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Die WaldschulenBildung für eine nachhaltige Entwicklung

Hier im Wald zwängen keine Klassen und keine Klassenräume die Kinder in ein schulisches Korsett. Die Kinder forschen, probieren, scheitern, erkennen in ihrem Tempo die Themen des Lebens und sind dabei mit natürlicher Intelligenz unterwegs. Eine fast magische Ruhe und Kraft geht von diesem Ort aus und es scheint, als stünde die Zeit für eine Weile still.

Sie sind von Weitem zu erkennen, die Waldschulkinder, die am Bahnhof St. Gallen auf die Appenzeller Bahn warten. Warm und wetterfest angezogen, ausgerüstet mit Rucksäcken, Kappen und Handschuhen. An ihren Turnschuhen kleben noch Reste von schlammiger Erde und Lehm, bei manchen auch an Hosen und Jacken. Kurz vor halb neun fährt der Zug ein, die Kinder wuseln auf die Sitze. Alles geht gut, nach neun Minuten hüpfen die Kinder aus dem Zug. Jetzt noch ordentlich in der Zweierreihe bis zum Waldrand laufen. „Wenn man hier ist, hat man es geschafft“, sagt Brigitte, die Mutter eines Kindes, die die heutige Bahn-Aufsicht übernimmt, erleichtert. Sie atmet auf und entlässt die Kinder in Richtung Waldrand.

Nach weiteren zehn Minuten auf dem Waldweg kommt die Schar beim Treffpunkt, dem „Basislager“ an. Sie hängen eilig Ihre Rucksäcke an die Waldgarderobe und grüßen ihre Lehrerinnen – die beiden Lehrerinnen dürfen geduzt werden – sowie die anderen Kinder, die nicht mit der Bahn gekommen sind. Wer hier auf eine trällernde Pausenglocke wartet, der wartet vergebens, denn hier im Wald erklingen stattdessen Flötentöne. Äste werden fallen gelassen, Grüppchen lösen sich auf, nicht lange dauert es und alle stehen aufgefädelt in einem Kreis. Die Schule beginnt.

Angeregt durch Vorbilder aus nordischen Ländern und Deutschland gründeten Eltern in St. Gallen vor 22 Jahren den ersten Waldkindergarten der Schweiz. Der Wald sollte so gut wie möglich das Schulzimmer ersetzen, so die Idee, die Kinder sollten fast die ganze Zeit draußen verbringen und von und in der Natur lernen. Nicht nur in den angenehmen Jahreszeiten, wenn es mild, warm und trocken ist, sondern auch an trüben Regentagen, bei Schnee und Eiseskälte. Mit dem Älterwerden der Kinder erweiterte sich der Kindergarten zur Basisstufe, welche die Schüler in zwei, drei oder vier Jahren durchlaufen. Danach wechseln sie von der Waldschule in die 3. Klasse der Volksschule.

Die Gruppe wechselt unter Tags oft den Platz. Die Waldschule ist jeden Tag nomadisch unterwegs, das heißt die Truppe verlässt das Basislager, wo der Bauwagen, die Material- und Teambaracke stehen und wandert zu einem der rund 40 Plätze, von denen jeder andere Erfahrungen und Spielmöglichkeiten bietet. Manche sind flach, andere steil, mit Kletterwand oder Schlucht, geschützt oder offen. Bei extremen Wetterbedingungen wie starkem Sturm, Regen oder Schnee findet die Gruppe im Keller eines Wohnhauses im angrenzenden Wohnquartier Unterschlupf.

Im Moment sitzen die Kinder auf dem Waldsofa und spitzen die Ohren. In der geführten Sequenz greifen die Maus Frederik und der farbige Pilz das Thema „Wind“ auf. Frederik ist besorgt und bittet den Pilz: „Kannst du schauen, dass es allen gut geht und niemand fortgeblasen wird?“ Dieser nickt kräftig. Danach teilt sich die Gruppe auf. Der Kindergarten hat Freispiel, erste und zweite Klasse werden im Bauwagen bis zur Jausenpause arbeiten.

Der Wald als Schöpfer der Kreativität

Naturpädagogik, wie sie der Verein Waldkinder St. Gallen versteht, ist nicht rein wissensorientierter Unterricht im Freien. Die Kinder erfahren sich als Teil des Waldes, in den sie sich einfügen und der sich wiederum mit dem Wetter und den Jahreszeiten verändert und so laufend neue Spiel- und Lernmöglichkeiten parat hält.

Viel unstrukturiertes Material liegt herum, das anders als gekauftes Spielzeug und gefertigte Lernmaterialien keinen eindeutigen Verwendungszweck hat. Die Fantasie der Kinder ist gefragt. Der Boden ist bedeckt mit Laub und Tannennadeln, im Herbst finden sich Eicheln und Bucheckern, Moos verwan- delt umgestürzte Bäume in Fabelwesen. Käfer krabbeln durchs Pflanzenwerk –oder raschelt da eine Maus?

Im Wald sammeln Kinder vielseitige Sinneserfahrungen. Zudem werden die koordinativen Fähigkeiten der Kinder begünstigt. Weshalb? Der Boden ist nicht ganz flach. Er ist mit Hindernissen überdeckt. Beim Rennen muss der Körper schnell auf Unebenheiten reagieren, er muss Bäumen ausweichen, über kleine Waldbäche springen. Die Reaktionsfähigkeit auf Unerwartetes wird gefördert, Orientierungsfähigkeit verlangt.

Die Vorstellungskraft und Kreativität der Kinder können sich in diesem Rahmen mehr entfalten als in einer Schulklasse. „Sie steuern ihr Lernen selbst, werden dabei unterstützt von den Lehrpersonen und erleben so, dass sie sich einbringen können“, sagt Eva Helg.

Begleiten statt kontrollieren

Damit die Waldkinder Lesen, Schreiben und auf Papier Rechnen üben können, steht der Waldschule ein Bauwagen zur Verfügung. Hier ist es trocken und an kalten Wintertagen geheizt. Die Schüler arbeiten an diesem Morgen eine halbe Stunde an ihren Quartalsplänen, alleine oder zu zweit. Wer etwas nicht versteht, streckt die Hand auf und Caro Knoepfel kommt und erklärt.

Gerade haben sie alle noch hochkonzentriert an ihrem Heft gearbeitet, jetzt sausen sie davon, klettern auf Bäume und springen über Wurzelstöcke. Die Lehrerin entgegnet dem fröhlichen Treiben entspannt: „Im Wald ist so viel Raum, da stört es nicht, wenn die Kinder schreien und sich austoben“. Auch die stilleren leiden nicht unter den lauteren, wie es in geschlossenen Räumen oft der Fall ist. Früher, als sie noch als Lehrerin im klassischen Schulsystem und im Schulzimmer unterrichtete, habe sie sich oft als Polizistin gefühlt. Hier sei sie eher die Begleiterin. Seit 16 Jahren ist der Wald nun ihr Arbeitsplatz und die Waldschule ihre Berufung. „Weil die Kinder hier ihren Bewegungsdrang auch ausleben können, sind sie auch fähig, sich intensiv auf eine ruhige Tätigkeit einzulassen.“

Doch in den Wald-und-Wiesen-Zeiten geht es nicht darum, dass die Schüler ihre Biologiekenntnisse vertiefen und mehr Bewusstsein für die Umwelt bekommen. Es geht auch nicht darum, mit Tannenzapfen zu rechnen, sondern sie sind draußen im Wald und das Lernen ereignet sich von allein, weil sie Teil des Ganzen sind. „Ich habe viele Kinder erlebt, die sich draußen freigeschwommen haben“, sagt Ulrich Bosse, der von 1982 bis 2017 an der Laborschule als Lehrer tätig war. Ängstliche Kinder konnten Vertrauen entwickeln, hibbelige Kinder waren nach der Naturzeit ruhiger, erzählt er. „Draußen gab es nie eine Stigmatisierung der anderen“, erzählt Bosse. Aus Erfahrungen lernen, nicht aus Belehrung, ist auch das Ziel an der Waldschule in St. Gallen.

Übertritt in die Volksschule

Wenn die Kinder nach der zweiten Klasse vom Wald in ein Schulhaus mit Schulzimmer und Pausenplatz wechseln und der Stundenplan den Tag auf die Minute strukturiert, ist die Umstellung enorm. Denn ab jetzt muss alles in einer messbaren Zeit erfolgen. Manche Kinder klagen über den Lärmpegel im Klassenzimmer, andere finden die Pausen herausfordernd, weil sie gleichzeitig ihr Jausenbrot essen müssen, aber auch spielen möchten. In der Freizeit brauchen sie zum Ausgleich dann meistens viel Bewegung, gehen raus zum Fußball spielen oder Radfahren oder treten einem Sportverein bei. „Von den Lehrpersonen der Volksschule erhalten wir die Rückmeldung, dass unsere Kinder selbstbewusst, eigenständig und hoch motiviert sind, sie fragen viel und haben ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit.“, so Helg.

Wagemutig und wahrhaftig spielen

Die Jausenpause ist fertig, die Rucksäcke liegen auf einem Haufen. Bis zum Mittag ist jetzt für alle Freispiel. Ein großer farbiger Fallschirm liegt auf einem Hügel ausgebreitet, die Kinder halten die Enden fest und lassen ihn vom Wind aufblähen. Eins, zwei, drei! Alle versuchen gemeinsam, auf dem Rand zu sitzen, doch das gelingt nur schlecht, sie verwickeln sich darin, lachen und kriechen immer weiter unter das riesige Tuch.

Die Lehrerin sitzt auf dem Waldboden und erklärt einer Schülerin, dass sie die wollfadendicke Nacktschnecke nicht mit nach Hause nehmen kann. „Aber sie erfriert!!“, jammert sie und möchte die Babynacktschnecke unbedingt vor dem Winter retten. Sie verspürt viel- leicht sogar zum ersten Mal in ihrem Leben eine Verantwortung für dieses kleine Lebewesen und will nicht verstehen, dass die Schnecke nicht gerettet werden muss. Auf einem Stück Borke hat sie nun ein Schneckenhotel gebaut, mit Blättern und einem Unterstand aus Holz wo sich die Schnecke in der Kälte verkriechen kann. Naturerfahrungen erzeugen auch Krisen, die die Kinder lösen müssen. Und oftmals zeugen sie auch von Endlichkeit, denn ab und an finden die Kinder mal ein verendetes Tier, einen abgetrennten Regenwurm, einen toten Vogel oder einen toten Hasen. Die Waldschüler nehmen dadurch auch die Brüchigkeit wahr, und sensibilisieren sich für den Kreislauf des Lebens.

Ein Kind, welches Tag für Tag im Wald zu tun hat, gibt irgendwann die Illusion auf, als ob sie ganz und gar stark und perfekt sein müssen, denn die Natur ist es auch nicht. Kein Baum gleicht dem anderen. Es gibt praktisch keinen Leistungsvergleich an diesem Ort. So wie jeder Baum ein Individuum ist, wird auch das Kind dazu angehal- ten, ein Individuum zu sein. Der Wald schult die Sinne und setzt sie in Beziehung zur Umwelt. Er steht im Mittelpunkt des Sehens, Fühlens, Riechens, Hörens und Tastens. Viele tolle Spiele können zusätzlich die Sinne stärken und die Achtsamkeit der Kinder im Wald ankurbeln:

Geräuschen lauschen

Dieses schöne Waldspiel für Kinder dient der Entspannung und Achtsamkeit. Mitten im Wald sollen alle ganz still sein und sich merken oder aufschreiben, welche Geräusche sie hören. Nach einigen Minuten wird verglichen.

Gegenstände erfühlen

Die Kinder dürfen sich hinsetzen und die Augen schließen. Nacheinander werden ihnen verschiedene Waldgegenstände gereicht. Wie fühlen sich diese an? Kann das Kind ohne hinzuschauen erraten, welchen Gegenstand es in der Hand hält?

Wald-Bingo

Auf der Innenseite eines Deckels eines Eierkartons kleben zehn Bilder von Dingen, die Kinder im Wald finden können (zum Beispiel Fichtenzapfen, Bucheckern, Moos oder Laub). Die Kinder sollen diese zehn Dinge finden und in ihren Eierkarton legen. Als abgewandelte Variante: An jedem Fach klebt eine andere Farbe. Wer findet alle zehn Farben in der Natur?

Die Kinder in der Waldschule lernen auch zwischen nützlichen und schädlichen Ängsten unterscheiden zu lernen und die goldene Mitte zwischen übertriebener Furchtsamkeit und Leichtsinn zu finden. Wie lernen sie das? Indem sie ihre Grenzen austesten - immer unter Aufsicht, aber mit natürlicher Intelligenz und Hausverstand.

„Das muss alles weg“, ruft Leon und lässt stolz einen großen Ast nur auf seiner Handfläche tanzend durch den Wald schaukeln. Neben ihm stehen Emma, Lina und Paul und würden auch gern mitspielen und mal mit dem

Ast auf die Palette hauen. Nach und nach suchen sie sich ihre eigenen Äste und fädeln sie sich alleine in das Spiel mit ein, das sich Leon gerade ausgedacht hat. Erst von Baumstamm zu Baumstamm springen, dann durch die Schlucht zwischen den Buchen rennen, dann wieder rauf und am Schluss mit dem Ast auf die Palette hauen. Dabei rufen sie etwas... irgendetwas, was Erwachsene nicht verstehen.

Als Emma, Paul und Leon mit ihren Ästen auf und ab springen und wie eine Schar wilder Indianer durch den Wald streifen, geschieht Unergründliches, bleiben die Dinge unentschieden, in der Schwebe, weit weg von „Gut“ und „Schlecht“. Fern von jeglicher Beurteilung. Der Wald als ihr Lehrmeister flüstert ihnen eine Geschichte. Es ist eine Geschichte, sie handelt von einem Möglichkeitsraum weit jenseits der sichtbaren, realen, erfassbaren und empirischen Welt, welche sich die Erwachsenen ausgedacht haben. Die Geschichte handelt von einem Raum voller Möglichkeiten, von bunten Fabelwesen, von glitzernden Feen im Wald und moosbedeckten Schatztruhen. Doch nur Kinderohren können diese Geschichte des Waldes hören, für uns Erwachsene bleibt sie bis heute ein aus Kindermunde überliefertes Mysterium. 09.-11. November 2023

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