chilli cultur.zeit

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KULTUR

POESIE HEROISIERT

DEN ERSTEN WELTKRIEG

MUSIK

DAS SIND DIE BESTEN TRACKS DES JAHRES

LITERATUR

DIE LIEBLINGSBÜCHER

DER CHILLI-REDAKTION

Vom besetzten Haus ins Große

DIE GRÜNDER DER SCHÖNEN VERABSCHIEDEN SICH

Vor fast 50 Jahren haben Herbert Wolfgang und Leopold Kern in Freiburg das Musiktheater Die Schönen gegründet. Ende dieses Jahres übergeben sie die Leitung. Von Olivenöl, dem perfekten Datum, um aufzuhören und Unterhaltung mit politischem Anspruch.

Die Schönen sitzen im Zuschauerraum ihres zweiten Wohnzimmers. Auf Leopold Kerns Wange klebt ein Pflaster. Ein Hautarzt-Besuch – kein Grund zur Sorge. „Das kommt eben dabei heraus, wenn man sich als junger Mann in Griechenland mit Olivenöl einschmiert“, sagt Kern. Olivenöl als Sonnenschutz missbrauchen, in besetzten Häusern spielen, sich von der spontanen Performance zum Tourneetheater zur festen Spielstätte hangeln. Kurz: die Freiburger Theaterszene aufmischen. Was man eben so gemacht hat damals.

Vor 47 Jahren gründeten Leopold Kern und Herbert Wolfgang das Musiktheater noch unter dem Namen: Die Schönen der Nacht. Das Ensemble gehört zu den ältesten unabhängigen Theatergruppen Deutschlands. Ende des Jahres hören die beiden Gründer als Leiter auf.

Hände nähern sich immer weiter an, bis kaum ein Haar dazwischen passt, „und nur so ein Stückerl ist die Kunst.“

Wolfgang, mit 69 Jahren der Jüngere, wird noch bis 2026 auf der Bühne stehen. Und vielleicht auch darüber hinaus: „Wenn Hollywood anruft, spiele ich mit“, sagt er. Für Kern (74) ist der Abschied endgültig. „Ich möchte kein Heesters werden“, sagt er und imitiert den Schauspieler und Sänger mit zitternder Hand und Stimme. „Furchtbar“, bewertet er abschließend. Am Freitag, den 13. Dezember, stehen Kern und Wolfgang das letzte Mal gemeinsam auf der Bühne. „Ein super Datum, um aufzuhören“, findet Kern.

Geschlechterrollen:

Warum? „Weil es reicht“, sagt Wolfgang und lacht. Es gebe zwei Seiten der Geschichte, sagt Kern. Natürlich sei die Zeit spannend, bereichernd und wahnsinnig gewesen, aber, sagt er, während er mit beiden Händen einen Trichter formt: „Organisation, Planung und Finanzierung nehmen sehr viel Raum ein“, seine

Was sich im Lauf der Zeit als fester Teil des kulturellen Lebens in Freiburg entwickelt hat, begann 1977 als spontane Aktion auf dem Musikhochschulfest. Drei Wochen später erhielten Kern und Wolfgang einen Anruf. Das Angebot: Stadttheater, großes Haus, abendfüllendes Programm. Im damaligen Theatercafé bezog das Ensemble eine vorläufige Spielstätte. „Es gab einen Sturm auf die Programme“, sagt Wolfgang. Um 23 Uhr fing ihre Show an. Weil die so gut ankam, spielten sie ihr Programm um halb 2 einfach nochmal.

Anfangs waren Die Schönen ein reines Tourneetheater. Standesgemäß tourten Kern und Wolfgang mit einem alten VW-Bus und traten national und international auf. Es war die Zeit, als die Theaternormen aufgebrochen wurden, das bürgerliche Theater infrage gestellt wurde. Die Ausläufer der 68er-Bewegung, Proteste gegen das Kernkraftwerk Whyl, besetzte Häuser: Befreiung. Wo Eltern früher die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen haben, verdrehen heute die Kinder ihre Augen. „Die Leute sind mit uns alt geworden“, sagt Kern.

von David Pister
Spiel mit den
Herbert Wolfgang und Leopold Kern in „V.I.P. – Phonie“, 1979
Fotos: © Die Schönen

In „Ewig Jung“ feiert eine Seniorentruppe eine abgedrehte Ü-90-Party. „Die Fledermaus“: Große Operette auf kleiner Bühne. Hochaktuelle Parabel über gesellschaftliche Tendenzen: „Cabaret“.

Die Schönen unternahmen Gastspielreisen nach Österreich, Frankreich, Italien und Griechenland, aber auch nach Indonesien, Brasilien und Thailand. Der Impuls, sesshaft zu werden, kam von jenseits des Atlantiks: In Berlin lernten Kern und Wolfgang „Las Divas“ kennen, eine lesbische Theatergruppe aus Mexiko. Liebe auf den ersten Blick, wie Wolfgang sagt. Die Divas empfahlen den Schönen also, eine eigene feste Spielstätte zu eröffnen. Das klappte dann auch 1989 im E-Werk an der Eschholzstraße. „Ständig ein- und auszupacken ist zwar lustig“, sagt Kern, „aber auch nervtötend“, ergänzt Wolfgang.

Einige Gäste waren skeptisch: Ein Musiktheater mitten im Stühlinger, der Eingang über einen dunklen Parkplatz. Genau das aber gefiel den Schönen: Club-Atmosphäre und wenig Distanz. Wolfgang schenkte Sekt aus – dann sang er. Kern half seinen Gästen aus dem Mantel und mimte den Platzanweiser. „Sprich: Sozialarbeiter. Wenn Gäste Zoff hatten, hab’ ich das gemerkt und vermittelt“, sagt Kern. Das Portfolio der Schönen besteht zum großen Teil aus Stücken des unterhaltenden Musiktheaters der 20erund 30er-Jahre. Im Theater war zu dieser Zeit viel Bewegung: Die Trennung zwischen E- und U-Musik, also ernster und Unterhaltungsmusik, wurde aufgehoben. Und auch die Gesellschaft war sehr offen. Berlin galt als Zentrum des offen schwulen und queeren Lebens. „Zack!“, ruft Kern, „wurde

das alles durch den Faschismus zerstört.“ Die Nazis verunglimpften und verfolgten Künstler wie Kurt Weill und bezeichneten ihre Werke als „entartete Musik“.

Das Musical „Cabaret“ im aktuellen Programm beschreibt diese Zeit – zwischen politischer und erotischer Freiheit und aufkommendem Faschismus. „Wir zeigen das Stück nicht eins zu eins, sondern aktualisieren den Stoff. Keine Nostalgie, sondern eine Parabel über aktuelle gesellschaftliche Tendenzen“, sagt Kern.

Zuspruch für die AfD, Fake-News in den sozialen Medien und der sich anbahnende Faschismus machen den beiden Theaterleuten Sorgen. Umso wichtiger ist ihnen ihre Kunst: „Gute Unterhaltung, bei der man das Denken nicht an der Garderobe abgibt“, so Kern.

Martin Schurr und Stefanie Verkerk werden das Musiktheater in Zukunft

leiten. Beide sind schon lange Teil des Ensembles. „Ich denke, die machen das sehr in unserem Sinn weiter“, sagt Wolfang, „diejenigen, die uns nicht kennen, werden gar nicht merken, dass wir weg sind.“ Bei solch intimen Vorstellungen werden das wohl die wenigsten sein.

Was bleibt nach so vielen Jahren? Unzählige Shows, Begegnungen mit Nina Hagen, Udo Lindenberg. Oder das eine Mal, als sie einen Sarg auf den VW Käfer geschnallt haben, um nach Mannheim zu fahren und von der Polizei für RAF-Terroristen gehalten wurden. Das größte Highlight ist für Herbert Wolfgang aber ein anderes: „Das ein Leben lang durchzutragen. In aller Freiheit und Verrücktheit. Ich bin nie Taxi gefahren. Ich habe nur gesungen. Das alles hat das Theater ermöglicht. Das ist das große Wunder“, sagt Wolfgang. Leopold Kern schaut seinen Partner an: „Das hast du schön gesagt.“

„Opfer wurden heroisiert“

ZPKM VERÖFFENTLICHT

14.000 GEDICHTE AUS DEM ERSTEN WELTKRIEG

Viele Deutsche begrüßten den Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914. Zeugnis dieser Euphorie ist eine vom Zentrum für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) veröffentlichte Sammlung von knapp 14.000 Gedichten, die den Kampf verklären und das Ausland verunglimpfen. Kriegskritische Stimmen kommen praktisch nicht vor. Der Direktor des ZPKM, Michael Fischer, sieht Parallelen zur Gegenwart.

sprechen die Gedichte kaum an. Vielmehr werden Tod und Leid der Materialschlachten romantisiert und als ehrenhaft dargestellt. „Einsamkeit, Gewalt und Langeweile werden heroisiert“, erläutert der Experte.

„Man sieht in den Gedichten, wie Kriegspropaganda funktioniert, Religion missbraucht und Leid funktionalisiert wird“: ZPKM-Direktor Michael Fischer

Im Archiv des ZPKM der Universität Freiburg stapeln sich Kartons. Regale und Schubladen säumen die Gänge. Aus einer Stellage entnimmt Michael Fischer eine karteikastengroße Schachtel. Heraus zieht der Geschäftsführende Direktor des ZPKM mehrfach gefaltete, ein wenig vergilbte, aber gut erhaltene Zeitungsauschnitte, auf denen – gut leserlich – Gedichte aus dem Ersten Weltkrieg gedruckt sind.

Insgesamt 14.000 zwischen 1914 und 1918 entstandene Kriegsgedichte hat das ZPKM digitalisieren lassen und online abrufbar gemacht. Zusammengetragen wurden die überwiegend in Frakturschrift gedruckten Verse ursprünglich vom Gründer des Deutschen Volksliedarchivs John Meier, der 1953 in Freiburg gestorben ist. „Meier war vom Kriegsverlauf unbeeindruckt, bis zum Ende hat er die Gedichte gesammelt. Die Idee war damals, quasi live nachzuverfolgen, wie aus Gedichten Volkslieder entstehen“,

Ursprünglich war diese Kriegslyrik ein einprägsames und zugängliches Medium der deutsch-nationalen Mobilisierung und ein Mittel zur Verarbeitung traumatischer Erfahrungen sowie kollektiven Sinnstiftung. Heute „sind diese Zeugnisse des Patriotismus, Nationalismus und Militarismus in Deutschland zentrale Dokumente für die interdisziplinäre Erforschung des Ersten Weltkriegs“, betont der Professor. Verfasst wurden die hauptsächlich in Tageszeitungen veröffentlichten – und damit informell zensierten Verse – von Gelehrten und professionellen Autoren, aber auch von Laien,

Den Schrecken des modernen Krieges, der rund zehn Millionen Soldaten und sieben Millionen Zivilisten das Leben kostete,

Fotos: © pt, ZPKM

Auch nach strategisch ergebnislosen Gefechten wie der blutigen Schlacht um Verdun im Jahr 1916 oder Wendepunkten wie dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg 1917 nimmt die Euphorie in den deutschen Versen nicht ab. „Es gibt keinen Knick. Bis zum Schluss wurden kriegsaffirmative Texte veröffentlicht, selbst als es der Bevölkerung an Nahrung und Heizmitteln mangelte“, sagt Fischer.

Auch Autorinnen sind in der Sammlung vertreten: „Mütter betrauern darin zwar ihre Söhne, aber sie stellen sich als Opfer dar. Kriegskritische Töne finden sich auch hier nicht, die Opfer wurden sakralisiert und heroisiert.“

Von der Brutalität und Entmenschlichung ist Fischer immer wieder erschüttert. „Der Krieg ist der Vater der Lüge. Man sieht in diesen Gedichten, wie Kriegspropaganda funktioniert, Religion missbraucht und Leid funktionalisiert wird“, sagt er. „Man soll keine Parallelen zur Gegenwart ziehen, aber der Vergleich zum russischen Angriffskrieg drängt sich einem doch auf.“

Zur Sammlung: bit.ly/ZPKM

Versteckt und vergessen

DER EXPRESSIONIST FRITZ ASCHER IM HAUS DER GRAPHISCHEN SAMMLUNG

Fritz Ascher? Wer ist Fritz Ascher? Außerhalb einschlägiger Expertenkreise gibt es wohl nicht viele Menschen, die seinen Namen kennen. Oder sein Werk: Der einstige Schüler von Max Liebermann und Lovis Corinth, dessen Kunstschaffen sich an den Bildern von Edvard Munch orientierte, gehört zu den vielen vergessenen Künstlern des 20. Jahrhunderts. In der Ausstellung „Liebe und Verrat“ beschäftigen sich die städtischen Museen nun mit seinen frühen Arbeiten.

auseinanderzusetzen. Wie beide Künstlerkollegen wurden er und seine Werke in der Nazizeit als „entartet“ eingestuft. Und wie Steinhardt war er vom Antisemitismus und den damit zusammenhängenden Pogromen betroffen.

Aussdrucksstarke

Körperpräsenz:

Fritz Aschers 1916 entstandene Bilder „Pagliaccio“ (li.) und „Windsbraut“ (re.) wurden wie die Figurenstudie (Mitte) als „entartet“ eingestuft.

Fotos: © Malcolm Varon, New York

Die Schau präsentiert 49 figurative Bilder, Grafiken, Kohle- und Tuschezeichnungen sowie Körperstudien, die der Maler (1893–1970) bis 1933 zu Papier oder auf die Leinwand brachte. Und die sich fast alle in Privatsammlungen in New York befinden: bei Mitgliedern der „Fritz Ascher Society for Persecuted, Ostracised and Banned Art“. Direktorin dieser „Gesellschaft für verfolgte, verbannte und geächtete Kunst“ ist Esther Stern. Sie hat die Ausstellung kuratiert –zusammen mit Jutta Götzmann, der Leiterin der Städtischen Museen Freiburg.

In der Ausstellung sind auch sieben Radierungen aus der Sammlung des Museums für Neue Kunst, darunter Lovis Corinths „Pietà“ oder Jakob Steinhardts „Pogrom“. Beide Arbeiten weisen – über die persönliche Bekanntschaft hinaus – Bezüge zum Leben und Werk von Fritz Ascher auf: Wie Corinth verwandte er Motive aus der christlichen Mythologie, um sich mit Gewalterfahrungen, etwa in der Hölle des 1. Weltkriegs,

Nach den Nürnberger Rassegesetzen als „Volljude“ gebrandmarkt, konnte Ascher nicht mehr arbeiten. In der Pogromnacht 1938 wurde er im KZ Sachsenhausen inhaftiert; danach im Gestapo-Gefängnis Potsdam. Nach der Freilassung musste er regelmäßig bei der Berliner Meldebehörde erscheinen – und entging 1942 nur knapp der drohenden Deportation: Die Mutter eines Freundes versteckte ihn bis zum Kriegsende im Keller ihres Hauses.

Hunger, Ungwissheit sowie die ständige Angst vor Verrat und Tod prägten ihn in seinen Jahren im Versteck. Fast ohne menschliche Kontakte war er auf sich selbst zurückgeworfen. In dieser Zeit entstanden „Ungemalte Bilder“: Gedichte, die seine Gefühle und Seelenzustände widerspiegeln. Zwölf davon bilden den Mittelpunkt der chronologisch gehängten Exponate: In einem ganz in Rot gehaltenen runden, verliesartigen Raum im Raum sind sie an die Wände geschrieben – und öffnen den Blick auf traumatisierte menschliche Abgründe.

Eine großartige künstlerische Wieder-Entdeckung, ein wichtiger Schritt gegen das Vergessen.

freiburg.de/fritz-ascher

von Erika Weisser

Die leisen und die großen Töne

Frankreich 2024

Regie: Emmanuel Courcol

Mit: Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco, Antonin Lartaud, Clémence Massart u.a.

Verleih: Neue Visionen

Laufzeit: 103 Minuten

Start: 26. Dezember 2024

Brüderlicher Bolero

EMMANUEL COURCOL THEMATISIERT KLASSENGRENZEN –UND ÜBERWINDET SIE MUSIKALISCH

Thibaut Desormeaux und Jimmy Lecoq sind Brüder. Doch sie kennen sich nicht, wissen nicht einmal von der Existenz des anderen: Thibaut lebt in Paris und ist als gefeierter Stardirigent in den Konzertsälen der Welt zu Hause, Jimmy arbeitet als Koch in einer Schulkantine in einem Bergarbeiternest im Norden Frankreichs.

Dass sich ihre Wege schließlich doch kreuzen, ist einer lebensbedrohlichen Krankheit zu „verdanken“: Bei Thibaut wird Leukämie diagnostiziert; seine einzige Hoffnung die Knochenmarkspende eines nahen Verwandten. Als seine Schwester Rose als Spenderin ausfällt, erfährt er, dass er als Neugeborener von einer wohlhabenden bildungsbürgerlichen Familie adoptiert wurde. Und dass er eben diesen unbekannten jüngeren Bruder Jimmy hat: Der einzige Mensch, der ihm schnell helfen kann.

Die erste Begegnung verläuft von Jimmys Seite ziemlich eisig: Er hat bis zum Tod der Mutter abwechselnd bei dieser und seinen späteren, sehr liebe-

machen. Etwa sein ebenfalls vorhandenes großes musikalisches Talent für etwas anderes zu nutzen als für das Posaunenspiel im örtlichen Fanfaren-Musikverein.

Doch dann kommen die Brüder sich näher – nicht zuletzt über die gemeinsame Begeisterung für Jazz. Und über die Knochenmarkspende, von der Jimmy allerdings von seiner Mutter Claudine überzeugt werden muss: Sie habe ihn schließlich zu Solidarität erzogen – die er übrigens täglich praktiziert, indem er das übrig gebliebene Essen aus der Schulkantine an die Arbeiter weitergibt, die „ihre“ von der Schließung bedrohte Fabrik besetzt haben.

Dieser Arbeitskampf liefert schließlich das Motiv für ein musikalisches Experiment, das sich als verlässliches Bindeglied zwischen den Brüdern erweist: Maurice Ravel, weiß Thibaut, habe in seinen „Bolero“ schließlich den Maschinentakt einer Fabrik eingearbeitet. Er bringt Jimmy die Grundlagen des Dirigierens bei und studiert mit ihm das Stück im Verein ein – ohne proletarische gegen die großbürgerliche Musikpraxis auszuspielen.

Ein großartiger, sehr berührender, doch niemals weichgespülter

BLACK DOG –WEGGEFÄHRTEN

China 2024

Regie: Guan Hu

Mit: Eddie Peng, Chu Bu Hua Jie u.a.

Verleih: Filmwelt

Laufzeit: 116 Minuten

Start: 12. Dezember 2024

Poetische Odyssee

(ewei). Nach einem langen Gefängnisaufenthalt kehrt Lang in seine Heimatstadt in der kargen Landschaft am Rande der Wüste Gobi zurück. Doch dort ist nichts mehr, wie es einst war. Die Stadt ist im Wandel, Gebäude stehen leer und zerfallen, während streunende Hunde durch die verlassenen Straßen ziehen.

In wenigen Wochen finden die Olympischen Spiele in Peking statt –und in Erwartung größerer Besucherströme haben die allmächtigen Behörden beschlossen, überall gegen die wachsende Zahl der herrenlosen Tiere vorzugehen. In Langs Stadt haben sie es insbesondere auf den schwer fassbaren „Schwarzen Hund“ abgesehen, der die Bewohner in Angst versetzt. Lang, der verzweifelt nach einem Neuanfang sucht, schließt sich einem Team von Hundefängern an. Doch bald entwickelt er unerwartet eine tiefe Bindung zu dem Tier, das ebenso einsam und verloren ist wie er selbst. Gemeinsam begeben sie sich auf eine tiefgründig-poetische Odyssee, die seinem Leben neuen Sinn geben wird.

FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS

USA/UK 2024

Regie: Matthew Brown

Mit: Anthony Hopkins, Matthew Goode u.a.

Verleih: X Verleih AG

Laufzeit: 110 Minuten

Start: 19. Dezember 2024

Kontroverser Diskurs

(ewei). London, 3. September 1939, am Tag der Kriegserklärung Englands an Nazi-Deutschland, das zwei Tage zuvor mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte. Wenige Tage vor seinem Tod sitzt Sigmund Freud, der im Jahr zuvor mit seiner Tochter Anna aus Wien geflüchtete Psychoanalytiker, mit einem besonderen Gast in seiner Wohnung in Maresfield Gardens: dem Schriftsteller und Literaturwissenschaftler C.S. Lewis.

Zwischen dem vor den Nazis geflohenen jüdisch-stämmigen, atheistischen Freud und dem zum Katholizismus bekehrten ehemaligen Zweifler Lewis, der später „Die Chroniken von Narnia“ schreiben sollte, entwickelt sich ein kontroverser Diskurs. Darin geht es um die unterschiedlichen, aus der Lebensgeschichte resultierenden Zugänge der beiden Denker zu Themen wie Schmerz, Leid, Liebe, Sexualität, Tod, Gott und Religion.

Sehenswertes Kammerspiel, basierend auf Armand Nicholis Buch „The Question of God” über ein fiktives Treffen von Freud und Lewis.

DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS

Deutschland/Iran 2024

Regie: Mohammed Rasoulof

Mit: Misagh Zare, Soheila Golestani u.a.

Verleih: Alamode

Laufzeit: 167 Minuten

Start: 26. Dezember 2024

Regimetreuer Handlanger

(ewei). Teheran, 2022. Iman arbeitet am Gericht der Revolutionsgarden und ist eben zum Untersuchungsrichter befördert worden. Ehefrau Najmeh ist stolz auf ihn und seine neue Dienstwaffe –und sie versucht, dieses Gefühl auch den Töchtern Sana und Rezvan zu vermitteln.

Andererseits sorgt sie sich um sie und den Zusammenhalt der Familie: Seit die junge Mahsa Amini wegen Verstoßes gegen die Verschleierungsvorschriften verhaftet wurde und durch Polizeigewalt ums Leben kam, erschüttern Protestwellen das Land. Und besonders die 20-jährige Rezvan ist nicht begeistert, Tochter eines regimetreuen Handlangers zu sein, dessen Aufgabe es ist, Todesurteile gegen festgenommene Protestierende zu unterschreiben. Als ihre Freundin Sadaf von Polizisten schwer verletzt wird, eskaliert der lange schwelende Familienkonflikt. Und Imans Dienstwaffe verschwindet ... Brisantes, kraftvolles und hochaktuelles Kino – Sonderpreis der Jury in Cannes 2024; deutscher Kandidat für den Oscar.

Foto: © Filmwelt
Foto: © X Verleih
Foto: © Alamode

Tracks des Jahres

DIE CHILLI-REDAKTION KÜRT DIE ZWÖLF BESTEN SONGS 2024 AUS FREIBURG

Ein Grammy ging dieses Jahr wieder nicht nach Freiburg. Fast zu Unrecht, wie die chilli-Redaktion findet. Erneut haben wir die zwölf besten Tracks des Jahres gekürt.

Yoomcircle » Waterfalls Vom Feeling her ein gutes Gefühl. Das legendäre Fußballzitat von Andi Möller passt zum Tune „Waterfalls“ von Yoomcircle. Die Indie-Pop-Nummer kommt mit lässigen Synthies und Drums daher, die einen unter den Wasserfall ziehen. Der Freiburger Johannes Maikranz hat mit seinem ersten Soloprojekt was geliefert, das zeitlos und frisch klingt. Überzeugt und macht Laune. Das Video im Westbad mit Springerin Anna Bader auch.

Johann Sundermeier » Violet Freiburg hat keine Ausnahmekünstler·innen? Falsch. Was Johann Sundermeier mit der Flöte macht, sucht sei nesgleichen. Blockflöte meets Elektro ist hier das Motto. Mit „Violet“ hat der Musikhochschul-Student einen klei nen Banger gedroppt. Solo gibt’s das zu bestaunen mit Loopmaschine und Co. Wie das aussieht, gibt’s auf sei nem Instagram-Konto zu sehen. Reinschauen lohnt sich. „Blockflöten-Techno“ mit Flash-Effekt.

Jan Faati » Lass mich

Schluss mit Stress! Die Welt versinkt in Hektik, aber nicht Jan Faati. Der Freiburger HipHop-Künstler zeigt dem Wahnsinn die kalte Schulter und räkelt sich lieber im goldbestickten Bademantel im Bett. Eine Extraporti on Entschleunigung gibt’s in „Lass mich!“ auf die Ohren. Absolute Wohltat, wenn einem mal wieder der Kopf platzt. Und eine Steilvorlage für einen coolen Konter bei nervigen Anfragen: Nein, ich mach’s nicht.

Die Alkocops » Freiburger Nächte

Craftbiertrinker, Influencer, Mark Forster: Auf der neuen Scheibe verhaften die Alkocops musikalisch so manchen Trend und Tunichtgut. Und sie sprechen aus, was viele Freiburger denken: „Gestern machte hier erst ein Späti auf, und heute ist die Anzeige schon raus / In Freiburg wird es nachts einfach still, weil der Anwohner es eben so will“, grölt das Quintett über genreübliches aber eingängiges Gitarrengeschrammel ins Mikro. Bitte mehr davon.

Isabelle Gaultiér » Riot

Isabelle Gaultiér hat eine klassische Ausbildung am Klavier genossen. Zur elektronischen Tanzmusik kam

sie durch ihren Bruder, ebenfalls DJ. Mit „Riot“ probt Gaultiér jedoch nicht den Aufstand und bleibt ihrer musikalischen Färbung treu. Und die ist angenehm dunkel: dröhnend, verspielt und doch minimalistisch. Auf Vocals oder Samples wird verzichtet. Der Kopf nickt, die Füße stampfen, Mission erfüllt.

Kasi & Antonius » Leicht beschwipst

Der Freiburger Indie-Newcomer Kasi bringt zusammen mit seinem Produzenten Antonius verträumte Alltagsgeschichten, ein bisschen Melancholie und sanfte Gitarrenriffs zusammen. „Leicht beschwipst“ fühlt man sich beim Hören tatsächlich ein wenig – vor allem durch die Kombination aus Realität im Text und Nostalgie in den Klängen. Auch das Musikvideo wirkt so nahbar wie ein Vlog aus einer WG in der Nachbarschaft.

Karl from Home
Willman
Foto: © Sophia Emmerich
Zimmer90
Foto: © Julia Davina Fritz
Foto: © Miro Lange
Johann Sundermeier
Isabelle Gaultiér
Foto: © Valentin Behringer
Foto: © Karl From Home
Foto: © Samuel Müller
Foto: © Isabelle Gaultiér
Foto: © Yoomcircle

Die

Best of: Diese zwölf Acts haben sich im Rennen um die besten Plätze gegen die Konkurrenz durchgesetzt.

Miro Lange » Ocean

Mit ruhigen, fast spirituellen Klängen trägt Komponist

Miro Lange durch seine Single „Ocean“ – perfekt für Entspannung und Meditation. Die Referenz eines idyllischen Ozeans erschließt sich schon nach den ersten Klängen. Und Lange ist nicht nur Musiker, sondern auch Fotograf – vielleicht ist dieser Bezug zu visueller Kunst sein Geheimrezept für den lebendigen Klangteppich, der vor dem inneren Auge entsteht.

Willman » Cool war ich nie

Will man, oder will man nicht? Bei dem neuen Track des Duos Willman gibt es auf diese Frage nur eine Antwort: Ja. man will! Eine kritische Sicht auf Normen der Gesellschaft und eine ordentliche Portion Selbstliebe verleiht dem tanzbaren Elektropop mit Rap-Elementen Tiefe. Die beiden nehmen die neue Single „Cool war ich nie“ diesen Herbst und Winter sogar mit auf ihre erste Headliner-Tour durch Deutschland.

Zimmer90 » feel like we used to Feels like Schaukeln am See. Körnige Fotos, Kaktus-Eis. Über der Single liegt der Nostalgie-Filter. Der Bass passt. Die Stimme haucht. Ein feiner Synthie im Refrain – mehr braucht’s nicht. Finn Gronemeyer und Joscha Becker lassen uns fühlen wie früher, als es einfach war und unbeschwert. Die Single gibt Hoffnung, dass es irgendwann wieder so wird. Macht den Anfang: einfach mal wieder über einen Baumstamm balancieren.

Die Weltbildhauer:innen » Lila Latzhose

Gute Laune! Ab dem ersten Bass-Dudeln hat man schon ein Grinsen im Gesicht. Wenn dann die Band einsetzt, ist es eh um einen geschehen. Die Weltbildhauer:innnen liefern feinsten Indie-Funk inklusive eingängigem Posaunen-Riff und treibenden Drums. Textlich eine Ode an die lila Latzhose. Kontostand, Sternzeichen, Frisur: alles scheißegal. Der Sänger will eine Frau mit violettem Beinkleid. Der Hörer aber: will tanzen.

El Flecha Negra » Tributo a lo criollo

Tracks des Jahres mal zwei: „Tributo a lo criollo“ umfasst gleich zwei Songs. Der erste kommt als Walzer daher: glasklare Gitarre, klappernde Kastagnetten. Im Musikvideo sitzen El Flecha Negra mit der peruanischen Band Los Criollos bei Rotwein in der Tapasbar La Pepa. Im kürzeren zweiten Song spielen die Blasinstrumente auf. Beide Tracks sind den Kreolen und afro-peruanischer Musik, Tradition und Kultur gewidmet.

Karl from Home » Gold

Das im Juni erschienene Debütalbum der One-Man-Band

Karl from Home ist die Chronik einer depressiven Lebensphase: Mit 27 Jahren zieht ein desillusionierter Multiinstrumentalist aus Hamburg zurück zu seinen Eltern in die südbadische Provinz – und verarbeitet diesen „Rückschritt“. Die Single „Gold“ glänzt mit verträumt-melancholischen Klängen und Klagen und zarten Synthies. Gelungener Blick nach innen.

Anhören

» Alle Songs zum Nachhören gibt’s auf chilli-freiburg.de

» Und in der Spotify-Playlist „Freiburgs Tracks des Jahres“

DIE JURY

Till Neumann chilli-Redakteur & Musiker HipHop, Soul, Urbanes Schlager und schlechte Texte

Philip Thomas chilli-Redakteur Elektro und Techno Deutsch-Pop und Nazis

David Pister chilli-Redakteur Punk, HipHop, Alternative Rock Dubstep, Drum and Bass

Mia Zaepernick Studentin & chilli-Autorin Indie, Rock, Alternative Diskriminierenden Deutschrap und Schlager

Die Alcocops
Weltbildhauer:innen Foto: © Die Alcocops Foto: © Weltbildhauer:innen
El Flecha Negra
Foto: © Fabian Mondl
Jan Faati
Miro Lange
Kasi & Antonius Yoomcircle
Foto: © Luis Frederik

„Stetig gewachsen“

4 FRAGEN AN YVONNE MORICK VOM BOOKINGFONDS

Seit fünf Jahren bietet der Verein Freiburger Bookingfonds Support für Kulturevents. Wie viel hat das bewirkt? Wie viel Geld ist im Topf? Wie wird entschieden, wer es bekommt? Das beantwortet die Co-Vorsitzende des Fonds Yvonne Morick im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann.

Wie genau supportet der Bookingfonds?

Der Bookingfonds unterstützt Veranstalter·innen dabei, Konzerte und Auftritte zu realisieren, die aus finanziellen Gründen schwer umzusetzen wären. Wir fördern insbesondere Kosten wie Gagen, Fahrtkosten und Verpflegung – und das niederschwelliger als viele vergleichbare Förderprogramme.

Wie viel Geld kann man bei euch bekommen?

Die Fördersummen orientieren sich am Bedarf der Acts. Insgesamt stehen derzeit monatlich 1500 Euro zur Verfügung, die maximale Auszahlung pro Förderung beträgt 750 Euro. So können wir monatlich mindestens zwei Events unterstützen.

Wie groß ist die Nachfrage?

Sie ist seit der Gründung 2019 stetig gewachsen. In diesem Jahr haben wir monatlich im Schnitt acht bis zehn Anfragen erhalten. Seit 2021 konnten wir 81 Projekte fördern und so dazu beitragen, die Musikszene in Freiburg zu stärken.

Was hat der Bookingfonds bewegen können?

Der Fonds hat es ermöglicht, dass Acts auf die Bühne kommen, die frischen Wind in die regionale Kulturlandschaft bringen. Er kann dabei auch Genres und Perspektiven Gehör verschaffen, die sonst oft übersehen werden.

Botschaft mit Humor

(mam). Überall ist Pop. Musik, die nicht eindeutig einem bestimmten Musikgenre zugeordnet werden kann, wird gerne der Popmusik zugeschrieben. Typisch sind relativ kurze Lieder, eine einfache Struktur mit wiederholten Refrains und tanzbare Rhythmen. Auch Anna Erhards neues Album „Botanical Garden“ gilt als (Indie-) Pop. Das kommt hin.

Aber spätestens, wenn Anna Erhard anfängt zu singen, wird es interessant. Spannend ist nicht nur, wie sie singt, sondern auch, was sie singt. Denn die Songwriterin kann etwas, was in der Musikwelt gar nicht so verbreitet ist – Humor. Erhard kommt aus der Schweiz und war früher Sängerin der Basler Folkband Serafyn. Jetzt lebt sie in Berlin, partizipiert an der internationalen Musikszene in der Hauptstadt und kreiert zusammen mit Pola Roy (ehemals Wir Sind Helden) ihre entspannten Lieder mit Botschaft.

Von den vielen melancholischen Songs heben sich Erhards übrigens englische Texte durch eine erfrischende Leichtigkeit ab. Zum Titelsong des Albums „Botanical Garden“ wurde sie durch eine unzufriedene Online-Rezension inspiriert. Auch sonst erzählt sie in ihren Liedern, meist mit einem hörbaren „Augenzwinkern“, von den kleinen und großen Absurditäten des Lebens. Diese Songs machen Laune, gute Laune.

Ungeschliffener Diamant

(pt). Patrick Flegel, ehemaliges Mitglied der kanadischen Indie Rock Band „Women“, kehrte dieses Jahr unter dem Alias Cindy Lee mit neuem Doppelalbum zurück. Und „Diamond Jubilee“ funkelt als neuer Stern am Low-Fidelity-Himmel: Wabernde Vintage-Klänge treffen psychedelische Ambient-Töne treffen knallig-lebendige Riffs. Ein Volltreffer.

Flegel steht den Salto aus New Wave, klassischem Rock’n’Roll und Popmusik der 60er-Jahre. Der Verzicht auf harsche Noise-Elemente definiert das bekömmliche Album – trotzdem verlangt die ungeschliffene Produktion mit all ihren Ecken und Kanten den Hörern einiges ab – auch wegen der Spielzeit von rund zwei Stunden.

Diamond Jubilee lotet die Grenzen von Hypnagogic Pop neu aus und ist sowohl als Hintergrundrauschen als auch für intensive Hörsessions geeignet – es verzaubert mit bemerkenswerten und eingängigen Melodien sowie fetzigen und griffigen Riffs, spart dabei jedoch nicht an Details und Finesse. Leider gibt’s die 32 Tracks bloß als lose Datei auf Youtube. Dort fasst ein Kommentar gut zusammen: „Sounds like nothing I’ve ever heard, and everything I’ve ever loved.“

LEVIN LIAM GESICHT VERLIEREN (LP) Pop

Nuschel-Poet

(tln). Der Hamburger Levin Liam ist als Schauspieler gestartet. Jahrelang war er Sohn des Kommissars im Hamburger Tatort. Doch Liam kann mehr. In den vergangenen Jahren hat er für Furore gesorgt mit einem gefühlvoll-arroganten Mix aus Pop, Indie und Rap. Das Feature auf dem letzten Trettmann-Kitschkrieg-Album „Insomnia“ 2023 war der Ritterschlag. Auf „Für dich da“ singt er einen schmusigen Refrain der Güteklasse 1. 2024 kam sein Album „gesicht verlieren“. Liam überzeugt mit einer Stimme, die sich nach ganz oben schrauben kann oder einfach nur erfrischend anders klingt. Dazu kommt seine genuschelte Art. Das bleibt hängen.

Liam macht Songs für romantische Momente wie „nicht mehr“. Mit Piano arrangiert, ohne großes Tamtam. Gefolgt von Streichern, die seine zerbrechliche Art unterstreichen.

Der Hamburger kann auch Kante. So zu hören auf dem einzig echten Raptrack der Platte: „Aufwachen“ mit Reezy als Gast. Da gibt’s einen Mix aus Bescheidenheit und Größenwahnsinn. Und einen Flow, der fließt wie das Dreisamwasser.

Ein Highlight ist zudem „btw“. Da erzählt er von seinen Zukunftsplänen als Familienvater und dem Wunsch nach einer Eigentumswohnung. Was banal klingt, kommt hier einfach außergewöhnlich gut. Jahreshighlight.

ANDA MORTS

MONTAGE (EP)

Alternative/Indie, Punk

Simpel, aber originell

(pid). Leere Flaschen, die Welt nicht verstehen, dagegen sein. Irgendwo dazwischen schrammelt Anda Morts aka Andreas Schneider auf seiner Gitarre und grölt zärtlich (falls das geht) eingängige Texte ins Mikro.

Seine Musik trifft den Zeitgeist der Mittzwanziger oder derer, die sich unabhängig von ihrem Alter an dem Punkt befinden, wo man seinen Platz im Leben sucht.

Wer bei Anda Morts nach aggressivem Punk sucht, wird scheitern. Der Geist des Punks lebt in der Roheit der Tracks. Einfach gebaute Songs, mal ein Gitarrensolo wenn es hochkommt. In den Zeilen transportiert Schneider seine Kritik: gegen Kaviar-essende Hobby-Protestler aus gutem Haus, den Winter und natürlich – sonst wäre es ja kein Punk – die Polizei. „Für die Zeilen gibt’s kein Grund. Ich mag die Cops nicht, ja na und?“ –heißt es etwa im Titel „Schweinerock“. Herrlich unaufgeregt und irgendwie komisch.

Der stumpfe Humor zieht sich durch die EP: „Ich trink’ am allerliebsten draußen, weil drinnen trinken scheiße ist.“ (Sommer). Stimmt. Punkt. Das Schnörkellose, das Raue macht Anda Morts aus. Und, ja, jetzt muss auch das Wort fallen, das in der Kunst gefürchtet ist, aber einfach passt: Anda Morts ist verdammt authentisch. Zumindest klingt er so.

... zum Ende

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen, vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Das Ende ist nah. In jeglicher Hinsicht. Der Untergang des Abendlandes steht uns ins Haus, das Morgenland folgt auf dem Fuße. Letztes Last Christmas, wenn Sie wissen, was wir meinen.

Unser Ernst? Gegenfrage. Neigten wir je zu Späßen? Also. Hier hört der Spaß auf beziehungsweise hat für uns gar nie erst angefangen. Geschmack ist eine ernste Angelegenheit. Sing Hallelujah? Von wegen, es hat sich ausgehallelujaht! Am Arsch die Räuber. All we want for christmas is - RUHE!

Und wenn irgendwer auch nur einziges Mal noch Feliz Navidad anstimmt, der kann sich auf was gefasst machen. Als ob wir nicht schon genug Ärger am Hals hätten – ein paar Kriege, den Klimawandel und on top Friedrich Merz ante portas. Zumindest hat die FDP ein Einsehen mit uns und geht unterirdisch den Weg alles Irdischen. Es gibt also doch Hoffnung. Sie stirbt zwar auch wieder irgendwann, aber immerhin zuletzt.

In diesem Sinne, we wish you a very merry last Last White Christmas Winter Wonderland – machen Sie nur so weiter!

Ihre Engel von der Geschmackspolizei

Absolut lesenswert!

DAS SIND DIE BÜCHER DES JAHRES DER CHILLI-REDAKTION

Was für ein Jahr! In den zerrissenen Staaten von Amerika wird Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt, am selben Tag platzt in Deutschland die Ampel-Regierung, in Südkorea verhängt der Präsident – für sechs Stunden – den Kriegszustand, in Frankreich stürzen Links- wie Rechtsextreme die Regierung ... In der Weihnachtszeit müssen unbedingt andere Themen her. Die bieten unsere Bücher des Jahres.

Der Winter dauerte 24 Jahre

Werke und Nachlass von Marie T. Martin

Verlag: Poetenladen, 2024

432 Seiten, gebunden

Preis: 32,80 Euro

Briefe aus Immerwald

Was der Einband verspricht, wird vom Inhalt eingehalten: Der Eindruck einer winternächtlich blauen, von verstreuten Lichtquellen belebten Landschaft setzt sich im Buchinnern fort – in Franziska Neuberts wunderschönen Grafiken, die förmlich in das Werk einer jungen Autorin hineinziehen, die einen ganz eigenen, höchst einfallsreichen, fast schwerelosen und dabei zutiefst existenziellen Ausdruck gefunden hat: Marie T. Martin.

Der Band versammelt die vier Bücher, die die Freiburger Lyrikerin und Meisterin der „Kleinen Prosa“ in den zehn Jahren vor ihrem frühen Tod im November 2021 veröffentlicht hat. Dazu kommen 80 Seiten Nachlass: Berührende Korrespondenzen aus einem „Ort jenseits der Zeit“, bezaubernde Miniaturen um schräge Figuren wie den Zündholzschachtelgeist, Briefe aus der Phantasie eines „Immerwalds“.

Lichtungen

von Iris Wolff

Verlag: Klett-Cotta, 2023

256 Seiten

Hardcover

Preis: 24 Euro

Welt im Umbruch

Ein schönes Buch, das Marie T. Martins Spuren bewahrt und ihre literarische Kreativität lebendig werden lässt. Immer wieder.

Erika Weisser

Es gibt Bücher, die möchte man, auf der letzten Seite angelangt, gleich noch einmal lesen. Bei Iris Wolffs Roman „Lichtungen“, der es dieses Jahr auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, ging es mir schon nach den ersten Seiten so. Iris Wolff erzählt von der Freundschaft zwischen Lev und Kato mit großer Leichtigkeit, doch in ihren Sätzen scheint mehr verwoben, als zunächst zutage tritt. Der besonderen Verbindung der beiden können seit der Kindheit in Rumänien Jahrzehnte und unterschiedliche Lebensentwürfe nichts anhaben. Gleichzeitig entfaltet die Freiburger Autorin, selbst geboren im rumänischen Siebenbürgen, in ihrer zarten Geschichte von Freundschaft, Herkunft und der Möglichkeit, ins Neue aufzubrechen, auch ein großes europäisches Tableau von einer Welt im Umbruch. Marianne Ambs

Pudels Kern von Rocko Schamoni

Verlag: Hanserblau, 2024

304 Seiten

Hardcover

Preis: 26 Euro

Selbstzweifel und Exzess

Aus Ostsee wird Elbe. Aus Punk wird ironischer Schlager. Aus Roddy Dangerblood wird Rocko Schamoni. Basierend auf Tagebüchern und Kalendern rekonstruiert der Musiker und Schriftsteller seine Selbstfindung, den dunklen Stern seines Lebens. „Pudels Kern“ ist die Fortsetzung der mit „Dorfpunks“ begonnenen Autobiografie Schamonis. Die Töpferausbildung ist mit befriedigendem Ergebnis bestanden. Die Welt liegt dem 19-jährigen Schamoni Ende der Achtziger zu Füßen.

Sankt Pauli ruft: rein ins Leben und die Kunst. Schamoni lässt nichts aus. Er geht auf Tour mit den Goldenen Zitronen, befreundet sich zwischen Bier und Dreck mit Neubauten-Frontmann Blixa Bargeld, wird fast zum Teenie-Star. Selbstzweifel und Exzess. Traurig und jauchzend. Aber immer hemmungslos und wild. David Pister

Warum Nationen scheitern

von Daron Acemoğlu/James A. Robinson

Verlag: Fischer, 8. Auflage 2024

608 Seiten

Taschenbuch

Preis: 22 Euro

Wie Demokratie Wohlstand bringt

Schon 2012 hatten Daron Acemoğlu und James A. Robinson das Buch „Why Nations fail“ veröffentlicht. Zusammen mit Simon Johnson haben sie im Oktober den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Im Buch wird, auch für Wirtschaftslaien verständlich, mit aufwendigen Studien bis zurück in die Kolonialzeit belegt, dass starke Institutionen dem Volk(!) eines Landes auf Dauer mehr Wohlstand bringen. Und dass in Autokratien die Eliten die Regeln so manipulieren, dass das Volk vom Wohlstand abgeschnitten wird. Warum waren manche Nationen früher arm und sind heute reich und andere reiche heute arm? Am Beispiel Südkorea etwa lässt sich das beispielhaft plausibel erklären. Während der Zeit der Militärregierung (1960–1987) war das Volk arm wie eine Kirchenmaus, mit der Etablierung der Demokratie wuchs der Wohlstand. Wenn Menschen etwas unternehmen, brauchen sie verlässliche Eigentumsrechte und Spielregeln, die für alle gelten. Die Forschungsergebnisse des Trios könnten für autoritäre Staaten lehrreich sein. Könnten. Für Wohlstand und Fortschritt ist die Demokratie die entscheidende Größe. Insofern sind antidemokratische Parteien und Bewegungen nicht nur wohlstands-, sondern auch fortschrittsfeindlich. Absolut lesenswert. Lars Bargmann

Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur von Sven Regener

Verlag: Galiani-Berlin, 2024

96 Seiten

Taschenbuch

Preis: 14 Euro

Bloß kein Geblödel

Eigentlich schreibt Sven Regener traurige Geschichten: Seine Protagonisten verlieren regelmäßig Freunde, Liebe und Heim, ringen verlottert um Freiheit, Sinn und Selbstbestimmung. Trotzdem gelten „Herr Lehmann“, „Neue Vahr Süd“ und „Magical Mystery“ als lustig. In der Buch gewordenen Universitätsvorlesung „Zwischen Depression und Witzelsucht: Humor in der Literatur“ versucht der Romanautor herauszufinden, warum das so ist. Regener gibt Einblick in seinen Schreibprozess. Er seziert seine Charaktere und den Humor als „zweischneidiges Schwert“ von der Satz- bis zur Sinnebene.

Schnell verlässt Regener jedoch die Schreibmaschine und wirft einen kühnen Blick in Ausstellungen, Kinos, Proberäume und Theatersäle. Die Erkenntnis: In der Kunst kann auch das Scheitern toll sein – das identifizierende Publikum gönnt sich so einen distanzierten Blick auf sich selbst, Voyeure gehen leer aus. Unterhaltsam, aber nicht komisch. Philip Thomas

Taylor Swift. 100 Seiten von Jörn Glasenapp

Verlag: Reclam, 2024

100 Seiten

Taschenbuch

Preis: 12 Euro

Taylor Swift verstehen

Diese Frau bricht alle Rekorde. 2023 wurden ihre Songs 26 Milliarden Mal gestreamt. Noch Fragen? Ja. Denn die Musik des Überstars weckt bei mir nicht den Hauch einer Emotion. Skip, skip, skip. Ich verstehe den Hype nicht. Als Musiknerd möchte ich es trotzdem kapieren.

Dabei hat der Bamberger Literatur-Professor Jörn Glasenapp amtlich geholfen. Sein Buch „Taylor Swift. 100 Seiten“ schafft es, die Taylor-Geschichte erfrischend zu erzählen. Er gibt spannende Einblicke in ihre Welt: Songs, Tiefschläge, Werdegang, Anekdoten.

Glasenapp macht keinen Hehl daraus, selbst ein Swiftie zu sein. Beim Lesen merkt man schnell: Da hat sich jemand intensiv mit Musik und Person beschäftigt. Er schafft es, das humorvoll, kompakt und dennoch detailreich auf Papier zu bringen.

Toller Einblick in Swifts Megakosmos. Die Musik fühle ich weiterhin nicht. Aber ich habe einiges über die Lady mit der Lieblingszahl 13 gelernt. Till Neumann

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