LEINWAND
„GLORIA!” ENTFÜHRT IN MUSIKGESCHICHTE
MURAT COŞKUN ÜBER PREISE UND BALANCE
LITERATUR
LAUTE(R) KLÄNGE BEIM NEUEN POESIEFESTIVAL
„GLORIA!” ENTFÜHRT IN MUSIKGESCHICHTE
MURAT COŞKUN ÜBER PREISE UND BALANCE
LAUTE(R) KLÄNGE BEIM NEUEN POESIEFESTIVAL
Licht aus, Spot an heißt es am 29. September, wenn mit der Oper Tosca die neue Saison eröffnet wird.
Mach’s noch einmal, Peter: Es ist Peter Carps letzte Spielzeit am Theater Freiburg, die am 29. September mit Giacomo Puccinis Oper Tosca beginnt. Und auch die letzte des Chefdramaturgen und Schauspiel-Leiters Rüdiger Bering. „Noch einmal mit Gefühl“ steht auf einem Werbebanner bei der Jahrespressekonferenz im Theater. Carp selbst fehlt. War zu Gesprächen für eine Uraufführung ins Kriegsgebiet nach Lwiw gereist.
„Wir wollen die Spielzeit bis zum Letzten auskosten“, sagte Bering. Es wird erneut eine sehr internationale werden: Der israelische Künstler Yair Sherman kommt erneut mit Team aus Tel Aviv, die aus einer ukrainischen
von Lars Bargmann
Familie stammende Opernregisseurin Kateryna Sokolova zeigt sich wieder, genauso wie der iranische Regisseur Amir Reza Koohestani, die italienische Regisseurin und Literaturpreisträgerin Camilla Dania, die junge litauische Regisseurin Kamilė Gudmonaitė oder die polnische Regisseurin Katarzyna Borkowska. Aber es gibt auch Lokalkolorit: Das Theater vergab einen Auftrag an Theresia Walser, die Tochter von Martin Walser. Sie, die in Au bei Freiburg lebt und eine der renommiertesten deutschen Dramatikerinnen ist, schreibt ein neues Stück fürs Ensemble mit dem Arbeitstitel „Erwartung“. Es geht wohl um den Weltuntergang, was Menschen kurz vorher machen und vor allem dann, wenn er ausbleibt. Carp wird das Stück zur Uraufführung bringen. Ebenfalls in einer Uraufführung geht Herbert Fritsch seiner „Rauflust nach“ (Bering). Und erstmals auf der Bühne in Freiburg wird das Kollektiv Kommando Himmelfahrt „Paradise Lost“ (nach John Milton) als „satanische Late-Night-Show“ präsentieren. Wieder auf der Bühne sind die Methusalems mit einer szenischen Lesung. Als Romanvorlage dient „Erste Wahl“ der Freiburger Autorin Kathrin Pläcking, die darin ein radikales Rentengesetz durchspielt – mit dem staatlich empfohlenen Freitod am Ende.
Auch mit Freiburger Hand gibt es gleich zum Saisonauftakt die europäische Erstaufführung „Prism“, eine Kammeroper, die mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet ist. Es dirigiert Friederike Scheunchen (siehe Musikseiten). International wird’s auch ganz am Ende der Spielzeit, wenn kein Geringerer als William Forsythe erstmals eine Tanzproduktion in Freiburg zeigt.
MINDESTENS ZEHN ZEITKAPSELN SIND
Zeitkapseln gibt es schon länger. Auch im Freiburger Münster. Das sind in Steinen versteckte Dinge für die Nachwelt.
Schüler · innnen aus Freiburg haben nun drei Zeitkapseln verewigt. Die Idee dazu hatte Hüttenmeister Uwe Zäh (54, Foto oben). Er erzählt im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann, warum solche Schätze auch mal 1000 Jahre überdauern.
chilli: Herr Zäh, Schüler · innen haben im Juli Zeitkapseln in einen Münsterstein gesetzt. Wie kam es dazu?
Zäh: Wir hatten eine Reparatur an einem Sandstein. So kam uns die Idee. Wenn man eh schon eine Öffnung schafft, könnte man sie tiefer machen und eine Zeitkapsel einbauen.
chilli: Wie viele liegen im Münster?
Zäh: Offiziell bekannt sind uns zehn. Drei aus diesem Jahrhundert, vier aus dem letzten. Dann gibt es noch drei, bei denen man es nicht genau weiß. Vermutlich stammen sie aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.
chilli: Ist das irgendwo verzeichnet?
Zäh: Die Zeitkapseln hat man zufällig
gefunden. Das ist zum Beispiel in Geschäftsberichten dokumentiert.
chilli: Die Zeitkapseln sind weiter im Münster?
Zäh: Genau. Geöffnet hat man die wenigsten. Das war nur in den 20er-Jahren der Fall. Da hat man in drei Zeitkapseln aus dem 16./17. Jahrhundert reingeguckt. Es ist bloß in Textform überliefert, was da drin ist. Die anderen hat man nicht geöffnet, weil man weiß, was drin ist. Und weil wir sie beschädigen könnten.
chilli: Was ist in den Kapseln?
Zäh: Bei einer aus den 20er-Jahren steht geschrieben, was Dinge des alltäglichen Lebens kosten und was man verdient hat. Die alten Zeitkapseln waren religiös. Da finden sich Wetter abwehrende oder Gebäude schützende Dinge. Zum Beispiel eine Münze mit einer Maria drauf oder ein Holzkreuzchen. In den neueren Kapseln findet man Sachen, die man der Nachwelt überliefern mag. Wie jetzt zum Beispiel hier in dem Schülerprojekt mit einem Smartphone, einem USB-Stick und einem Corona-Test.
chilli: Wie lange bleiben sie versteckt?
Zäh: So lange, wie der Stein hält. Wenn er irgendwann saniert werden muss, werden sie die Stelle sehen und anhand von dem Format wahrscheinlich Rückschlüsse ziehen können, dass da was drin ist, weil das eine sehr ungewöhnliche Stelle ist. Wir hoffen natürlich, dass das erst in vielen 100 Jahren passieren wird.
chilli: Also möglicherweise für immer?
Zäh: Immer ist ein großes Wort, aber für eine sehr, sehr lange Zeit. Mehrere 100 Jahre.
chilli: Für wen sind diese Zeitkapseln?
Zäh: Für den, der sie findet. Also für niemand Spezielles. Es ist nicht wirklich gesagt, dass sie jemals gefunden werden. Wir beobachten das Münster, kennen jeden Quadratzentimeter. Aber was ist schon in ein paar 100 Jahren? Das kann man nicht wissen und das macht es so spannend.
chilli: Eine Art Flaschenpost im Stein?
Zäh: Ja, eine Flaschenpost, die irgendwann mal ankommt.
chilli: Gibt es das in allen größeren Kirchen oder Kathedralen?
Zäh: Das wollen wir ergründen. Offizielle Zeitkapseln gibt es immer wieder. Aber es gibt auch inoffizielle. Ich weiß von älteren Kollegen, die im Ruhestand sind, die haben schon mal eine Getränkeflasche mit einer Botschaft versteckt. Und das ist nicht verzeichnet.
chilli: Was würden Sie als Zeitkapsel gerne mal ins Münster legen?
Zäh: Das haben wir auch überlegt. Wenn jeder ein Los zieht von den Mitarbeitern und über den anderen einen Brief schreibt. So was fände ich witzig – ohne Korrektur gelesen zu haben.
Gloria!
Italien 2024
Regie: Margherita Vicario
Mit: Galatea Bellugi, Carlotta Gamba, Paolo Rossi, Veronica Lucchesi u.a.
Verleih: Neue Visionen
Laufzeit: 106 Minuten
Start: 29. August 2024
Premiäre: 26.08., 21 Uhr, Sommernachtskino im Schwarzen Kloster
Teresa spricht nicht. Aber sie hört: Begierig nimmt die junge Frau, die in Küche und Hof des Kloster-Waisenhauses Ospedale Sant’Ignazio ein Aschenputtel-Leben fristet, die Geräusche auf, die sie im Alltag umgeben. Denn in ihrem Kopf, in ihrer Fantasie verdichtet sich alles zu einer ungestümen Sinfonie: das rhythmische Schneiden von Gemüse, das Flattern nasser Wäsche im Wind, das Scharren der Reisigbesen beim Kehren, das Klappern von Geschirr – und die anderen Laute, die ihre Arbeit ausmachen. Sie erlebt die Welt, die Wirklichkeit als Melodie, als Phythmus. Und es gelingt ihr, die Realität für sich so zu verändern, dass sie es darin aushält. Zumal sich zur Alltagssinfonie Kinderstimmen und weitere liebliche Töne gesellen: Aus dem Musiksaal dringt Vivaldis „Gloria in Excelsis Deo!“, mit engelsgleichen Chorstimmen, Violinen und Bratschen. Hier unterrichtet Klostervorsteher Padre Perlina besonders talentierte, fast erwachsene Waisenmädchen im Instrumentenspiel und Singen – freilich nur für den kirchenmusikalischen Gebrauch bei öffentlichen Gottesdiensten an Sonnund Feiertagen. Derzeit bereitet er sie zudem auf das Konzert vor, das sie anlässlich des Besuchs des frisch geweihten Papstes geben sollen. Und für das Perlina so verzweifelt wie vergeblich ein Oratorium zu komponieren versucht.
Dass Teresa ebenso talentiert ist wie die Musikschülerinnen, bemerkt nur der alte Romeo, der für die Erziehung der Kinder zuständig ist. Und außer Perlina weiß niemand, dass sie sehr wohl sprechen kann, dass sie bei ihrem Eintritt in das Ospedale von dessen spendenfreudigstem Gönner jedoch zu striktem Schweigen
von Erika Weisser
verpflichtet wurde. Und so wacht der Abt streng über sie: Als sie sich der von ihm geplanten Zwangsverheiratung mit einem kinderreichen und offenbar recht spendablen Witwer widersetzt, sperrt er sie kurzerhand in eine Kammer.
Dort entdeckt sie ein ihr völlig unbekanntes Instrument: ein Pianoforte. Sie probiert es aus, taucht in die Magie der selbsterzeugten Töne und bringt sich in den folgenden Nächten in heimlichen Übungsstunden selbst bei, es zu spielen. Dabei wird sie von den anderen Musikerinnen überrascht, doch nicht verraten: Nach ziemlich zickigen und feindseligen Reaktionen seitens der ersten Geigerin Lucia entsteht eine Komplizenschaft und schließlich Freundschaft. Teresa und Lucia, die Noten lesen und komponieren kann, spielen Musikstücke, durch die ein neuer, feministischer Sound zieht, der in die Zukunft weist: Bluesig, jazzig, poppig ist er – und macht Lust zum Mitmachen. Mit ihrem trotz angedeuteter Gewalt sehr heiteren und zuversichtlichen Film setzt die Musikerin Margherita Vicario allen Frauen ein Denkmal, die als Komponistinnen Musikgeschichte schrieben, wegen der bis heute in diesem Bereich herrschenden Männerdomäne jedoch „wie gepresste Blumen zwischen den Seiten dieser Geschichte verborgen sind“.
Deutschland 2024
Regie: Asli Özarrslan
Mit: Melia Kara, Jamilah Bagdach, Asya Utku u.a.
Verleih: JIP Film
Laufzeit: 86 Minuten
Start: 5. September 2024
Keine Chance
(ewei). Hazal hat es ziemlich schwer. Sie ist bald 18, gerade mit der Schule fertig und sucht noch nach einem Ausbildungsplatz in der Altenpflege. Doch ihre Bewerbungen werden abgewiesen – mit der fadenscheinigen Begründung, dass sie über zu wenig Allgemeinbildung verfüge.
Statt öfter in der Bäckerei ihrer türkischen Eltern mitzuhelfen, hängt sie lieber mit den Freundinnen Elma und Gül ab. Sehr zum Missfallen der Mutter, die deren schlechten Einfluss auf Hazal fürchtet: Die Mädchen schminken sich, ziehen sich auffällig an, gehen auf Partys. An Hazals 18. Geburtstag nützt ihnen diese Erfahrung freilich nichts: In dem Club, in dem sie feiern wollen, werden sie abgewiesen. Als sie in der U-Bahn-Station dann von einem jungen Mann belästigt wird, eskaliert die Situation: Voll angestauter Wut über die Zurückweisungen überschreitet Hazal in ihrer Abwehr sämtliche Grenzen. Verstört flieht sie nach Istanbul – und kommt in dem völlig unvertrauten Land auch bald unter die Räder.
USA 2023
Regie: Tony Goldwyn
Mit: Bobby Cannavale, Robert De Niro, William A. Fitzgerald u.a.
Verleih: Tobis
Laufzeit: 101 Minuten
Start: 12. September 2024
(ewei). Max kommt mit seinem Leben nicht so ganz zurecht. Der Stand-up-Comedian hat beruflich nicht den gewünschten Erfolg, außerdem lebt er wegen der noch nicht ganz akzeptierten Trennung von Ehefrau Jenna wieder bei seinem Vater. Vor allem aber macht er sich Sorgen um seinen elfjährigen Sohn Ezra.
Der Junge hat eine Autismus-Spektrum-Störung; er lässt sich von niemandem berühren, kann nicht zwischen Spaß und Ernst unterscheiden, sagt immer direkt, was er denkt. Dadurch wird er in der Schule zum Außenseiter, zum Störer gemacht. Obwohl es ihm in seiner Welt eigentlich gutgeht. Die ständigen Vorladungen der Klassenlehrerin, ihre Empfehlung, Ezra in eine Sonderschule zu schicken und die Auseinandersetzungen darüber zermürben die ohnehin uneinigen Eltern. Eines Tages beschließt Max deshalb, seinen Sohn zu retten: Er nimmt ihn mit zu einem Auftritt in LA. Bei ihrem ziemlich planlosen Trip durch die Pampa geht Max allmählich auf, was wirklich gut ist für Ezra
USA 2023
Regie: Michel Franco
Mit: Jessica Chastain, Peter Sarsgaard, Brooke Timber u.a.
Verleih: MFA
Laufzeit: 103 Minuten
Start: 3. Oktober 2024
(ewei). Sylvia ist alleinerziehend und seit 13 Jahren trockene Alkoholikerin. Das ist bereits in der ersten Einstellung zu erfahren, die die zerbrechlich wirkende Frau mit ihrer 13-jährigen Tochter Anna bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker zeigt. Übervorsichtig ist sie, außer zu den A A, ihrer Schwester Olivia und zu ihrer Chefin in der Einrichtung für psychisch labile Menschen meidet sie jeden Kontakt.
Bei Olivias Geburtstagsfeier setzt sich ein unbekannter Mann zu ihr –und folgt ihr, als sie genervt das Fest verlässt. Erst an ihrer Haustür kann sie ihn abschütteln. Doch dort ist er am anderen Morgen immer noch. Sie betätigt den Notruf und erfährt, dass er Saul heißt. Sylvia bildet sich ein, dass es zu Schulzeiten eine gemeinsame ungute Vergangenheit gab, von der er aber nichts weiß: Saul ist dement, kann sich nur selektiv erinnern. Er scheint ebenso versehrt und traumatisiert wie sie; allmählich nähern sie sich einander an und lüften dabei ihre Geheimnisse.
Ausgezeichnet: Murat Coşkun hat den Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg bekommen.
Der Reinhold-SchneiderPreis der Stadt Freiburg geht 2024 an Murat Coşkun. Der 52-jährige Trommler, Festivalleiter und Pädagoge wird als „Brückenbauer zwischen Kulturen und Genres“ gelobt. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann spricht er über das Preisgeld von 15.000 Euro, über Rassismus und über eine neue Ruhe.
cultur.zeit: Murat, was bedeutet dir die Auszeichnung?
Coşkun: Ich musste erst mal gucken, was das für ein Preis ist. Ich habe mich informiert und natürlich tierisch gefreut über diese Wertschätzung meiner Arbeit. Ich mache viel, auch ehrenamtlich, oft auch ohne zu überlegen.
cultur.zeit: Bist du ein Bauchgefühl-Mensch?
Coşkun: Viele Impulse kommen aus dem Bauch. Aber ich überlege dann erst mal: Ist das realistisch? Oder völlig spinnert? Wenn es nicht völlig abwegig ist, dann mache ich das.
cultur.zeit: Ein bisschen abwegig darf es schon sein?
Coşkun: Auf jeden Fall. Aber je erfahrener du bist, desto mehr merkst du: Das funktioniert ja gar nicht. Das ist manchmal schade, weil man diese Gedankenfreiheit nicht mehr so hat. Am Ende setzt man von zehn Ideen vielleicht eine um.
cultur.zeit: Du wolltest eigentlich in den Kulturbetrieb, vielleicht sogar Botschafter werden. Dann hast du 1998 mit dem Ensemble FisFüz den SWR-Weltmusik-Preis bekommen.
Es gab 50.000 Mark. War das der Wendepunkt?
Coşkun: Das Geld hat eine ausschlaggebende Rolle gespielt. Die 50.000 Mark waren Startkapital, das wir in die Band investiert haben.
cultur.zeit: Eine krasse Summe. Ihr habt sie nicht verprasst?
Coşkun: Nein, wir waren Studierende, haben in einer WG gewohnt. 50.000 – das war unvorstellbar viel. Ich bin kein materialistischer Mensch. Deswegen haben wir das ins Projekt investiert.
cultur.zeit: Jetzt bekommst du 15.000 Euro Preisgeld. Was machst du damit?
Coşkun: Ich habe mir noch keine Gedanken gemacht. Ich werde das Geld natürlich auch in ein oder zwei Projekte investieren.
cultur.zeit: Du bist ein international gefragter Musiker, leitest das Tamburi-Mundi-Festival, bist Dozent an der Popakademie in Mannheim. Bist du finanziell sorglos?
Coşkun: Das soll nicht überheblich klingen, aber Sorgen habe ich momentan nicht. Letztendlich muss man trotzdem in neue Projekte investieren. Sonst kann das für einen Künstler den Tod bedeuten. Du musst dich neu erfinden, updaten wie ein Rechner. Du brauchst keinen neuen Rechner, aber zumindest das Gefühl, dass es zeitgemäß ist.
cultur.zeit: Die Reinhold-Schneider-Jury lobt dich als unermüdlichen Botschafter. Woher kommt die Energie, immer noch im Power-Play-Modus zu spielen?
Coşkun: (lacht). Also ich habe mich ein bisschen beruhigt. Die Pandemie kam total rechtzeitig. Ich war an dem Punkt, wo ich gemerkt habe, dass ich mich nicht mehr so gefreut habe auf die kommende Tour. Das fand ich nicht schön. Die Corona-Vollbremsung habe ich mit den Kindern und der Familie genossen.
cultur.zeit: Du reist viel. Wie viele Wochen im Jahr bist du nicht in Freiburg?
Coşkun: Ich war so 150 Tage im Jahr unterwegs. Jetzt ist es weniger geworden. Das ist auch eine bewusste Entscheidung. Man wird älter. Mit 20 bin ich manchmal nachts durchgefahren. Das schaffe ich nicht mehr.
„Ich
wollte zeigen, dass ich keine Türken-Sau bin“
cultur.zeit: Als Kind hast du in der Schule Rassismus erlebt, wurdest Türken-Sau genannt. War das ein Antrieb, Musik zu machen?
Coşkun: Ja, die Erfahrung hat mich sehr geprägt. Sie hat vielleicht auch getriggert, dass ich es ihnen zeigen wollte. Ich habe versucht, immer alles gut zu machen, war eine Zeit lang Klassenbester, Klassensprecher, Schülersprecher, habe die Schülerzeitung geleitet. Ich wollte zeigen, dass ich keine Türken-Sau bin, wollte aber nicht mit Gegengewalt antworten, sondern mit Leistung.
cultur.zeit: Gibt es denn etwas, das noch unverwirklicht ist? Was würdest du gerne machen?
Coşkun: Eine eigene Spielstätte zu haben, das wäre ein Wunsch. Ein Ort, an dem ich selber das Programm mache, selber spiele und wo ich ganz viele einladen kann. Und alles wäre völlig subventioniert. Also ein Ort, wo ich mich einfach nicht ums Geld kümmern muss.
cultur.zeit: Hast du sonst einen Wunsch für die kommenden Jahre?
Coşkun: Von einer Glücksfee würde ich mir wünschen, dass sie es schafft, einfach mal Ruhe auf die Welt zu bringen. Das tendiert gerade alles in eine seltsame Richtung. Ich würde mir wünschen, dass da auch mal einsichtige Leute sind, die was zu sagen haben und die auf den Tisch hauen: So geht es nicht mehr weiter.
„Energie
PREIS
FÜR DIRIGENTIN FRIEDERIKE SCHEUNCHEN
Der Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg geht 2024 auch an die Dirigentin Friederike Scheunchen. Die Jury lobt sie als eine der vielversprechendsten Nachwuchskünstlerinnen – und belohnt das mit einem 3000-Euro-Stipendium. Die Musik hat sie sogar zum Fußball gebracht.
„Die Auszeichnung ist eine große Ehre“, sagt die Dirigentin, die ihr Alter gerne für sich behält. Als „vielseitig talentierte Grenzgängerin“ lobt sie die Jury. Denn Scheunchen tanzt auf vielen Hochzeiten: Als freischaffende Dirigentin ist sie bei unterschiedlichen Orchestern und Ensembles zu Gast. Ab September wird sie zudem als Dirigentin sowie Assistentin von Generalmusikdirektor André de Ridder am Theater Freiburg arbeiten. Währenddessen pausiert sie als Dozentin an der Musikhochschule Freiburg, wo sie den Masterstudiengang „Interpretation Neue Musik" leitet.
Am Theater möchte sie „alles mitnehmen, was sich bietet“. Für zwei Produktionen ist sie als Dirigentin eingeplant. Los geht’s im Oktober mit der Europa-Premiere der Oper „Prism“. „Tolle Musik, krasser Stoff und ein super Team“, schwärmt Scheunchen. Die Freiburgerin mit Faible für Neue Musik hat in Trossingen Schulmusik studiert. Dann folgte ein Master mit Schwerpunkt Chorleitung an der Musikhochschule Freiburg. Mit der Aufteilung 50 Prozent freischaffend und 50 Prozent festangestellt am Theater verbindet sie zwei Leidenschaften: „die für die Musik und Kunst sowie die für die Arbeit mit Menschen“. Sie liebe es, gemeinsam mit anderen auf ein großes Ziel hinzuarbeiten. Wichtig als Dirigentin ist ihr, „Energie zu geben“.
Scheunchen hat in der Elbphilharmonie dirigiert, in Harvard, aber auch beim Sport: Im Mai vertonte sie bei „The Game“ in Echtzeit mit dem Ensemble Resonanz das Fußballrelegationsspiel St. Pauli gegen Osnabrück. Pauli stieg auf, der Saal kochte: „Das war einfach Jackpot, eine Wahnsinnsstimmung im Konzertsaal.“ So ist es kein Wunder, was Scheunchen am meisten Spaß macht: „Die Abwechslung und der künstlerische Austausch“. Vielleicht klappt das ja auch mal für ein SC-Freiburg-Spiel. Till Neumann
Umtriebig: Friederike Scheunchen
„Fühle mich unsicher“
Ein Bußgeldbescheid für eine Tanzaktion ärgert
Natural Orlando. Der Tänzer hat ein Crowdfunding gestartet und möchte das notfalls vor Gericht klären. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann erklärt der Student, worum es geht.
Ihr sollt 128,50 Euro Bußgeld zahlen wegen Silent-Straßenkunst?
Aus unserer Perspektive ist es so. Der Vollzugsdienst sagt, dass es im Februar 2024 nicht genug Durchgangsbreite gab beim Tanzen vor dem Regierungspräsidium. Es heißt, wir bräuchten eine Sondernutzungserlaubnis für Straßenshows. Dabei steht im Merkblatt der Stadt, die Nutzungserlaubnis ist da für das, was wir machen.
Was sollte grundsätzlich geändert werden?
Es wäre wichtig, dass mehr kommuniziert wird. Und dass sich der Vollzugsdienst untereinander besser abspricht. Er denkt, dass ich für alle möglichen Tänzer in Freiburg verantwortlich bin. Der Ort, für den ich ein Bußgeld bezahlen soll, wurde vom Vollzugsdienst vorgeschlagen. Das ist das eigentlich Ironische. Ich würde mir wünschen, dass man den Ort am Bertoldsbrunnen wieder für Straßenkunst freigibt. Das war vor 2019 schon so.
Wie fühlt sich die Situation an?
Für mich ist es sau beängstigend, wenn ich in der Stadt tanze und vom Vollzugsdienst ein Foto von mir gemacht wird. Ich fühle mich durch den Vollzugsdienst extrem unsicher. Ich habe auch mit dem No-Basement-Kulturraum, den ich 2021 schließen musste, in Freiburg schlechte Erfahrungen gesammelt. Es hängt mit von diesem Gerichtsfall ab, ob ich oder ob wir als Gruppe einfach die Stadt wechseln. Hier ist dann einfach verbrannte Erde.
(tln). Bock auf Fernweh? Dann könntet ihr das zweite Album des Freiburger Folk-Country-Duos Banjo aufdrehen. Da gibt’s kernig-erdigen Bluegrass-Sound zum Chillen in der Hängematte oder für ein Glas Whiskey im Schatten. Speziell für Fans von Country und Mundharmonika dürfte das zum Match werden.
Die zwei Musiker Jonas Hammerschmidt und Peter Milde machen als „Danjo“ Sound, der nach den amerikanischen Südstaaten klingt. Kontrabass trifft da auf Harp, Akustikgitarre, Banjo und Mandoline. Dazu gibt’s ein- und mehrstimmigen englischen Gesang, dem man gerne lauscht.
Das Debütalbum „Collaboration“ von 2022 gab es noch in anderer Besetzung. Das neu formierte DanjoDuo beherrscht sein Handwerk zweifelsohne. Das Album All Alone lädt zum Durchhören ein. Und verursacht mit großer Wahrscheinlichkeit Fernweh. Mit Songs wie „Roll in Sweet Baby’s Arms“ gibt’s Uptempo-Sound zum Rumhüpfen. „Cherry Blossom Tree“ kommt dafür als verträumte Ballade durch die Speaker.
Atemberaubende Landschaften gibt es ja nicht nur in den Südstaaten. Vielleicht inspiriert die Musik ja zu einem Trip in die verwegene „Countryside“ des Südwestens der Republik. Die schönsten Berge und wildesten Wälder gibt’s eh hier.
Sonne tanken
(pt). Drei Jahre nach ihrer gleichnamigen EP hat der Freiburger Live-Act EL3CTRIO die zweite virtuelle Platte aufgelegt. Auf dem ebenfalls vier Tracks umfassenden Dark Lights mixen Elias Jakob, Matthias Droll und Tilman Fehse mit Gitarre, Posaune, Synthesizer- und Laptop-Drums eine Umrundung der Sonne. 24 Stunden in knapp 15 Minuten.
Der Tag beginnt auf „Face The Sun (Pt.1)“ mit verspielten und warmen Klängen, Vogelgezwitscher und dumpfen Stimmen. Irgendwann klingelt der Wecker, die Musik wird treibender, gradliniger – Zeit zum Aufstehen und Kopfnicken.
Mit Part 2 kommen die Füße dazu, die Bässe werden tiefer, die Höhen spitzer. Die Sonne steht am höchsten und es darf emsig gestampft werden. Part 3 wabert zwischen letzten durch Baumkronen schießenden Strahlen und Sonnenbrand – langsam, entrückt, psychedelisch.
Auch der Nacht wird gedacht: Mit „Blue Hour“ geht der Mond auf, die gescheit gemixten Arrangements kühlen herunter, werden schließlich langsamer und klingen in die Nacht aus. Am 13. November gibt’s das live im Waldsee beim Jazzfestival Freiburg. Musikalisch geht’s dann wohl in so mancher Playlist weiter. Denn Dark Lights bietet viel Licht und kaum Schatten.
(ap). Manchmal fühlt man sich so einsam in einer Gruppe Menschen, als wäre man wieder 17. Unsicher und endlos traurig über die Welt an sich. Und das, obwohl eigentlich alles passt: Musik, Licht, Melodie.
Diese Situation greift QVICK in der neuen Single „Bite My Lip Off“ auf. Der beziehungsweise die Musiker·in aus Finnland hat in Freiburg studiert und ist Teil der Freiburger Band The Astronaut & The Fox. Inzwischen ist QVICK in Hamburg zu Hause und macht dort „Bedroom pop“ eines erwachsen gewordenen depressiven Teenagers.
Auch in dem neuen Song kommt der Teenager durch: Soziale Ängste, nicht dazugehören, Schwierigkeiten dabei, in einer neuen Stadt Freunde zu finden – QVICK fasst es im Chorus zusammen: „I’m so deep within myself, I’m 17 again.“
Freunde finden wird mit wachsendem Alter auf keinen Fall leichter. „Dust settles and I will move again“ – in der nächsten Stadt wieder die gleiche soziale Angst. Gleichzeitig lädt QVICK mit sommerlich-freundlicher Melodie zum Beine-baumeln-Lassen ein. Trotz der ernsten Thematik macht die tanzbare Gitarre den Song zu einem guten Begleiter für einen sonnigen Tag am See.
Der Kontrast zwischen Text und Tonfall – ein gelungenes Stilmittel für diejenigen, die aufmerksam zuhören.
(tln). Vier Musiker aus Freiburg haben sich als Band Somas zusammengetan. Die Jungs aus Argentinien, Italien und Deutschland machen spanischsprachigen Rock, waren bisher unter anderem im Artik und bei „Freiburg Stimmt Ein“ zu sehen.
Im Juli haben sie die Single „Mirame“ veröffentlicht. „Schau mich an“ heißt das. Der Song kommt gemütlich um die Ecke. Sänger und Gitarrist Juan Pablo Graziani singt von Liebe, Hoffnung und Mitgefühl. „Pierdete en mi mirada“, heißt es im Chorus. Verlier dich in meinem Blick. Das klingt nach einem Roadtrip, runtergekurbelten Fenstern und Romanze. Eine Reise ins Unbekannte.
Im Video sieht man die Band beim Recording in der Freiburger Amps Factory. Für Drums und Percussion ist Simone Ravo zuständig. Bass spielt Jerome Höfflin. Die elektrische Gitarre und Backing Vocals liefert Diego Sánchez Plaza.
Livevideos auf dem YouTube-Kanal der Band zeigen eine eingespielte Truppe, die auch mit Rapelementen, packenden Gitarrensoli und psychedelischen Sounds um die Ecke kommt. Da darf die Fendergitarre genauso wenig fehlen wie das südamerikanische Zupfinstrument Charango. Somas liefern Tanzbares zum Träumen, bei der großen Latino-Community in Freiburg dürfte das seine Fans finden.
Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen, vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Werte Fans, ganz egal ob nun Swifties, Adele-Daydreamers, Helene Fischer-Ultras oder Rammstein-Verehrer! Aus aktuellem Anlass möchten wir euch hiermit nochmals mit Nachdruck dafür sensibilisieren und ja, auch ermahnen, es mit eurer grenzenlosen Zuneigung nicht zu übertreiben und andere arglose Bürger·innen oder gar ganze Städte in Mitleidenschaft zu ziehen. Das arme Gelsenkirchen aka Swiftkirchen weiß mittlerweile ein Lied davon zu singen, das reiche München aber ebenso. Adele-World! Und demnächst nehmen dann atemlos hysterische Helene Fischer-Jünger·innen das gesamte Weltall in Beschlag?
„Fan, fan, fanatisch, sie tanzen automatisch ...“ Die NDWler von Rheingold vertonten in den 80ern schon kritisch das Fan-Dasein, ohne zu ahnen, was eine Adele von und zu Swifthausen aus erwachsenen Menschen dereinst machen wird.
Peter K., 76, aus W. kann hier nicht unerwähnt bleiben. Er bezeichnet sich selbst als „Oldest Swiftie“, vielleicht tatsächlich der älteste Swiftie, wahrscheinlich sogar der ganzen Welt. Er trug auf dem Konzert eine Schärpe auf der eben dies zu lesen war. Bei allem Respekt Peter: Mach dich nicht zum willenlosen Werkzeug einer Pop-Diva. Gegen deren Musik wir an und für sich zwar nichts wirklich einzuwenden haben, da hören wir täglich wesentlich Schlimmeres, aber das ist nicht der Punkt. Punkt. Eben.
Denkt mal drüber nach. Danke.
Die GeschPo grüßt speziell ihre eigenen Fans
DLauschlaute (im UZS von u. l.):
Alexander Grimm und Luke Wilkins laden zum Poesiefestival mit Klaus Theweleit, Alexander Kluge, Heinzl Spagl und dem Obertonchor Partial.
© privat, Dorothee Philipp, picture-alliance/ dpa/Eventpress Hoensch, Markus Kirchgessner, privat
as gab es noch nicht in Freiburg: Ein Festival, bei dem es um Laute geht. Um Sprechgedichte, wie der österreichische Lyriker Ernst Jandl seine experimentellen Poeme nannte. In diesen zerlegte er Sprache, Wörter und Silben und formte sie so um, dass sie einen anderen Sinn bekamen.
Und anders als etwa bei dem Wort „leise“, das er zur „Luise“ verfremdete, erschloss sich dieser Sinn oft nur über das Hören, über die Performance. Lautpoesie nennt man das heute. Und die geht vom 27. bis 29. September ziemlich verdichtet und geballt über gleich drei Bühnen: im Literaturhaus und im Schopf 2 in Freiburg sowie im Jazzcampus in Basel, in Kooperation mit dem dortigen Literaturhaus.
Ausgedacht, konzipiert und schließlich organisiert haben diese „dichterischen Grenzüberschreitungen im Dreiländereck“ zwei Freiburger und überzeugte Autoren dieses Genres: Alexander Grimm und Luke Wilkins, die sich in einer Lyrik-Schreibgruppe kennenlernten. Ausgedacht ist indessen „vielleicht nicht das richtige Wort“, sagt Wilkins: Der Impuls für die Veranstaltung kam vielmehr von einer Reaktion: Als Putin im Februar 2022 seinen mörderischen Krieg gegen die Ukraine lostrat, waren sich die beiden schnell einig, dass dem Schock und der einsetzenden „diskursiven Verengung“ der öffentlichen Debatte von wortkünstlerischer Seite etwas entgegengesetzt werden müsse. Und dass lautpoetische Ansätze hierfür geradezu prädestiniert seien.
Denn in krisengeschüttelten Zeiten, die von Schwarz-Weiß-Denken bestimmt seien und in denen selbst die Freiheit von Kunst und Medien zunehmend auf Parolen der Politik zurechtgestutzt werde, könne der von normativen Zwängen befreite Ausdruck neue, dynamische Dialogräume öffnen. Oder besser: Den Klangraum bewusst machen, den „es noch gibt zwischen Mensch und Sprache und der im Alltag meist unge-
von Erika Weisser
hört verhallt“, wie Grimm aus Erfahrung überzeugt ist.
Die radikalen, aus Ur- oder Maschinenlauten, kindlichem Gestammel und grausender Lautmalerei bestehenden Experimente, mit denen die Dadaisten und Surrealisten vor hundert Jahren auf die Schlächtereien des Ersten Weltkriegs reagierten, sagt auch Wilkins, hätten genau diesen Klangraum, diesen unsichtbaren „dritten Körper“ erfahrbar gemacht. Eine Poesie, die sich auch über Landes- und Regionalsprachen hinwegsetzt, die sich weniger der sprachlichen Semantik als dem Klang, der Musikalität der Worte und Laute und der Lust an ihrer Sinnfreiheit widmet, könne „die Wahrnehmung für die Absurdität der Welt öffnen“, findet er. Und von dieser durch dichterische Prozesse ausgelösten Bewusstwerdung können wiederum Impulse für die Gesellschaft ausgehen, die der durch Gewalt entstandenen Sprachlosigkeit ein Ende setzen.
Als Beispiel für einen solchen Verarbeitungsprozess nennt er Kurt Schwitters 1923 entstandene Ursonate, die der Freiburger Schauspieler Heinzl Spagl bei der Festival-Matinee am Sonntag in Basel zu Gehör bringen wird. Weitere Gäste sind außer den Lautpoeten Urs Allemann, Dagmara Kraus, Liolaine Lochu und Michael Lentz und vielen anderen auch Alexander Kluge mit seinem eigens für das Festival gemachten Dada-Film und Klaus Theweleit, der sein jüngstes Buch mitbringt, in dem es um die kriegerischen Ursprünge des Vokalalphabets geht.
Mehr Info: www.lautpoesiefestival.com
von Taqi Akhlaqi
Übersetzung: Jutta
Himmelreich
Verlag:
Sujet, 2024
275 Seiten, Paperback
Preis: 19,80 Euro
(ewei). Taqi Akhlaqi ist nicht aus Afghanistan geflüchtet. Er kam 2016 mit einem für zwei Jahre gewährten Arbeitsstipendium der Heinrich -Böll-Stiftung bequem und gefahrlos nach Deutschland. In gelegentlichen Alpträumen im viel zu kurzen Bett in Bölls Haus in Düren wird er jedoch von der Vision heimgesucht, einer von jenen zu sein, die auf dem Weg in die erhoffte sichere Zuflucht manchmal gerade so mit dem Leben davonkommen. Oder oft auch nicht.
Ein wenig plagt den Autor das mit seinen Landsleuten solidarische Gewissen schon: Aufgrund seines Status kann er ungehindert und ohne Angst durch das Land reisen und neugierig die „wundersame Welt der Deutschen“ erkunden. Und er muss sich dabei keine Sorgen um morgen machen.
Was Akhlagi, der sein Land wegen der Rückkehr der Taliban 2021 schließlich doch fluchtartig verließ, von seinen zuweilen skurrilen Beobachtungen, Begegnungen, Zufallsgesprächen und Erlebnissen niederschreibt, liest sich wie eine humorige, selbstsatirische und niemals lächerliche Chronik eines Toren, der auszog, das Staunen zu lernen.
Über verwirrende Eisenbahnsysteme, über dysfunktionale öffentliche Toiletten. Und vor allem darüber, dass offenbar doch nicht alle Deutschen Zeilen aus Nietzsches Zarathustra zitieren können.
von Roberto Saviano Übersetzung:
Annette Kopetzki
Verlag:
Hanser, 2024
540 Seiten, Hardcover
Preis: 32 Euro
(ewei). „Jedes Ereignis ist tatsächlich geschehen“, schreibt Roberto Saviano im Vorwort zu „Falcone“. Und: „All das ist gewesen.“ Geschehen ist etwa die verheerende Explosion in Corleone im Jahr 1943, mit der der Roman beginnt: Beim Versuch, einen Sprengkörper made in USA zu entschärfen, tötet der Vater von Salvatore (Totò) Riina die männlichen Familienmitglieder –bis auf den gerade zwölfjährigen, äußerlich unversehrten Jungen.
45 Jahre später ist eben dieser Totò Boss aller Bosse der Cosa Nostra. Und beauftragt einen Killer, Richter Giovanni Falcone zu töten. Dieser „Spielverderber“ hatte mit dem Geldwäsche-Gesetz Riinas kriminelle Geschäfte gestört, hatte den großen Prozess gegen die Mafia geführt, der 1987 mit der Verurteilung von 344 Angeklagten endete.
Saviano zeichnet ein sehr persönliches Porträt des im Sommer 1992 Ermordeten, der wusste, das seine Tage gezählt sind. Und er zeigt anhand seines Werdegangs, wie demokratische Strukturen ausgehöhlt werden und was Zivilcourage bewirken kann. Seine großartige und spannende literarische Aufarbeitung der Geschichte hat Annette Kopetzki übersetzt, die unlängst den nach der Freiburger Übersetzerin Ragni Maria Gschwend benannten deutsch- italienischen Mazzucchetti-Gschwend-Preis erhalten hat.
von Ingeborg Gleichauf
Verlag:
Mitteldeutscher
Verlag, 2024
165 Seiten, Paperback
Preis: 18 Euro
(ewei). Über viele Frauen hat die Freiburger Philosophin Ingeborg Gleichauf treffliche Porträts verfasst. Über ihr Wirken, ihre Literatur, ihre persönlichen Befindlichkeiten, die auf jeweils ganz eigene Weise ihren Ausdruck fanden.
Dabei kommt die Autorin dem Wesen der Porträtierten sehr nahe – in umfassender Lektüre und intensiven inneren Dialogen mit ihr. Und sie versteht es, ihre Analysen so an die Leser zu bringen, dass sie neugierig werden. So auch bei Brigitte Reimann, die in der DDR gegen vorgeschriebene literarische Muster, gegen die „Lobsingung einer bestehenden Ordnung in einer unklaren Gesellschaft“ und gegen die Zensur anschrieb.
Für Gleichauf zählt die fast vergessene „Prosaarchitektin“, die 1973 mit knapp 40 Jahren starb, zu den wichtigen deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Obwohl sie nur wenig hinterließ: Einige Erzählungen, den unvollendeten Roman „Franziska Linkerhand“ – und ein paar Tagebücher und Briefwechsel, die Aufschluss geben über ihr „provisorisches Leben“ und „diese seltsame Art von Doppelt-Sein“ in ihrem stetigen Ringen um eine wahrhaftige Beziehung zwischen Leben und Schreiben.
Am 12. September, 19.30 Uhr, präsentiert Ingeborg Gleichauf ihr Buch beim Freiburger Andruck in der Stadtbibliothek.