshemmnis; doch gerade

neben den benachbarten israelischen schlafstädten zeigt sur baher als mikroraum des nahostkonfliktes eine verblüffende, ungesteuerte städtische vitalität.

annika seifert ist architekturstudentin an der eth zürich.

links: blick auf benachbarte israelische siedlung. rechts: wohnhäuser am rand von sur baher.

palästinensische baustelle. Seite 9


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Das Schattenzentrum Das Schattenzentrum ist der Ort neben der City, voll von Dingen, die diese City nicht mehr beherbergen will oder kann. Mit der Zeit hat es sich in die Städte hineingeschlichen, nicht als singuläre bauliche Maßnahme oder pionierhafte Gründung, sondern als „Notwendigkeit“, als einzig mögliche Folgerung aus den Bedürfnissen der Wirtschaft. Die offensichtlich allmächtige „Wirtschaft“ hat sich hier einen Ort erschaffen, der ebenso wenig fassbar ist wie sie selber: Einen Ort, an dem die Regeln der Stadt aufgegeben und verdrängt wurden, um eben diese Stadt zu retten und am Leben zu erhalten. Längst schwach geworden durch ihren Bedeutungsverlust, siecht die City in der Form einer kaum noch zu ertragenden Halbheit dahin. Nicht klar formulierbar und niemals zugegeben, wird diese Halbheit mit allen Mitteln vertuscht. Denn die Anarchie der anderen Hälfte macht Angst. Sie wird bestimmt durch eine unfassbare Dynamik und Grobheit, die kaum verborgen hinter einer Fassade der Zweckdienlichkeit lauert. Die städtischen Funktionen, einstmals übersichtlich zusammengefasst, sind hier kaum mehr kontrollierbar. Sie können jederzeit ihren Standort und ihr Erscheinungsbild ändern, oder ganz verschwinden. Das Schattenzentrum ist vor allem ein Phänomen der „normalen“ Städte, von denen es in Europa Hunderte gibt: Jene Städte zwischen 50.000 und 500.000 Einwohnern, die im Zeitalter der global cities auch von ihren Bewohnern kaum noch ernst genommen werden. Deren Substanz so zerrüttet ist, dass sie weder für Visionen, noch für Romantik taugen. Jede dieser Städte hat ihr Schattenzentrum. Oft wird es gleichmäßig an der Peripherie verteilt, mit Ablegern in den Zentren. In manchen Städten existiert es konzentriert, dann aber ausgeblendet und nicht als Stadtteil wahrnehmbar. Das Schattenzentrum ist hässlich. Autobahnkreuze, Großmärkte, Discounter, Logistikfirmen, Bürogebäude, Freizeitzentren scheinen nur von Machbarkeit geprägt, und das Hässliche und den Nicht-Ort dafür ohne Bedauern in Kauf genommen zu werden. Wo kein öffentlicher Raum existiert, weil alles nur mit dem Auto erreichbar ist, erscheint feine Ästhetik fehl am Platz. Und die schiere Größe der einzelnen Seite 12


Elemente führt die Anwendung der ästhetischen Maßstäbe der City sowieso ad absurdum. Das Schattenzentrum ist zum Lieblingsthema der Einen geworden, zur persona non grata für die Anderen. Das Thema teilt die Disziplin in „Zwischenstadt“-Leser und Blockrand-Befürworter. In diejenigen, die einen zivilisierten Ekel vor dem Groben und Hässlichen haben, und diejenigen, die eine obsessive Faszination dafür empfinden. Auf beiden Seiten herrscht jedoch Klarheit darüber, dass unsere Städte längst gebaut, und meistens unabwendbar hässlich sind. Der Dissens über den richtigen Umgang mit dem Schattenzentrum und die weitestgehende Unfähigkeit, stringente Lösungen zu erarbeiten, weisen auf die Wichtigkeit des Phänomens hin. Fragen des Ortes, der Identität, der Funktionalität und der Wandelbarkeit stellen sich hier auf völlig neue und andere Art und Weise als gewohnt. Die grundsätzliche Wandlung und Zersplitterung der Disziplin in den letzten 100 Jahren macht direkte Vergleiche zwar unsinnig, sollte aber nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass sich an grundsätzlichen Problemen mit ungeliebten Entwicklungen etwas geändert hat. Wie am Ende des 19. Jahrhunderts sind die Architekten mit einem Phänomen konfrontiert, für das keine Konzepte existieren. Wieder können nur wenige einer neuen Realität Schönheit und Harmonie zusprechen. Die Vorgänge des Erkennens, des Festhaltens, des Polemisierens und des wehmütigen Zurückblickens sind lediglich auf eine längere Zeitspanne, auf mehr Personen und viel mehr Länder verteilt als früher. Die Anzahl und Komplexität der Diskurse hat sich seit der Jahrhundertwende ins Unübersichtliche hinein potenziert. Viel und immer klüger über ein Problem zu reden, führt jedoch auch heute nicht automatisch näher zur Lösung, ganz abgesehen von der Frage, ob dies überhaupt noch möglich ist. Das Schattenzentrum bietet enorme Freiheiten. Die Vorgänge sind relativ unkompliziert und direkt, und scheinen von kommunalen Engpässen fast unabhängig zu sein. Die bauliche Dynamik steht heute fast alleine da. Die Mischung der Funktionen und die Vielschichtigkeit der Infrastruktur sind oft dichter als in den Innenstädten. Die Selbstwiederholung und Selbstverliebtheit der internationalen Architekturszene steigert sich immer mehr ins Unerträgliche. Die Schattenzentren bilden die gegenwärtig letzte Möglichkeit, mit der realen Stadt und ihren Menschen in Kontakt zu kommen und jenseits von Selbsttäuschung und Resignation den Beruf des Architekten und Urbanisten zeitgemäß zu praktizieren.

Alle Fotos entstanden in Duisburg-Neuenkamp und DuisburgKasslerfeld.

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Mathias Uhr

Das Blob-Problem „Würfel sind nicht mehr das Mass aller Dinge. Rechteckige Konstruktion ist nicht länger eine technische Notwendigkeit, sie ist nur noch ideologische und ästhetische Mode.“ – Greg Lynn Ist das wirklich so einfach oder haben Blobs vielleicht ein tieferliegenderes Formproblem?

Fussballstadion München („Allianz Arena“), Herzog & deMeuron Was von aussen wie ein Pneu wirken soll, ist in Wirklichkeit eine mit einzelnen Kissen behangene Konstruktion aus einem Stützen-Platten-System aus Beton und einem komplizierten auskragenden Fachwerk aus Stahl. Der Sonnenschutz musste als gesondertes System daruntergehängt werden. Die äusserst aufwändige Hülle aus fast 3000 einzeln angeschlossenen, luftgefüllten Kissen, die ständig mit entfeuchteter Luft unter Druck gehalten werden, hätte man sich auch sparen können. Sie macht die traditionelle Konstruktion noch lange nicht zu einem Membranbau - feste Kunststoffpanele wären ehrlicher gewesen. Fotos von http://www.stadion-muenchen.de/ Längsschnitt aus Detail 12/2002

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Mehr als offensichtlich ist mit Sicherheit, dass bei der sogenannten Blob-Architektur eine völlig neue Formensprache im Spiel ist. Es sind organische, „der Natur abgeschaute“ Formen, die „gewachsen“ und nicht konstruiert oder gefügt scheinen. Sie ähneln Ballonen, Amöben oder Aliens aus B-Movies. In der Tat beziehen sie sich in doppeltem Sinne auf Membranbauten: Einerseits durch die „membrane“ Haut, andererseits durch die Gesamtform an sich, die pneumatischen Systemen ähnelt. Solche findet man in der Natur so häufig, dass Frei Otto feststellte: „Der Pneu ist das Konstruktionssystem der lebenden Natur“1. Es herrscht heute ein ostentatives Interesse an der „Haut“, an einer neuen (bzw. wiederentdeckten) Interpretation der Fassade als leichte (textile) Bekleidung im Sinne Sempers und folgerichtig an deren Ornamentik. Dies äussert sich z.B. in der Verwendung von expressiven Fassadenbekleidungen aller Art, im Einsatz von „Tex-Tiles“, also Bausteinen, die eine textil anmutende Ornamentik ergeben, und natürlich im extensiven Einsatz von Glas, heute mit Vorliebe bedruckt, geäzt, gefärbt etc. und überall dort eingesetzt, wo es eigentlich nicht üblich ist. Solche Dinge sind natürlich keineswegs neu. Schon in den ersten Städten überhaupt, in Mesopotamien vor 5000 Jahren, wurden die Mauern mit keramischen Kacheln reich verziert und damit bereits eine Übersetzung, eine Kunstform oder repräsentative Tektonik2 textiler Architektur gebaut. Dieses Prinzip findet man sodann in allen Zeiten und Kulturen, ob im präkolumbianischen Amerika, der islamischen Welt, dem Historismus oder Kirchenbauten der 50er-Jahre. Von Alberti bis Schinkel, Semper bis Wagner, Perret und Wright haben sich Architekten theoretisch und praktisch damit auseinandergesetzt. Erst die Moderne machte mit ihrer Forderung nach „Ehrlichkeit“ dem fruchtbaren Dialog von Kunstform

und Kernform mit all dem daraus entstehenden stilistischen und ideellen Reichtum den Garaus. All das muss aber noch nichts mit Blob-Architektur zu tun haben – solche „Stoffwechsel“3 wurden im Gegenteil fast immer auf traditionelle, rechtwinklige Formen angewandt. Bei Blobs ist die Betonung der Hülle jedoch unverzichtbar, ja sogar das Merkmal schlechthin. Geht man ihnen jedoch „unter die Haut“, zeigen sich sofort grosse Widersprüche: Die Hüllen sind natürlich nicht wirklich membran wie eine tensile, beigeweiche Zeltplane, sondern – aus bauphysikalischen (Wärmedämmung, Sonnenschutz etc.) oder statischen Gründen (Wind, Schnee) – im Gegenteil meist starr und schwer. Sie sollen aber so aussehen wie eine Membran und brauchen deshalb ein aufwändiges Gerüst. Und weil eine solche filigrane, tektonische Konstruktion natürlich in krassem Widerspruch zum beabsichtigten amorphen, organischen äusseren Bild steht, wird sie oft versteckt. Ebenso symptomatisch ist die häufige Anwendung des Struktur-Hülle-Prinzips: Eine wie auch immer geartete oder geformte Struktur (die das Programm zu erfüllen hat) wird mit einer einzigen, scheinbar unabhängigen Hülle überzogen. Diese hat so natürlich überhaupt nichts mit dem „Kern“ zu tun, es kann gar keine Beziehung zwischen Kunstform und Kernform geben, geschweige denn eine ontologische.2 Eine solche ist eben nur erreichbar, wenn sich die Architektur auf die Konstruktion bezieht und ihre Formen in einem innerdisziplinären Prozess aus den den Materialien und Techniken immanenten Eigenschaften und Prozeduren schöpft. Neue Entwicklungen und Übersetzungen müssen innerhalb und in der Sprache der Architektur - deren Syntax die Konstruktion ist - geschehen. Diese Forderung wurde immer wie


der geäussert, z.B. von Otto Wagner: „Jede Bauform ist aus der Konstruktion entstanden und sukzessive zur Kunstform geworden. [...] Der Architekt hat immer aus der Konstruktion die Kunstform zu entwickeln.“4 Was also wäre denn das Konstruktionsprinzip von Blobs? Von allen Bauwerken stehen ihnen Zeltkonstruktionen formal am nächsten, genauer gesagt pneumatische Systeme wie z.B. Traglufthallen. Im Gegensatz zu anderen Zeltbauten, die noch aus weiteren Elementen wie Stangen und Seilen bestehen, ist ein „Pneu“ der reinstmögliche Membranbau, bei dem Kern- und Kunstform eins werden. So gesehen ist er die „ehrlichste“ aller Konstruktionen: Es gibt kein Verhüllen, denn er selbst ist die Hülle! Andererseits verhindert gerade dies die Entstehung einer Grammatik oder eines Stils, weil ohne „Stilhülse“ und strukturelle Elemente eben keine „Tapete“ und kein Vokabular für kulturelle Bedeutungen mehr vorhanden ist. Und weil es genau diese Elemente sind, die bei einem Stoffwechsel transformiert werden, ist ein solcher auch nicht möglich! Ein pneumatisches System muss ein pneumatisches System bleiben und kann nicht in eine andere Bauweise übersetzt werden. (Wie soll man einen Text, der aus nur einem Buchstaben besteht, übersetzen?)

dern arbeitet allein mit Analogien aus fremden Gebieten, die keinen zwingenden Bezug, höchstens eine thematische Verwandtschaft haben. Die Hülle ist oft nur noch ein Zeichen, ein effektvoller (und oft genug völlig beliebiger) Blickfang, der weder mit der Funktion noch der Konstruktion etwas zu tun hat und schon gar keiner Typologie entspricht. Wenn Philip Johnson schon die Zeltkonstruktionen Frei Ottos als „Para-Architektur“ bezeichnete (und deren Formensprache und Tektonik sind von beeindruckender Selbstverständlichkeit und Schönheit!), so muss man den Blobs die Zugehörigkeit zur Architektur eigentlich komplett absprechen! Dass es auch anders geht, haben verschiedene grosse Architekten längst bewiesen: Man denke etwa an die Bauten von Heinz Isler oder Eero Saarinen, die erfolgreiche Stoffwechsel von membranen Konstruktionen – und eben deren Konstruktion! – darstellen. Besonders interessant sind Werke, die sich intensiv mit der Tektonik von Zeltkonstruktionen auseinandersetzen und diese dann in ein anderes Material – unter Berücksichtigung von dessen Besonderheiten sowie viel weiter reichenden kulturellen und ideellen Bezügen – übersetzen.

Zu nennen wären etwa die Olympia-Stadien von Kenzo Tange in Tokyo, die an japanische Holzbauten erinnern, oder – ein phantastisch schönes Beispiel – die Bibliothèque Nationale in Paris von Henri Labrouste, die Frampton glaubhaft als Metapher eines zeltüberdachten, antiken römischen Hofes interpretiert.5 Vor diesem Hintergrund wirkt das einleitende Zitat von Greg Lynn nur noch naiv und ganz einfach dumm. Mit der alleinigen Begründung über die technische Machbarkeit degradiert er die Blobs gleich selbst zur blossen ästhetischen Mode.

1

in Frei Otto, „Pneu und Knochen“, Karl Krämer Verlag, Stuttgart 1995 2

„Kunstform“ (Karl Bötticher) und „repräsentative Tektonik“ (Kenneth Frampton) meinen beide die „Stilhülle“, d.h. die Fassade als Trägerin von symbolischen, kulturellen Bedeutungen, die im Idealfall in „ontologischer“ (Frampton) Beziehung zur „Kernform“ bzw. „strukturellen Tektonik“, also der Konstruktion, steht. 3

Sempers Stoffwechseltheorie beschreibt eine symbolische Konservierung, bei der bestimmte strukturelle Elemente anhand ihren Bedeutungen in versteinerte Formen [oder allgemein: in ein anderes Material] übersetzt werden. (Gottfried Semper, “Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik”, 2. Auflage, Friedrich Bruckmann’s Verlag, München 1878, Bd.2, S.262 ff.) 4

in Otto Wagner, „Die Baukunst unserer Zeit“, 4. Auflage, Anton Schroll Verlag, Wien 1914, S.60 f. 5

siehe Kenneth Frampton, „Studies in Tectonic Culture“, MIT Press, Cambridge/London 1995, S.46 ff. (Bild)

Die Blob-Architektur kann also nicht aus Membranbauten – und auch aus keiner anderen Bauweise – entwickelt werden. Eine Umsetzung 1:1 ist ebenfalls nicht möglich, weil (noch) keine Materialien für wirkliche, d.h. statisch wirksam eingesetzte Membranen existieren, die für „feste“ Architektur und Nutzung geeignet wären. Kein Wunder also bedient sich die Blob-Architektur (pseudo-) organischen Formen aus der Natur und beschränkt sich nicht auf einen stilistisch-tektonischen Stoffwechsel, sondern übersetzt gleich ganze Strukturen und Formen in neue Materialien und zudem komplett andere Massstäbe. Damit greift sie nicht auf die Baukultur selbst zurück, sonSeite 17


Form und Funktion Kristian Tersar Basierend auf einer Grundform, lassen sich völlig unterschiedliche Räume beschreiben und erschaffen. Die Architektur als Kunstform oder als Wissenschaft des Bauens nutzt dies genau so wie die Biologie: Einen Raum zu erdenken, zu verstehen, zu visualisieren. Wenn es darum geht, einen Raum zu erdenken, ihm eine Funktion zuzuschreiben, ist dies sowohl für einen Architekten als auch für einen Biologen eine Konstante. Der Architekt bekommt im schlimmsten Fall vom Bauherren gesagt, welche Funktion ein Raum haben soll, der Biologe blickt durch sein Mikroskop und sieht die Funktion einer Zelle. Somit ist die Funktion also vorgegeben und die Form bleibt eine Variable. Bildende Kunst/Architektur als Modell für das Verständnis der Form einer Zelle heranzuziehen scheint zunächst weit hergeholt, liegt doch zum Beispiel die Chemie/Biochemie viel näher, erklärt Stoffwechselzusammenhänge und einzelne molekulare Komponenten einer Zelle mit der gleichen nüchternen wissenschaftlichen Sprache. Doch beschäftigt man sich näher mit bildender Kunst als Modell für die Naturwissenschaft Zellbiologie, so zeigt sich: Wie Zellformen entstehen, scheint weniger in der chemischen Komposition einer Zelle zu liegen als in der Architektur der Zelle selbst. So werden Moleküle und Zellen, welche Gewebe bilden (z.B. die Haut), ständig entfernt und wieder erneuert. Was in einem Gewebe er-

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halten bleibt, ist die Aufrechterhaltung eines Musters, einer (Gewebs-) Architektur, einer Form. Ein Organismus ist ein komplexes System von Zellen. Dabei lagern sich Zellen zu komplexen Organen zusammen, die eine bestimmte Funktion erfüllen. Die Funktion eines biologischen Systems spiegelt sich sowohl in der räumlichen Anordung der Zellen (z.B. eines Organs) als auch in der Form der einzelnen Zellen, die dieses System, bilden, wieder. Nun ist es so, dass ich selbst auch Teil einer Zelle bin. Meine Zelle ist ein Labor, welches wiederum Teil eines Gebäudes ist und darin eine bestimmte Funktion erfüllt, nämlich Zweckmässigkeit, im Charm der Siebziger. Ein 360° Blick durch meine Zelle lässt weder geordnete Formen erkennen noch mögliche Funktionen erahnen, die sie haben könnte. In erster Linie ist es ein Labor, in dem eine persönliche Ordnung herrscht, für andere auf den ersten Blick nicht erkennbar. Dabei entstehen: Formen, Stapel von Büchern, Plastikrörchenansammlungen, und Berge von sehr wichtigen Notizen, aufgelockert durch dahinvegetierende Pfanzen. Alles mit dem permanenten Hintergedanken an vollendete Funktionalität. Doch lässt diese Zelle genügend Raum für Interaktion: Durch einen Gang ist sie mit einer Vielzahl weiterer Zellen verbunden, die auf ähnliche Art und Weise organisiert sind und wiederum bestimmte Funktionen übernehmen. Man trifft also ständig auf Räume, Zellen, die irgendwie miteinander verbunden eine Form ergeben,

in diesem Fall ein Gebäude bilden, und eine Funktion erfüllen, in meinen Fall Raum für eine Naturwissenschaft bieten. Form und Funktion sind zwei wichtige Begriffe, um biologische Systeme zu verstehen, vor allem aber den kleinsten Bestandteil, die Zelle. In der Architektur wie auch in der Biologie stellt sich die gleiche Farge, nämlich die nach der Form. In diesem speziellen Fall, nach der Form einer Zelle. Ein Modell für das Verständnis der Form lebender Zellen, geht zurück auf den Architekten und Multi-Wissenschaftler R.B. Fuller: Das Tensegrity-Modell. Tensegrity ist eine Wortschöpfung aus den Worten „tension“ und „integrity“.Das Wort Tensegrity beschreibt daher ein Struktur-Prinzip, in der die Aufrechterhaltung der Form einer Struktur (Zelle, Gebäude) dadurch garantiert wird, dass Druckelemente (Mikrotubuli der Zelle, Stäbe) völlig voneinander losgelöst sind und nur durch Zugelemente (Mikrofilamente der Zelle, Seile) miteinander verbunden werden. Die ersten Tensegrity-Figuren wurden von dem Bildhauer und Künstler Kenneth Snelson erschaffen. Inspiriert durch Seminare von R.B. Fuller Ende der 40er Jahre begann er erste Prototypen zu bauen. Wichtig an seinen Tensgrity Figuren ist, dass die Druckelemente (Aluminiumstäbe) der Skulptur nur an Hand von gespannten, elastischen Seilen in Stasis gehalten werden und ein in sich abgeschlossenes System bilden (geschlossenes Tensegrity System). Snelson konzipierte und


baute 1968 den „needle tower“ als Teil seiner Ausstellung im Bryant Park in New York (Abb.1). Geschlossene Tensegrity Skulpturen (needle tower) entstehen durch lineare Addition von sogenannten “twist units” mit Dreiecken als Basispolygone, wobei das obere Basispolygon innerhalb eines Moduls immer kleiner ist als das untere, wodurch sich die gezeigten Türme nach oben verjüngen. Diese und andere Tensegrity Skulpturen und „Exoskelette“ beeinflussten nicht nur die Architektur und das Bauwesen, sondern auch einen Zellbiologen, Donald Ingber. Der, ebenfalls von diesem Modell inspiriert, das Konzept der «lebendigen Tensegrity Strukturen» formulierte. Mittlerweile ist bekannt, dass eukaryotisch Zellen (z.B. alle Zellen des Menschen) nicht einfach nur kleine Geschenkboxen sind, gefüllt mit flüssigem Protoplasma (Zellsaft), in dem zahlreihe Organellen (z.b. der Zellkern, oder das Mitochondrium - das Kraftwerk einer Zelle) herumschwimmen. Sie besitzen ein kompliziertes Netzwerk, das Cyto-(Zell)Skelett, welches aus miteinander verbundenen Mikrofilamenten (entsprechen den Seilen in Snelsons Skulpturen), Mikrotubuli (Stäbe in Snelsons Skulpturen) und Intermediärfilamenten (spezial Seile) besteht (Abb.2). Diese Filamente können mechanischen Lasten und Veränderungen der Zellform standhalten. Sie dienen als Schienen für den Transport von Organellen und delegieren Enzyme und ihre Substrate an ihre Zielorte.

Das Modell von Donald Ingber lässt eine Zelle als ein Kräftediagramm im dreidimensionalen Raum erscheinen. Das Zellskelett wird (Abb.3) durch Dreiecke gebildet da andere Polygone einen Stabilitätsverlust bedeuten würden. Die von Snelson entworfenen - geschlossenen - Tensegritiy Skulpturen, sind Modelle, die die Natur tatsächlich zur Anwendung bringt. Nach diesem Prinzip wird einer Zelle (Form) Stabilität verleihen und ihre Funktion aufrecht erhalten. Trotz der faszinierenden Wirkung der geschlossenen Tensegrities, im Hinblick auf Stabilität und Tragkraft, ist seit der Entwicklung der räumlichen Grundmodule eine Anwendung in einem existierenden Bauwerk nicht verwirklicht worden. Das Tensegrity-Modell ist ein Beispiel, bei dem “Architektur” das Verständniss für eine biologische Form (Zelle) prägte. Umgekehrt gibt es dutzende von Beispielen, wo “Architektur” sich der Natur als Modell bedient. Doch Faszinierend ist die Annahme, dass das Tensegrity-Modell eine Art grundlegendes Bauprinzip darstellt. Von der Natur schon völlig akzeptiert, doch in “der Architektur” noch immer ein Modell.

1 oben: “needle tower” von Kenneth snelson, 1968, Bryant Park - New York. unten: Innenansicht des “needle tower”,von 1969, Koller Museum in Otterlo, Holland.

2 Komponenten des Cytoskeletts

3 Cytoskelett von menschlichen Endothelzellen. oben: Zellen in Kultur unten: Filamente verbinden sich zu dreieckigen Basispolygonen, ähnlich denen in Snelsons “needle tower” - ein Beispiel für Tensegritysrukturen in Zellen.

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Mies meets Wright Horst Ehmke, Professor an der Universität Freiburg, später Kanzleramtsminister unter Willy Brandt, schrieb im März 2005: „Blicke ich in die Reihen der Heutigen (er meinte Politiker), so erkenne ich einen Mangel an Persönlichkeiten. Wir haben eine seltsame Mischung aus Spassgesellschaft und Jammerei. Dieser Unernst ist unser Problem.“ Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit dem Thema: Woran liegt es, dass wir einen solchen Verlust an Persönlichkeiten haben, nicht nur in der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Kunst, der eine Nivellierung der Arbeitsergebnisse nach unten in diesen Bereichen zur Folge hat. Woran liegt es? An dem Wohlstands-Überdruss, an der ständigen Aufgeregtheit durch äussere Einflüsse, Medien, etc.? Oder liegt es an der Tatsache, dass man Persönlichkeiten und ihre Leistungen zu achten verlernt hat? Für uns Architekten heisst es, dass mit jedem zerstörten oder abgerissenen Bau von hoher Qualität auch die Persönlichkeit des Architekten angegriffen oder in Zweifel gezogen wird. Frank Lloyd Wright musste zu Lebzeiten sehen, wie viele seiner Bauten „verschwanden“. Er schrieb hierzu: „ They have ruined more, wasted more, trampled on more than any civilization the world has ever seen – in a shorter time too.“ Ich wusste, dass auch Mies van der Rohe an seinen nicht realisierten Planungen, aber noch viel mehr unter den abgerissenen oder deformierten Bauten seiner frühen Phase litt. Ich hatte das grosse Glück, ihm noch begegnet zu sein, im Juni 1988. Damals schrieb ich in mein Reisetagebuch:

froh, wie Dritte sagten. Gestalt und Kopf eigentlich sehr massiv wirkend, dagegen seine Hände feingliedrig und nervig. Er verabschiedete mich: „Waren Sie schon im art-club und haben dort meine Treppe gesehen? Das war mein erster Bauauftrag in Amerika.“ Zum Abschied schenkte er mir noch ein Buch über seine Arbeiten. (6.6.66 – leider unsigniert – Ich habe mich einfach nicht getraut, ihn darum zu bitten.) Mit Dirk Lohan war ich noch in Mies’ Wohnung, die er gemeinsam mit seiner Tochter (Dr.) Waltraud bewohnte. Sein Zimmer: wenige seiner Möbel, ein paar Originale von Bauhaus-Malern an der Wand. Alles edel, aber spartanisch. Was und wie viel brauchen andere um sich herum? Einige Jahre später besuchte ich Frank Lloyd Wrights Taliesin West in Arizona:

Frank Lloyd Wright war und ist

ce apartments, das Shepardhouse in New Canaan. Ich besitze ein Buch von ihm: Lost Buildings, nicht mehr existierende Häuser, wie das Imperial Hotel in Tokio oder den Forest Golf Club, River Forest/Illinois. Welch ein grosser Geist, welch ein Gestaltungsreichtum. Er ist einen langen, langen Weg gegangen. Ernst Neufert (Professor an der TU Darmstadt von 1945 bis 1965) war ein grosser Verehrer von FLW, er zeigte in seinen Vorlesungen immer wieder Bauten von ihm. 1955 besuchte er ihn in Taliesin West. 1971 fuhr ich auf meiner crosscountry-tour von LA nach Denver über Flagstaff, Phoenix, Albuquerque, Santa Fe. In Phoenix bog ich nach Taliesin West ab. Ich wusste, dass FLW bereits zwölf Jahre tot war und sein Büro von Wes Peters weitergeführt wurde. Dieser war damals mit der Stalintochter Swetlana verheiratet. Man fährt von Phoenix aus „in die Prärie“, und plötzlich steht man vor dem weitläufigen „Camp“.

für mich die Persönlichkeit in der Architektur des 19.und 20. Jahrhunderts, die Picasso für die Malerei dieser Zeit war. Ein Genie, das sich mehrfach im Leben selbst überlebte, nicht weil er dem Zeitgeist nachgab, sondern immer wieder selbst neuen Zeitgeist gebar, dem dann die anderen folgten. Ich hatte viele Bauten von FLW gesehen; um nur einige zu nennen: das Robbie-House in Chicago, Johnson Wax in Racine, die Kapelle der Airforce Academy in Colorado Springs, natürlich das Guggenheim Museum in New York, die heute nicht mehr existierenden Francisco Terra-

Alles von Schülern, also Laien, gebaut. Als ich ankam, war Peters verreist, alles etwas museal: Das Cello stand noch da, wo es der Meister zum letzten Mal spielte. Eine ältere Mitarbeiterin führte mich und noch einige andere andachtsvoll von Raum zu Raum. Durch ihre archaischen Konstruktionen wirkten die Säle jeder für sich gewaltig, und das steigerte sich noch in der dramaturgisch angelegten Raumfolge. Grosse Materialvielfalt, meist von roher Struktur. Von überall sah man die von Riesenkakteen übersäte Landschaft und die nahen Berge. Später kam Mrs. Wright, gebo-

Frank Lloyd Wright (1869 bis 1959)

Ludwig Mies van der Rohe (1886 – 1970) „Schon bei meinem ersten Besuch in seinem Büro rief er durch die halboffene Tür seines Zimmers: ,Ich höre deutsche Stimmen, kommt mal rein.’“ So stand ich plötzlich vor diesem von mir verehrten Gottvater der modernen Architektur hörte bald sein fröhliches gurales und sein american-rheinländisch. Nachdem Dirk Lohan (sein Enkel) erklärt hatte, wer ich bin und was ich mache, begann mich MvdR gleich auszufragen nach Leuten, die er noch von früher kannte und nach denen, die er im Zusammenhang mit seinen Krupp-Essen- und BerlinPlänen kennen gelernt hatte. Er war damals 80-jährg, hatte sich am Knie operieren lassen und war durch die Tatsache, einen Enkel im Büro zu haben, wieder lebensSeite 22


rene Olgiva Lazorisch, Tochter eines monegassischen Generals. Mit dieser Frau hatte also FLW 35 Jahre zusammen gelebt. Als sie 1924 heirateten war sie 24 und er 55. Damals bei meinem Besuch war sie demnach 71 Jahre alt, eine noch immer sehr schöne Frau. Erst als ich Grüsse von Ernst Neufert bestellte, wurde sie freundlicher. Sie fragte nach ihm, dann nach meinem Leben und bestellte zum Schluss Grüsse an Ernst Neufert. Frank Lloyd Wright ist Ehrendoktor der TU Darmstadt. Ich wusste, dass sich Mies und Wright bereits Ende der dreissiger Jahre begegnet waren. Auf der Suche nach authentischen Quellen stiess ich auf Edgar Tafels Erinnerungen: Frank Lloyd Wright persönlich. Edgar Tafel war von 1932 bis 1941 „Lehrling“ im Taliesin-Camp von Frank Lloyd Wright. Über die Begegnung von Mies und Wright schrieb er: „Eines Morgens an einem Freitag kam ein Anruf von zwei jungen Chicago-Architekten, die berichteten, der emigrierte deutsche Architekt Mies van der Rohe möchte gern Taliesin besuchen. Mr. Wright hegte grossen Respekt für das Werk von Mies. ,Um alles in der Welt, bringt ihn her!’ Er kannte das Haus Tugendhat und den Barcelona-Pavillon von Mies aus Zeitschriften und hielt ihn für einen Individualisten und nicht für irgendeinen Anhänger einer ausländischen Schule oder Bewegung. An jenem Freitag erschienen die beiden Architekten mit Mies gerade zur Zeit des Mittagessens. Wir waren überrascht, wie gut sich Mr. Wright mit Mies zu verstehen schien. Mehr noch: Aus dem Nachmittagsbesuch wurde ein viertägiger Aufenthalt in Taliesin, wobei Mies dauernd ein deutscher Lehrling als Dolmetscher zur Seite stand. Mr. Wright versprach, er werde Mies pesönlich nach Chicago zurückfahren, worauf sich die beiden anderen Kollegen verabschiedeten. Am vierten Tag sah sich Frau Wright ihren Gast genauer an und rief aus: ,Der arme Mr. Mies! Sein weisses Hemd ist ja ganz grau!’ Mies hatte nicht damit gerechnet, so lange zu bleiben, und war ohne Wäsche und Anzüge zum Wechseln erschienen. Mies sah sich wirklich zerknittert und ungepflegt aus. Am Montag auf dem Weg ins Hotel, wo Mies wohnte, organisierte Mr. Wright – mit mir als Chauffeur – eine grosse Ausfahrt für seinen geschätzten Kollegen. Zuallererst fuhren wir nach Racine, um das im Bau stehende Johnson Wax Building anzusehen. Die Säulen und die Brücke standen bereits, und Mr. Wright zeigte

ihm sichtlich stolz das Gebäude. Während alledem hatte Mies einen vergnügten Eindruck gemacht und schien auch angenehm überrascht zu sein von Mr. Wrights Zuvorkommendheit. Er nickte und sagte immer wieder ja, wenn er den Dolmetscher anhörte. Mies war ein stiller Mann, scheu und nicht sehr mitteilsam. Er hatte sich mit einer Aura umgeben. Wie wir in späteren Gesprächen zu erkennen glaubten, bestand der grösste Unterschied zwischen Mies und Mr. Wright darin, dass Mies zeit seines Lebens darum bemüht war, einen einzigen Stil zu finden, diesen zu vervollkommnen und zu läutern; Mr. Wright hingegen arbeitete unentwegt neue Stile aus, bildete sie heran, entwickelte sie. Nie blieb er einem einzigen Entwurfsprinzip verhaftet, was er auch mit einem seiner bevorzugten Lehrsätze bestätigte: ,Was wir gestern taten, tun wir heute nicht mehr. Und was wir morgen tun, wird etwas sein was wir am Tag darauf tun werden.’ Hatten seine architektonischen Nachahmer den Sinn einer Idee von Mr. Wright, war er schon mit einer neuen beschäftigt. Das Credo von Mies war dieser Auffassung diametral entgegengesetzt. ,Man fängt nicht jeden Montag mit einem neuen Stil an!’ Mr. Wright spürte die wohlwollende Gesinnung von Mies und freute sich, dass dieser für sein Werk so viel Verständnis zeigte. Viel stärker als bei anderen Expeditionen hatte ich bei dieser Gelegenheit das Gefühl, ein Stück lebende Geschichte zu erleben. Mit Mies als zweiter aussergewöhnlicher Persönlichkeit in Chicago herumzufahren und eine Anzahl von Wrights Bauten zu besichtigen, war für mich kein alltägliches Erlebnis. Hier war ich, ein fünfundzwanzigjähriger Student, in Gesellschaft zweier Männer, Schöpfer epochemachender Bauten, die das Gesicht einer Grossstadt verwandelt hatten. Wir betraten das Robbie House ohne Begleitung. Das Chicago Theological Seminary hatte das Gebäude zu seinen Zwecken eingerichtet, und man schien hier sehr besucherfreundlich eingestellt zu sein. Während wir im Hauptgeschoss umhergingen, erklärte Mr. Wright Mies, wie es ihm gelungen sei, eine Raumdurchdringung mit dem Kamin als einziger Unterbrechung zwischen den Wohn- und Esszimmern so vollends zu verwirklichen. Mies machte keinen Kommentar und stellte auch keine Fragen; er lächelte nur unentwegt und nickte verständnisvoll. Für einen Menschen unerschütterlichen

deutschen Gemüts wie Mies schien er dennoch förmlich zu strahlen. Der Dolmetscher hingegen war der Erschöpfung nahe. Man konnte praktisch spüren, wie Mies alle Erklärungen sortierte und sie je nach Erkenntnis in den entsprechenden Wissensschubladen archivierte. Am Ende dieses Tages waren beide, Mies und Mr. Wright, einander in echter Freundschaft und gegenseitigem Verständnis zugetan. Auf philosophischer Ebene hatten beide dasselbe Anliegen, das sie, ohne ein Wort darüber zu verlieren, einander näher brachte. Mies war völlig anderer Wesensart als seine Kollegen – menschlicher, einfühlsamer, obgleich sein Werk berechnet und kalt zu sein scheint. Kurz nach dieser Expedition wurde Mies zum Direktor des Armour Institute in Chicago, des heutigen Illinois Institute of Tecnology, ernannt. Mr. Wright wurde eingeladen, die Inaugurationsrede zu halten. Der Abend zog sich endlos hin. Die Reden waren prallvoll rhetorischer Seichtheiten über die Herrlichkeit Amerikas und die Grossartigkeit der amerikanischen Institutionen im allgemeinen und der amerikanischen Architektur im besonderen. Mr. Wright mochte leere Schmeicheleien nie leiden. Sich irgendwelche Lektionen geduldig anhören zu müssen, verabscheute er noch mehr. Als er aufgefordert wurde, die Laudatio auf Mies zu halten, ging er ans Mikrophon, sah sich die Versammlung an und sagte dann bescheiden: ,Ich möchte gerne, dass Sie nun endlich Mr. Mies zuhören!’ Und entfernte sich.“ Ich habe dieses Beispiel der Begegnung von diesen beiden ausgesucht, um deutlich zu machen, dass zwei so verschiedene Persönlichkeiten über die Achtung vor der Leistung des anderen wie selbstverständlich auch Achtung vor der Person des anderen gewannen. „Grosse Bauten“ brauchen auch grosse Geister. Nur deren Persönlichkeit kann ihre Bauten befreien vom „nur technisch Notwendigen“ und ihnen Kunst-„Sinn“ geben. Dabei spielt es keine Rolle, welcher Kunst-„Richtung“ sie angehören. Dies sowohl den späteren Nutzern als auch den Betrachtern deutlich zu machen, ist Sache der Architekturkritik. Die Ehrfurcht vor der Persönlichkeit des grossen Architekten sollte auch die Ehrfurcht vor seinen Werken implizieren. Bert Seidel

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Fassadenkritik Die Tendenz scheint eindeutig. Sie geht zum Standardgrundriss und zur alles einhüllenden, möglichst homogenen Fassade, die selbst noch die pragmatischste Investorenarchitektur als singuläres Objekt, ja als Kunstwerk dastehen lässt. Eine materialisierte Idee zieht sich gleichsam über Wände, Dächer und Öffnungen. Die Grossform als Ornament, der Monolith ist Programm geworden. Und es sind nicht mehr bloss die Pracht- und Repräsentativbauten, die Kirchen, die Museen, die sich abstrakt und weltentrückt geben. Nein, auch in den vermeintlich profanen Bauaufgaben – dem Einfamilienhaus oder dem Bürogebäude - ist das Primat der einheitlichen Hülle auf dem Vormarsch. Nicht nur in den grossen Städten mit ihrer experimentierfreudigen Avantgarde, auch in der Peripherie, diesem aus dem Bewusstsein verdrängten Teil Realität zwischen Autohaus, Hochregallager und Reihenhaussiedlung. Mittlerweile erkennt man, dass eine Diskussion um die Zukunft der Agglomeration unumgänglich ist. So geschehen beispielsweise auf dem deutschen Stand der letzten Architekturbiennale in Venedig, als man sich weit vorne wähnte, da man die ästhetisch ausser Kontrolle geratenen Vorstädte thematisierte – und sie der Architektur wieder gefügig machen wollte. So weit so gut. Irritierend hingegen mutet es an, wenn dann im nachhinein die Presse als musterhafteste aller gezeigten Lösungsversuche, die Zentrale der Südwestmetall in Reutlingen anführt, unter dessen hermetischer Edelstahlhülle man drei sauber verpackte, erzbiedere Mehrfamilienhäuser vermutet. Die Koketterie mit dem Satteldach, die Schleier aus perforierten Metallelementen vor den Fensteröffnungen und Seite 24

der Sockel aus gefrästen Edelstahlplatten – das Augenzwinkern und der Wunsch nach Einzigartigkeit und Eigenständigkeit sind allgegenwärtig und faszinieren und bedrücken den Betrachter zugleich. In seinem Gestus wirkt es wie ein von Rem Koolhaas in „Bigness“1 beschriebe-

Verwaltungsgebäude Südwestmetall, Reutlingen (Foto aus Detail 8/03 2)

nes „grosses Gebäude“, nur eben, dass es nicht wirklich gross ist. Verschlossen zur Umwelt erscheint es wie abgesetzt auf dem neutralen Untergrund der Stadtoberfläche, die ihm lediglich die lebensnotwendige Infrastruktur zur Verfügung zu stellen hat. Trutzburgartig verweigert es jede Beziehung zwischen innen und aussen und versucht in Konkurrenz zur Stadt selbst zu treten. Nach Koolhaas können die grossen Gebäude der Gegenwart mit der traditionellen Stadt konkurrieren, da sie durch die Möglichkeiten moderner Technik eine solche Vielzahl von Funktionen in sich vereinen, dass die entstehenden Vernetzungen ausreichen, um einen eigenen Mikrokosmos entstehen zu lassen. Nach innen orientiert bedarf dieser der Strasse nicht mehr als atmosphärischem Ort, sondern lediglich als Erschliessungs- und Versorgungsanbieter. Jenseits einer bestimmten Masse an Volumen wie an Nutzungen scheint dies auch bestens zu funktionieren, wie jedes Einkaufszentrum beweist. Die Stadt akzeptiert diese Erscheinung und erhält durch

entsprechende Reaktionen wie der gestalterischen Aufwertung öffentlicher Räume oder ganzer Innenstädte selbst Impulse. Doch unterschreitet das Gebäude ein bestimmtes Niveau, wird die Entwicklung fatal. Spinnt man nun die Entwicklung noch ein Stückchen weiter, kommt man zu einer völligen Atomisierung der Stadt. Ein jedes Gebäude erstarrt in seiner selbstbezogenen Unnahbarkeit, es „fickt den Kontext“ (Koolhaas), und wir erhalten einen extrem polarisierten Raum: die mit exklusiven Zugangsrechten und Gestaltungen versehenen Innenräume auf der einen Seite, im Gegensatz dazu die qualitätslose Asphaltoberfläche mit ihrem peinlich arrangierten Quotengrün im Strassenraum. Kreissparkassen, Verwaltungsgebäude und Mehrfamilienhäuser sind als in sich gekehrte Einheiten eben keine belebende Konkurrenz zur existierenden Stadt, bzw. Agglomeration als sinnlichem, öffentlichem Raum, sondern wirken zersetzend. „Indem sich das Gebäude nicht einfügen will und den Massstab als konstitutives Element eliminiert, macht es sich unabhängig von der Umgebung und ist in der Lage, diese zu dominieren, sich selbst zum Massstab zu setzen, zum Referenzpunkt zu werden“2, schreibt Gerrit Confurius zur neuen Universitätsbibliothek in Cottbus. Mag die städtebauliche Situation das Setzen einer Dominante notwendig gemacht haben, so bleibt auch dieses Gebäude dem Betrachter so kryptisch fremd wie das Muster der bedruckten Glasscheiben. So beliebig wie das Fassadenornament wirkt auch die amöbenartige Grundrissform – Selbstzweck, Selbstreferenz. In seiner verschlossenen Unnahbarkeit entsteht durch das Gebäude eine un-


heimlich anmutende Hierarchisierung nicht nur des Raumes, sondern auch gegenüber dem Menschen auf der Strasse. (Im Innenraum gebärdet sich das Ge-

Neue Universitätsbibliothek der BTU Cottbus (Foto aus Bauwelt 3/05 3)

bäude zwar ebenso ästhetisiert, aber wesentlich offener.) Die Homogenität der Oberfläche suggeriert immer auch eine Massivität und Undurchdringlichkeit des Körpers. Die scheinbar rohe Masse und ihre nicht zu erfassenden Dimensionen ist das Ehrfurcht gebietende Moment. Durch diesen autoritären Gestus entfremdet sich das Gebäude selbst von der Stadt. Es schottet sich ab vom Aussenraum, will nicht gleichwertig mit der städtischen Umgebung gelesen werden, wie nah oder – in diesem Fall – fern diese auch immer liegen mag. Die Frage, die sich letztlich stellt, ist, welches Bild von Gesellschaft die Architektur willens ist zu vermitteln. Gerade eine Bibliothek als Ort, an dem Wissen für jedermann zugänglich gemacht wird, ist eine derart demokratische Institution, dass sie ob ihrer programmatischen Verzahnung mit der Stadt auch eine Entsprechung in der Architektur verlangt. Verstehen wir unsere Ge-

sellschaft als gleichberechtigtes Nebeneinander, so muss es also auch Aufgabe der Architektur sein, diesen pluralistischen Vorstellungen Ausdruck zu verleihen. Mit viel Interpretationsfreudigkeit mag man den gegenwärtigen Trend zum Monolith und zur makellos einheitlichen Verhüllung als Ausgeburt des zeitgenössischen neoliberalen Gedankenguts, der Ökonomisierung der Lebensbedingungen lesen: Selbstdarstellung und Selbstbehauptung ist alles. Nur die Person oder Institution, die sich selbst am wichtigsten nimmt und ihre Repräsentanz am beeindruckendsten gestaltet, kann überhaupt wahrgenommen werden und sich so behaupten in den harten Kämpfen des freien Marktes. Wie auch immer man dieses Phänomen herleiten mag, was zählt ist die Entwicklung des Verhältnisses vom Bürger zu seiner Umgebung. Die Stadt ist und bleibt Gegenstand einer sinnlichen Wahrnehmung, und die Identifikation des Menschen mit dem Ort ist abhängig von der Erkenntnis räumlicher Zusammenhänge. Die Abstraktion des öffentlichen Raumes durch eine zum Selbstzweck verkommene künstlerische und narzisstische Architektur führt zu einer Entfremdung der Stadtbenutzer und zum Entstehen unwirtlicher Orte, mit denen man nicht mehr verbindet als ein Programm und eine Funktion. All dies soll keine Absage an den künstlerischen Aspekt der Architektur sein, aber eine Aufforderung ihn mit der nötigen Sensibilität und Reflektion anzuwenden. Auch mag der Monolith in Ausnahmefällen, bei bestimmten Bauaufgaben die geeignete Erscheinung sein. Im Allgemeinen aber darf es kein beziehungsloses Gegenüber zwischen Aussen und Innen geben, keinen Dominanten und

Musikschule oin Hamburg (Foto aus DAM Jahrbuch 2000) 4

keinen Dominierten. Die Stadt besteht nicht nur aus Strassenraum, sondern muss auch ihre Fortsetzung in den Gebäuden finden. Offenheit und menschlicher Massstab sind elementare Bestandteile einer Stadt, in der der Bürger sich als zugehörig zum Ganzen fühlen darf und in der Nutzer und das einzelne Gebäude in Beziehung und Austausch zueinander treten, anstatt sich immer weiter voneinander zu entfernen. Tim Seidel

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Rem Koolhaas, Bruce Mau: «S, M, L, XL», New York 1998 2 Detail Nr. 7/8, München 2003 3 Gerrit Confurius: «Glanz-Rosé und Wellenform» in Bauwelt Nr. 3/, Berlin 2005 4 Hrsg. Wilfried Wang, Anna Meseure: DAM Architektur Jahrbuch 2000, München 2000 Seite 25


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