chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 2/20 9. Jahrgang

18.03.   Pigor & Eichhorn

21.03.   Carl Einar Häckner

02.04.   Quichotte

29.03.   Kay Ray & Effenberger

04.04.   Mia Pittroff

28.03.   Wutschik & Brodowy

05.04.   Goldfarb Zwillinge

19.04.   Buser & Moumouni

Kunst

Musik

Literatur

Obszön und lebendig: Rolf Hambrecht

Deadnotes zeigen Courage

Beate Riess und die Sternstunden


KULTUR

Obszön, bunt und lebendig Der Künstler und ehemalige Rattenspiegel-Wirt Rolf Hambrecht geht in Rente

S

von Dominik Bloedner

Lauter Leinwände: In der Wohnung des Künstlers führt an seinen Werken kein Blick vorbei. Fotos: © dob, privat

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tummel von Pastellkreide überall auf dem Tisch, ein Aschenbecher, Stifte, eine Dose Haarspray zum Fixieren der Kreide, Krimskrams und ziemlich Staub. „Aufräumen? Nee, mach ich nicht“, sagt Rolf Hambrecht, 64, und lacht, irgendetwas zwischen verschmitzt und störrisch. Aus den Boxen kommt der englische Songwriter Jake Bugg, in der kleinen Wohnung in Freiburg Haslach stapeln sich die Bilder. Rund 400 hat Hambrecht, Hemd mit Paisleymuster und abgetragene Basecap über dem schütteren Haar, im Laufe seines Lebens gemacht: Stillleben, Landschaften, Porträts bekannter Personen wie Lou Reed oder Arthur Rimbaud, dem französischen Dichter und Abenteurer, und viele, sehr viele Bilder von jungen Männern. Manches davon durchaus pornographisch. Die Vorlagen habe er meist aus französischen Schwulenmagazinen, erzählt er, mit lebendigen Modellen hat er nie gearbeitet, das mochte er nie.

„Junge Männer, trotzig und wild sich zur Schau stellend und doch gebrechlich zugleich, fast abweisend, ein bisschen melancholisch und manchmal eben von dieser atemberaubenden Unmittelbarkeit – dabei aber überhaupt nicht kitschig, sondern voller Lebendigkeit.“ Dieses Urteil hat vor rund zwei Jahren der bekannte Berliner Travestiekünstler Georgette Dee mal über das Werk gefällt – und dem Freiburger eine Ausstellung in der Hauptstadt organisiert.

„Freiburg war immer ein schwe­ res Pflaster für Ausstellungen“ Hambrecht, der Autodidakt mit abgebrochenem Lehramtsstudium, der schon auf dem Kepler-Gymnasium mit dem Malen anfing, hatte schon an vielen Orten in Freiburg und darüber hinaus Ausstellungen: im Jos Fritz Café, im Babeuf, im Kommunalen Kino, im Kohi in Karlsruhe oder vor gut einem Jahr im Freiburger


lungerte vor der Türe, trank und lachte, torkelte durch Bierpfützen. Die „Ratte“ war eine Institution im damals noch nicht so durchschnittlichen und drögen Freiburger Nachtleben. Und der Wirt war der Zeremonienmeister. Lange her, das Leben fordert seinen Tribut. Im Sommer 2018 hat Hambrecht einen Schlaganfall erlitten. „Auf dem Weg zu einer Ausstellung in Karlsruhe hat es mir auf einmal die Füße weggezogen, scheiße war das.“ Es folgte die Reha, es folgten ein neues Leben und der Versuch, wieder zur Kreide zu greifen. „Schwierig, ich mache Sachen und bin dann nicht zufrieden. Es fällt mir schwer.“ Ein noch nicht fertiggestelltes Bild hängt an der Wand neben dem zugemüllten Tisch: Georgette Dee, ein blauer Mann mit weiblichen Formen. Peu à peu kommt da etwas Neues hinzu. „Ich habe noch viele Ideen, richtig obszön und richtig bunt könnte das werden“, sagt Hambrecht. Er will kämpfen. Am 4. April wird er 65, mit der Rentenversicherung ist er in Kontakt.

Slow Club. „Another season in hell“ hieß die Schau dort, in Anlehnung an ein Rimbaud-Gedicht. Auf dem Weg zur Toilette hing ein großes Bild eines unten entblößten, von einem Dildo aufgespießten jungen Mannes. Derzeit sind seine Bilder in der Freiburger Kantina auf dem Güterbahnhofgelände zu sehen. „Freiburg war immer ein schweres Pflaster für Ausstellungen“, sagt er und zieht an seiner Zigarette. Er sagt aber auch über sich, dass er „ein fauler Sack“ sei, dass er sich vielleicht etwas mehr hätte um seine Karriere kümmern müssen. Ab 2006 hätte er ja Zeit gehabt. Damals endete für Rolf Hambrecht ein Lebensabschnitt und für Freiburg eine Ära: Die Kneipe Rattenspiegel an der Eschholzstraße im Stühlinger, ein winziges dunkles, verrauchtes Loch, machte dicht. Die Pacht wurde unerschwinglich. 14 Jahre lang war Hambrecht Betreiber. 14 Jahre lang Bierzapfen, Kunst, Konzerte, wildes Leben. Man

Rolf Hambrecht vor einer Porträtwand: „Scheiße war das.“

Kulturnotizen Bedeutende Schenkung Große Freude beim Museum für Neue Kunst und dem Augustinermuseum in Freiburg: Die Hamburgerin Gabriele Rauschning, die im Dezember 2018 verstorben ist, hat ihre über 40 Jahre zusammengetragene Sammlung mit rund 150 grafischen Blättern den Städtischen Museen vermacht. Darunter sind hochrangige Arbeiten der klassischen Moderne und des 19. Jahrhunderts, Zeichnungen und Grafiken des Expressionismus, etwa von Erich Heckel, Max Pechstein, Ernst Ludwig Kirchner, Max Beckmann, Ernst Barlach und Käthe Kollwitz, Arbeiten von Jean-François Millet, Edouard Manet, Max Liebermann und Lovis Corinth. Ein anderer Schwerpunkt liegt auf dem Werk von Gerhard Altenbourg (1926–1989). Der international geachtete Künstler war in der DDR zu einer Symbolfigur des inneren Widerstands geworden. Eine Ausstellung mit Werken der Sammlung Rauschning ist 2022 geplant.

Bedeutender Verlust Nicht nur Oberbürgermeister Martin Horn, Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach, Museumchef Tilmann von Stockhausen und Christine Litz, Direktorin des Museums für Neue Kunst (MNK) sind betroffen vom Tod des Künstlers Peter Dreher. Der Maler, eng mit Freiburg verbunden, ist im Februar mit 87 Jahren verstorben. Für sein be- Foto: © Peter Dreher, Tag um Tag guter kanntestes Werk, die Tag Nr. 1316, 1997 © VG Bild-Kunst, Serie „Tag um Tag gu- Bonn 2020, Foto: Axel Killian ter Tag“, malte er über Jahrzehnte hinweg täglich ein Wasserglas, mehrere Tausend. „Mit seiner großzügigen Schenkung von fast 500 Bildern im Jahr 2012 wurde der Sammlungsbestand des MNK erheblich erweitert“, erinnert Horn. Dreher wurde 1932 in Mannheim geboren. Von 1965 bis zu seiner Pensionierung 1997 leitete er die Malklasse der Freiburger Außenstelle der Kunstakademie Karlsruhe. 1976 erhielt er den Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg. 2018 verlieh ihm die Stadt außerdem das Silberne Stadtsiegel. „Peter Dreher war eine herausragende Persönlichkeit, wir werden alles dafür tun, sein beeindruckendes Werk auch über seinen Tod hinaus lebendig zu halten“, so von Kirchbach. Das MNK und auch das Augustinermuseum werden in memoriam einige Werke von Dreher ausstellen. Wann, ist noch unklar. bar


Kultur

Bevor sich Beate Riess auf Bücherstapeln ausruht, hat sie viel Arbeit mit den Manuskripten, die täglich auf ihrem Schreibtisch landen.

Foto: © privat

Die Trüffelschweine der Branche Seit zehn Jahren betreibt Beate Riess im Freiburger Stadtteil Stühlinger eine ziemlich erfolgreiche Literaturagentur

s von Erika Weisser

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ie konnte sich „schon immer gut vorstellen“, selbstständig zu arbeiten. Doch erst ein Jahr vor ihrem 50. Geburtstag, im Juni 2010, wagte Beate Riess den „Sprung ins kalte Wasser“ und gründete die erste Literaturagentur im Südwesten. Mit einem eigenen Raum in einer Bürogemeinschaft im Stühlinger. Dort ist sie immer noch – und bis heute „sehr glücklich“ über ihre Entscheidung. Inzwischen hat sie 44 Autoren „von der Nordsee bis nach Wien“ unter Vertrag, arbeitet mit 40 Verlagen zusammen. Zu ihrem Kundenstamm gehören „selbstverständlich“ auch einige Autoren aus der Region. In diesem Jahr feiert die Agentur ihr Zehnjähriges.

So ganz kalt war das Wasser ihres Neustarts freilich nicht: Nach 16 Jahren beim Herder-Verlag, wo sie als Lektorin und Programmleiterin im Bereich Kinder-und Jugendbuch tätig war, hatte sie gute Kontakte innerhalb der Buchbranche, auch zu zwei Autorinnen, die schon damals sehr bekannt waren und nach einer Literaturagentur suchten: Antonia Michaelis, die immer noch eine ihrer wichtigsten Autorinnen ist, und Käthe Recheis, der inzwischen verstorbenen „Grande Dame der österreichischen Kinderliteratur“. Mit ihnen unternahm Riess den Schritt in die Selbstständigkeit – und hatte gleich mit dem ersten Manuskript Erfolg.


Kultur

Und eine große Portion Glück: Mit Michaelis’ Roman „Der Märchenerzähler“, stieß sie bei mehreren Verlagen auf so großes Interesse, dass sie „in eine Auktion hineinrutschte“. Da viele Editoren das Buch haben wollten, hätten sie sich gegenseitig hochgeboten – und sie und die Autorin seien in der komfortablen Situation gewesen, den Höchstbietenden auswählen zu können. Das sei „natürlich ein Idealfall“ gewesen, „eine Sternstunde, die nicht alle Jahre vorkommt“. Das Buch wurde 2012 für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert.

Sternstunden und magische Tiere Eine weitere Sternstunde für Riess’ Agentur schlug 2016, als Peer Martin für seinen Roman „Sommer unter schwarzen Flügeln“ diesen Preis dann tatsächlich erhielt. Die inzwischen 59-Jährige freut sich auch über die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Margit Auer, deren Bücher aus der Reihe „Die Schule der magischen Tiere“ regelmäßig die Bestsellerlisten erobern. Und sie freut sich natürlich auch, wenn sie für ihre weniger bekannten Schützlinge „den passenden Verlag finden und gute Bedingungen aushandeln“ kann. Denn auch das Verfassen autorenfreundlicher Verträge gehöre zu ihren Aufgaben. Auf dem schnelllebigen Buchmarkt, der täglich mit rund 200 Neuerscheinungen bereichert wird, sei sie als Literaturagentin für die Autoren „eine Art Wegweiser im Dschungel der Verlage“. Denn gute Literaturagenten kennen sich aus mit Verlagen und Lektoren, sie wissen, nach welchen Themen oder Genres diese gerade suchen und können so ihre Autoren „passgenau“ vermitteln. Ohne diese Vermittlung, so ihre Erfahrung, komme „heute fast kein Autor mehr in einen Verlag“. Und auch für die Verlage werde die Arbeit der Agenten immer wichtiger. Gerade für die, die neben den Werken ihrer angestammten Autoren gerne auch gute Debüts vielversprechender Unbekannter veröffentlichen, seien die Agenten so etwas wie „die Trüffelschweine der Branche“: Sie übernehmen die Wühlarbeit beim Suchen neuer Talente, sie feilen mit ihnen gründlich an den in Frage kommenden Manuskripten, beraten sie kollegial bei der Dramaturgie der Texte und machen sie „verlagsreif“. Dieses „kleine Vorlektorat“ entlaste die Verlage erheblich: Auf Riess’ virtuellem Schreibtisch landen täglich mindestens fünf Manuskripte, die von ihr und ihren beiden Mitarbeiterinnen sorgfältig gesichtet und gegebenenfalls mit den Autoren selbst überarbeitet werden, bevor sie in die engere Auswahl kommen. Und diese Arbeit könne ein Verlag heute kaum mehr leisten. Mit dem Ergebnis, dass so manches Buch, so mancher Autor nicht veröffentlicht würde, obwohl sie es verdient hätten.

Aus der Traum Verschlossene Türen bei Unicorn Music

(ewei). Die Tür ist verschlossen, die Festnetzleitung des Telefons tot. „Bitte überprüfen Sie die Nummer und wählen Sie erneut“, empfiehlt die automatische Ansagestimme nach längerem Schweigen. Das lila Ladenschild mit dem Nashorn und den beiden Gitarren beginnt in der einen Ecke sogar schon zu zerfleddern. Kein Zweifel: Unicorn Music, den an der Kreuzung von Belfort- und Wilhelmstraße gelegenen Laden für „Vintage Guitars & More“, gibt es nicht mehr. Zumindest vorerst. Robert Dale Kirch, der ihn seit November 2018 im Sedanquartier betrieb, ist gerade nicht mehr zu erreichen. Sein Mietvertag endete Ende Februar, er hat ihn nicht verlängert. Und packte seine Sachen. Bei einem Besuch sagt er, dass er eine neue geeignete Bleibe für seinen Laden suche. Und dass er seine Idee von einem nicht-kommerziellen Kulturzentrum „auf keinen Fall aufgeben“ und die im Januar begonnene Crowdfunding-Kampagne „für

Foto: © ewei

Das Ende eines Ladens: verschlossene Türen bei Unicorn.

ein faires und nachhaltiges Kulturangebot“ fortsetzen wolle. Über dieses Vorhaben, sagt er, sei er „wohl gestolpert“. Ursprünglich wollte der US-Amerikaner mit dem poetischen Künstlernamen Rhino Rainbow in dem Hinterhof, in dem sich sein ziemlich außergewöhnliches Musikgeschäft befand, zwei zusätzliche, nicht genutzte Räume anmieten. Für Konzerte, Sessions, Musik-Workshops, Ausstellungen und andere kulturelle Veranstaltungen, die bisher in seinem Laden stattfanden. Doch dann wurde das Baurechtsamt aufmerksam (wir berichteten). In einem Brief vom 6. Februar erhielt der Musiker die „niederschmetternde“ Ankündigung, dass die Nutzung der Räume als Veranstaltungsort untersagt werde. Und dass nicht einmal der Betrieb des Ladens rechtens sei. Von seiner anfangs geäußerten Absicht, rechtliche Schritte gegen diesen Bescheid einzuleiten, hat er wieder Abstand genommen: „Das Verfahren wäre zu aufwendig und der Ausgang ohnehin ungewiss gewesen“. Und die Aussicht auf ein Kulturzentrum an dieser Stelle „gleich null“. Eine andere hat er noch nicht gefunden. Die Unicorn-Tür bleibt also erst einmal geschlossen. März 2020 chilli Cultur.zeit 55


Musik

Von wegen Weltschmerz und Rumgeheule The Deadnotes aus Freiburg veröffentlichen ihr zweites Album

K

von Philip Thomas

ein Bandmitglied hat mehr als 24 Jahre auf dem Buckel. Trotzdem haben Sänger und Gitarrist Darius Lohmüller, Schlagzeuger Yannic Arens und Bassist Jakob Walheim mehr als 500 Konzerte in den Knochen und standen als „The Deadnotes“ schon auf Bühnen in 25 Ländern. Die 2011 in Freiburg gegründete IndiePunk-Combo hat nun ihr zweites Album „Courage“ veröffentlicht. Die Erfahrung ist der Scheibe anzuhören: Laut, nachdenklich, aber optimistisch und gereift klingt sie. Erwachsen werden wollen die drei so schnell allerdings nicht. Ist Gitarrenmusik nicht auf dem Rückzug? „Das ist eine blöde Pauschalisierung“, findet Lohmüller, der das Instrument selbst spielt. Zwar verändere sich der Markt, die Indie-Punk-Szene sei aber stark wie nie. Immerhin ist sie nun um das gelungene „Courage“ reicher. Die Unterschiede zu ihrem Erstlings-

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werk „I’ll Kiss All Fears Out Of Your Face“ sind deutlich. Das Nachfolgewerk ist reifer und verzichtet auf Kitsch. „Wir waren damals sehr jung. Die Songs haben wir geschrieben, als wir 17 waren“, sagt der Frontmann heute. „Wir haben so ziemlich jeden Fehler gemacht, den man machen kann“, scherzt Bandkollege Arens. Ihre ersten Promo-CDs ließen sie noch übermäßig bedrucken

„Der Bandname ist eine Jugendsünde“ und legten den Scheiben krude Erläuterungen bei. Auch „The Deadnotes“ würden sich die Jungs heute nicht mehr nennen. Der Bandname ist gewissermaßen noch eine Jugendsünde: „Damals fanden wir den cool. Heute leben wir damit“, so der 24-Jährige.


Punk finden sich aber viele gesellschaftliche und politische Inhalte“, erzählt der Schlagzeuger weiter. Die Plattform wollen sie nutzen. Tatsächlich drehen sich zahlreiche Texte auf Courage um geistige Gesundheit, Konsumkritik, Selbstakzeptanz und natürlich die eine oder andere Beziehung. „Wir haben Grenzerfahrungen gemacht und darüber wollen wir auch berichten“, sagt Lohmüller, aus dessen Feder die Texte stammen. Um bei dem Projekt die kreative Kontrolle zu behalten, haben die drei 2018 ein eigenes Label gegründet. „Man steht dabei unter großem Druck“, weiß er. Das finanzielle Risiko habe sich aber ausgezahlt. Und die Unabhängigkeit sei es auf jeden Fall wert. Mittlerweile fühlten „Wir haben Grenzerfahrungen gemacht sie sich sogar ein bissund darüber wollen wir auch berichten.“ chen alt, aber noch lange nicht erwachsen: Trotz mal mitten in der russischen Pampa auf der fast zehn Jahre Bandgeschichte wereinem Feldweg im Schlamm stecken ge- de das Trio mit der neuen Platte vielerblieben. Ein anderes Mal habe sich bei orts als Newcomer gehandelt. Was die 130 Sachen die Gepäckbox auf dem Bus nächsten zehn Jahre bringen, wollen sie geöffnet. „Wir haben unser gesamtes gar nicht wissen: „Bands, die ihre ZuZeug verloren“, sagt Arens. Heute können kunft bis auf Jahre hinaus planen, finden sie darüber lachen. „Solche Geschichten wir furchtbar. Wir genießen jetzt den Moment.“ gehören irgendwie dazu.“ Courage haben The Deadnotes in England, dem Mutterland des Punkrock, aufgenommen. „Das ist ein Musikland, Livemusik gibt’s dort in jedem Pub“, berichtet Arens. Manchmal hätten die drei deutschen Musiker Mühe, bei Erstauftritten lokaler Brit-Bands mitzuhalten. „Die leben für sowas“, sagt der Sänger. In dem Album steckt auch einiges von der Insel: Der in Leeds ansässige Produzent Bob Cooper saß bereits für Foxing und Adam Angst an den Reglern und vereint laut Lohmüller das richtige Maß an Know-how und Experimentierfreude. Gemischt wurde das Album schließlich von einem US-Produzenten. Die Herkunft hört man der Scheibe folglich nicht an. Das Album klingt international. „Wenn wir Courage durch eine Produktion in England verstärken können, ist das super.“ Auch inhaltlich hat die Band zugelegt. „Wir werden gerne in die 2000er Emo-Schublade gesteckt“, findet Arens. Ganz falsch ist die Assoziation nicht. „Viele verbinden damit allerdings bloß Weltschmerz und Rumgeheule. Bei uns Seit ihren ersten Auftritten hat sich einiges getan. Heute spielen die Deadnotes vor bis zu 200 Zuschauern, Touren sind mit mehr Vorlauf geplant und besser organisiert. „Das wissen wir heute zu schätzen. Früher sind wir einfach losgefahren“, erzählt Lohmüller, der mit seinen Kollegen in den Anfangsjahren schon mal eine komplett leere Location beschallt hat. „Das haben wir durchgezogen“, erinnert sich Arens. Auch in ihren Reisen steckte Punk. „Wir haben Pech mit Autos“, sagt Lohmüller, der die Elektronik- und Motorschäden ihrer Tour-Vehikel nicht mehr an einer Hand aufzählen kann. Nach 13 Stunden Fahrt sei ihr Van ein-

Info Verschwommenes Cover, klarer Klang: Um bei ihrem zweiten Album Courage die kreative Kontrolle zu behalten, gründete die Band ein eigenes Label. Zu sehen ist die Band am 13. März im Waldsee, Freiburg

Trotz zahlreicher Autopannen: Yannic, Darius und Jakob (v.l.n.r) von The Deadnotes standen schon auf Bühnen in 25 Ländern. Fotos: © Ilkay Karakurt

März 2020 chilli Cultur.zeit 57


Musik

Aus dem Nichts

Agnes Obel

ÄTNA

Alternative/Indie

Elektro-Pop

Myopia

Made By Desire

Foto: © René Thoma

3 Fragen an die Rampe-Gewinner 2020 Phil Dyszy ist Gitarrist der Band Seven Purple Tigers, die den Jazzhaus-Musikcontest „Rampe“ gewonnen hat. Warum Musik kreieren süchtig macht und was es mit den verrückten Outfits auf sich hat, erzählt er im Interview mit chilli-Volontärin Liliane Herzberg. Phil, ihr habt die Rampe gewonnen. Was ist euer Geheimrezept? Wir arbeiten mit Feuer und Flamme dran, unsere Musik, die Show und alles drum herum ansprechend zu machen. Wir wollen bei den Live-Shows viel Entertainment bieten. Dass jemand, der ein Ticket kauft, nicht nur Musik hört und vier Typen in T-Shirt und Jeans sieht, sondern richtig was passiert. Wir haben verrückte Outfits an, sind farblich abgestimmt, haben Neonplasmabälle, alles Mögliche eben. Woher nehmt ihr die Inspiration für eure Songs? Versagensangst (lacht). Nein, es macht fast süchtig, Musik zu kreieren. Wenn man da sitzt und nichts existiert und paar Stunden später gibt es einen neuen Song, den es davor nicht gab, das ist ein tolles Gefühl. Eure Songs sind recht düster. Spiegelt das eure Lebenseinstellung wider? Ich hätte sie als nachdenklich bezeichnet, wir sind eigentlich super lebensfrohe Gestalten. Die Themen, die einen am meisten interessieren, sind doch die offenen Fragen im Leben, für die es keine objektiven Antworten gibt, die aber jeden beschäftigen. Wir wollen nicht düsteres Zeug singen, sondern beschäftigen uns mit den seltsamen Ereignissen und Gedanken im Leben. 58 chilli Cultur.zeit März 2020

Geisterhafte Melancholie

Harmonische Revolution

(herz). Die in Berlin lebende Dänin Agnes Obel hat schon in Myopias Vorgänger-Alben zarte Klänge mit eindrucksvoller Wucht verbunden. So ist ihr auch dieses Mal ein geheimnisvoll wirkendes Gesamtkunstwerk gelungen. Wie das Plattencover, so sind auch die Songs gestaltet: Nahezu geisterhaft wird der eigentliche Sinn erst nach mehrmaligem Hören erkannt. Der Text gerät in den Hintergrund, denn die Wörter und Silben sind eher verschluckt als klar artikuliert. Wer die Musik Obels verstehen will, muss sich Zeit nehmen. Die Basis bildet der ruhige Klang eines Klaviers, der sich durchs gesamte Werk zieht. Stimmliche und instrumentale Elemente bilden ein kongeniales Ganzes. Das bricht die Künstlerin zuweilen gekonnt, etwa bei „Roscian“, einem perlend tänzelnden Pianosolo, das gänzlich ohne Gesang glänzt. Auch „Parliament of Owls“, der Höhepunkt des Albums, ist rein instrumental. Das Stück ist vor allem im Mittelteil außerordentlich kraftvoll, bereitet Gänsehaut und Freude, und könnte liebend gern viel länger als nur zweieinhalb Minuten andauern. Myopia bietet durchweg ruhige Songs über Vertrauen und Zweifel, die wunderbar zu einem in sich gekehrten, nachdenklichen und trüben Regentag passen.

(herz). Das Erstlingsalbum „Made By Desire“ nimmt schnell Fahrt auf: Das Dresdner Duo ÄTNA lädt zu einem Spaziergang durch die elektronisch-poppige Welt der jungen Künstler ein. Inéz und Demian spielen sich leichtfüßig durch Genres und scheren sich nicht um musikalische Grenzen. So überwindet die Klavier-Ballade „Try“ Tonarten und besticht mit einem Sprachwechsel. Sie ermutigt, den Kopf oben zu halten: „Und wenn Dein Kartenhaus zusammenfällt, Try, es gibt immer wen, der zu Dir hält.“ Klingt kitschig, funktioniert aber. Im Video des Tracks „Ruining My Brain“ sticht der extravagante Kleiderstil ins Auge. Ihre Musik definiert ÄTNA als Gesamtkonzept: Klang, Fashion und Design, klare Linien treffen auf Brüche, Instrumente auf Elektronik. Was bei ihren Live-Konzerten mitschwingt, klingt auch aus den Liedern: Zwischen den beiden Künstlern herrscht musikalisch wie menschlich Harmonie, die Töne greifen stimmig ineinander und das laute Schlagzeug Demians vereint sich mit Inéz’ zarter Stimme zu einer Einheit. Ein gelungenes Album, das trotz poppigem Ansatz individuell klingt, mit Schwächen bei „If You Were Gone“, ein Song, der wenig Tiefgang zeigt. Das Debüt lässt aber das technische Know-how der beiden studierten Musiker durchscheinen.


Kolumne Grimes

Prinz Pi

Pop

Rap

Miss Anthropocene

Wahre Legenden

... zu Zahlenspielen Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Allein unter Dämonen

Ende einer Liebe

(pt). Grimes ist zurück. Und die Erwartungen sind hoch: Fünf Jahre sind seit dem vorerst letzten Album „Art Angels“ vergangen. An der Scheibe ließ die unkonventionelle Künstlerin selbst kein gutes Haar. Als „Stück Scheiße“ bezeichnete die 31-Jährige die sehr persönlich geratene Brücke aus Indie und Pop im Nachhinein. Die erste Single-Auskopplung, der schrille New-Metal-Banger „We Appreciate Power“, fixte die Fans dann vor fast zwei Jahren für das nun erschienene Miss Anthropocene an. Es könnte leider fast das stärkste Stück der Platte sein. Denn das Wohlwollen ist nach der gelungen-gehauchten Eröffnung „So Heavy I Fell Through The Earth“ mit einfachen, aber effektiven Drums schnell verflogen: Das anschließende „Darkseid“ ist mit unnötig gepitchten, fast schlumpfhaften Vocals der taiwanesischen Rapperin 潘 PAN jedes Mal ein Griff zur Skip-Taste. Der Rest läuft aber durch. Themen wie innere Dämonen, Gewalt und Verlust sind zwar nicht neu, durch die aufwendige Produktion aber musikalisch stark verpackt. Wie wichtig diese Verpackung für das Werk ist, wird auf „4AM“ deutlich – der treibende Song kommt praktisch ohne Lyrics aus. Schummrig-schönes GothPop-Album mit Schönheitsfehlern, das seinen ganzen Zauber erst nach mehrfachem Hören entfalten kann.

(pt). Friedrich Kautz lebt in der Vergangenheit. Als Prinz Pi hat der Rapper darin schließlich seine größten Erfolge gefeiert: „Donnerwetter“ und die „Teenage Mutant Horror Show“ sind Meilensteine des Genres, mit „Neopunk“ traf das Urgestein 2008 stilsicher den Zeitgeist. „Was soll ich dir erzählen, was ich bisher nicht erzählt habe“, fragt der Prinz heute auf seinem mittlerweile zehnten Studioalbum „Wahre Legenden“ seine ebenfalls ratlose Hörerschaft. Legenden-Status wird die Scheibe nicht erlangen, Songs sind durch die Bank wenig tiefgründig, Botschaften werden entweder lückenhaft oder per Holzhammer transportiert, und die musikalische Untermalung plätschert, wie auf „Immer zu dir“, nur so vor sich hin. Zur Rettung erinnert Pi, der es besser kann, wehmütig an die gute alte Zeit: In der Hommage „Keine Liebe 2019“ geht es um Tupac, Biggie, Michael Jordan und natürlich Berlin. Leider verpuffen die Stichpunkte, man mag nicht in die Nostalgie einstimmen und sich so alt fühlen, wie es der 40-Jährige offenbar mittlerweile tut. Zu allem Übel ist auf der Rückseite der teuren CD-Box noch ein Druckfehler. Da hilft auch nicht, dass Kautz auf dem zeitgleich erschienenen „Auf Abstand“-Album sein battlerappendes Prinz-PornoEgo aus der Klamottenkiste holt.

1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 – alles unschuldige Zahlen, die sich täglich völlig selbstlos von uns verwenden lassen. Man kann immer mit ihnen rechnen! Nun gibt es aber schon immer auch eine unsachgemäße, gar unrechtmäßige Verwendung in der Musik. Lieder, die Zahlen im Titel tragen oder sich mit ihnen auf geschmacklose Art und Weise beschäftigen. Angefangen mit „1 Stern, der deinen Namen trägt“ von DJ Ötzi, dann „2 kleine Italiener“, wo Conny Froboess mit Stereotypen die Männer einer ganzen Volksgruppe diskreditiert. Bei „3 Chinesen mit dem Kontrabass“ das Gleiche, aber hier kommt dann zumindet noch der Polizist ins Spiel, der fragt, „was ist denn das“? Herrn Vivaldis „4 Jahreszeiten“ hingegen kann man gerade so noch durchgehen lassen, aber „5 Songs in einer Nacht“ von Capital Bra ist wieder ein Fall für uns, zu viele Bitches, die dort klargemacht werden, Drogen auch, schlechte Reime dazu (Medizin auf Medellin) etwa. Bei „666 – the number of the beast“ drücken wir beide Ohren zu, „7 Fässer Wein“ werden dann aber wieder von uns als gefährlich eingestuft, auch wenn Roland Kaiser dreist singt „... können uns nicht gefährlich sein“. Das „1 x 8 Lied“ für MatheStreber ist ebenfalls eine ganz perfide „Nummer“, „9 Milli“ von NU ist im Nu bei uns unten durch. „10 kleine Negerlein“ haben uns schließlich gerade noch gefehlt. Weit gefehlt. Kopf- oder besser zahllos grüßt Ralf Welteroth für die Geschmackspolizei Freiburg


kino

Eine Straße aus Schlamm Haifaa Al Mansour zeigt die Geschichte einer aufmüpfigen Frau von Erika Weisser

Die perfekte Kandidatin Saudi-Arabien 2019 Regie: Haifaa Al Mansour Mit: Mila Al Zahrani, Dae Al Hilali, Noura Al Awadh, Khalid Abdulrhim u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 104 Minuten Start: 12. März 2020

Fotos: © Neue Visionen

60 chilli Cultur.zeit März 2020

I

n der ersten Einstellung des Films sind von Maryam nur die Augen zu sehen: Ein schwarzer Niqab mit schmalem Sehschlitz verhüllt Gesicht und Haare, ein weiter, langer Mantel die ganze Gestalt. Dass sie ziemlich selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos sitzt, passt zunächst nicht so ganz ins Bild.

Bald zeigt sich jedoch, dass wir es hier tatsächlich mit einer sehr selbstbewussten Person zu tun haben. Maryam macht nämlich nicht nur ganz selbstverständlich von der in Saudi-Arabien noch nicht einmal seit zwei Jahren geltenden Fahrerlaubnis für Frauen Gebrauch. Sie ist auch nicht zum Vergnügen unterwegs. Sondern zu einem kleinstädtischen Krankenhaus, wo sie als einzige Ärztin in der Notaufnahme arbeitet. Es versteht sich fast von selbst, dass sie es dort recht schwer hat: Trotz exzellenter Fähigkeiten weigern sich männliche Patienten, von ihr behandelt zu werden, muss sie jeden Tag aufs Neue die Anerkennung ihrer Kollegen erkämpfen, die selbst keine Ärzte sind. Ein weiteres Ärgernis ist für sie der Zustand der Klinikzufahrt, die eher einer Schlammwüste als einer Straße gleicht. Und obwohl die Ambulanzwagen und Rollbahren mit den dringend versorgungsbedürftigen Kranken oder Unfallopfern ständig im Morast steckenbleiben, unternehmen weder die Kliniknoch die Stadtverwaltung ernsthafte Anstrengungen, den unbefestigten Weg endlich asphaltieren zu lassen.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, hier eine Veränderung zu bewirken, sinnt Maryam auf berufliche Neuorientierung, will sie sich im weniger konservativen Dubai um einen Job bewerben. Doch mangels eines männlichen Begleiters und einer nicht erfüllten geringfügigen Vormundschafts-Formalität, lässt man die erwachsene Frau nicht reisen. Über einen entfernten Cousin erfährt sie von der bevorstehenden Kommunalwahl – und beschließt, nicht nur von dem seit 2015 bestehenden Wahlrecht für Frauen Gebrauch zu machen, sondern selbst zu kandidieren. Nicht nur wegen der Straße aus Schlamm, die dann plötzlich doch noch geteert wird: Ihr direkter Gegenkandidat, seit Jahren Gemeinderat mit großem politischen Einfluss, hat wahlkampftaktisch dafür gesorgt. Maryam gibt indes nicht auf, geht ihre kleinen Schritte in Richtung Emanzipation unbeirrt weiter. Zwar verliert sie trotz einer ebenso klugen wie mutigen und von ihren beiden Schwestern nach Kräften unterstützten Kampagne am Ende die Wahl. Doch sie schafft sich und anderen Frauen mit viel Geschick und überraschenden Auftritten einige neue Freiräume. Was nicht zuletzt daran ersichtlich wird, dass sie die Vollverschleierung schließlich ablegt. Haifaa Al Mansours Film ist eine ­zaghafte Komödie, die mit einiger Ironie die Absurditäten auskostet, die ein sexistisches Land wie Saudi­-­ Arabien in seiner ­Irrationalität ständig produziert.


KINO Über die Unendlichkeit

Jean Seberg – Against all enemies

Undine

Foto: © Neue Visionen

Foto: © Prokino Filmverleih

Foto: © Piffl Medien

Schweden 2019 Regie: Roy Andersson Mit: Martin Serner, Jessica Lothander u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 78 Minuten Start: 19. März 2020

USA 2019 Regie: Benedict Andrews Mit: Kristen Stewart, Jack O’Connell u. a. Verleih: Prokino Laufzeit: 102 Minuten Start: 26. März 2020

Deutschland 2019 Regie: Christian Petzold Mit: Paula Beer, Franz Rogowski u. a. Verleih: Piffl Laufzeit: 92 Minuten Start: 26. März 2020

Ode und Anklage

Psychogramm einer Ikone

Eine entzauberte Liebe

(ewei). Der Film ist wie ein unlogischer, surrealer Traum, dessen einzelne Szenen nur lose miteinander zu tun haben – und doch irgendwie zusammenhängen. Selbst die Farben der rund drei Dutzend Vignetten sind traumhaft blass; ihre Bilder schweben wie im Schlaf oder in halbwachem Zustand durch das Bewusstsein, eröffnen Assoziationsräume. Auch die Inhalte der kurzen Episoden wirken surreal: Hier schwebt ein eng umschlungenes Paar über das kriegszerstörte Köln. Da hat ein Priester wiederkehrende Alpträume, die ihn selbst als Christus zeigen, der mühevoll sein Kreuz durch die steilen Straßen einer Stadt schleppt. Dort ziehen deutsche Wehrmachtstruppen durch die Schneewüste Sibiriens. Während eine Frau bei einer Verabredung einfach ein Glas Champagner trinkt. Pragmatisch und unsentimental kommentiert eine weibliche Erzählstimme das Geschehen, das Großartiges neben Alltägliches, Historisches neben Erstaunliches stellt – in Anderssons unverwechselbarer Handschrift.

(ewei). Jean Seberg war gerade 40 Jahre alt, als sie sich 1979 das Leben nahm. In den Jahren davor war die Schauspielikone der französischen Nouvelle Vague, die in Filmen wie „Außer Atem“ geglänzt hatte, vom FBI gnadenlos bespitzelt und an den Rand des Wahnsinns getrieben worden. Kristen Stewart übernimmt die Rolle der Jean Seberg, die Ende der 1960erJahre eine Affäre mit dem verheirateten afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivisten Hakim Jamal hatte und sich aktiv in der Black-Panther-Bewegung engagierte. Und die deshalb zur Gegnerin des politischen Status quo der USA erklärt wurde und ins Visier der staatlichen Überwacher geriet. Stewart spielt die junge, zunächst kämpferische und dann zusehends depressive Frau mit großer Überzeugungskraft. Besonders eindringlich im Gedächtnis bleibt etwa die Szene, da sie nachts verzweifelt nach den Abhörwanzen in ihrer Wohnung sucht – und von ihrem Mann für verrückt erklärt wird. Ein filmisches Mahnmal im Gewand eines dramatischen Thrillers.

(ewei). Der Sage nach ist Undine eine geheimnisvolle Wasserfrau, die nur durch die Liebe eines Menschenmannes zu einem irdischen Dasein fähig ist. Und die ihm im Falle seines Liebesverrats den Tod bringt und ins Wasser zurückkehren muss. Christian Petzold verbindet diese mythologische Figur mit einer modernen Undine. Diese arbeitet als Stadthistorikerin in Berlin und wohnt in einem Apartment am Alexanderplatz. Als ihr Freund Johannes sie verlässt, spürt sie, dass sie ihn nun töten müsste. Doch sie wehrt sich gegen den Fluch der entzauberten Liebe. Sie begegnet dem Industrietaucher Christoph, wagt eine neue Beziehung – eine glückliche, wechselseitige Liebe voller Neugier und Vertrauen. Für ihre Verkörperung der Undine erhielt Paula Beer als beste Darstellerin den Silbernen Bären der Berlinale 2020. Sie nahm ihn auch für Filmpartner Franz Rogowski entgegen: „Man kann immer nur so gut sein wie sein Gegenüber“, sagte sie. Dem ist nichts hinzuzufügen.


kino Marie Curie – Elemente des Lebens

Foto: © Alamode

Foto: © Studiocanal

Frankreich 2019 Regie: Justine Triet Mit: Virginie Efira, Sandra Hüller u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 100 Minuten Start: 2. April 2020

Großbritannien 2019 Regie: Marjane Satrapi Mit: Rosamund Pike, Sam Riley u. a. Verleih: Studiocanal Laufzeit: 110 Minuten Start: 9. April 2020

Foto: © Reinhild Dittmer-Finke

voll von der Rolle

Sibyl – Therapie zwecklos

Nach dem gemeinsamen Mittagessen werden die Tische im Club 55 wieder sorgfältig blank gewienert.

Aus den Fugen geraten (ewei). „Reguläres Essen ab 12.30 Uhr“ ist auf dem Aushang an der blickdichten Glastür zu lesen. Und: „Reste-Essen 13 bis 13.30 Uhr“. In dem einladenden Raum hinter der Tür ist gleich zu spüren, dass es hier um mehr als einen gemeinsamen Mittagstisch geht: Die Anwesenden reden, schweigen, lachen, leiden, trauern und feiern miteinander; in freundlicher Atmosphäre tauschen sie sich aus über die kleinen oder großen Freuden und Sorgen ihres Alltags. „Club 55“ ist der Name dieser in der zweiten Etage eines Altbaus in der Schwarzwaldstraße gelegenen Begegnungsstätte. Sie ist an allen Werktagen der Woche geöffnet und wird betrieben von der Freiburger Hilfsgemeinschaft (FHG), die im Oktober 1970 gegründet wurde. Hier treffen sich regelmäßig ein paar Dutzend Menschen, manche kommen täglich, andere eher sporadisch. Die meisten bleiben nach dem Essen noch da, sprechen auch mit Außenseitern „mit beeindruckender Offenheit“ über ihre Psychiatrie-Erfahrungen. Diese Erfahrung hat die Freiburger Dokumentarfilmerin Reinhild Dettmer-Finke gemacht: In den zwei Jahren, da sie – mit dem „sehr empathisch filmenden“ Kameramann Ingo Behring – die Menschen der FHG begleitete, hätten viele von ihnen frei heraus erzählt, wie die Krankheit plötzlich in ihr Leben trat. Wie alles aus den Fugen geriet, wie sich Mitmenschen, Lebensziele, Gewohnheiten und das Welterleben veränderten. Und wie sie sich „wieder berappelten“. Der Film, sagt sie, sei ihr „zu einer Herzensangelegenheit“ geworden. Sie hofft, dass er zur Entstigmatisierung beiträgt, indem er zeigt, dass „irre sein“ durchaus menschlich ist. Irre – Die Freiburger Hilfsgemeinschaft Deutschlandpremiere im Koki Freiburg: Sa., 14. u. So., 15. März, 19.30/17.30 Uhr

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In der Zwickmühle

Viel Experimentierfreude

(ewei). Margot ist Schauspielerin. Und schwanger von ihrem Kollegen Igor. Doch der ist liiert mit der Regisseurin Mika, mit der die beiden gerade einen gemeinsamen Film drehen. Und da Mika ohnehin zu cholerischen Anfällen neigt, soll sie weder von der Affäre noch vom Zustand Margots erfahren. Diese hält die Zwickmühle indessen kaum aus, ist einem Nervenzusammenbruch nahe und sucht angesichts des akuten Gesprächsbedarfs die Psychotherapeutin Sibyl auf. Die hat freilich keine Lust mehr auf diesen Job, sondern will endlich einen Roman schreiben. Da ihr jedoch noch die richtige Inspiration fehlt, gibt sie schließlich dem Drängen der unabweisbaren Margot nach und hört sich ihren Kummer an. Als sie immer tiefer in deren kompliziertes Leben eintaucht, klappt es plötzlich auch mit dem Schreiben. Die Wege der beiden Frauen trennen sich wieder – bis die verzweifelte Margot Sibyl bittet, ihr bei Dreharbeiten auf Stromboli beizustehen. Was deren Leben auf den Kopf stellt.

(ewei). Zwei ganz wesentliche Elemente im Leben Marie Curies waren ihr unbändiger Forschergeist und ihre enorme Experimentierfreude. Von diesen beseelt, überwand sie sämtliche Grenzen, Hindernisse und Widerstände, die einer Frau zu ihrer Zeit den Zugang zu einem eigenständigen Weg versperrten. Das zeigt Marjane Satrapi – ihrerseits mit großer Experimentierfreude – in ihrem Film, der die wissenschaftliche Arbeit und die berufliche Leistung der zweifachen Nobelpreisträgerin in den Mittelpunkt stellt. Natürlich werden auch wichtige Stationen ihres privaten Lebens gestreift – der Entschluss, wegen des dort möglichen Studiums von Warschau nach Paris zu ziehen, die Ehe mit Pierre Curie, die gemeinsame Forschungsarbeit zur Radioaktivität, sein früher Unfalltod, der Hass, den sie wegen der Affäre mit einem Studenten zu spüren bekommt. Doch sie lassen viel Raum für das Porträt einer willensstarken Frau, für die die Eigenständigkeit ein weiteres wesentliches Lebenselement ist.


DVD Loveless Russland 2017 Regie: Andrey Zvyagintsev Mit: Maryana Spyvak, Alexey Rozin u. a Studio: Alamode Laufzeit: 125 Minuten Preis: ca. 16 Euro

Und wer nimmt den Hund? Deutschland 2019 Regie: Rainer Kaufmann Mit: Martina Gedeck, Ulrich Tukur u. a. Studio: Majestic Laufzeit: 89 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Midsommar USA 2019 Regie: Ari Aster Mit: Florence Pugh, Jack Reynor u. a. Studio: Weltkino Laufzeit: 145 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Vergiftete Beziehung

Es geht auch komisch

Ritualisierter Horror

(ewei). Zhenya und Boris stehen vor den Trümmern ihrer Ehe. Die gemeinsame Wohnung wird verkauft, beide haben bereits andere Partner. Und keiner von beiden will den 12-jährigen Sohn Alyosha in das neue Leben mitnehmen; niemand nimmt dessen Schmerz und Einsamkeit wahr. Als der Streit der Eltern eskaliert, gar davon die Rede ist, wer das teure Internat bezahlen soll, verschwindet Alyosha plötzlich und unbemerkt. Erschütterndes Porträt einer völlig vergifteten Beziehung.

(ewei). Der Klassiker: Nach einem Vierteljahrhundert Ehe mit Doris beginnt Georg eine Affäre mit seiner Doktorandin Laura. Nun stehen die beiden mitsamt zwei Kindern, Haus und Hund vor einem Scherbenhaufen. Doch man will einvernehmlich auseinandergehen. Gütlich und zivilisiert. Also entschließen sich die beiden zu einer Trennungstherapie. Doch schon bald geraten sie in ein Minenfeld der Verletzlichkeiten. Es geht also wohl doch nicht nur um den Hund.

(ewei). Obwohl ihre Beziehung kriselt, begleitet Dani ihren Freund Christian und seine Kumpel in den Urlaub nach Schweden. Sie sind zu einem Mittsommerfestival eingeladen, das eine kleine, abgeschiedene Dorfgemeinschaft nur alle 90 Jahre zelebriert. Die Gäste sind betört von der fremden Welt, die sich ihnen bietet, doch die vermeintliche Idylle und das Happening der Liebe entpuppen sich bald als blutiges Fest, das sich für Dani zu einem regelrechten Alptraum auswächst.

Porträt einer jungen Frau in Flammen Frankreich 2019 Regie: Céline Sciamma Mit: Noémie Merlant, Adèle Haenel u. a. Studio: Alamode Laufzeit: 119 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Systemsprenger Deutschland 2019 Regie: Nora Fingscheidt Mit: Helena Zengel, Albrecht Schuch u. a. Studio: EuroVideo Laufzeit: 120 Minuten Preis: ca. 13 Euro

In Search of Greatness USA 2018 Regie: Gabe Polsky Mit: Muhammad Ali, Pelé u. a. Studio: DCM Laufzeit: 74 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Eindringliche Blicke

Kein Ort für Benni

Mehr als Talent und Training

(ewei). Ein Auftrag führt die Pariser Malerin Marianne 1770 auf eine Insel an der Küste der Bretagne: Sie soll ein Porträt von Héloïse anfertigen, die nach dem Besuch einer Klosterschule für junge adelige Frauen bald verheiratet werden soll. Doch sie weigert sich, Modell zu sitzen, um gegen die von ihrer Mutter arrangierte Ehe zu protestieren. So beobachtet Marianne Héloïse aus der Ferne und malt sie nach Gedächtnis. Doch es bleibt nicht bei Blicken.

(ewei). Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Benni hinkommt, sie fliegt sofort wieder raus. Die Neunjährige ist das, was das Jugendamt „Systemsprenger“ nennt. Dabei will sie nur eines: Liebe, Geborgenheit und zurück zu ihrer Mutter Bianca. Doch die hat Angst vor der Unberechenbarkeit ihrer Tochter. Als kein Platz und keine Lösung mehr in Sicht sind, versucht der Anti-Gewalt-Trainer Micha, Benni aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.

(ewei). Wie wird man der Beste in seinem Sport? Und welche Rolle spielt dabei die Kreativität? Mit diesen Fragen beschäftigen sich in dieser Dokumentation legendäre Sportler wie Pelé, Wayne Gretzky, Muhammad Ali oder Michael Jordan. Dabei wird auch über den Tellerrand des Sports geblickt und Vergleiche zu Musikern wie den Beatles oder Jimi Hendrix gezogen. Denn es geht um Selbstentfaltung, Lebenshaltung und die Vielfalt menschlicher Ausdrucksformen. März 2020 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Überlebenskünstler

O

von Erika Weisser

Foto: © privat

Fatma Sagir will mit ihren Texten auf die goßen Leistungsanteile der Migranten am Aufbau und Zusammenhalt der bundesrepublikanischen Gesellschaft aufmerksam machen. Ihre literarischen Stadtspaziergänge führen unter anderem zum Alten Friedhof.

rte, Dinge, Menschen“ heißt das derzeitige Schreibprojekt der Freiburger Autorin Fatma Sagir. Darin geht es um Erinnerung und Vergessen, um den Zusammenhang von mündlichem und schriftlichem Erzählen. Aber auch um den Blick in die Lebenswelten der „Gastarbeiter“, deren Leistung beim Aufbau der Gesellschaft für Sagir zu wenig sichtbar ist. Und die dabei seien, aus der kollektiven Erinnerung ebenso zu verschwinden wie das heute kaum mehr verwendete Wort. Ein Buch ist in Vorbereitung; vorerst sind die sehr poetischen Kurzprosa-Texte Teil ihrer literarischen Stadtspaziergänge und Lesungen. Für die promovierte Islamwissenschaftlerin und Kulturanthropologin sind solche literarischen Stadtspaziergänge eine Variante der mündlichen Erzähltradition, mit der sie aufgewachsen ist: Fatma Sagirs aus Anatolien stammende Familie lebte immer mit und in Geschichten. Alte, durch aktuelle Geschehnisse bereicherte Volkslegenden und Märchen, Abenteuergeschichten und Schelmensagen, Familienhistorien und Verwandtschaftsklatsch, Dorfnarrative und Regionalchroniken. Beide Eltern, erinnert sich die 45-Jährige, verfügten über einen schier unerschöpflichen Fundus an Geschichten und gaben sie „sehr gerne und sehr wortgewandt“ an ihre fünf Kinder weiter – nicht nur während der in der Nähe von Hannover verbrachten Kindheit. Für die eine oder andere orale Erzählung aus diesem Fundus hat sie erstmals eine schriftliche Form gefunden, etwa bei der Kurzgeschichte „Flüsternd der Wind“. Sie erschien im Sommer 2016 in dem zweisprachigen Magazin „The Freiburg Review“ und wurde von entfernten Verwandten des Vaters überliefert; sie handelt in der Zeit der Armenier-Pogrome in der Türkei und erzählt den Werdegang eines armenischen Kindes, das während der Deportation seiner Eltern von Nachbarn versteckt und vor dem Tod bewahrt

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wurde und dessen Nachkommen bis heute ein Geschäft für Zuckerwerk führen. Ein weiterer Text reflektiert Fatma Sagirs eigene Geschichte: Die Entwicklung der ältesten, noch in der Türkei geborenen und verspätet eingeschulten Tochter einer Analphabetin zur eifrigsten und neugierigsten Bücherleserin der ganzen Schule. Und der nicht weit von der Wohnung gelegenen Stadtbücherei. „Es war das schiere Glück, wenn ich ein Buch in die Hand nahm, darin las, den Duft einsog. Unbeschreiblich. Freiheit. Sehnsucht. Abenteuer. Die Aufregung mit nichts vergleichbar.“ Sie habe, schreibt sie – und erinnert sich –, so viel gelesen, dass ihre Eltern ihr es „manchmal sogar verboten“. Sie thematisiert aber auch – und sehr eindringlich – die jährlichen Reisen in die Türkei, die von oben bis unten mit besten Möbeln und deutschen Haushaltsgeräten ausgestatteten Häuser, die von Sommer zu Sommer vergeblich auf die endgültige Rückkehr der emigrierten Familien warteten. Sie schreibt in „Kein Ort“ über die letzte Reise ihres Vaters, der nur drei Jahre nach dem Ende seiner mehr als 40 Jahre währenden Berufstätigkeit in Deutschland starb und in seiner Heimatstadt beigesetzt werden wollte. Und sie setzt sich mit dem Gefühl des doppelten Verlusts auseinander, das sie nach der Rückkehr empfindet: „Keine Spur von meinem Vater. Als ob er nie da gewesen, hier gewesen wäre, nicht die Mauern der Hochhaussiedlungen der Vorstadt gesetzt hätte. Nie an einer Werkbank gestanden.“ Mit diesen ihre eigenen Erfahrungen spiegelnden Geschichten will Fatma Sagir den „Gastarbeitern“ ein Gesicht verleihen und verhindern, dass deren Einzelschicksale, deren Leben und Lebenszeichen nicht wahrgenommen werden oder mit deren Tod zu verschwinden drohen.

Foto: © iStock/prill

Fatma Sagir macht Lebenszeichen von „Gastarbeitern“ sichtbar


FRezi

Schwarzwald.Blutrot

von Chris Thame Verlag: Gmeiner, 2020 252 Seiten, Paperback Preis: 11 Euro

Die Reisenden

von Regina Porter Verlag: S. Fischer, 2020 380 Seiten, Hardcover Preis: 22 Euro

Mars an Erde

von Jürgen Lodemann Verlag: Klöpfer, Narr, 2020 259 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro

Kruzifix als Mordwaffe

Scharfsinniges Puzzle

Universelle Parallelen

(ewei). Nils Kielsen hat sein Lehrerdasein satt. Diese „Vorhölle aus stimmbrüchig pubertierenden Siebtklässlern“ hält er nur aus, weil sie ihm Zeit lässt, seiner eigentlichen Berufung nachzugehen, im familienfernen Rückzugsgebiet seines Arbeitszimmers Krimis zu schreiben. Inspiration bekommt er gelegentlich von seinen zur besagten Vorhöllen-Altersgruppe gehörenden Töchtern. Als etwa die ältere sich empört, dass sie sich mit dem sozial- und klerikalkritischen biblischen Propheten Amos beschäftigen muss, strickt der Vater daraus eine undurchsichtige Geschichte um Zügellosigkeit und Verderben in der katholischen Kirche. Da wird ein heuchlerischer Priester während der Frühmesse von einem herabfallenden Kruzifix erschlagen. Und während die fiktiven Ermittler in Kielsens noch nicht veröffentlichtem Roman nach dem Täter suchen, geschieht die haargenau gleiche Tat in einem Schwarzwalddorf. Allerdings wirklich. Und mit den gleichen Folgen. Verfasserin des kriminellen Vexierspiels ist eine Freiburger Pfarrerin – Thame ist ein Pseudonym –, die sich in theologiehistorischen und ökumenischen Fragen bestens auskennt. Die von ihrem Wissen jedoch eine Spur zu viel in ihren mit viel Fabulierlust verfassten Erstling gepackt hat. Das macht ihn zuweilen verwirrend. Aber Potenzial hat die Autorin.

(ewei). Anfang der 1960er-Jahre weht Hoffnung auf Aufbruch durch Amerika. Rosa Parks weigert sich, ihren Sitzplatz in einem Bus für einen Weißen frei zu machen. Martin Luther King marschiert auf Washington zu. Das Land ist gespalten, hat aber einen Traum. Der irisch-stämmige James will seine ärmliche Herkunft hinter sich lassen und träumt von einer strahlenden Zukunft als Anwalt. Die schöne, junge Afroamerikanerin Agnes wird auf der Heimfahrt von ihrem ersten Date von einem weißen Polizisten angehalten. Die folgenden schrecklichen Momente lassen sie zweifeln, ob sie überhaupt eine Zukunft hat. Dass sich ihre Wege kreuzen werden, ahnen sie nicht. Von den Civil-Rights-Protestmärschen bis zum Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten Barack Obama entfaltet Regina Porter ein vielschichtiges Panorama der jüngsten US-Geschichte. Dabei verwebt sie diese wechselhafte Geschichte mit dem Werdegang der beiden Familien Vincent und Christie zu einem aus unzähligen Puzzleteilen zusammengesetzten, doch untrennbar miteinander verbundenen Epos. Eine scharfsinnige und tiefenwirksame Erkundung des heutigen Amerika, der Traumata von Rassismus und Ungleichheit sowie der jahrzehntelangen Suche nach Versöhnung – erzählt von einer neuen Stimme der US-Literatur.

(ewei). Zunächst will Frank Brandt nicht reden. Hartnäckig verweigert sich der soeben vom Mars zurückgekehrte deutsche Nasa-Astronaut den Fragen von Marc Hecker, fordert ihn auf, wieder zu verschwinden. Vergeblich. Der Wissenschaftsjournalist ist genauso zäh wie sein Gegenüber: Nun, da er den Marsforscher in den hinteren Reihen des Flugzeugs von Denver nach Berlin erkannt hat, lässt er ihn nicht mehr aus den Fängen. Er will in Erfahrung bringen, warum Brandt und seine Kollegen nach ihrer Expedition streng isoliert wurden. Was sie auf dem Nachbarplaneten entdeckt haben. Weshalb die auf den Informationen unbemannter Raumsonden basierende TV-Serie „Mars News“ plötzlich abgesetzt wurde. Wie Brandt die Flucht gelang und warum seine Familie seither an einem geheimen Ort im Schwarzwald untergetaucht ist. Das Gespräch kommt schließlich zustande. Als Langstrecken-Interview, das den ganzen Roman einnimmt. Meisterhaft zeichnet der Freiburger Autor Jürgen Lodemann das veritable Schreckensszenario eines einst der Erde ähnlichen und durch seine Bewohner zerstörten Lebensortes. Und zieht Parallelen. Buchpräsentation mit Jürgen Lode­ mann, Manuela Fuelle und Walle Sayer: Sonntag, 29. März, 10.30 Uhr, Litera­ turhaus Freiburg, im neuen Format „Heimatkunden“. März 2020 chilli Cultur.zeit 65


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