chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 2/21 10. JAHRGANG

Kultur

JÜRGEN RÖSCH ENTDECKT ROSTIGE RELIKTE

Musik

Festivals

DUO WILLMAN STARTET BELA GURATH ÜBER DEN ENTSCHLEUNIGT PLAN B FÜRS SEA YOU


INTERVIEW

„Unsere Seelen brauchen das“ BELA GURATH ÜBER SEA YOU, SCHLOSSBERG FESTIVAL UND NOTFALLPLÄNE

Optimismus: Wie der Festival­sommer aussehen wird, ist momentan noch ungewiss. Aber noch heißt es, die Hoffnung nicht aufzugeben. Fotos: © Sea You Festival, Schlossbergfest GmbH

von Liliane Herzberg

T

ausende Menschen, eng an eng, feiern, tanzen, trinken. Momentan ist das noch unrealistisch. Finden auch die Freiburger Festivalveranstalter. Wie es mit dem ZMF 2021 weitergeht, wird erst in einigen Wochen beschlos­sen, sagt Sprecherin Hanna ­Teepe auf Anfrage. Christoph Römmler will die Entscheidung fürs I EM Music im Juni treffen. Auch Bela ­Gurath, Organisator des Sea You und Schlossberg Festivals, hat noch keinen konkreten Plan, erzählt er im Interview mit chilli­-Volontärin Liliane Herzberg. Aber er hat ein Ass in der Tasche.

cultur.zeit: Sondern? Gurath: Wir haben Konzepte von 1000 bis 8000 Personen pro Tag vorbereitet. Wenn klar ist, dass das Sea You nicht stattfindet, dann gibt es „Back to Life – präsentiert vom Sea You“ und das hat natürlich ein anderes Mengengerüst. Auch sehr umfangreiche Hygienemaßnahmen, mit Antigen-Schnelltests, jeder, der dann kommt, wird vorher getestet, überproportional ­viele Quadratmeter pro Person, hundert Prozent Open Air. Wir hoffen, dass

cultur.zeit: Herr Gurath, können das Sea You und Schlossberg Festival stattfinden? Gurath: Beides sehe ich zur Stunde nicht. Aber ich sage sie noch nicht ab. Wir haben Alternativformate erarbeitet und warten jetzt die nächsten vier bis sechs Wochen ab, was passiert und welches Signal aus der Politik kommt. Die Mutation ist die große Unbekannte, ich glaube, wir müssen uns noch ein bisschen gedulden. Wir gehen aber nicht von Großformaten aus.

wir wenigstens Ende August, Anfang September noch irgendwas am Markt produzieren können, weil alle unsere Seelen das brauchen. Die Konzepte sind in einer Schublade, und wir warten nur, welche wir aufziehen können.

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„Stand jetzt gehen wir nicht von Großformaten aus“

den den Tunisee bespielen. Beim Sea You Festival ist sonst ein Quadratmeter pro Person die grobe Richtlinie, beim Back to Life kann ich so weit ausdehnen, dass eine Person auf zehn Qua­dratmeter kommt, dann kommt man da eher hin und fragt sich, öh, was ist denn hier los. Beim Schlossberg Festival ist es schwieriger, da ist fast keine Infra­struktur, das ist sehr aufwendig zu produzieren und der Platz ist begrenzt. Es macht keinen Sinn, das in der Güteklasse zu veranstalten, wie die Leute es kennen, und dann sind 200, 300 Leute auf dem Berg. Das ist wirtschaftlich überhaupt nicht darstellbar. Deswegen ist das zur Stunde noch unrealistischer.

cultur.zeit: Was passiert mit den bereits gekauften Eintritts­k arten, bleiben die ­Tickets noch ein weiteres Jahr gültig? Gurath: Wir haben jetzt noch 12.000 valide cultur.zeit: Wie würde das Back-to-­ Tickets und würden die Leute wieder bitLife-Festival aussehen? Gurath: Ich habe mit den umliegenden ten, die umzutauBürgermeistern und der Stadtverwal- schen für nächstes tung gesprochen. Wenn Back to Life Jahr. Das hat ja letzkommt, kann ich an zwei Wochenen- tes Mal schon sehr


Hat einen Plan B: Bela Gurath.

gut geklappt, die Leute waren sehr solidarisch, da hatten wir nur 18 Prozent, die gesagt haben, nee, ich will mein Geld zurück. Und umso schöner wäre es, wenn ich da ein Back-to-Life-Konzept hätte, dann könnte ich den Leuten ein Vorkaufsrecht anbieten. cultur.zeit: Das Line-up des Sea You steht bereits seit 2020. Bleiben die Künstler weiter dabei? Gurath: Wir haben jetzt ja schon Erfahrung, wie man verschiebt, wir haben geltende Verträge und dann redet man mit den Künstlern. Die Masse ist ja auch im Lockdown. Und unser Move war, das ganze Programm ins Jahr 2021 zu ziehen, das hat ja letztes Mal auch schon geklappt. cultur.zeit: Ein Festival in der Größenordnung des Back to Life, lohnt sich das überhaupt? Gurath: Mit 1000 Besuchern pro Tag verdienen wir nichts, aber es ist ein Zeichen an unsere Community, wir kümmern uns um die Seelen unserer Fans und ein bisschen um die Dienst­leister, Zulieferer. Ich habe mich gefragt, ob ich mir den Stress mache für 1000 pro Tag, aber ich will meinen Mitarbeitern zeigen, wir können was machen, auch wenn es eine Art Kindergeburtstag ist. Zur Zukunft des Schlossberg Festivals bin ich im Gespräch mit der Stadt, wir machen ein, zwei Anpassungen, ihr Signal sieht gut aus, dass sie das

KULTURNOTIZEN

cultur.zeit: Könnten Sie sich vorstellen, nur Geimpfte aufs Gelände zu lassen? Gurath: Die Leute, die sich nicht ­impfen lassen, verstehe ich ­persönlich nicht. Ich befürworte Impfungen, kann mir aber nicht vorstellen, dass es in Deutschland zur Bedingung wird. Wenn 60, 70 Prozent durchgeimpft sind, sehe ich nicht die Not­wendigkeit, das zu r­ eglementieren. Ich gehe davon aus, dass wir Ende des Jahres schon wieder viele Freiheiten haben. Ich bin felsenfest überzeugt, dass wir im September mit Biergärten und vollen Res­ taurants arbeiten können.

Die Freiburger Musikhochschule hat Michael Fischer zum 1. April zum Honorarprofessor im Bereich Musikwissenschaft bestellt. Der promovierte Historiker und Literaturwissenschaftler ist seit 2014 Geschäfts­­führender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität.

Fischer wird Honorarprofessor

Neuer GMD am Theater Foto: © Marco Borggreve

Foto: © Till Neumann

unterstützen und honorieren, was wir machen, aber ich will noch nicht konkreter werden.

André de Ridder: Der Beste unter 150 Bewerbern.

cultur.zeit: Was bedeutet ein weiterer Ausfall der Festivals finanziell für Sie und Ihr Team? Gurath: Wir verlieren jeden Monat Geld. Es kommt also drauf an, wie lange der Lockdown ist, jeden Monat türmen sich Gelder auf, ich lebe von meinen Rücklagen, die Hilfsgelder kommen zum Großteil nicht an. Das sind Nebelkerzen, eigentlich ­erbärmlich. Sie haben viel Gutes getan, g­ erade das Kurzarbeitergeld für meine Mitarbeiter, aber für die Wirtschaft ist es zum Teil verheerend. Der Worst Case ist, dass wir zwei Jahre lang nicht am Markt sind, das ist schon brutal. Die Produktionskosten vom Sea You sind fünf Millionen Euro, was davon verloren geht, wissen wir am Ende des Tages. Jetzt kommt die dritte Überbrückungshilfe, da wissen wir nicht, ob es die nächsten Blendgranaten sind? Ich hoffe, dass die Politik versteht, wie wichtig Kultur ist und dass sie hilft, Rahmenbedingungen anzupassen, die es vor Corona nicht gab, offener zuzuhören, was in der Zeit danach helfen kann. cultur.zeit: Herr Gurath, vielen Dank für dieses Gespräch.

André de Ridder soll neuer Generalmusikdirektor (GMD) des Philharmonischen Orchesters am Theater Freiburg werden. Das hat eine Findungskommission des Gemeinderats empfohlen. 150 Kandidaten hatten sich auf die Nachfolge von Fabrice Bollon beworben, der nach der Spielzeit 2021/2022 und dann insgesamt 12 Jahren in Freiburg aufhört. Der gebürtige Berliner de Ridder, derzeit künstlerischer Leiter des Musica Nova Festivals Helsinki, Finnlands größtem internationalen Festival für Neue Musik, stehe „für einen Paradigmenwechsel des gängigen musikalischen Programms deutscher Musiktheater und Konzerthäuser“, heißt es in einer Pressemitteilung. Der Freiburger Spielplan werde sich somit in Zukunft musikalisch auch außerhalb von Europa bewegen, was in den Plänen von Orchestern und Opernhäusern bislang weniger Beachtung fand.

Archive gründen Notfallverbund Kulturgut schützen im Katastrophenfall: Sechs Freiburger Archive haben am 8. März einen Notfallverbund zur gegenseitigen Hilfe im Krisenfall ins Leben gerufen: Bundesarchiv, Landesarchiv Baden-Württemberg, Universitätsarchiv, Zentrum für Populäre Kultur und Musik an der Uni, Erzbischöfliches Archiv Freiburg und Stadtarchiv Freiburg. Ereignisse wie der Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 haben verdeutlicht, dass eine Kultureinrichtung allein solche massiven Schäden nicht bewältigen kann. Die Partner helfen sich in solchen Fällen gegenseitig, das betroffene Kulturgut zu bergen, zu sichern und zu evakuieren und stellen Ausweichdepots zur Überbrückung bereit. Die Partner vereinheitlichen zudem archivspezifische Notfallpläne. bar


KULTUR

Groschengräber am Wegesrand DAS KULTURGUT KAUGUMMIAUTOMAT AUF DEM WEG ZUR RARITÄT

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ei mir um die Ecke hängt noch einer, am Geländer einer kleinen Brücke, auf Augenhöhe – wenn man einen guten Meter hoch ist. Kaugummiautomaten waren früher die Groschengräber der Kinder, an ihnen schliff sich die Erkenntnis, wie schnell doch das Taschengeld weg sein kann. Heute haben manche schon den

maroden Charme von Antiquitäten, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis sie bei „Bares für Rares“ auftauchen. Der Freiburger Fotograf Jürgen Rösch dokumentiert seit Jahren das leise Verschwinden dieser Automaten in seiner Heimatstadt. Und auch er hat sie irgendwie liebgewonnen. Lars Bargmann


Fotos: © Jürgen Rösch

KULTUR

ZUR PERSON Jürgen Rösch arbeitet vor allem für Architekten und Bauunternehmen, für Künstler und Galeristen. Daneben betreibt der 54-jährige Werbe- und Reportage-Fotografie. Und schafft eindringliche Porträts von Menschen. Mehr Info: www.photo-roesch.de

MÄRZ 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 41


DVD Berlin Alexanderplatz Deutschland 2020 Regie: Burhan Qurbani Mit: Welket Bungué, Jella Haase u.a. Studio: eOne Entertainment Laufzeit: 183 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Cronofobia Schweiz 2019 Regie: Francesco Rizzi Mit: Vinicio Marchioni, Sabine Timoteo u.a. Studio: Al!ve Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Jean Seberg – Against all Enemies USA 2019 Regie: Benedict Andrews Mit: Kristen Stewart, Jack O’Connell u.a. Studio: EuroVideo Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Moral oder Existenz

Angst vor der Zeit

Im Fadenkreuz des FBI

(ewei). Francis, ein Flüchtling aus Westafrika, möchte ein guter Mensch sein. Und er hofft, in Berlin Fuß zu fassen – nicht als Drogendealer, sondern als ehrlicher Knochenarbeiter auf dem Bau. Doch die Verhältnisse, die sind nicht so: Sein Chef ist nicht ehrlich, sein neurotischer Freund Reinhold verlangt Gegenleistung für die kostenlose Unterkunft und setzt Francis’ große Liebe Mieze unter Druck. Da bleibt nur wenig Raum für Moral. Deutscher Filmpreis 2020 in fünf Kategorien.

(ewei). Michael ist ein eigenbrötlerischer und offenbar traumatisierter Mann. Ständig in Bewegung und auf der Flucht vor sich selbst, reist er beruflich in einem anonymen weißen Wohnmobil durch die Schweiz. Oft beobachtet er Anna, eine rebellische Frau, die gleichfalls ein tiefes Trauma plagt. Bald entspinnt sich eine eigenwillige Form von Anziehung, die bald in eine zärtlich-verstörende Beziehung mündet, die mit Vorsicht durchzogen und von unterdrückten Geheimnissen geprägt ist.

(ewei). Die Schauspiel-Ikone Jean Seberg ist 30, als sie Ende der 1960erJahre wegen ihrer Beziehungen zur Black-Panther-Bewegung und vor allem zu deren Aktivisten Hakim Jamal ins Visier des FBI gerät. Skrupellose Abhörspezialisten dieser US-Bundesbehörde beobachten sie, verwanzen ihr Haus in Los Angeles, zeichnen ihre persönlichsten Gespräche auf und bringen sie als diffamierende Fake News an die Öffentlichkeit. Und nehmen in Kauf, dass sie und ihre Familie daran zerbricht.

Das letzte Mahl Deutschland 2018 Regie: Florian Frerichs Mit: Bruno Eyron, Michael Degen u.a. Studio: Hamburg Entertainment Laufzeit: 80 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Niemals selten manchmal immer USA 2019 Regie: Eliza Hittman Mit: Sidney Flanigan, Talia Ryder u.a. Studio: NBC Universal Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Vergiftete Wahrheit USA 2019 Regie: Todd Haynes Mit: Mark Ruffalo, Anne Hathaway, Tim Robbins u.a. Studio: Leonine Laufzeit: 125 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Folgenschwerer Tag

Peinliche Befragung

David gegen Goliath

(ewei). Der Film war nur an einem einzigen Tag im Kino zu sehen: am 30. Januar 2019. Nun, zum 88. Jahrestag der Machtübertragung an die Nazis, kam er als DVD in den Handel. Es geht in dem Kammerspiel um die letzte Zusammenkunft einer jüdischen Familie, deren Mitglieder am Abend jenes verhängnisvollen Tages im Jahr 1933 in ihren unterschiedlichen Einschätzungen über die neuen Machthaber in Streit geraten. Gezeichnet wird ein bedrohliches Szenario mit erschreckenden Bezügen zur Gegenwart.

(ewei). Die 17-jährige Autumn ist ungewollt schwanger. Da sie weiß, dass sie in der zum Arbeitermilieu des ländlichen Pennsylvania gehörigen Familie nicht mit Solidarität rechnen kann, entscheidet sie sich für einen Abbruch. Mit ihrer Cousine Skylar macht sie sich auf den Weg ins liberalere New York, zu einer für legale Abtreibungen bekannte Adresse. Hier wird sie in peinlichen Befragungen über ihre sexuellen Erfahrungen in die Enge getrieben. Silberner Bär der Berlinale 2020.

(ewei). Cincinnati 1998: Robert B ­ ilot, ein Wirtschaftsanwalt, legt sich mit dem Konzern an, den seine Kanzlei eigentlich vertritt: DuPont, eines der weltweit größten Chemieunternehmen. Dabei deckt er auf, dass die Firma hochgiftige Abwässer in ein nahe gelegenes Reservoir leitet. Für seine Arbeit an dem sogenannten Tef­lonSkandal wurde Bilott 2017 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Todd Haynes macht daraus einen packenden Wirtschaftsthriller mit ganz eigener Handschrift.

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„Mega Raumproblem“ Musikschule kämpft für eine feste Bleibe von Till Neumann

Foto: © tln

Provisorium: Jürgen Burmeister unterrichtet digital in der Stadthalle.

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ehr als 3000 Schüler, aber kaum eigene Räume. So geht es der Musikschule Freiburg. Vergangenes Jahr feierte sie ihr 70-jähriges Bestehen. Jetzt soll endlich eine feste Bleibe her. Hoffnungen weckt ein Provisorium in der Stadthalle. Doch allzu groß sind die Erwar­ tungen nicht.

Der Laptop auf dem Tisch. Die Posaune daneben. Die Schüler·innen irgendwo in Freiburg am Ende der Leitung. So unterrichtet Jürgen Burmeister an diesem Donnerstagmorgen im März. Der 54-Jährige arbeitet für die Musikschule – in provisorisch eingerichteten Räumen der Stadthalle. Ein paar Pflanzen stehen im Raum, alte Unimöbel zeugen von Zeiten, in denen das riesige Gebäude als Ersatz-Unibibliothek herhalten musste. Seitdem steht es so gut wie leer. 13 Zimmer hat das Rathaus der Musikschule im November zur Verfügung gestellt. Bis Ende Juli können sie dort bleiben. Eine große Hilfe, aber nur vorübergehend: „Wir haben ein mega Raumproblem“, sagt Burmeister, stellvertretender Leiter der Musikschule. Denn der Verein habe außer ein paar Räumen in der Turnseeschule langfristig kein Zuhause. Der Rest des Unterrichts findet dezentral in vielen Schulen im Stadtgebiet statt. Doch auch das ist derzeit unmöglich – wegen des Lockdowns ist der Zutritt zu Schulräumen untersagt. Daher hat Musiklehrer Christian Billian im Oktober eine Protestaktion in der Innenstadt mitorganisiert. „70 Jahre Musikschule Freiburg, wir brauchen endlich unsere

eigenen Räume“ stand auf Flyern, die an Oberbürgermeister Martin Horn adressiert waren. Der Ärger war bei Billian vergangenes Jahr hochgekocht: „Mir ist bei einer Videokonferenz mit anderen Musikschulen der Kragen geplatzt.“ Dort erfuhr er, dass von 90 weiteren Musikschulen keine einzige in einer vergleichbaren Raumnot steckt. Daher ist für ihn klar: Es muss was passieren. Auch Musikschuldirektor Eckhard Hollweg wünscht sich Lösungen: „Diese Situation ist äußerst unbefriedigend und in der Stadtspitze und dem Gemeinderat mittlerweile bekannt.“ Zum einen brauche es ein eigenes Haus zur Verortung und Identifikation der Musikschule. Zum anderen eine rechtlich abgesicherte Nutzung der Räume in den allgemeinbildenden Schulen. Die Hoffnung ist da, in der Stadthalle länger planen zu können. Die Stadtverwaltung schließt das nicht aus, hält sich aber bedeckt: „Ob die Musikschule in das Konzept für eine dauerhafte Nutzung der Stadthalle integrierbar ist, bedarf einer Gesamtbewertung.“ Für Burmeister ist klar: „Wir haben keine Lobby im Rathaus.“ Warum das bei mehr als 3000 Schülern so ist, kann er sich selbst nicht erklären.

Foto: © privat

Foto: © Anja Limmbrunner

Protest: Im Oktober haben die Musiker·innen in der Freiburger City protestiert. Mitinitiatior der Aktion war Christian Billian (rechts). Anzeige

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MUSIK

Musik für morgen DAS DUO „WILLMAN“ MACHT POLITISCHEN ELEKTRO-POP

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von Till Neumann

Newcomer: Felix Birsner und Julia Lauber veröffentlichen seit September in kleinen Häppchen ihr Debütalbum. Fotos: © Willman

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eit September gibt es Willman. Und seit dem Monat veröffentlichen die zwei Musiker aus Freiburg häppchenweise ihr Debütalbum. Die Pop-Songs mit deutschen Texten sind gesellschaftskritisch, sollen Denkanstöße liefern. In ihrem ersten Song lassen sie aber erst mal andere sprechen.

Themen uns beschäftigen“, erklärt ­Lauber beim Zoom-Interview aus ihrer gemeinsamen Wohnung in Freiburg-Kappel. Denn um diese Zukunftsfragen gehe es auch in ihrer Musik. Ein doppeltes State­ ment also: Willman wollen Themen setzen. Und sie wollen Antworten finden. Es geht um Rassismus, vegetarische ­Ernährung, gleichgeschlechtliche Liebe oder Bildung.

Wie soll dein morgen sein? So heißt das erste YouTube-Release von Willman. Sängerin Julia Lauber (22) und Producer Felix Birsner (27) Vom Recording bis zu den Videodrehs überlassen dafür a­ nderen das Wort: 44 Menschen ­haben sie – alles ist selbst gemacht. befragt. Fünf Wochen sind sie Dass Willman auch texten können, dafür „durch Stadt und Land gelaufen“. Entstanden ist ein Potpourri aus kleinen haben sie im zweiten Release gezeigt: und großen Visionen: Ein Kind wünscht „Farben“ heißt die Single, erschienen sich, dass es auch in Zukunft Schnee- im November. „Es ist leicht, anders zu männer bauen kann. Fridays for Fu- handeln, wenn man nicht die Folgen ture-Aktivisten fordern Klimaneutralität. trägt“, singt Lauber. Und zählt noch vieEine ältere Dame hofft auf eine leisere le weitere vermeintlich einfache Momente auf. Dazu gibt’s einen elektroniund langsamere Welt. Warum nicht selbst das Wort ergrei- schen Beat, der federleicht-fordernd fen? „Der erste Song soll zeigen, welche nach vorne geht. Eine Produktion, die


MUSIK im Chorus etwas mehr Raffinesse vertragen könnte, aber im Ohr bleibt. „Tolles Video, tolle Stimme, toller Text“ heißt es in den Kommentaren. Die ersten Fans sind also da. Und Willman wirken für einen Newcomer ziemlich weit. „Eineinhalb Jahre haben wir bis zum Start herumgedoktert“, erzählt Lauber. Die Soziologie-Studentin hat Drummer und Produzent Felix Birsner eigentlich für ihr geplantes Soloprojekt kennengelernt. Daraus wurde dann aber ein Duo. Gemeinsam haben sie seitdem nicht nur Songs geschrieben und aufgenommen, sondern auch jede Menge Marketing-Videos angeschaut und sich ein Release-Konzept überlegt: Nicht alles auf einmal raushauen, sondern scheibchenweise. „So kriegen wir zu jedem einzelnen Song Feedback“, berichtet Birsner. „Einzelne Songs werden sonst oft verschluckt“, ergänzt Lauber. Lange hätten sie gehadert, was der richtige Weg sei. Am Ende war aber klar, es so zu machen. „So können wir jeden Monat darauf aufbauen“, berichten die beiden. Vieles verlagere sich in Pandemie-Zeiten eh auf Social-Media-Kanäle. Bisher mache sich das etwas andere Release bezahlt, finden sie. Follower kämen mit jeder Veröffentlichung hinzu. Und sie können spontan reagieren. So ist jetzt noch nicht klar, was die nächste Single ist – und wie das Video dazu aussieht. Ob es am Ende stattliche zwölf Videos gibt? Auch das wissen sie nicht. „Do it Yourself“ lautet die Devise. Von Aufnahmen bis zu den Videos machen sie alles selbst. Lediglich einmal haben sie einen Kameramann dazugebucht. Jede Menge Geld sparen die beiden so. Müssen aber umso mehr Zeit reinstecken. „Es ist schön, die Dinge in der Hand zu haben und es macht richtig Spaß, sich da reinzufuchsen“, sagt Birsner. Während andere Zehntausende Euro in Albumproduktionen investieren, sind es bei ihnen nur Bruchteile. Dafür spielt ihre Musik aber finanziell noch nichts ein. Über Wasser hält sich Birsner, der mal Musik-Student an der privaten Hochschule Macromedia war, mit Schlagzeugunterricht. Außerdem sind die beiden nebenher als Event­ duo mit Coversongs unterwegs. Als Willman wollen die zwei ihr eigenes Ding aufbauen. Ihre Musik soll Denkanstöße liefern. Wie viel sie damit verändern können? „Wir haben keine endgültige Antwort auf die Frage, wie viel Musik bewegen kann“, sagt Lauber. Nur so viel weiß sie: „Das macht viel mit den Köpfen.“ Über den Tellerrand schauen wollen sie. Menschen connecten und eine Community schaffen. Man gehe nach einem guten Konzert mit einem neuen Gedanken nach Hause, findet Birsner. Radioschnulzen gebe es schon genug. Lieber hören sie Deutschpop von Mine oder Enno Bunger. Bis zum Sommer wollen die beiden alle Songs ihres namenlosen Albums veröffentlicht haben. Dann hoffen sie, es auch mal live präsentieren zu können. Denn bisher haben sie keinen einzigen gemeinsamen Auftritt gespielt. Ob sie dafür überhaupt bereit sind? In einer Woche nicht, sagen sie. Aber vielleicht in zwei.

STECKBRIEF Name: Julia Lauber Alter: 22 Jahre Spezialgebiete: Gesang, Songwriting, Videografie Hört gerne: z.B. Melane/MC Scolar, Mine, Phil Siemers Schaltet aus bei: allen Songs, die bestehende Hierarchien, Machtstrukturen und ismen reproduzieren. Kultur schafft so viel davon, was als „normal“ bezeichnet und empfunden wird. Das inspiriert mich: viel! Um nur mal ein paar tolle Menschen zu nennen: Alice Haruko, Imeh Ituen, die FLUSS Kampagnen, (...)

STECKBRIEF Name: Felix Birsner Alter: 27 Jahre Spezialgebiete: Schlagzeug, Recording/Mixing, Producing, Licht Hört gerne: Mine, Enno Bunger, Sigrid Schaltet aus bei: einer Piccoloflöte Das inspiriert mich: meine Umwelt und Schokolade


Musik

Badisch für Anfänger

Steiner & Madlaina

Roosevelt

Indie/Folk/Pop

Dance / Pop

Wünsch mir Glück

Polydans

Foto: © Lukas Staier

3 Fragen an Cossu Können alemannische Videoclips auf Instagram Klickwunder sein? Zumindest erlebt das gerade der Rapper Cossu aus Haslach im Kinzigtal. Im Interview mit chilli-Volountärin Liliane Herzberg erzählt der 31-Jährige, warum seine Musik dennoch nicht zu kurz kommt. Cossu, wie kam es zu der Idee? Ich hab Tik Tok ausprobiert, weil alle davon geredet haben. Da hab ich gesehen, dass es da so Dialekt-Sachen gibt, das war immer das, was ich gut konnte. Deshalb hab ich aus Spaß zwei Clips hochgeladen, die gingen richtig ab. Es gab halt nichts Vergleichbares davor. Mittlerweile mache ich es vor allem auf Instagram und es trägt sich immer weiter. Am 17. Januar hab ich das erste Video hochgeladen, inzwischen schauen sich im Schnitt 300.000 Menschen die Clips an. Ich verdiene aber kein Geld damit, sondern mache das nur zum Spaß. Bleibt die Musik deshalb aktuell auf der Strecke? Nein, gar nicht, das befruchtet sich ja gegenseitig. Ich habe jetzt eine größere Basis, der ich die Musik zeigen kann, und wenn auch nur ein Teil davon was damit anfangen kann, sind das schon mehr, als es davor waren. Wohin soll’s langfristig gehen: In den Bereich der Comedy oder Musik? Es war immer schon mein Ding, viele Sachen auf einmal zu machen. Die Leute haben oft gesagt, ich soll mich entscheiden. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass das nicht stimmt. Klar muss ich schauen, wie zeitintensiv Sachen sind, aber momentan funktioniert alles parallel. 46 chilli Cultur.zeit März 2021

Tanzbarer Trotz

Elektronische Ekstase

(herz). Auf dem zweiten Studioalbum haben Steiner & Madlaina ihre eigene Stimme gefunden. Live sind die beiden Züricher Künstlerinnen energiegeladen und harmonisch. Diese Dynamik haben sie kurzerhand in das neue Album gepackt. Heraus kamen elf powervolle Tracks auf „Wünsch mir Glück“. Der Indie-Folk-Pop ist nicht länger säuselnd. Stattdessen ist das neue Image des Duos ironisch und angriffslustig: „Zu faul für jegliche Debatten, bleib’ ich bei 40 Grad im Schatten / obwohl ich weiß, wenn wir alle Lust drauf hätten, könnten wir die Welt noch retten.“ Oder: „Damit unsere heile Welt noch eine Weile hält, halten wir uns raus / stellen uns nicht quer, denn unser Staat ist fair.“ Mit „Wenn ich ein Junge wäre (Ich will nicht lächeln)“ arbeiten sie plakativ das Image der Frau auf, in „Prost mein Schatz“ überwinden sie Trennungsschmerz. Die Pandemie scheint dem Duo gut bekommen zu sein. Die Musikerinnen sind erwachsener, reifer und mutiger geworden. Steiner & Madlaina nehmen die Hörer•innen mit in ihre Welt des Widerstands gegen Normen, veraltete Rollenbilder und gesellschaftliche Vorstellungen – statt mit wedelndem Zeigefinger setzen sie dabei auf eingängige und zweistimmige Songs. Gelungener Mix aus Ernsthaftigkeit und Augenzwinkerei.

(pt). Der beste Songschreiber, Sänger und Produzent, der sich je nach einem US-Präsidenten benannt hat, meldet sich zurück. Im Gepäck hat Roosevelt alias Marius Lauber sein drittes Studio­ album Polydans. Die zehn Track starke Scheibe kommt zur Unzeit: Laubers Sound verdient größere Bühnen als Wohnzimmer und WG-Küchen. Der Kölner scheint sich der prekären Lage bewusst: „Time to pretend, It ain’t that hard to carry on”, trällert er auf der ersten Single „Feels Right” über gekonnte Klangkaskaden und samtweiche Synthies. Auch das vom 70er-Jahre Yachtrock inspirierte „Closer To My Heart” und das in den 80ern zu verbuchende „Lovers“ zündet bereits beim ersten Hören und erinnert an Roosevelts gleichnamiges Debüt von 2016 – überhaupt scheint Polydans grelles Neonlicht heller als die kalifornischen Sonnenstrahlen des Nachkömmlings Young Romance: Die Streicher auf „Strangers“ stimulieren zum Schwofen, die blubbernden Beats auf „Signs“ knallen genau an den richtigen Stellen. Polydans wirft nicht nur einen sonnenbebrillten Blick über die Schul­ter­polster. Die Mischung aus Chillwave, Dance und Elektropop transportiert die besten Elemente aus Funk und Disco ins 21. Jahrhundert und schlägt bisweilen sogar futuristische Noten an.


Bausa

Magdalena Ganter

Deutschrap

Artpop

100 Pro

Neo Noir

„Wenn du das Hasch nicht brauchst“ Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Härte und Tragik

Schmetterlinge im Ohr

(mab). 100 Prozent überzeugt das neue Album von Deutschrapper Bausa nicht. Man wird von einem Stil zum nächsten geworfen, was an sich nicht schlecht ist. Die Kombinationen auf dem neuen Album lassen einen aber immer wieder stutzig werden. Harter Rap gemischt mit tragischen Liedern über das oft wiederholte Thema „Last des Erfolgs“. Positiv ist, dass Bausa endlich aus dem „Was du Liebe nennst“-Kreislauf ausgebrochen ist. 100 Pro bricht stark mit anderen Alben und zeigt wieder eine ganz andere Seite mit wesentlich aggressiveren und deutlicheren Rap-Parts des gebürtigen Saarbrückers. Dabei bleiben die Vorab-Single-Releases und Features mit bekannten Deutschrap-Kollegen die stärksten Lieder. Sowohl das schnelle „Centre Court“ mit Rin und Ufo361, die Popsongs „Madonna“ mit Apache 207 und „2012“ mit Juju bleiben im Kopf und in den Playlists. Wie genau aber „NY Whisky Sour“ in das Ganze passen soll, ist nicht ersichtlich. Der Track wäre besser in einer Hotel-Lobby im Loungebereich aufgehoben. Der Rest des Albums bleibt jedoch ein wenig auf der Strecke. Die letzten fünf Songs haben kaum Wiedererkennungswert, was die hohe Qualität der anderen Songs aber ausgleicht.

(tln). Viele Jahre schon ist Magdalena Ganter als Musikerin unterwegs. Einst machte die in Berlin lebende Hinterzartenerin mit alemannischen Texten auf sich aufmerksam. Zuletzt war sie mit ihrem Artpop-Trio Möckemalör unterwegs. Jetzt gibt’s das erste Soloalbum der umtriebigen Sängerin. Neo Noir heißt die Platte. Ganter bleibt sich darauf treu: Sie singt von Freiheit, Aufbruch und Emanzipation in der von ihr gewohnt poetisch-­ frechen Art. „Ich geh jetzt duschen und zwar nackt und nur für mich allein / und ich lieb mich sehr dabei“, trällert sie in der Single „Nackt“. Jede Silbe scheint sie dabei zu zelebrieren. Man fühlt sich an die quirlige Edith Piaf erinnert. Ganter beherrscht die leisen Töne, aber noch besser die lauten. Sie scheut sich nicht davor, die Stimme auch in schrille Lagen zu bringen. Bei jeder SWR3-Charthit-Parade wäre das wohl ein K.O.-Kriterium. Anecken – auch akustisch – ist Programm bei der virtuosen Sängerin, die auch mal in die Tasten haut. Dabei aber auch zerbrechlich und gefühlvoll sein kann. Wer Handgemachtes und liebevoll Um-Die-Ecke-Gedachtes mag, findet mit Neo Noir sicher einige Perlen für besondere Momente. Die Schmetterlinge im Ohr fliegen lassen, das kann die mehrfach preisgekrönte Künstlerin mit Bravour.

Kalter Hund, kalte Sophie, auch die kalte Progression (shame on you) kennt man ja leider. Aber Cold Cases, kalte Fälle? Das sind alte, unaufgeklärte Fälle, die man nach Jahren oder auch Jahrzehnten hervorkramt und die Ermittlungen von Neuem aufnimmt, weil, genau, das Gute soll am Ende siegen, dafür stehen wir immer noch. Also zurück in die Siebziger, nach Bottrop, tiefster Ruhrpott, dort trieb ein Sänger namens Marc André (ob hier eine Verbindung zum deutschen Fußballnationaltorwart ter Stegen besteht, gilt es noch zu klären) sein Unwesen. Unter anderem auch mit der Nummer „Wenn du das Hasch nicht brauchst, (... sondern nur Tabak rauchst, dann bist heute du goldrichtig, wenn dich dein Girlfriend küsst, so dass du happy bist, ist dann das Geld nicht null und nichtig)“. Von einem lauwarmen Schlagerbeat unterlegte hüftsteife Antidrogen-Mucke mit pseudo-sinnigen Anglizismen und Reimen wie „top auf der Party/ smarty“ oder „Teens und Twens/Fans“. Der Mann ist nach wie vor auf freiem Fuß und trinkt sich vermutlich in einem der noch existierenden Büdchen den Ruhrpott und die Siebziger schön. Marc André, gib auf, es ist vorbei, du machst alles nur noch schlimmer. Für sachdienliche Hinweise bitte die 0815-4711 wählen und auf den AB sprechen – wir sind schon unterwegs. Kalt erwischt grüßt Ralf Welteroth


Literatur

Lichtgestöber im Höllental In ihrem zweiten Lyrikband überwindet Marie T. Martin mehr als nur Wortgrenzen

N

von Erika Weisser

Vielfach ausgezeichnet: Die Freiburger Lyrikerin Marie T. Martin begeistert mit ihren klangvollen Sprachbildern, die zum Nachdenken und Assoziieren anregen.

Rückruf. Gedichte von Marie T. Martin Verlag: Poetenladen 2020 96 Seiten, gebunden Preis: 18,80 Euro

48 chilli Cultur.zeit märz 2021

ach knapp 20 Jahren in Leipzig und Köln ist die Autorin Marie T. Martin nach Freiburg zurückgekehrt – mit einem mit viel Liebe fürs Detail gestalteten Lyrikband im Gepäck. „Rückruf“ lautet der Titel des schmalen Buchs, das in den literarischen Feuilletons auf einhellige Begeisterung stieß und ein Vierteljahr nach seiner ersten Veröffentlichung bereits in der dritten Auflage erschienen ist. Über diesen unerwarteten Erfolg empfindet die 38-Jährige „eine tiefe Freude“. „Sehr viel Zeit“ hat sie in den vergangenen fünf Jahren mit dem Schreiben der lyrischen Texte verbracht, die diesen laut FAZ „wegweisenden, womöglich epochalen Gedichtband“ ausmachen. Wie selbstverständlich und doch höchst kunstvoll verknüpft sie darin magische Ereignisse, Träume und Landschaften der Kindheit mit realen Orten, Begegnungen und Abschieden des Erwachsenenlebens. Über eigene Erlebnisse hinausgehend, spannt sie den großen Bogen vom Glück bis zur Trauer, lässt sie die ganze Fülle des Daseins ebenso aufscheinen wie dessen Endlichkeit. Um existenzielle, um alltags- und naturphilosophische Themen geht es in den Gedichten, die wortschöpferische Namen tragen wie „Blaufeld“ oder „Zauderfell“. Sie lesen sich nicht leicht und schnell, verlangen jenen, die das Buch zur Hand nehmen, etwas ab: die Bereitschaft zum Nachdenken, zum Assoziieren, zum Zulassen eigener Empfindungen, zur wiederholten Lektüre, zum lauten Rezitieren. Doch wer sich darauf einlässt, wird mit einer ungewöhnlichen Gedankendichte belohnt, zuweilen auch mit klangstarken Bildern – etwa in dem Gedicht, das Martin ihrem Hausacher Dichterkollegen José F. A. Oliver widmet: Darin tanzen Dämonen „am Fuße des Höllentals, im Lichtgestöber“. Genau dort, in Buchenbach, ist sie selbst aufgewachsen. Und dort, erzählt sie, unternahm sie ihre ersten literarischen Versuche:

Foto: © Alexandra Heneka

Sobald sie „das Alphabet beherrschte“, wurde sie zu einer leidenschaftlichen Leserin fantastischer und abenteuerlicher Geschich­ ten; in der Grundschul-Bibliothek lieh sie sich jede Woche sechs Bücher aus, die sie „regelrecht verschlang“. Dabei entdeckte sie „den kreativen Umgang mit unseren 25 Buchstaben“ und den eigenen Wahrnehmungen von der Welt und verfasste bald selbst kleine Texte. „Ich schreibe, seit ich lesen kann“, erinnert sie sich. Zunächst waren es kurze Geschichten, später, „so mit 13“, begann sie dann mit den ersten Gedichten. Dabei hatte sie „das große Glück“, nicht nur stets von ihren Eltern in ihrem kreativen Tun unterstützt und ernst genommen zu werden, sondern mit ungefähr 15 auch an ein Projekt namens „Jugend schreibt“ zu geraten. Das wurde im damaligen Literaturbüro Freiburg angeboten, für junge Schreibende, die sich mit professioneller Anleitung über ihre Texte austauschen konnten. „Das war ein ganz wichtiger Ort für mich“, sagt sie. Und sie blieb dabei, bis sie zum Studium am Deutschen Literaturinstitut nach Leipzig ging. Während all der Jahre ihrer Abwesenheit hat sie als freiberuflich tätige Kulturvermittlerin an diesem Ort – und in anderen Städten – selbst Schreibwerkstätten geleitet. Das macht sie künftig von Freiburg aus. Und hat natürlich schon ihr viertes Buch im Kopf – mit „kleiner Prosa“.


FRezi

Marseille.73

von Dominique Manotti, übersetzt von Iris Konopik Verlag: Ariadne im Argument Verlag, 2020 400 Seiten, gebunden Preis: 23 Euro

Das Glück meiner Mutter

von Thommie Bayer Verlag: Piper Verlag, 2021 256 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

Lichte Horizonte

von Daniela Engist Verlag: Edition Klöpfer im Kröner Verlag, 2021 200 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro

Rassistische Netzwerker

Erkenntnisreiche Auszeit

Verpasste Beziehungen

(ewei). 1973, gut zehn Jahre nach der Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich, leben viele Algerier in ­Marseille. In Fabriken, auf Werften und im Hafen haben sie eine – nicht besonders gut bezahlte – Arbeit gefunden. Es leben hier aber auch besonders viele Pied-Noirs: Franzosen, die im Ordnungsdienst der Kolonialgesellschaft eine Rolle spielten, die nach dem verlorenen Krieg gegen die Befreiungsbewegung zurückkehrten. Ihren gesellschaftlichen Bedeutungsverlust haben sie jedoch nie akzeptiert. Einige von ihnen sind ausgesprochene Algerier-Hasser – und wurden auch in Marseille Polizisten, kamen in verschiedenen Abteilungen unter. Über verborgene Kanäle knüpfen sie ihre rassistischen Netzwerke mit Gleichgesinnten in- und außerhalb der Behörden. Und bauen entstehende faschistische Organisationen wie den Front National mit auf. Als ein psychisch Verwirrter Algerier einen Busfahrer ersticht, bilden die Pied-Noirs „Komitees zur Verteidigung der Bevölkerung“ und machen Jagd auf die Einwanderer. Als erstes Opfer ihrer Anschläge wird ein 16-jähriger nordafrikanischer Berufsschüler erschossen. Die Polizei verschleppt die Ermittlungen, legt falsche Fährten, erkennt keine antimuslimischen Motive, spricht von „Konflikten unter Glaubensbrüdern“. Ein packender Krimi über die Geburtsstunden des strukturellen Rassismus in Frankreich.

(ewei). Der Schriftsteller Phillip Dorn fühlt sich ausgelaugt. Gerade ist er mit zwei neuen Romanen fertig geworden, in denen es wie immer um kriminelle und andere finstere Machenschaften „besserer Kreise“ der italienischen Gesellschaft ging. Und da er auch den länger zurückliegenden Tod seiner Mutter sowie das Ende seiner langjährigen Beziehung noch nicht wirklich verarbeitet hat, entschließt er sich zu einer Auszeit. Wie fast immer, wenn er sich „vom Roboter in den Müßiggänger zurückverwandeln“ will, fährt er nach Italien: Dort kennt er viele Orte, die bestens geeignet sind zum Flanieren, Schauen, Ausruhen – und zum „ziellosen Denken“. Dort kann er auf den Spuren seiner Reisen mit der Mutter oder der Freundin wandeln. Nicht weit von La Spezia mietet er ein Ferienhäuschen und ist bei der Ankunft überwältigt „von der Schönheit dieses Ortes“. Er richtet sich ein, trinkt Wein mit der freundlichen Nachbarin und lässt seine Gedanken schweifen. Sie schweifen zurück zur unglücklichen Ehe seiner Eltern, zu dem einen Versuch seiner Mutter, „diesen kalten, schweigenden Mann“ zu verlassen – und zu seiner Weigerung, als 14-Jähriger mit ihr nach Italien zu ziehen. Zu ihrer neuen, Glück versprechenden Liebe. Dorn ahnt, dass seine Weigerung nicht nur die Mutter ins Unglück stürzte – das ganze Ausmaß wird ihm aber erst nach seiner Rückkehr klar.

(ewei). Samstagvormittag in Freiburgs Innenstadt. „Alles ist voller Franzosen“, stellt Anne fest. So viele, sinniert sie weiter, habe sie „noch selten auf einmal gesehen“. Dann ist zu erfahren, dass sie Schriftstellerin ist, bereits ihr „ganzes Erwachsenenleben lang“ hier lebt und schon viermal umgezogen ist: „Jedes Mal in eine bessere Gegend.“ Und dass sie niemanden kennt, der weg wolle aus dieser „Grenzregion ohne sichtbare Grenzen“. Sie ist unterwegs zum letzten Musikgeschäft der Stadt, will eine bestimmte CD eines bestimmten Franzosen namens Stéphane kaufen. Dieser geht ihr seit einer zufälligen Begegnung nicht mehr aus dem Kopf. Das Geschäft liegt gegenüber dem neuen Literaturhaus – und plötzlich fallen ihr die Partys ein, die dort, in den Räumen der Alten Uni, einst stattgefunden hatten. Dabei denkt sie auch an ihren damaligen ständigen Begleiter, der nie zu ihrer Liebe wurde. Unversehens fühlt sie sich um Jahre zurückversetzt, in eine Zwischenzeit voller Möglichkeiten, in der sie oft die falschen Entscheidungen traf. Scheinbar wahllos stellen sich Erinnerungen an verschmähte oder verpasste Beziehungen ein – und an das verstörend langwierige Ende ihrer ersten Liebe. Dabei wird deutlich, dass Anne große Schwierigkeiten mit der Liebe hat. Dass sie sich nicht vollständig auf jemand anderen einlassen kann. Nicht einmal auf ihren Mann. Und wohl auch nicht auf Stéphane. März 2021 chilli Cultur.zeit 49


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