Würde die heute geltende Armutsgrenze um nur gerade 500 Franken pro Monat höher angesetzt, würde sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf einen Schlag verdoppeln.
Caritas-Positionspapier zu Haushalten knapp oberhalb der Armutsgrenze
Wenn das Geld kaum zum Leben reicht
Die Armutsgrenze ist zu tief angesetzt
In Kürze: In der Schweiz leben viele Menschen in Haushalten, deren Einkommen nur knapp über der Armutsgrenze liegt. Sie gelten nicht als arm, haben aber ebenfalls kaum genug Geld zum Leben. Würde die heute geltende Armutsgrenze um nur gerade 500 Franken pro Monat höher angesetzt, würde sich die Zahl der von Armut betroffenen Menschen auf einen Schlag verdoppeln. Dies zeigt eine Untersuchung am Beispiel des Kantons Bern. Besonders Paare mit Kindern befinden sich häufig in einer schwierigen finanziellen Lage. Bei minimalen Veränderungen beim Einkommen oder bei den Ausgaben fallen sie unter die Armutsgrenze. Aus Sicht der Caritas erfordern diese neuen Erkenntnisse eine Antwort auf politischer Ebene: Die Armutsprävention muss ausgebaut werden. Dabei gilt es, ein besonderes Augenmerk auf die Situation von Familien zu legen.
Das Bundesamt für Statistik (BFS) publiziert jedes Jahr Zahlen zur Armut in der Schweiz. Im Jahr 2020 galten 722 000 Menschen offiziell als arm. Das entspricht 8,5 Prozent der Bevölkerung. Das BFS verwendet zur Armutsmessung das Konzept der absoluten Armut. Als arm gelten alle Personen, die in einem Haushalt leben, der ein Einkommen unter einer definierten Grenze hat. Der Schwellenwert für die Armutsbetroffenheit orientiert sich am Existenzminimum der Sozialhilfe gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Dabei handelt es sich um eine politische Festlegung, was Menschen in Notlagen im Minimum an finanziellen Mitteln zugestanden werden soll, damit sie an der Gesellschaft teilhaben können. Im Jahr 2020 betrug die Armutsgrenze durchschnittlich 2279 Franken pro Monat für eine Einzelperson und 3963 Franken pro Monat für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern. Die absolute Armutsgrenze ist sehr tief angesetzt. Knapp 4000 Franken pro Monat reichen für eine vierköpfige Familie oft nicht aus, um die Ausgaben für die Wohnungsmiete, für Nahrungsmittel, für die persönliche Pflege und die Gesundheit, für Kleider, Handy, Verkehr und Freizeit sowie alle anderen Kosten zu decken, die im Alltag anfallen. Besonders dann, wenn die Familie monate- oder jahrelang so wenig Geld zur Verfügung hat, wächst die Gefahr, dass sie auf lebensnotwendige Dinge verzichten oder sich verschulden muss. Viele Haushalte leben mit einem Einkommen, das nur wenig über der absoluten Armutsgrenze liegt. Sie gelten also
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statistisch gesehen nicht als arm, haben aber trotzdem kaum genug zum Leben. Meistens verfügen diese Haushalte auch nicht über finanzielle Reserven. Sie geraten deshalb rasch in existenzielle Nöte, wenn unerwartete Ausgaben anfallen oder ein Teil des Einkommens wegfällt.
Viele Haushalte leben mit einem Einkommen knapp oberhalb der Armutsgrenze Im Auftrag der Caritas haben Forschende der Berner Fachhochschule am Beispiel des Kantons Bern untersucht, wie viele Haushalte sich über der Armutsgrenze in finanziell schwierigen Lebenslagen befinden und welche Haushaltsformen besonders stark davon betroffen sind. In der Studienanlage wurde die Armutsgrenze, wie sie das BFS verwendet, schrittweise um 100 Franken pro Monat, 500 Franken pro Monat und schliesslich auf das Niveau der Ergänzungsleis-
Andere Untersuchungen bestätigen die Befunde Die Ergebnisse der Auswertungen, welche die Berner Fachhochschule für Caritas Schweiz vorgenommen hat, decken sich mit anderen Untersuchungen. Eine neue Studie im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) zu den wirtschaftlichen Verhältnissen der Bevölkerung in den Jahren 2012 bis 2015 stützt sich auf Daten aus 11 Kantonen. Gemäss dieser Studie verfügten im Jahr 2015 knapp 17 Prozent der Haushalte in der Schweiz über geringe finanzielle Mittel. Rund die Hälfte dieser Haushalte hatte sogar nur «sehr geringe finanzielle Mittel». Der in der Studie verwendete Schwellenwert für sehr geringe Mittel entspricht ungefähr der absoluten Armutsgrenze. Weitere knapp 6 Prozent der Haushalte befanden sich laut den Autorinnen und Autoren in einer «Situation der Vulnerabilität»: Sie waren über dem Schwellenwert von geringen finanziellen Mitteln, bei einer Reduktion des Einkommens um 20 Prozent würden sie aber unter diese Marke fallen. Insgesamt waren laut der Studie in den Jahren 2012 bis 2015 also über ein Fünftel der Haushalte in einer schwierigen finanziellen Situation. Wobei das Risiko, (sehr) geringe finanzielle Mittel zu haben, ab dem ersten Kind zunimmt. Besonders gross ist das Risiko für alleinerziehende Frauen, für Haushalte mit kleinen Kindern und für solche mit drei oder mehr Kindern. Mehr als die Hälfte der alleinerziehenden Frauen verfügte im untersuchten Zeitraum nur über (sehr) geringe finanzielle Mittel.
- 30 000
- 20 000
- 10 000
0
Wohlhabendere 50 % der Bevölkerung
EL-Grenze
Armutsgrenze + 100.–
Armutsgrenze + 500.–
Die Resultate sind eindeutig: Mit jeder Erhöhung der Armutsgrenze nehmen sowohl die Anzahl der betroffenen Personen als auch die Armutsquote, das heisst der prozentuale Anteil der armutsbetroffenen Personen an der gesamten Erwerbsbevölkerung, deutlich zu. Wird die Armutsgrenze gemäss Definition des BFS verwendet, beträgt die Armutsquote im Kanton Bern 7,7 Prozent. Bei einer Erhöhung der Armutsgrenze um 500 Franken verdoppelt sich die Armutsquote und beträgt 14,4 Prozent. Die Kurve flacht auch nachher nicht ab: Wird die Grenze der Ergänzungsleistungen angewendet – diese liegt noch einmal rund 130 Franken höher –, beträgt die Armutsquote bereits 18,3 Prozent. Fast ein Fünftel der Bevölkerung hat also ein Einkommen, das unter dem Niveau der Ergänzungsleistungen liegt. Dabei ist die Höhe der Ergänzungsleistungen politisch anerkannt als minimaler Lebensstandard. Abbildung 1 verdeutlicht diesen Befund. Sie zeigt die Verteilung der Haushaltseinkommen der ärmeren Hälfte der Bevölkerung. Im Bereich zwischen der Armutsgrenze gemäss BFS und der EL-Grenze steigt die Kurve steil an. Je höher die Kurve liegt, desto mehr Personen befinden sich in diesem Einkommensbereich. Sehr viele Haushalte verfügen also über ein Einkommen, das nur wenig über der Armutsgrenze liegt.
Armutsgrenze
tungen zur AHV und IV (EL-Grenze) erhöht. Die Idee hinter diesem Vorgehen ist folgende: Mit jeder Erhöhung der Armutsgrenze fallen zusätzliche Personen unter diese Grenze und gelten als armutsbetroffen. Weil die Erhöhung in mehreren Schritten erfolgt, kann nachgewiesen werden, wie viele Personen sich nur wenige Franken oberhalb der Armutsgrenze befinden und bei wie vielen der finanzielle Spielraum noch etwas grösser ist. Für die Berechnungen wurden nur Haushalte mit Personen im Erwerbsalter sowie deren Kinder berücksichtigt. Haushalte mit mindestens einer Person im Pensionsalter wurden ausgeschlossen, weil ihre finanzielle Situation nicht so einfach mit der Situation der Erwerbsbevölkerung vergleichbar ist. Haushalte im Erwerbsalter bestreiten ihren Lebensunterhalt vor allem mit Einkommen, während für Haushalte im Rentenalter Renten und Vorsorgevermögen eine wichtige Rolle spielen. Bei Haushalten im Rentenalter müssten also auch die finanziellen Reserven einbezogen werden. Bei den Haushalten im Erwerbsalter hingegen ist eine Armutsanalyse anhand der Einkommen aussagekräftig. Andere Untersuchungen zeigen, dass Haushalte mit tiefen Einkommen in der Regel auch kaum Vermögen haben.
+ 10 000
Differenz zur Armutsgrenze (SKOS) in CHF pro Person Abbildung 1: Verteilung der Differenz zwischen Haushaltsjahreseinkommen und der Armutsgrenze (in CHF) pro Jahr und Person (untere Hälfte der Einkommensverteilung bis zum Medianeinkommen) Quelle: Erweiterte Steuerdaten Kanton Bern 2015, Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und ihre Kinder, Berechnungen BFH. Bemerkung: Die Haushalte unterschiedlicher Grösse sind mit einer sogenannten Äquivalenzskala miteinander vergleichbar gemacht.
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Paare mit Kindern sind häufig in einer finanziell schwierigen Lage In diesem kritischen Einkommensbereich zwischen der Armutsgrenze, die das BFS berechnet, und der EL-Grenze befinden sich besonders viele Paare mit Kindern, also klassische Familien. Wird die Armutsgrenze gemäss oben beschriebenem Verfahren um 100 Franken angehoben, sind im Kanton Bern gut 7000 Menschen zusätzlich von Armut betroffen. Fast die Hälfte davon leben in Paarhaushalten mit mindestens einem Kind. Mit jeder weiteren Erhöhung der Armutsgrenze nimmt der Anteil der Paarhaushalte mit Kindern noch einmal deutlich zu. Abbildung 2 illustriert, wie stark der Anteil von Paaren mit einem Kind oder mehreren Kindern (hellblau eingefärbte Fläche) zwischen der Armutsgrenze gemäss BFS und dem Niveau der Ergänzungsleistungen zunimmt. Das Haushalts einkommen pro Jahr ist auf der X-Achse abgebildet, wobei am linken Rand der Grafik die ganz tiefen Einkommen sind und rechts die höchsten. Mit steigendem Einkommen nimmt der Anteil der Paarhaushalte mit Kindern ab, während die Paare ohne Kinder anteilsmässig zunehmen.
Deutlich wird hier auch, dass Alleinerziehende mit Kind(ern) sich sehr häufig unter der Armutsgrenze befinden. Paare mit Kindern hingegen haben oft ein Einkommen, das knapp darüber liegt.
Corona-Pandemie hat fragile Situationen aufgezeigt Die Corona-Pandemie hat vor Augen geführt, dass ein Einkommensverlust von 20 Prozent für Haushalte, die ihren Lebensunterhalt vorher mit bescheidenen finanziellen Mitteln, aber ohne grössere Sorgen bestreiten konnten, existenzbedrohend sein kann. Wer in der Krise den Job verlor, von Kurzarbeit betroffen war oder bei selbständiger Arbeit für den Erwerbsausfall entschädigt wurde, erhielt in der Regel 80 Prozent des zuvor erreichten Einkommens. Viele Haushalte mit tiefen Einkommen kamen in Nöte, denn sie verfügen auch nicht über Reserven, mit denen sie Einkommenseinbussen über eine längere Zeit auffangen könnten.
1,00
Einpersonenhaushalte Paare ohne Kinder Paare mit Kind(ern) Einelternhaushalte Mehrpersonenhaushalte mit Kind(ern) Mehrpersonenhaushalte ohne Kinder
EL-Grenze
Armutsgrenze
0,50
Armutsgrenze + 100.– Armutsgrenze + 500.–
Anteil der Personen
0,75
0,25
0 52 CHF
40 585 CHF
53 519 CHF
69 713 CHF
388 009 CHF
Äquivalenzskalierte Haushaltsjahreseinkommen Abbildung 2: Zusammensetzung der Haushalte über die gesamte Einkommensverteilung Quelle: Erweiterte Steuerdaten Kanton Bern 2015, Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und ihre Kinder, Berechnungen BFH. Bemerkung: Die Haushalte unterschiedlicher Grösse sind mit einer sogenannten Äquivalenzskala miteinander vergleichbar gemacht.
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Abbildung 3 vergleicht die Haushaltsstruktur der Bevölkerung in einer finanziell schwierigen Lebenslage knapp oberhalb der Armutsgrenze mit jener der Armutsbevölkerung (Personen unter der Armutsgrenze gemäss BFS) sowie der Gesamtbevölkerung. Auch hier sind Haushalte mit Personen im Rentenalter ausgeschlossen. Diese Betrachtung zeigt, dass Paare mit Kind(ern) in der gesamten Bevölkerung knapp die Hälfte ausmachen (Stapel ganz rechts). In der Bevölkerung, die von Armut betroffen ist (Stapel ganz links), ist ihr Anteil etwas kleiner. Sie sind im Verhältnis also weniger oft arm als andere Haushaltstypen. Im kritischen Einkommensbereich zwischen der Armutsgrenze gemäss BFS und dem Niveau der Ergänzungsleistungen sind Paare mit Kindern hingegen klar übervertreten. Wobei ihr Anteil bis zur EL-Grenze stark zunimmt. Familien befinden sich also sehr viel häufiger als andere Haushaltstypen in einer schwierigen finanziellen Lage, haben aber kein Anrecht auf Sozialhilfe.
Armutsbetroffene
finanziell schwierige Lage
1,00
Bei Personen, die alleine leben und insbesondere bei Alleinerziehenden mit Kindern (Einelternhaushalte) präsentiert sich das Bild genau umgekehrt: Sie sind in der Armutsbevölkerung im Verhältnis deutlich übervertreten. Ihr Anteil sinkt danach stetig bis zur EL-Grenze.
Gesamtbevölkerung Einpersonenhaushalte
1.8 17.8
13.8
14.8
24.3
Paare ohne Kinder Paare mit Kind(ern) Einelternhaushalte Mehrpersonenhaushalte mit Kind(ern)
11.6
0,75
Mehrpersonenhaushalte ohne Kinder 21.3
13.7 14.7
Anteil
84.7
0,50 48.1
54.5
39.4
49.1
0,25
6.4 7
2.9 3
2.8 2.7
4.7 1.8 Armutsgrenze +500 EL-Grenze
< Armutsgrenze
3.4
13.6
Armutsgrenze +100 Armutsgrenze +500
3.3
0
14.5
Armutsgrenze Armutsgrenze +100
14.9
3.8 5.6
Abbildung 3: Haushaltstruktur der Bevölkerung in einer finanziell schwierigen Lage im Vergleich zur Armuts- und Gesamtbevölkerung Quelle: Erweiterte Steuerdaten Kanton Bern 2015, Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter und ihre Kinder, Berechnungen BFH.
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Kinder kosten – und Eltern erhalten wenig Unterstützung Dass Haushalte mit Kind(ern) besonders häufig in finanziell schwierigen Verhältnissen knapp oberhalb der Armutsgrenze leben oder – im Fall von Alleinerziehenden – von Armut betroffen sind, ist kein Zufall. Kinder kosten Geld: Ein Haushalt mit Kindern braucht eine grössere Wohnung, zahlt mehr Krankenkassenprämien, benötigt mehr Lebensmittel und Kleider. Gleichzeitig steuern Kinder kein Einkommen bei. Bei Haushalten mit Kindern fällt das Einkommen pro Kopf also deutlich tiefer aus als bei Haushalten ohne Kinder, in denen alle erwerbstätig sind. Bei Paaren mit Kindern können immerhin zwei Personen zum Haushaltseinkommen beitragen. Deshalb ist ihr Armutsrisiko geringer als jenes von Alleinerziehenden. Neben den direkten Kosten verursachen Kinder aber auch indirekte Kosten. Häufig reduziert mindestens ein Elternteil die Erwerbsarbeit – besonders, wenn die Kinder klein sind. Für Einelternhaushalte ist die Situation noch schwieriger. Meist können Alleinerziehende entweder nur in einem kleinen Pensum arbeiten oder bezahlen viel für die Kinderbetreuung – beides wirkt sich negativ auf die Einkommenssituation aus. Das Haushaltseinkommen von Familien wird also sowohl durch zusätzliche Ausgaben wie auch durch geringere Einnahmen belastet. Hinzu kommt, dass die Familiengründung häufig in eine Lebensphase fällt, in welcher über den Lebensverlauf gesehen die Einkommen tief sind. Im Schnitt steigen die Einkommen mit dem Alter an und sind in den Jahren vor der Pensionierung am höchsten. Dann sind die Kinder erwachsen und leben nicht mehr zuhause. Die Sozialausgaben für Familien sind in der Schweiz im Vergleich mit anderen wohlhabenden Ländern sehr bescheiden. Sie liegen deutlich unter dem europäischen Mittel. Und auch indirekt erhalten Eltern wenig Unterstützung, um ein genügend hohes Einkommen zu erzielen. So ist die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit für viele Eltern immer noch eine grosse Herausforderung, weil Betreuungsstrukturen fehlen und zu teuer sind und weil die Arbeitswelt wenig familienfreundlich ist. Kurz: Eine Familiengründung bedeutet in der Schweiz für viele eine finanzielle Herausforderung und oft sogar ein Armutsrisiko.
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Was es bedeutet, wenn das Geld kaum reicht Frau B., 51 Jahre alt, ist alleinerziehend und wohnt mit ihrer 15-jährigen Tochter zusammen. Sie hat eine 40 Prozent-Anstellung als Deutschlehrerin an der öffentlichen Schule und arbeitet nebenbei auf Abruf im Service. Zusätzlich erhält sie Alimente vom Kindsvater. Frau B. möchte ihr Pensum als Deutschlehrerin erhöhen, hat aber bis heute keine zusätzlichen Stellenprozent und auch keine Anstellung an einer anderen Schule erhalten. Sie überlegt sich, eine Weiterbildung zu absolvieren, um ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Allerdings ist ihr Budget knapp und wurde durch eine notwendige Operation noch zusätzlich belastet. Den Selbstbehalt für die Kosten für den Spitalaufenthalt und die ambulanten Therapien kann sie kaum zahlen. Ihr Einkommen ist aber zu hoch, um Sozialhilfe zu beantragen. Familie A. hat zwei Kinder, die Tochter besucht den Kindergarten, der Sohn die Primarschule. Herr A. arbeitet auf Abruf in der Reinigung, sein Pensum beträgt zwischen 40 und 60 Prozent. Frau A. arbeitet in einer befristeten Stelle als Pflegeassistentin für die Spitex. Ihr Pensum beträgt 90 Prozent. Das Budget von Familie A. ist sehr knapp. Die Betreuungskosten für die Kinder sind hoch und werden von der Gemeinde kaum subventioniert. Zudem leidet Frau A. an einer Depression und braucht regelmässig psychologische Beratung. Jede zusätzliche Ausgabe, wie beispielsweise für die Zahnbehandlung von Herrn A. oder für die Freizeitaktivität des Sohnes, sprengt das Budget.
Armutsprävention stärken Viele Haushalte in der Schweiz befinden sich in einer schwierigen finanziellen Lage nur wenig oberhalb der Armutsgrenze. Sie sind besonders gefährdet, in Armut zu geraten, wenn ein Teil des Einkommens wegfällt oder unerwartete zusätzliche Ausgaben anfallen. Ein grosser Teil der betroffenen Haushalte sind Familien mit Kindern. Diesem Umstand trägt die Familien- und Sozialpolitik von Bund und Kantonen bisher zu wenig Rechnung. Dabei ist eine gut ausgebaute Familienpolitik ein wichtiger Pfeiler der Armutsprävention. Kinder, die gute Entwicklungs- und Bildungschancen haben, sind als Erwachsene selten von Armut betroffen. Die Politik muss der Armutsprävention eine viel grössere Bedeutung als bisher beimessen. Das bedeutet mit Fokus auf Familien insbesondere: In Familien investieren Im internationalen Vergleich gibt die Schweiz wenig Geld aus für Familien. Das zeigt sich unter anderem darin, dass Familien in der Schweiz – anders als in umliegenden Ländern – für einen grossen Teil der Kosten für die familienexterne Kinderbetreuung selber aufkommen müssen. Gerade Eltern mit tiefen Einkommen können sich oft keine Kita leisten. Sie sind gezwungen, ihre Erwerbstätigkeit zu reduzieren, und das Haushaltseinkommen ist entsprechend noch tiefer. In Familien zu investieren bedeutet deshalb vor allem, die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit zu erleichtern: Mit qualitativ guter, zugänglicher und bezahlbarer familienund schulergänzender Kinderbetreuung sowie familienfreundlichen Arbeitsmodellen auch in Tieflohnstellen. Finanziellen Spielraum von Haushalten gezielt erhöhen Haushalte mit wenig Geld müssen stärker und gezielt finanziell entlastet werden. Namentlich die Ausgaben für Wohnen und Gesundheit sind in den vergangenen Jahrzehnten stark angestiegen und belasten Haushalte mit tiefen Einkommen besonders stark. Es braucht mehr bezahlbaren Wohnraum und Unterstützung bei der Wohnungssuche für Haushalte in schwierigen finanziellen Lebenslagen. Zudem muss die Belastung durch Krankenkassenprämien spürbar reduziert werden. Gerade für Familien sind diese Ausgaben kaum tragbar. Um den finanziellen Spielraum von Haushalten mit geringen Einkommen zu erhöhen, muss auch auf der Einnahmenseite angesetzt werden. Was für AHV- oder IV-Rentnerinnen und Rentner gilt, sollte auch für Haushalte im Erwerbsalter gelten: Wenn der minimale Lebensbedarf höher ist als das Einkommen, hat ein Haushalt Anspruch auf Ergänzungsleistungen. Vier Kantone haben bereits Ergänzungsleistungen für Familien eingeführt und konnten die finanzielle Situation von vielen Familien mit wenig Geld nachhaltig verbessern.
Bildungschancen erhöhen Der fehlende finanzielle Spielraum wirkt sich auch auf die Bildungschancen aus. Das ist problematisch, weil der Bildung bei der Verhinderung von Armut eine Schlüsselrolle zukommt. Personen ohne nachobligatorische Bildung haben ein viel grösseres Armutsrisiko als solche mit einem Berufs- oder Hochschulabschluss. Die Förderung der Bildungschancen von der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter ist deshalb ein zentrales Element der Armutsprävention. Kinder aus benachteiligten Familien haben schlechtere Startchancen als Kinder aus privilegiertem Elternhaus und können diese im Verlauf der Schulzeit meist nicht mehr ausgleichen. Es ist also ganz entscheidend, dass alle Kinder ab Geburt von einer qualitativ guten familienergänzenden Kinderbetreuung profitieren können. Aber auch beim Übergang ins Berufsleben und im Erwachsenenalter sind die Chancen ungleich verteilt. Der Zugang zu bedarfsgerechten Weiterbildungsangeboten muss für alle Erwachsenen garantiert sein. Dazu braucht es existenzsichernde Stipendien und die Unterstützung der Arbeitgebenden. Armut umfassend untersuchen Mit der vorliegenden Untersuchung konnten wir am Beispiel des Kantons Bern aufzeigen, wie viele und welche Haushalte sich knapp oberhalb der Armutsgrenze in einer finanziell schwierigen Situation befinden. Viele Fragen bleiben aber offen: Wie viele Haushalte verzichten auf Bedarfsleistungen, die ihnen zustehen? Profitieren Familien mit tiefen Einkommen vom Ausbau der familienexternen Betreuungsangebote in den letzten Jahren? Welchen Einfluss hat das Erwerbsmodell von Paaren mit Kindern auf die finanzielle Situation des Haushaltes? Und welche Instrumente im Bereich der Wohnförderung helfen effektiv Familien mit wenig Geld? Die Datenlage zur Armut in der Schweiz muss dringend verbessert werden. Verlässliche Daten sind eine unabdingbare Grundlage für eine wirksame und nachhaltige Armutspolitik. Dabei sind namentlich die Kantone gefordert – auch und gerade im Hinblick auf die vom Bund beschlossene Einrichtung eines nationalen Armutsmonitorings ab 2025. Die Kantone verfügen über die erforderlichen Datengrundlagen und die Armutsbekämpfung liegt hauptsächlich in ihrer Verantwortung. Zudem bestehen gerade im Bereich der Existenzsicherung und der Leistungen für Familien grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Wie sich diese auf die finanzielle Situation der Familien auswirken, kann bisher mangels Daten kaum beantwortet werden. Wichtig ist, dass Armut umfassend verstanden und der Blick auf diejenigen Haushalte ausgeweitet wird, die knapp oberhalb der vom BFS verwendeten Armutsgrenze in finanziell schwierigen Verhältnissen leben. Erstens haben auch diese Haushalte kaum genug Geld zum Leben. Und zweitens führen kleinste Veränderungen beim Einkommen oder bei den Ausgaben zu einer Notlage.
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Autorin Aline Masé Leiterin Fachstelle Sozialpolitik Caritas Schweiz E-Mail: amase@caritas.ch Telefon: 041 419 23 37 Dieses Positionspapier steht unter www.caritas.ch/positionspapiere zum Download bereit. Mai 2022
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