Heft Nr. 7/19 9. Jahrgang ELEMIAH PRäsentiert
Audrey
Lamy
Corinne
Masiero
Noémie
Lvovsky
Déborah
Lukumuena
Ab
1 0.10.! im K in o
Ein Film von LOUIS-JULIEN PETIT
Sarah SUCO
Pablo PAULY
Kultur
Musik
Literatur
Internationale Stars bei Freiburgs Jazzfestival
Frühstarter Niklas Bastian
Gesichter des 20. Jahrhunderts
KULTUR
Urgestein als Höhepunkt Das Jazz Festival Freiburg geht in die 17. Runde
V von Stella Schewe
Im September in Freiburg mit dabei: Matthew Bookert mit seinem Sousaphon und das Tord Gustavsen Trio (v.l.n.r.). Fotos: © Rocco Dürlich , Frederik Asbjornsen, Martin Sarrazac, John Rodgers
on einem kleinen „Gipfel du Jazz“ hat es sich zu einem Treffpunkt der internationalen Musikszene mit mehr als 4000 Zuschauern gemausert: das Jazz Festival Freiburg, das in diesem Jahr zum 17. Mal über die Bühne geht. Längst hat es große Namen wie Till Brönner, Manu Katché oder das Michael Wollny Trio in die Stadt an der Dreisam geholt.
schwierig“, so Rosaly Magg, Leiterin der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim E-Werk. Letztendlich könne man nämlich während eines laufenden Festivals immer schon schauen, wen man fürs nächste Jahr buchen könne. „Bei Festivals gibt es kein Vor und Danach“, sagt auch Michael Musiol vom Freiburger Jazzhaus, das seit einigen Jahren mit von der Partie ist – eine „gute Kooperation“, wie beide Seiten betonen. Außerdem sei es auf diese Weise leichter, große Namen an Bord zu holen.
Der Anlass war politisch, die Begleitung musikalisch: Als sich im Sommer 2001 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französische Präsident Jacques Chirac vor dem Münster zum „Freiburger „Das ist das Charmante: Da ist für alle Gipfel“ trafen, gab es parallel Jazz-Geschmäcker was dabei.“ dazu einen „Gipfel du Jazz“. Gespielt wurde auf dem AuFür Kontinuität sorgen neben Eigengustinerplatz und in Clubs, die Konzerte waren gut besucht – und so folgten auf mitteln durch Eintrittsgelder in Höhe dieses erste Freiburger Jazzfestival unter von 30.000 bis 40.000 Euro Zuschüsse: 20.000 Euro kommen jährlich aus der Regie des Kulturamts weitere. 2008 übernahm das E-Werk Freiburg Freiburger Stadtkasse, 10.000 als Komals Projektträger die Organisation und plementärbetrag vom Land Baden-Würtentschied, das Festival zunächst im temberg. „Das ist eine solide Basis, mit Zwei-Jahres-Rhythmus zu veranstalten. der wir stabil sind“, so Matthias Adam, Doch nach den Ausgaben 2010 und 2012 Leiter der Musiksparte im E-Werk, der zeigte sich: „Ein Festival nur alle zwei das Festival zusammen mit Michael MuJahre zu organisieren, ist grundsätzlich siol verantwortet.
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Programm Sa., 14.09. Brassband-Tour durch die Innenstadt: Start am Martinstor, 12 Uhr Minigipfel: in Freiburger Kneipen und Gaststätten, 20 Uhr So., 15.09. Tord Gustavsen Trio: Jazzhaus, 20 Uhr Mo., 16.09. Tixier & Berton Duo: Gasthaus Schützen, 20.30 Uhr Di., 17.09. Hammond Jazz Night: jos fritz café, 20.30 Uhr Yazz Ahmed: Jazzhaus, 20 Uhr Mi., 18.09. Karl Seglem & Jakob Karlzon: Jazzhaus, 20 Uhr Klangformator mit Matthew Bookert: E-WERK, 21 Uhr Do., 19.09. Jakob Bro Trio: Forum Merzhausen, 20 Uhr Fr., 20.09. Portico Quartet: E-WERK, 20 Uhr Sa., 21.09. Archie Shepp: E-WERK, 20 Uhr So., 22.09. Jazz ‚n‘ Green: Stadtgarten, 14 Uhr Indra Rios-Moore: Jazzhaus, 20 Uhr Info: www.jazzfestival-freiburg.de
Kulturnotizen ZMF in Bredouille Das Freiburger Zelt-Musik-Festival hat seine 37. Auflage wohl mit einem sechsstelligen Minus abgeschlossen. ZMF-Geschäftsführer Marc Oßwald sieht die Kultur-Institution in Gefahr. Er sprach vom schlechtesten Festival seit 2007. Auch im vergangenen Jahr gab es unterm Strich – kleine – Verluste. 41.000 Konzerttickets wurden verkauft. Zu wenig. 9 von 48 Konzerten waren ausverkauft. Knapp 115.000 Gäste kamen insgesamt. Auch weniger als sonst. So gab der Gastronomieumsatz auch noch nach. Erstmals in der Geschichte mussten die Verantwortlichen das Festivalgelände am 26. Juli wegen eines angekündigten Sturms – der am Ende deutlich weniger Windgeschwindigkeiten als vom Deutschen Wetterdienst prognostiziert hatte – evakuieren.
Foto: © Klaus_Polkowski
biniert. Am 21. September kommt mit dem 82-jährigen Jazz-Musiker Archie Shepp aus den USA ein „Urgestein des Jazz“, so Magg. „Das ist der Höhepunkt“, freut sich Musiol. Immer wieder wurden in den vergangenen Jahren Tickets auch außerhalb der Region verkauft, 2018 lag die Besucherzahl bei 4360. Adams Fazit: „Auf diesem Erfolg wollen wir aufbauen.“
Hoffentlich gehen dem ZMF die Lichter nicht aus.
Literaturpreis für Peters Der Lyriker und Autor Andreas Andrej Peters aus Bötzingen hat für seine Geschichte „Wo liegt Irbit?“ den katholischen Literaturpreis „Scivias“ erhalten, der erstmals vom Bistum Limburg ausgelobt wurde. Der Preis ist mit 3000 Euro dotiert und wird Peters am 16. September in Frankfurt verliehen. Peters wurde 1958 am Ural geboren, lebt seit 1977 in Deutschland und ist für seine Werke schon mehrfach ausgezeichnet worden.
STIMMEN-Festival erfolgreich Der 2019er Jahrgang des Stimmen-Festivals war ein guter. Knapp 29.000 Gäste besuchten die Veranstaltungen, 16.500 die Markplatzkonzerte in Lörrach, eine der höchsten Auslastungen in der 26-jährigen Geschichte. Zu den Highlights zählten die Gigs von Joe Jackson und Iggy Pop. bar
Foto: © Juri Junkov
Beim „Minigipfel“ zum Auftakt stoßen weitere Partner hinzu: Clubs und Bars im Stühlinger und Sedanviertel, in denen am 14. September Bands ganz unterschiedlicher Stilrichtungen auftreten: Jazz, Blues, Rock, Pop, Gipsy Swing oder Singer-Songwriter – die Palette am Eröffnungsabend des neuntägigen Happenings ist abwechslungsreich. „Das ist das Charmante am Freiburger Jazzfestival“, sagt Magg. „Sowohl die Orte als auch die Formate sind unterschiedlich.“ Es gibt Gratiskonzerte, ganz günstige, wie den Minigipfel, bei dem man für sieben Euro in alle Konzerte reinschnuppern kann, und auch die ganz großen Namen: „Da ist wirklich für alle Jazz-Geschmäcker was dabei.“ Gratis? Das bezieht sich auf den Auftakt am Mittag des Eröffnungstages: den „Walking Act“ mit Brass2Go, die in ihren roten Anzügen New Orleans-Grooves, Disco-Hits und Evergreens auf die Straße bringen. Und auf „Jazz ‚n‘ Green“ im Stadtgarten: Hier spielen zum Abschluss am 22. September Musiker aus Freiburg und Umgebung. Denn der Anspruch des Festivals ist immer, auch Newcomern der europäischen und regionalen Musikszene eine Plattform zu bieten. Der Schwerpunkt liegt in diesem Jahr auf Skandinavien und England: Zu Gast sind etwa der norwegische Pianist Tod Gustavsen, mit Jacob Karlzon und Karl Seglem zwei weitere Größen des skandinavischen Jazz und mit der Trompeterin, Flügelhornspielerin und Komponistin Jazz Achmat eine Künstlerin, die arabische und britische Einflüsse kom-
Zwei Highlights im Programm: die Konzerte von Archie Shepp (li.) und dem Jakob Bro Trio (r.).
Joe Jackson
Musik
Frühstarter Wie ein junger Freiburger hoch hinaus will
G
von Till Neumann
Hat viel vor: Der rockige SingerSongwriter Niklas Bastian aus Gundelfingen schreibt Lieder, seit er sieben Jahre alt ist.
Foto: © Linda Stark
Gerade mal 19 Jahre alt ist Niklas Bastian. Dafür hat der Sänger und Gitarrist schon mehr Bühnen gesehen als viele andere in jungen Jahren. Mehrfach hat es der fast zwei Meter große Mann in Wettbewerben bis weit nach oben geschafft. Jetzt will er mit Shows als Voract renommierter Künstler die nächsten Schritte gehen. Dafür setzt er alles auf eine Karte.
er im Finale des Kika-Contests „Dein Song“. 2016 folgte die Platzierung unter den Besten beim Panikpreis-Contest von Udo Lindenberg. Nur zwei Jahre später trat er als einer von fünf Finalisten bei der Freiburger „Rampe“ an. Im gleichen Jahr rockte er in der Endausscheidung des Deutschen Rock- und Popreises vor rund 1000 Zuschauern in Siegen. Einen ersten Platz hat er dabei bisher nicht belegt. Vielleicht auch das ein Grund für seinen Tatendrang. In freien Minuten setzt er sich an den Rechner und bewirbt sich für Wettbewerbe oder als Vorband großer Künstler. Oft sei es deprimierend, wenn Absagen kommen, erzählt Bastian. Doch erst kürzlich landete er einen Treffer: Nach
Wer vor Niklas Bastian steht, muss meistens nach oben schauen. Der schlanke Kerl ist stolze 1,95 Meter groß. Profibasketballer will er trotzdem nicht werden. Lieber Musiker. Und das mit Vollgas: Vergangenes Jahr hat er Abitur gemacht. Jetzt widmet er sich voll und ganz seiner Karriere. Sogar ein Popstudium hat Schon mit 16 lud ihn Udo Lindenberg ein er dafür hintangestellt. Bastian ist ein ruhiger Typ. Im Gespräch wirkt er eher wie ein einer Bewerbung bei I EM Music! in EmMittzwanziger. Er spricht überlegt, wählt mendingen fragte ihn Karo-Events für eiseine Worte. Ein Blick auf seine Vita un- nen Auftritt im Vorprogramm des Berliner termauert die Reife: Schon 2013 stand Sängers Ben Zucker an.
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Rock-Pop Bastian fällt auf – nicht nur wegen seiner Größe. Seine Songschreiber-Qualitäten sind eine der großen Stärken. Schon mit sieben Jahren schrieb er seinen ersten Song – über das Sams. Aufgehört hat er seitdem nicht mehr. Das war 2016 auch der Jury des Panikpreis-Wettbewerbs von Udo Lindenberg aufgefallen. Sie lud ihn zum Contest ein, der Teenager fiel aus allen Wolken. Mir nix, dir nix baute er für das Konzert eine Band zusammen. Unter anderem mit Gitarrist Degkwitz, der mit Bastians Vater bekannt ist. Degkwitz ist noch heute dabei und damit die feste Konstante an seiner Seite. „Ich habe damals gesehen, wie viel Potenzial er hat und war beeindruckt“, sagt der 38-Jährige. Herausstechen tue vor allem der natürliche Zugang zum Texten. „Bei Niklas wirken deutsche Texte nie verstellt oder aufgesetzt“, sagt Degkwitz. Ohrwurmtauglich und eingänglich findet er das, was sein Frontmann immer wieder in den Proberaum mitbringe. Dass daraus etwas Großes werden kann, will er nicht ausschließen. „Wir hoffen alle auf den Durchbruch“, sagt der „Wir haben vorher alle bisschen gezittert“ Gitarrist. Bastian formuliert es poetischer. zu studieren. Eine Weile bereitete er „Wenn ich in zwei Jahren Licht sehe, sich darauf vor. Dann wankte der Ent- gehe ich den Weg weiter.“ Werde es schluss. Nur mit der Band an der Kar- dunkel, habe er immer noch genügend riere zu basteln, schien ebenfalls mög- Zeit, um das Popstudium anzugehen. lich. Den Ausschlag gab schließlich der Rat eines Freiburger Musikdozenten. Die Wahrscheinlichkeit, den Durchbruch zu schaffen, sei größer, wenn man nicht studiert, erzählte ihm der. Gesagt, getan. Im Frühjahr entschied Bastian, alles auf eine Karte zu setzen: Seitdem ackert er ohne Studium an der Karriere. Und will sich dafür mehr Wissen und Netzwerk aneignen. Kürzlich belegte er einen sechswöchigen Popkurs in Hamburg. Auch zu dem kam er über ein Auswahlverfahren. „Ich will meine künstlerische Identität herauskristallisieren“, sagt er. Das Netzwerk in der Hansestadt sei bombastisch. Er treffe Musiker und Produzenten von Mark Forster oder Helene Fischer und lerne Rapper Samy Deluxe kennen. Nebenbei probiert er sich mit den anderen in Bandprojekten aus. Lange überlegen musste Bastian nicht. Nur zu gerne spielte er Mitte Juli beim „Sommersound“ in Schopfheim vor 3000 Leuten. Die bisher größte Show seiner Karriere. Eine halbe Stunde durfte er mit seinen drei Musikern an Bass (Nadine Traoré), Gitarre (Mönke Degkwitz) und Schlagzeug (Simon Zsebedits) auflaufen. „Die Leute haben schon mitgeklatscht, bevor ich sie dazu animiert habe“, schwärmt der Musiker. Auch Gitarrist Mönke Degkwitz bestätigt: „Wir haben vorher alle ein bisschen gezittert, aber das ist geil angekommen.“ Eine Geschichte wie gemalt für die nächste Single des Singer-Songwriters mit deutschen Texten und PopRock-Allüren. „Momente“ heißt der Song, zu dem er mit der Band ein Video drehen möchte. Dafür fahren sie im Herbst ans Meer. „Im Song geht’s darum, die kleinen, feinen Momente für immer ins Herz zu schließen, denn die machen einen aus“, erzählt er. Der Track sei aktuell eines der Highlights bei Konzerten. Nach dem Abitur im vergangenen Jahr war der Plan, an der Popakademie
Früh übt sich: Niklas hatte schon in jungen Jahren einen Hang zur Musik. Foto: © privat
Steckbrief Name: Niklas Bastian Alter: 19 Jahre Hört am liebsten: Pop-Punk, zum Beispiel All Time Low, As It Is, Good Charlotte Schaltet ab bei: Treffen mit Freunden, Jammen, Sport Wollte früher werden: Musiker, wollt ich schon immer werden Würde gerne ein Duett singen mit: Nick Jonas
Live: 2018 spielte Niklas Bastian im Jazzhaus. Immer dabei ist Gitarrist Mönke Degkwitz. Fotos: © Till Neumann
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Musik Morgan Heritage
Deutschrap
Reggae
Mikroplastik
Loyalty
Foto: © Lokal Derby
„Mit Explosion entladen“
Bradin
3 Fragen an Jens Gläsker von Qult
Soul und Sinn
Am besten pur
Mit ihrem Rap’n’Roll hat die Freiburger Band Qult das Fürstenberg Lokal Derby auf dem ZMF gewonnen. Frontmann Jens Gläsker blickt im Interview mit Till Neumann zurück auf bewegende Momente und verrät, was mit der Siegprämie passieren soll.
(tln). Entspannte Beats, sozialkritische Texte, lässige Stimmung. Mit seinem ersten Tape kommt der Rapper und Produzent Bradin aus Freiburg um die Ecke. Fünf Tracks hat er auf „Mikroplastik“ gepackt. Es geht um den Klimawandel, um Schulerlebnisse und eine verflogene Liebe im „Sommercamp“. Auffallend oldschoolig für einen jungen HipHop-Künstler kommt der Sound daher. Im Intro knistert eine Schallplatte. Die Beats sind mit Gitarre, Klavier und Trompete gespickt. Auch ein bisschen Autotune ist zu entdecken. Bradin variiert fleißig Tempo und Themen. Mal schlängelt er sich im Stop-and-Go-Modus in „Komm mal wieder runter“ über einen minimalistischen Beat. Dann wird’s in „Sommercamp“ laidback mit Lagerfeuergitarre. Das Interlude „Insel im Meer“ ist eine düstere Reise auf eine apokalyptische Müllinsel, die nur eine Flaschenpost retten kann. Seinen Geschichten hört man zu. Auch wenn nicht jedes Wort zu verstehen ist. Das Talent für Songwriting und Stimmeinsatz ist da. Und für HipHop-Fans der alten Schule gibt’s soulige Beats und Texte, die Sinn ergeben. Ganz rund klingt das noch nicht an allen Ecken. Aber genau das ist der Charme eines Debüts. Wenn Bradin auf fünf Songs aus der eigenen Feder schon so klingt wie hier, ist da sicher noch mehr zu erwarten.
(tln). Kaum eine Reggae-Kombo ist einflussreicher als Morgan Heritage. Zwei Grammy Awards gab’s für das beste Reggae-Album. Anfang August kam ihre neue Scheibe Loyalty in die Läden. Der Sound ist vom ersten Ton an saftig wie eine reife Mango. Die Stimmen der Brüder Gramps Peetah und Mr. Mojo passen immer noch zusammen wie Kingston und gutes Gras. Die eine tief und bassig, die andere hoch und kratzig. Gitarre, Bass und Keys schieben sanft nach vorne. Wer da nicht entspannt, muss von einem anderen Planeten sein. Über textliche Untiefen à la die Welt ist schlecht muss man hin und wieder einfach weghören. Mit „Pay Attention“ genehmigen sie sich einen Ausflug in Dancehall-Gefilde. Sofort wird’s poppiger und schnulzig. Ein missglückter Versuch der Reggae-Pioniere. Das zeigt sich auch in „Give it to me“, das elektronisch auf Dancefloor getrimmt ist. Deutlich rougher kommt der bassgeschwängerte Banger „Africa x Jamaica“ durch die Boxen. Da spürt man die Power der ungezähmten Löwen, die raus wollen aus dem Käfig. Auch eine wunderschöne Gitarren-Ballade gibt’s mit „Home“ auf Loyalty. Der Albumtitel bringt auf den Punkt, was die Morgan-Brüder am besten können: ihren Roots treu bleiben mit purem Reggae-Stoff.
Jens, wie habt ihr das Lokal-Derby-Finale gewonnen? Wir haben es einfach gehandhabt wie beim Vorentscheid: Wir wollten in erster Linie einen geilen Abend haben. Es sind so viele Leute gekommen, da war ich seit Langem mal wieder nervös vor einer Show. Der Erwartungsdruck, dass wir liefern, war groß. Live hat sich das wie eine Explosion entladen. Für den Sieg gab’s 3000 Euro. Was macht ihr damit? Wir hatten für unsere letzte Platte einen Vertrauensdeal mit dem Produzenten. Den haben wir nun bezahlt. Außerdem werden wir ein Video drehen, unsere Homepage verbessern und das Album nachpressen lassen. Zur Belohnung konntet ihr eine zweite Show auf dem ZMF spielen. Als Ersatz für Feine Sahne Fischfilet ... Ja, es ist viel passiert in kurzer Zeit. Es war bewegend zu sehen, wie alles klappt. Es sind so viele gekommen, ohne dass wir es wussten. Sie haben Fahnen gebastelt und einen Fanklub gegründet. Dazu die Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung in der Band. Nach dem Lokal Derby habe ich erst mal eine halbe Stunde für mich gebraucht, um das zu verarbeiten. 58 chilli Cultur.zeit September 2019
Kolumne Major Evest
Die Orsons
Electro Swing
Deutschrap
In Ragged Times
Orsons Island
... zum Sounddreck Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Gratwanderung
Party, Sehnsucht und Tiefe
(tln). Fast im Verborgenen hat das Produzenten-Duo „Major Evest“ in den vergangenen Jahren an Releases gefeilt. Der Freiburger Ninor und sein Luxemburger Weggefährte DJ Scorpion haben erst im Dezember das Elektro-Album „Terrae Motus“ rausgebracht. Nur ein halbes Jahr später ist nun die Platte „In Ragged Times“ erschienen. 18 detailverliebt produzierte Elektrobeats, denen mit Jazz, Blues und Swing jede Menge Leben eingehaucht wird. Mit Pathos und kräftigen Bässen kommt das Intro daher. Moderne trifft auf Oldschool, quietschende Bläser auf bleischwere Drums. Was danach folgt, zieht unwiderstehlich auf den Dancefloor. Ein Mix aus Techno und Tradition, aufgebrochen durch viele liebevolle Breaks. Major Evest setzen auf Instrumentalmusik. Nur in „You bring out the Best in Me“ ist Gesang zu hören. Sängerin Florine Puluj von der Freiburger Jazzkombo Triaz veredelt mit verführerischer Stimme. Der vielleicht stärkste Track der Platte, der an Kompositionen des französischen TripHop-Produzenten Wax Tailor erinnert. In Ragged Times schafft so eine Gratwanderung: HipHop-Fans können sich hier genauso zu Hause fühlen wie Liebhaber von jazzigem Gefrickel. Das rennt keinen Trends hinterher, klingt aber dennoch alles andere als aus der Zeit gefallen.
(herz). Vier einzelne Künstler, gemeinsam ein Ganzes – das sind die Orsons. Zusammen haben sie Grenzen gesprengt und auf Gangster-Rap geantwortet mit Liebe und Jux, Verrücktheit und Tiefsinn. Eigentlich war die Band dabei, sich aufzulösen – stattdessen ist das fünfte (phänomenale) Album entstanden, auf dem die Orsons eine gemeinsame Reise wagen. Eine Reise zum inneren Sehnsuchtsort in vier Teilen: Ewig schon wach, der Morgen danach, der Aufbruch und die Ankunft. Teil I behandelt das Partyleben, Verliebt-Sein, den Zeitgeist. Gerade als man denkt, dass die Qualität des Albums mit „Hin & her“ abnimmt, etwas zu oberflächlich ist, geht es mit Teil II wieder steil aufwärts. Der menschliche Abgrund, die missglückte Liebe, Ängste, Depression: „Von hier aus geht es nur bergab, ich glaub nicht, dass ich’s ertrag, bitte rette mich vor mir selbst.“ In Teil III wird Hoffnung geschöpft, gelernt, das Leben leichtzunehmen, sich selbst nicht verrückt zu machen. Der vierte Teil schließlich endet mit dem großartigen Track „Dir Dir Dir“. Künstlerisch rundet er die Entwicklung von Partyleben zur Selbsterkenntnis ab. Am Ende ist die Ankunft, die Erkenntnis: Der perfekte Ort – er ist mitten in dir und die Tür, durch die du musst, öffnet sich nur nach innen.
Was hier an dieser Stelle schon alles verhandelt wurde – ein Kabinett des Sch(D)reckens. Etwas Positives wäre auch mal schön gewesen, nur das schließt sich schon per Definition aus. Deshalb geht es weiter wie bisher, Dreck bleibt Dreck, sonst müsste man das Ganze umbenennen und das ist uns kurz vor der Pensionierung nicht mehr zuzumuten. Der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier – und der Beamte erst! Wo Dreck draufsteht, muss auch welcher drin sein, darum nun direkt in medias res mit einem von einem gewissen Dr. Dreck als „Selbstreferentieller Quatsch-Song“ bezeichneten Lied mit Titel „Dr. Dreck“. Wir zitieren: „Was passiert wenn Dr. Dreck in den Dreck fällt? Ja, was passiert dann eigentlich (...) Dr. Dreck ist heute gekommen um deinen Kopf zu verdrecken ... Dr. Dreck! Auch bekannt als die DreckQueen, heute hier mit dem Sounddreck, um grölend durch die Nacht zu ziehen.“ Aber zurück zur Ausgangsfrage: Was passiert, wenn Dr. Dreck in den Dreck fällt? Wenn Dr. Dreck in den Dreck fällt wird Dr. Dreck nicht dreckig, aber der Dreck wird noch dreckiger! In diesem Sinne grüßen sauber die armen Dreckschweine von der GeschPo Ralf Welteroth
kino
Verordnetes Schweigen über die wirkung von falscher Loyalität
von Erika Weisser
Und der Zukunft zugewandt Deutschland 2019 Regie: Bernd Böhlich Mit: Alexandra Maria Lara, Carlotta von Falkenhayn, Stefan Kurt, Robert Stadlober, Peter Kurth u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: : 108 Minuten Start: 5. September 2019
M
itten in der Nacht betritt ein Mann den Raum, in dem seine Frau am Bett seiner schlafenden Tochter sitzt und die Ereignisse des Tages notiert. Der Vater will dem Kind wenigstens noch seine Geburtstagsglückwünsche ins Ohr flüstern. Das kostet ihn das Leben: Gerhard und Antonia Berger sind wegen angeblicher Spionage gegen die Sowjetunion im sibirischen Straflager Workuta inhaftiert. Frauen und Männer sind in getrennten Baracken untergebracht – und auf dem Rückweg wird Gerhard von den Wachen erschossen. Obwohl er auch Kommunist ist.
Sie schleppen ihn zu Antonia, die seinen natürlichen Tod bestätigen muss. Verzweifelt und von mehr als zehn Jahren strenger Zwangsarbeit zermürbt, denkt sie an Suizid. Doch die Liebe zu der gerade elfjährigen Lydia hält sie am Leben. Und die Überzeugung, dass Stalin für seine willkürliche Auslegung der sozialistischen Idee zur Rechenschaft gezogen werde und dann der Aufbau einer gerechten Welt möglich sei – trotz allem. Zudem machen ihr auch ihre Mitgefangenen Susanne und Irma Mut; sie haben ein Rehabilitationsgesuch an die DDR-Botschaft in Moskau geschickt. Das kommt Wilhelm Piecks Sohn Arthur zu Ohren, der an den Vater appelliert, sich als Präsident der DDR für die drei Genossinnen einzusetzen. „Es hätte damals jeden von uns treffen können, für nie begangene Verbrechen in den Gulag gesteckt zu werden. Das weißt du doch“, erinnert er ihn an dessen eigenes Exil in Moskau, während der Nazizeit. Und Pieck gibt nach. Kurz darauf, im Winter 1952, treffen Antonia, Susanne und Irma mit der schwerkranken Lydia in Berlin ein, wo das Mädchen sofort medizinisch versorgt 60 chilli Cultur.zeit September 2019
wird. Für die Rückkehrerinnen stehen Wohnungen, Geld, Lebensmittelmarken und gute Arbeitsstellen bereit. Dafür müssen sie sich jedoch verpflichten, den wahren Grund ihres langen Aufenthalts in der ruhmreichen Sowjetunion zu verschweigen. „Was hinter euch liegt“, sagt Parteisekretär Leo Silberstein, „hat mit Kommunismus nichts zu tun.“ Doch die Kenntnis über so viele unschuldig Inhaftierte im Bruderland könne der jungen DDR „großen Schaden zufügen“. Susanne setzt sich ab, die beiden anderen bleiben. Und wagen nicht, über ihre traumatischen Erfahrungen zu sprechen: Zu dem Vorwurf ihrer Mutter, dass sie nie von sich habe hören lassen, weint Antonia nur. Und ihrem neuen Freund, Lydias Arzt Konrad, tischt sie über Gerhards Tod Lügen auf. Erst als Stalin stirbt und sie glaubt, dass die Stunde der Wahrheit gekommen sei, gibt sie ihm ihr Notizbuch zu lesen. Doch es ist zu früh: Als Konrad bei Silbermann nachfragt, ob die russischen Kommunisten wirklich ihre eigenen Genossen eingesperrt und ermordet hätten, lässt dieser Antonia erneut verhaften. Denn der Personenkult überdauert den Tod des Diktators. Eine eindringliche Studie über falsche Loyalität und Machtmissbrauch in der finsteren Epoche der stalinistischen Tyrannei.
Foto: © Neue Visionen Filmverleih
KINO Paranza – der Clan der Kinder
Golden Twenties
Mein Leben mit Amanda
Foto: © Prokino
Foto: © 20th Century Fox
Foto: © MFA
Italien 2019 Regie: Claudio Giovanesi Mit: Francesco di Napoli,Viviana Aprea u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 105 Minuten Start: 22. August 2019
Deutschland 2019 Regie: Sophie Kluge Mit: Henriette Confurius, Max Krause u.a. Verleih: 20th Century Fox Laufzeit: 92 Minuten Start: 29. August 2019
Frankreich 2019 Regie: Mikhaël Hers Mit: Vincent Lacoste, Isaure Multrier u.a. Verleih: MFA Laufzeit: 107 Minuten Start: 12. September 2019
Auf ziemlich schiefer Bahn
Zwischen Traum und Realität
Folgenreiche Verabredung
(ewei). Der 15-jährige Nicola lebt in einem Viertel Neapels, in dem die Mafia zum Alltag gehört. Ihre Geschäfte beobachtet er aber mit zwiespältigen Gefühlen: Er ist fasziniert von der Macht und der Möglichkeit, schnell an Geld zu kommen. Dass aber von seiner alleinerziehenden Mutter in deren kleinem Reinigungsbetrieb Schutzgeld erpresst wird, findet er abstoßend und beschämend. Sein Entschluss, in die organisierte Kriminalität einzusteigen, hat also zwei Ursachen: Einerseits will er dazugehören, will sich Markenklamotten und sonstigen Luxus leisten können. Andererseits will er seine Mutter von den Zahlungen befreien. Bald kommt mit der schönen Letizia ein drittes Motiv dazu. Zunächst verdingen Nicola und seine Kumpels sich beim lokalen Mafia-Boss als kleine Drogenkuriere, steigen aber schnell und mit dem gewünschten Erfolg in der Hierarchie auf. Und bald geraten sie tiefer in den Strudel der Gewalt, kennen schließlich selbst keine Skrupel mehr.
(ewei). Nostalgie ist unangebracht: Mit den angeblich so goldenen 1920er-Jahren hat Sophie Kluges Regiedebüt nichts zu tun. Der Film handelt vielmehr von der oft auch nicht besonders goldenen Altersphase zwischen 20 und 30 Jahren: Von einer Frau, die in diesem Schwebezustand zwischen jugendlicher Unbeschwertheit und selbstständigem Erwachsenenleben ihre Weichen nicht wirklich gestellt kriegt. Ava kehrt nach erfolgreichem Studienabschluss wieder in ihre Geburtsstadt zurück und zieht erst einmal bei ihrer Mutter ein – bis sie selbst zurechtkommt. Doch das ist nicht einfach, denn sie hat weder einen beruflichen Plan noch findet sie einen emotionalen Halt: Die Mutter hat einen neuen, jungen Partner; die früheren Freunde scheinen bereits ihren Weg gefunden zu haben und sind mit sich selbst beschäftigt. Außer „guten“ Ratschlägen gibt es wenig für Ava, die sich zunehmend zerrissen fühlt. Ein treffliches und heiteres Gesellschafts- und Generationsporträt.
(ewei). Sandrine ist eine vielbeschäftigte Sprachenlehrerin, die oft keine Zeit hat, ihre 7-jährige Tochter Amanda von der Schule abzuholen. Dann springt ihr jüngerer Bruder David ein, der sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hält und wenige Verpflichtungen hat. Zwar mag er Schwester und Nichte sehr, doch ist er nicht der Pünktlichste, was gelegentlich zu Konflikten führt zwischen den Geschwistern, die keine weiteren Verwandten haben. Als David sich in seine neue Nachbarin, die Musikstudentin Léna verliebt, bringt er sie mit Sandrine und Amanda zusammen, die gern Klavierunterricht hätte. Alles fügt sich perfekt – bis zu dem Tag, als sie sich in einem Pariser Park zum Picknick verabreden. Als David wie immer zu spät kommt, ist Sandrine tot: Der Park wurde Ziel eines Terroranschlags. Völlig verzweifelt erwartet er Amanda vor der Schule – und macht trotz Unsicherheit das Selbstverständlichste der Welt: Sie wird Teil seines Lebens, in das sie gemeinsam zurückfinden.
Ein Licht zwischen den Wolken
Gelobt sei Gott
Der Glanz der Unsichtbaren
Foto: © Neue Visionen
Foto: © Pandora Film
Foto: © Piffl
Albanien 2018 Regie: Robert Budina Mit: Arben Bajrakaraj, Esela Pysqyli u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 84 Minuten Start: 19. September 2019
Frankreich 2019 Regie: François Ozon Mit: Melvil Poupaud, Denis Ménochet u.a. Verleih: Pandora Film Laufzeit: 137 Minuten Start: 26. September 2019
Frankreich 2019 Regie: Louis-Julien Petit Mit: Adolpha van Meerhaeghe u.a. Verleih: Piffl Laufzeit: 103 Minuten Start: 10. Oktober 2019
Die Kirche in der Moschee
Das Ende des Schweigens
Solidarische Lebenslust
(ewei). Im Hochgebirge Albaniens zieht der Hirte Besnik in der Umgebung seines Dorfes mit seinen Tieren von Weideland zu Weideland. Er mag das Leben in dieser kargen Gegend, ist seit seiner Kindheit daran gewöhnt. Gewöhnt ist er auch an die friedliche Koexistenz verschiedener Weltanschauungen: Zwischen seinem kommunistischen Vater, seiner katholischen Mutter sowie den muslimischen Verwandten gab es nie Streit, Ausgrenzung oder Fanatismus. Auch im überwiegend muslimischen Dorf nicht. Das ändert sich, als Besnik ein christliches Heiligenbild unter dem Wandverputz der Moschee entdeckt und offenbar wird, dass sie früher wohl als Kirche diente. Überzeugt, dass ein Gotteshaus mehrere Wohnungen haben könne, schlägt er dessen multireligiöse Nutzung vor – und stößt auf den Widerstand der Dorfmehrheit, für die diese Idee reiner Frevel ist. Ein wunderbar leiser Film über die persönliche Beziehung des Einzelnen zu seiner Gemeinschaft, Religion und Natur.
(ewei). Alexandre lebt mit seiner Familie in Lyon. Durch Zufall erfährt der strenggläubige Katholik, dass der Priester Bernard Preynat, der ihn während seiner Pfadfinderzeit betreut – und missbraucht – hat, trotz etlicher interner Beschwerden noch immer mit Kindern arbeitet. Empört über die Ignoranz der Kirche beschließt er, seinen Fall nun öffentlich zu machen und tut sich mit zwei weiteren Opfern zusammen, die sich nach vielen Jahren endlich auch von der Last des Schweigens befreien wollen. Gemeinsam bringen Alexandre, François und Emmanuel einen Stein ins Rollen, der bald zu einer Lawine wird, die nicht mehr aufzuhalten ist. Und die auch sie und ihre bis dahin nichts ahnenden Familien nicht unversehrt lässt. Ozon hat den Missbrauchsskandal von Lyon tatsachengetreu zu einem fiktionalen Film verarbeitet, der mit fast atemlosen Bildern und eindringlichen Rückblenden viel emotionale Wucht entfaltet. Großer Preis der Jury bei der Berlinale 2019.
(ewei). Edith Piaf, Brigitte Macron, Lady Di: Diese Frauen gehören zur Stammklientel des Envol, einem Tageszentrum für wohnungslose Frauen in Paris. Viele, die hierher kommen, nennen sich nach prominenten Frauen, die sie bewundern; ihre eigene Identität ist ihnen beim Leben auf der Straße oft abhanden gekommen. Sie kommen gern in das Envol; es ist der einzige Ankerpunkt in ihrem prekären Alltag: Hier können sie sich aufwärmen, können sich und ihre Habseligkeiten waschen, hier finden sie Ruhe, Unterstützung und Verständnis. Zu viel Verständnis, findet die Stadtverwaltung: „Die Frauen wollen nicht in Zimmer oder Jobs vermittelt werden, denen gefällt es zu gut bei euch“, lautet der Vorwurf an die Sozialarbeiterinnen Manu, Audraey, Hélène und Angélique. Dem Envol droht die Schließung, drei Monate bleiben den Betreuerinnen, ihre Schützlinge zu reintegrieren. Gemeinsam packen sie es an – mit Solidarität, Lebenslust und Tricks. Ein faszinierender Film.
DVD Birds of Passage
Yuli Kuba/Spanien 2018 Regie: Icíar Bollaín Mit: Carlos Acosta, Santiago Alfonso u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 110 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Kolumbien 2018 Regie: Cristina Gallego, Ciro Guerra Mit: Natalia Reyes, José Acosta u.a. Studio: MFA+ Cinema Laufzeit: 120 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Womit haben wir das verdient? Österreich 2018 Regie: Eva Spreitzhofer Mit: Caroline Peters, Simon Schwarz u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Weltstar wider Willen
Skrupellose Machtgier
Plötzlich verschleiert
(ewei). In den Straßen Havannas ist Carlos der König des Fußballs und des Breakdance. Klassischen Tanz und Ballett mag er nicht. Doch genau dorthin will sein Vater Pedro ihn um jeden Preis bringen. „Yuli“ nennt er seinen Sohn, nach einem Kämpfer des afrokubanischen Kriegsgotts Ogun. Er hat Yulis außergewöhnliches Tanztalent früh erkannt und sieht eine Chance, wenigstens dem Urenkel einer schwarzen Sklavin Achtung zu verschaffen. Carlos wird zum Weltstar – unter großen Opfern.
(ewei). Der junge Rapayet wirbt um Zaida, die schöne Tochter der Schamanin Úrsula. Doch die Chefin eines Clans der indigenen Wayúu setzt den Brautpreis so hoch, dass er keine Chance hat. Über den Kontakt zu ein paar US-Hippies kommt er mit dem kolumbianischen Marihuanahandel in Berührung. Das bringt ihm Reichtum ein – und damit auch Zaida. Aus Machtgier und unterstützt von Úrsula steigt er völlig skrupellos ins Kokain-Geschäft ein und baut ein kriminelles Familienimperium auf.
(ewei). Wanda fühlt sich modern und tolerant: Die feministische Atheistin lebt in einer Patchworkfamilie, zu der außer Tochter Nina auch ein neuer Partner und dessen Sohn sowie eine Adoptivtochter gehören. Mit Ninas Vater Harald verbindet sie eine gute Freundschaft – alles läuft bestens. Bis Nina zum Islam konvertiert, sich Fatima nennt und in Schleier und lange wallende Kleider hüllt. Wandas Versuche, sie davon abzubringen, sind witzig, ohne den Glauben lächerlich zu machen.
Beale Street USA 2018 Regie: Barry Jenkins Mit: Kiki Layne, Stephen James u.a. Studio: Universum Film Laufzeit: 114 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Mord auf La Gomera Spanien 2018 Regie: Andrés M. Koppel Mit: Quim Gutiérrez, Verónica Echegui u.a. Studio: Atlas Film Laufzeit: 88 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Verlorene Deutschland 2018 Regie: Felix Hassenfratz Mit: Maria Tragus, Anna Bachmann u.a. Studio: Lighthouse Home Entertainment Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Ohne Prozess im Knast
Düstere Geheimnisse
Eine gehorsame Tochter
(ewei). Tish und Fonny, ein junges afroamerikanisches Paar, lebt im New Yorker Stadtteil Harlem. Dann wird Fonny der Vergewaltigung einer Puerto-Ricanerin beschuldigt und kommt ohne Prozess in den Knast. Kurz darauf stellt Tish fest, dass sie schwanger ist – und verspricht Fonny, ihn noch vor der Geburt des Kindes herauszuholen. Mit Hilfe der beiden Familien versucht sie, der Willkür der weißen Justiz zu trotzen und seine Unschuld zu beweisen. Nach dem Roman von James Baldwin.
(ewei). Auf der Kanareninsel La Gomera geschah vor drei Jahren ein Mord, der nie endgültig aufgeklärt wurde. Damals wies zwar alles auf einen bekannten Politiker als Täter hin, doch der wurde trotz ausreichender Beweise freigesprochen. Mangels Beweisen. Als Sergeant Bevilaqua den verwickelten Fall neu aufrollt, nimmt die Inselpolizei die Ermittlungen nur widerwillig auf. Bevilaquas Team arbeitet unter hohem politischem Druck – und lichtet schließlich die düsteren Geheimnisse.
(ewei). Nach dem Tod seiner Frau lebt der Zimmermann Johann mit seinen Töchtern Maria und Anna allein auf seinem Hof im Schwarzwald. Misstrauisch und verschlossen ist er, schließt auch den Gesellen Valentin vom Familienleben aus. Er weiß warum: Die ältere Tochter Maria, die er regelmäßig sexuell missbraucht, könnte sich verlieben und sich ihm anvertrauen. Doch sie ist gehorsam, wahrt den Schein und verzeichtet auf ein eigenes Leben. Bis Anna sie wachrüttelt. Familiendrama mit Tiefgang. September 2019 chilli Cultur.zeit 63
Literatur
Gesichter der Zeitgeschichte Biografische Aufsätze als Geschenk für einen Historiker
D
Foto: © Thomas Kunz
von Erika Weisser
er Historiker Ulrich Herbert, seit 1995 Professor am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg, wurde im Juli in einer Feierstunde verabschiedet. Zu diesem Anlass wurde dem 69-Jährigen, der Anfang der 1970erJahre bereits sein Studium in Freiburg absolvierte, ein ihm gewidmetes Buch überreicht, in dem 16 Autoren anhand ausgesuchter Biografien der Geschichte der letzten 100 Jahre nachspüren.
von Ulrich Herbert Lebensläufe im 20. Jahrhundert Hrsg: Jörg Später & Thomas Zimmer Verlag: Wallstein, 2019 326 Seiten, gebunden Preis: 29,90 Euro
Fokus auf dem 20. Jahrhundert: Historiker Ulrich Herbert.
„Lebensläufe im 20. Jahrhundert“ heißt es, herausgegeben haben es Jörg Später und Thomas Zimmer, Herberts Kollegen am Historischen Seminar. Auch unter den Autoren sind einige Freiburger Historiker, etwa Jörn Leonhard und Arvid Schors. Zu den Autoren gehören aber auch Kollegen von anderen Unis, darunter sind Christina von Hodenberg und Stefanie Middendorf, die bei Herbert habilitiert oder promoviert wurden, sowie eine Reihe anderer Weggefährten. Sie haben sich dabei auf Ulrich Herberts eigenen Spuren bewegt: Der Professor, dessen Forschungsschwerpunkt das 20. Jahrhundert und insbesondere die Nazizeit
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ist, untersuchte in seiner Habilitationsschrift von 1992 selbst eine Biografie: Anhand des Lebenslaufs des NS-Schreibtischtäters Werner Best analysierte er den Aufstieg der völkischen Bewegung, die Erfolge der NSDAP, die Institutionalisierung des Bespitzelungsapparats und den Zusammenbruch. Im neuen Buch geht es um Walter Rathenau, Wilhelm Kreis, Georg Stefan Troller, Joseph Beuys, Indira Gandhi, Salvador Allende und viele andere. Um Otto Schily und Christian Ströbele, die RAF, die 68er und um Migrantenfamilien. Die einzelnen Beiträge sind trotz der gelegentlich wissenschaftlichen Sprache gut zu lesen und zu verstehen. Es wendet sich auch nicht nur an Historiker. Im Gegenteil: Da seine gewinnbringende Lektüre keine besonderen geschichtlichen Vorkenntnisse verlangt, ist es auch für bisherige Laien geeignet. Für sie können die „Lebensläufe“ ein Einstieg in die Beschäftigung mit Geschichte sein, zumindest mit der Zeit von 1900 bis zur Gegenwart. Denn die hier beschriebenen individuellen Biografien geben nicht nur Aufschluss über zentrale Themen, Konflikte, Orte und Antriebskräfte des 20. Jahrhunderts. Sie geben der Zeitgeschichte Gesichter und machen außerdem die prägenden Zusammenhänge begreiflich, die zwischen den Denkweisen und Werdegängen Einzelner und den Zeitläuften bestehen. Einen Mangel hat das kluge und erhellende Werk allerdings: Die Herausgeber machen keinerlei Angaben zu den Verfassern der Aufsätze. Über deren eigene Biografien ist ebenso wenig zu erfahren wie über die Weise, in der sie „mit dem Lebenslauf von Ulrich Herbert verbunden sind“, wie es in der Buchbeschreibung des Verlags heißt. Aber das wäre keineswegs überflüssig gewesen.
FRezi
Römische Tage
von Simon Strauß Verlag: Tropen, 2019 142 Seiten, gebunden Taschenbuch Preis: 18 Euro
Ich bin ein Schicksal
von Rachel Kushner a. d. Amerikanischen von Bettina Abarbanell Verlag: Rowohlt, 2019 396 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro
Die Entdeckung der Fliehkraft
von Kai Weyand Verlag: Wallstein, 2019 198 Seiten, Preis: 20 Euro Erscheint am 2.9.2019
Stürmen und Drängen in Rom
Amerika von unten
Papierflieger am Münsterturm
(dob). Goethe war auch schon mal da, 15 Monate lang. Auch er brauchte eine Auszeit, auch ihn plagten damals, Ende des 18. Jahrhunderts, Selbstzweifel. Nun also steht Simon Strauß, Anfang 30 und Sohn des Dramatikers Botho Strauß, vor der Casa di Goethe in Rom, nicht weit von der Piazza del Populo und räsoniert über das Leben und die Liebe, sucht etwas, was er dann doch nicht findet, stürmt und drängt. Doch Strauß, so vermessen ist er nicht, will gar nicht auf den Spuren des Dichterfürsten wandeln. Er steht am Anfang und hat ja auch erst etliche Artikel fürs das Feuilleton der FAZ und einen, zugebenermaßen inspirierenden, Roman („Sieben Nächte“) verfasst – worauf ihn einige linke, ungerechte Kritiker in die Nähe von Oswald Spengler, der Konservativen Revolution der Weimarer Republik und den heutigen neuen Rechten gestellt haben. Im Rom nun lässt sich der von der Moderne erschöpfte Zivilisationskritiker Strauß treiben, sieht Ratten und eine Schöne am Ufer des Tiber, geht zu illegalen Migranten in Blechhütten und auf dekadente Feste. Rom! Die Stadt der Sehnsüchte. Strauß, ein recht eitler, mitunter schwülstiger Schreiber, gibt zu Papier: „An Rom immer nur zu denken, ist, wie eine Geliebte im Süden zu haben, zu der der Weg zu weit ist, ist, wie nachts für alle Fälle das Licht im Bad anzulassen oder Streichhölzer zu werfen in den nassen Schnee. Hier sein. Hier sein. Nur hier sein, und hier bleiben.“
(dob). „Weinen ist auf Minimum zu beschränken.“ Diese unmissverständliche Aufforderung steht da im Besucherraum des Frauengefängnisses Stanville in der kalifornischen Einöde. Doch Romy Hall bekommt keinen Besuch mehr. Von wem auch? Ihre Mutter, die sie einst nach der grandiosen wie unglücklichen Schauspielerin Romy Schneider genannt hat, ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, Romys kleiner Sohn Jackson lebt irgendwo bei einer Pflegefamilie und wird dort hoffentlich nicht missbraucht, ihr selbst wurde das Sorgerecht ja entzogen – schließlich wird sie nie wieder etwas anderes als einen Knast sehen. Verurteilt wurde Romy, weil sie einen Stalker, den sie in einem Striplokal als Kunden hatte, erschlug. Keine Gnade. Nun auch nicht für sie. Und im Gefängnis überleben nur die Starken. Aber was heißt das schon: Leben? „Ich bin Schicksal“, der neue, beklemmend wie lesenswerte Roman der Bestsellerautorin Rachel Kushner, die mit „Flammenwerfer“(2015) auch hierzulande für Furore sorgte, ist ein Blick auf das Amerika von unten: Auf den sogenannten „White Trash“, dem Romy entstammt, auf ein von Drogensucht, Gewalt und liebloser Triebabfuhr gezeichnetes Leben, in dem schon Zwölfjährige für ihre süchtige Mutter anschaffen. Romy wollte ein normales Leben mit Familienpicknicks und solchen Sachen. Es war ihr, wie so vielen Insassinnen in den USA, nicht vergönnt.
(ewei). Karl muss noch nicht aufstehen. Er streicht über das warme Laken neben sich und überlegt, was er machen würde, wenn seine Frau Lydia noch anwesend wäre. Vielleicht „Dinge, von denen er noch vor wenigen Jahren geglaubt hatte, sie jeden Morgen tun zu wollen?“ Er spürt noch die Behaglichkeit der Nacht, als ihm das Wort „einsam“ in den Sinn kommt. Einsame Behaglichkeit – über diesen Begriff könnte er heute mit seinen Jungs im Knast diskutieren, denkt er. Denn der Knast ist „Heimat für viele Begriffe, die aus der Balance geraten“ sind. Das hat Karl, seit er als Lehrer im Strafvollzug arbeitet, oft festgestellt. Denn hin und wieder driften seine Bemühungen, den Schülern grammatikalisch einwandfreies Sprechen und Schreiben beizubringen, zu Gesprächen über universelle Lebensfragen ab. Ihre ungewöhnlichsten Erkenntnisse schreibt er auf Zettel, die er dann vom Münsterturm aus verschickt – als Papierflieger-Botschaften. Seine eigenen weltverbesserischen Botschaften schickt Karl an Karoline, eine Zufallsbekanntschaft. Bald tauscht er sich so oft mit ihr aus, dass er nicht einmal mehr bemerkt, ob Lydia anwesend ist oder nicht. Eine federleichte Geschichte mit viel Komik und Lebensweisheit. Der Freiburger Autor Kai Weyand, der früher selbst als Lehrer im Strafvollzug arbeitete, hat ein kleines Kunstwerk geschaffen. September 2019 chilli Cultur.zeit 65