Hintergrund Schweiz
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NZZ am Sonntag 14. September 2014
Kinderallein aufderFlucht
Dieses Jahr haben sich so viele jugendliche Flüchtlinge allein bis in die Schweiz durchgeschlagen wie selten zuvor. Sie haben zwar ein Recht auf besonderen Schutz und auf Bildung – eine Perspektive aber erhalten sie nicht. Von Christine Brand
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FOTOS: CHRISTINE BÄRLOCHER
uf der Kommode sitzt ein brauner Teddybär. Sein Pelz zerzaust, die Knopfaugen matt. Davor stehen aufgereiht Duftwässerchen, Duschgel-Flaschen, BodyLotion-Tuben. Als müsste sie sich die Vergangenheit abwaschen in dieser sauberen Welt, in der Ayana angekommen ist. Das Mädchen ist 15 oder 16, so genau mag sie das nicht sagen, auch ihren richtigen Namen nennt sie nicht. Sie ist aus Eritrea geflüchtet, ihrer alten Heimat, und hat es nach einer Odyssee bis in die Schweiz geschafft, die ihr kaum zur neuen Heimat werden wird. Das Zimmer ist einfach eingerichtet. Ein Tisch, eine metallene Kommode, zwei Betten. Rosa Herzen auf dem Kissenanzug. Der Holzboden knarrt. Vor dem Fenster liegt grün die Landschaft, die trügerisch ein Idyll verspricht. Es ist eine Art Zuhause, wenn auch nur ein temporäres. Perspektive ungewiss. Ayana ist allein hier, gemeinsam mit den anderen, die allein hergekommen sind: Rund 70 Mädchen und Knaben wohnen im Zentrum Lilienberg oben am Hang in Affoltern am Albis, einer Unterkunft ausschliesslich für minderjährige Asylsuchende. In der Schweiz werden die jungen Flüchtlinge bürokratisch UMA genannt: unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Sie sind unter 18, sind geflüchtet aus Ländern, in denen es sich nicht gut oder nicht mehr leben liess, haben sich ohne Eltern bis nach Europa durchgeschlagen. 507 junge, unbegleitete Flüchtlinge haben in den ersten acht Monaten des laufenden Jahres in der Schweiz Asyl beantragt; so viele wie kaum je zuvor. Die meisten stammen aus Eritrea (347), es folgen Jugendliche aus Somalia (41), Syrien (23), Afghanistan (18), Sri Lanka (12) und aus anderen Krisenregionen dieser Welt. Bereits jetzt sind es mehr als doppelt so viele wie in anderen Jahren. Sieben der Kinder sind noch keine 12 Jahre alt, sie werden wenn möglich bei Pflegefamilien untergebracht. Die meisten sind zwischen 16 und 17, ein Fünftel der Jugendlichen sind Mädchen. Haben sie Pech, werden sie nach ihrem Aufenthalt in einem Erstaufnahmezentrum einem Kanton zugeteilt, der keine Einrichtungen für Jugendliche kennt. Haben sie mehr Glück, werden sie dem Kanton Zürich und einem Zentrum wie dem Lilienberg zugewiesen.
schen Situationen auf der Flucht auseinandergerissen; weil jemand krank wird und zurückbleibt, weil im Auto des Schleppers nicht genug Platz ist. Wie zum Beispiel bei Mohammad, 17, aus Aleppo. Mit seiner Familie und 370 weiteren Flüchtlingen gelangte er auf einem 14 Meter langen Boot nach Italien. Im Auto, das sie danach nach Schweden bringen sollte, hatte es für ihn jedoch keinen Platz. Als ältester Sohn blieb er in Italien zurück. Weil ihm die Papiere fehlen, die belegen, dass er minderjährig ist, kann er seiner Familie nicht nachreisen. «Sind Kinder allein unterwegs, sind sie besonders gefährdet», sagt Jérôme Strijbis. Oft sind sie sexuellem Missbrauch ausgeliefert. Oder sie müssen für Schlepper arbeiten und geraten in fatale Abhängigkeiten. Laut Strijbis geben viele Jugendliche an, sie hätten gar nicht fliehen wollen: «Sie sagen: ‹Ich wollte nicht gehen – ich musste.›» Dabei wussten sie, wie gefährlich die Flucht ist. «Sie wagen es trotzdem; weil sie im eigenen Land verzweifelt und perspektivenlos sind.»
Banges Warten auf die Volljährigkeit
Allein auf der Flucht
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Asylgesuche von Jugendlichen
«Spezielle junge Menschen» Der kleine Ball knallt gegen Holz. Tor! Zwei der vier Jugendlichen am Fussballkasten im Eingangsbereich des Zentrums Lilienberg jubeln laut. Schliesst man die Augen, hört sich das Leben hier nach Schul-Ferienlager an. Öffnet man sie wieder, bietet sich ein anderes Bild. Das Haus hat schon bessere Zeiten gesehen, alles ist bescheiden, die sanitären Anlagen sind alt. Bald sollen sie saniert werden. Im ersten Stock sind die Zimmer der Mädchen. Zu jeder Wohngemeinschaft mit sechs bis zehn Jugendlichen gehört eine Küche, jene der Mädchen ist etwas sauberer als jene der Knaben. Zwei Herdplatten mit Zeitschaltuhr, daneben ein Tisch, ein Sofa – die Küche ist auch Aufenthaltsraum. Ein Kartonschild an der Wand zeigt an, dass Brotmesser erlaubt sind im Haus, Fleischermesser hingegen verboten. Mit dem Geld, das sie je nach Aufenthaltsstatus von der Asylfürsorge oder von der Sozialhilfe erhalten, kaufen die Jugendlichen selbst ein, sie kochen auch selber. «Es sind spezielle junge Menschen, die ins Zentrum Lilienberg kommen, sie sind mehrheitlich sehr reife und selbständige Jugendliche im Vergleich zu Gleichaltrigen», sagt Regula Manz, die Abteilungsleiterin Sozialhilfe und Unterbringung der AOZ, der Fachorganisation, die das Zentrum im Auftrag des kantonalen Sozialamtes führt. Auch die Solidarität unter ihnen sei gross. Diejenigen, die niemanden haben, geben gegenseitig aufeinander acht. An diesem Ort für rund 70 zwölf- bis siebzehnjährige teil-
Viele Jugendliche sagen: «Ich wollte nicht gehen – ich musste.» Dabei wussten sie genau, wie gefährlich die Flucht sein würde.
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2014
* Stand: 9.9.2014 Quelle: Bundesamt für Migration
Im Kanton Zürich finden jugendliche Flüchtlinge im Zentrum Lilienberg ein Zuhause: Mädchenzimmer, improvisierter Wäscheständer, begehrtes Internet. (Affoltern am Albis, 6.8.2014)
weise traumatisierte Kinder arbeiten insgesamt 20 Personen, davon acht Sozialpädagogen und -pädagoginnen und sechs Lehrpersonen. Jedem wird von der zürcherischen Zentralstelle für unbegleitete Minderjährige ein gesetzlicher Vertreter beigestellt. Zwei bis drei Sozialpädagogen sind während des Tages im Lilienberg vor Ort. Das erfordert von den jungen Menschen viel Selbständigkeit. Zum Vergleich: In einem Jugendheim für Schweizer kommt auf drei Kinder ein Betreuer. Ein Plasticsack. Das ist alles, was der junge Mann aus Guinea bei sich hat, der im Zentrum Lilienberg vor dem Büro steht. Ein Neueintritt; er kommt direkt aus einem Erstaufnahmezentrum, von dem aus er dem Kanton Zürich zugeteilt wurde. Die unsichtbaren Rucksäcke, prallvoll mit meist dramatischen Le-
bensgeschichten, wiegen viel schwerer als das materielle Gepäck, das die jugendlichen Flüchtlinge auf sich tragen. Bei manchen dauerte die Flucht Wochen, Monate, wenn nicht Jahre. «Sie haben teilweise schreckliche Schicksale erlebt und oft eine strapaziöse Fluchtodyssee hinter sich», sagt Jérôme Strijbis, Geschäftsführer der Organisation «Save the Children». Es gibt verschiedene Gründe, warum Jugendliche allein auf der Flucht sind. Oft reicht schlicht das Geld nicht für alle. «Darum entscheiden sich Eltern, dass sie wenigstens einem Kind die Flucht ermöglichen wollen», erzählt Strijbis. In manchen Ländern fliehen Jugendliche wegen Zwangsrekrutierungen in die Armee, sie werden von ihren Eltern getrennt und verschleppt. Am häufigsten aber werden Familien in dramati-
Doch eine klare Perspektive erhält auch der junge Mann aus Guinea, der eben neu im Zentrum Lilienberg angekommen ist, vorerst nicht. Sein Asylgesuch ist hängig. Er ist 16. Das bedeutet einerseits, dass ihm gemäss der UnoKinderrechtskonvention besonderer Schutz und humanitäre Hilfe zusteht, ein Grundsatz, der auch in der Schweizer Bundesverfassung verankert ist. Das heisst andererseits aber auch, dass das Bundesamt für Migration wohl erst über sein weiteres Leben entscheiden wird, wenn er volljährig ist und demnach gleich behandelt werden kann wie ein Erwachsener. «Oft wird der Asylentscheid hinausgezögert, bis sie 18 sind – und dann bekommen sie einen negativen Bescheid», erzählt Marianne Hochuli vom Hilfswerk Caritas Schweiz. «Wir finden das unhaltbar.» Dadurch werde den jungen Menschen jede Perspektive verweigert und ihre Chancen auf Berufsbildung und Arbeit seien verschwindend klein. «Den Jugendlichen gebührt nicht nur besonderer Schutz – sie sollten auch Förderung erfahren, damit sie etwas für ihre Zukunft mitnehmen können.» Mit der steigenden Zahl der unbegleiteten jugendlichen Asylsuchenden habe sich die Situation «sehr stark verschärft», sagt Hochuli. Nicht in allen Kantonen würden die jungen Flüchtlinge ihrem Alter gemäss betreut. Oft landeten sie in normalen Asylzentren für Erwachsene. «Die Betreuung müsste viel umfassender sein, damit die Jugendlichen ihre Erlebnisse verarbeiten und darüber sprechen könnten.» Im Schulzimmer im Zentrum Lilienberg hängt eine Weltkarte an der Wand. Darüber formieren sich bunte Buchstaben zu einem Alphabet. Zeichnungen zeigen einen Rettungswagen, Krankenbahren, Friedenstauben. Die Jugendlichen hier besuchen mehrheitlich die drei zentrumsinternen Aufnahmeklassen. Morgens stehen Hauptfächer auf dem Stundenplan, mit Schwerpunkt Deutsch, nachmittags Zeichnen, Turnen, Werken. Die Klassenzusammensetzung ist sehr heterogen, manche Kinder müssen erst schreiben lernen, andere haben viel Schulerfahrung. Und kaum ist die Schule aus, herrscht im Aufenthaltsraum Hochbetrieb; die paar Computer hier sind heiss begehrt. Die meisten Jugendlichen haben Kontakt zu Bekannten im Herkunftsland, fast alle nutzen Facebook. Für einen Moment wird die Welt kleiner in diesem Raum.