chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 4/20 9. Jahrgang

Kunst

Corona-Krise

Literatur

Tom Brane: Leben in Wimmelbildern

Bands und Kinos im Ausnahmezustand

Lesestoff per Kurier


Kultur

Socializer, Influencer, Pöbler Tom Brane, seine Murals, sein Leben

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von Anna Henschel

Staunenswertes in Freiburg: Graffiti von Tom Brane in der Ganter-Unterführung (o.). Vor einem seiner Wimmelbilder am Schwabentor (r.) the artist himself. Fotos: © Rebekka Dold

om Brane hat mit seinen Wandbildern das Stadtbild Freiburgs auf besondere Weise geprägt und Sehenswürdigkeiten geschaffen, vor denen Touristen und Einheimische gleichermaßen anhalten. Interessant ist vor allem, was man nicht sieht. Über ein Leben im Wimmelbild. Wer durch Freiburg flaniert, kommt irgendwann an Tom Brane nicht vorbei. Das von ihm kreierte Fassadenbild am Eckhaus an der Kirchstraße war wochenlang in den Medien, in der Ganter-Unterführung oder auch an einer Hausmauer gegenüber dem Schwabentor – es sind Sehenswürdigkeiten der besonderen Art. Riesengraffiti im kubistischen Stil, sogenannte Murals, die vor Leben, Bewegung und Protagonisten nur so sprühen. Unter dem Titel „To all dreamers following their passion“ feiern Menschen in Senf- und Ockerfarben unter dem Freiburger Himmel, man könnte meinen, Brane habe sogar den „Höllentäler“ abgebildet. Der Blick lässt sich bei diesem Wimmelbild schwer bändigen. „Ein Wimmelbild ist das Leben für mich“, sagt der Künstler. „Ich will nicht nur eine Person zeigen, sondern das, was die Person umgibt und das, was die Person zu dem macht, was sie ist.“ Meist sind die Bilder von einer positiven Stimmung geprägt. „Mir ist es wichtig, dass die Bilder zugänglich sind

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und ich den Menschen damit Freude bereite“, erzählt Brane, dem man das abkauft in seiner Tweedjacke, mit V-Pullover und gemustertem Hemd. Der Wolf wäre aber nicht gefährlich, wenn er nicht im Schafspelz daherkäme. Dahinter versteckt Brane auch schlechte Erfahrungen. „Das ist meine Art der Therapie. Zeichnen ist für mich eine Schutzfunktion gewesen, seit ich Kind war. Das ist eine Möglichkeit, sich eine eigene Welt zu definieren. Sonst wird man gefressen von der Negativität.“ Brane fand kürzlich ein paar Bilder, die er vor über 25 Jahren gemalt hatte. „Die zeigen eher das, was mich umgeben hat in der Zeit.“ Was darauf zu sehen ist und welche Erfahrungen er mit dem „ziemlich heftigen Hintergrund“ seiner Kindheit in München andeutet, möchte er nicht mit Worten ausführen, obwohl er genug davon im Repertoire hat: Sein Erzählfluss ist kaum zu bändigen. Branes Element ist dennoch das Bild. Was er wahrnimmt und erlebt, verarbeitet er irgendwo auf Wänden oder Papier und verfremdet es in „Komponenten“, dem Leitbegriff seines Narrativs. Er speichert ab, was er sieht, formt es neu, lässt weg, fügt hinzu – er komponiert. Im Motiv mögen die Werke gefällig wirken, im Kontext aber will Brane den Rezipienten herausfordern. „Am schönsten ist daran


„Ein bisschen Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ Brane bringt gerne zusammen, was zusammengehört, egal ob als Künstler, Kurator oder Kumpel. „Er kann Leute gut leiten und weiß, wer für was geeignet ist“, sagt Graffiti-Kollege Julian Holm, der ihn seit mehr als zehn Jahren kennt. Damals hatten sie in einem Künstlerkollektiv auf Branes Initiative in einem Shirtshop noch T-Shirts mit ihren Motiven bedruckt. „Er war der Motor für solche Sachen“, erinnert sich Holm. „Er ist mega der Socializer.“ In Branes Augen spiegelt sich die Euphorie dieser Erfahrung, möglicher-

weise garniert mit etwas Wahnsinn, der ihm aus seiner exzessiven Zeit geblieben ist. Das ist inzwischen über 15 Jahre her. Damals öffnete Brane die Tür zu einem neuen Lebensabschnitt, als er seinen Beruf als Grafikdesigner in München an den Nagel hängte und zum Grafikdesign-Studium nach Freiburg ging. Seinen Rhythmus fand er jedoch erst mit der freien Kunst und der Liebe, die ihn seit 18 Jahren erdet. Die Ambivalenz zwischen Genie und Wahnsinn ist eine Aura, mit der wohl jeder Künstler gerne kokettiert. „Es ist ein bisschen wie bei Dr. Jekyll and Mr. Hyde, es gibt das Chaos und die Disziplin, und ich bin beides im Extremen.“ Als Mr. Hyde unterwegs in Unterführungen mit Obdachlosen und Junkies, als Dr. Jekyll zu Gast bei Kulturvertretern wie Hans-Jörg Jenne. Der Fachbereichsleiter Familie, Kultur und Stadtmarketing im Emmendinger Rathaus erinnert sich gerne an den „hervorragenden, bescheidenen Künstler“, der für die „Stadt der Tagebücher“ ein Auftragsdenkmal gegenüber dem Bahnhof geschaffen hat: Das riesiges Mural in leuchtend blauen Farbtönen ist durchzogen von langen Linien, die über die ganze Wand verlaufen und an Lebenslinien erinnern. Eine Liebesgeschichte, Momente aus Kindheitstagen, eine Szene aus der badischen Revolution 1848, Näherinnen einer Textilfabrik verbinden sich zu einem Gewusel aus Erinnerungen, wie man sie im Tagebucharchiv in Biografien lesen kann. Ohne die Medienpräsenz durch die Kirchstraße in Freiburg wäre Jenne vielleicht kaum auf Brane aufmerksam geworden. Auch viele Passanten nicht, mit denen er den Dialog genießt. „Manchmal braucht es jemanden, der charmant pöbelt.“ Ob das in Freiburg besonders viel Spaß macht? Schließlich ist der Herumtreiber nicht umsonst schon fast sein halbes Leben Dauergast in „klein Gallien“, wie er die Stadt nennt, weil deren Bewohner ihn an Figuren aus Asterix erinnern. „Weil sie diesen besonderen Charakter haben“, sagt er. Sie sind ihm ans Herz gewachsen.

Kulturnotizen Teures Museum Die Sanierung des Augustinermuseums wird länger dauern und viel teurer als geplant: Konstruktive Mängel des rund 700 Jahre alten Gemäuers und – infolge von Wasserschäden durch ein undichtes Dach – starker Pilzbefall in allen Bauabschnitten machen langwierige Zusatzmaßnahmen erforderlich. Das Ende der Bauarbeiten – ursprünglich im Jubiläumsjahr geplant, ist nun für 2023 anvisiert.

Foto: © Florian Bilger

das Rätsel, das der Betrachter selbst für sich entschlüsseln muss.“ Spätestens da ist die Maschine in einem Kopf heiß gelaufen. Er will alles auf einmal sagen, die Sprache kommt seinen Gedanken nicht hinterher. In klaren Formen ordnet Brane alles neu, als könnte er mit Kunst korrigieren, was nicht nur im eigenen Leben schlecht lief. „Wenn sich die Gesellschaft durch die Wände verändert, ist das gut.“ Brane nimmt gerne Einfluss. Er ist ein Macher, der mit seinem lausbübischen Charme gerne die Gemüter in Bewegung setzt. Er war Kurator der Graffiti-Jam im vergangenen Herbst in Landwasser, wo 80 Künstler das totgeweihte Einkaufszentrum mit Graffiti gestaltet hatten. „Dann sind die Leute aufgetaucht und haben miteinander geredet. Es ist immer wieder ein Traum, wie die Leute durch solche Aktionen verbunden werden“, schwärmt er.

Die Sanierung des Augustinermuseums kostet kostet nun 89 Millionen Euro, fast 30 mehr als ursprünglich geplant.

Die vorgesehenen Kosten steigen nach derzeitiger Rechnung noch einmal um zusätzliche 16,6 Millionen Euro. Damit wird der jahrelange Umbau des Herzstücks der Städtischen Museen insgesamt 89 Millionen Euro kosten.

Digitales Theater Die Mitarbeiter des Theaters machen weiter – im Homeoffice. Sie lernen Texte, proben Passagen und bereiten sich auf die kommende Saison vor. Seit ein paar Tagen ist das Theater Freiburg täglich um 19.30 Uhr auf Youtube auf Sendung. Das Angebot ist zu finden auf der Homepage www.theater.freiburg.de oder auf youtube unter dem Suchbegriff Theater Freiburg. Auch die Stadtbibliothek ist online: Sie bietet für ihre Nutzer zwei Musik-Streamingdienste auf www.freiburg.de/stadtbibliothek

900 Jahre online Kultur im öffentlichen Raum gibt es derzeit nicht, die für die nächsten Wochen geplanten Veranstaltungen zum Freiburger Stadtjubiläum fallen aus. Die Feierlichkeiten, kündigte OB Martin Horn an, sollen nachgeholt werden. Derweil nutzt die Stadt die Homepage des Stadtjubiläums www.2020.freiburg.de, um den Freiburgern „Kultur- und Bildungsangebote daheim zugänglich zu machen“, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Hier sind digitale Angebote von städtischen Museen, Stadtbücherei, Theater, von Planetarium und Mundenhof sowie der Projektpartner von „Freiburg – 900 Jahre jung“ zu finden. ewei


Kreativ durch die Krise

Foto: © Erika Weisser

Kultur

Freiburger Programmkinos stellen sich auf lange Pausen ein

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von Erika Weisser

Guten Mutes sind die Betreiber der Freiburger Arthouse-Kinos – trotz der vorübergehenden Schließung: Bald sehen wir uns wieder, lautet die ermunternde Botschaft an das Publikum.

Info Bei Interesse an Living Walls: florian.fromm@koki-freiburg.de. Sowohl im Koki als auch bei Ammann (buero@friedrichsbau-kino.de) und im Cinemaxx (https://www.cinemaxx.de/ shop) gibt es Kino-Geschenkgutscheine. Für die Zeit danach.

ie Hiobsbotschaft der Landesregierung traf am 16. März in den Freiburger Kinos ein: Ab sofort, hieß es darin, müssten Lichtspielhäuser und Theater schließen – vorerst bis zum 15. Juni. Die Verordnung war für Ludwig Ammann von den Friedrichsbau-, Harmonie- und Kandelhofkinos ebenso wenig überraschend wie für Florian Fromm vom Kommunalen Kino: Schon am Freitag, den 13. März, hatte das Freiburger Rathaus Veranstaltungen mit mehr als 50 Besuchern untersagt. Zwar wurde die Frist bald darauf wieder verkürzt – bis zum 19. April. Doch Ludwig Ammann rechnet nicht so schnell wieder mit vollen Kinosälen. Er geht sogar davon aus, dass der Betrieb „frühestens im August wieder anläuft“ – also dann, wenn für Kinos ohnehin Sommerflaute herrsche. Und auch danach werde es nur langsam und stufenweise weitergehen; er vermutet, „dass die Leute nur zögerlich kommen“: Viele hätten, solange kein Heilmittel oder Impfstoff gegen das Virus auf dem Markt sei, „einfach noch Angst vor der Gefahr einer Ansteckung“. Bei seiner Prognose verweist Ammann auf die Erfahrungen, die derzeit in China gemacht werden. Dort gab es vor der jüngst erfolgten Wiedereröffnung einiger Kinos eine Marktforschung – mit dem Ergebnis, dass „zwei Drittel der befragten kinoaffinen Bevölkerung“ angaben, abzuwarten, bis die Krise wirklich vorüber sei. Die Besucherzahlen seien dann noch dramatischer gewesen: „Zu den ersten Vor-

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stellungen kam im Schnitt weniger als eine Person“. Selbst bei 15 Besuchern sei es „wirtschaftlicher, das Kino zu zu lassen“, sagt er. Von den Landes-Sofortprogrammen habe er nichts. Im Gegenteil: Diese setzten voraus, dass alle Rücklagen bereits aufgezehrt seien. Wer sich also im Winter für die Überbrückung der immer verlustreichen Sommermonate Mai, Juni und Juli einen ausreichenden Speckgürtel zugelegt habe, werde für sein ordentliches Wirtschaften bestraft. Für die Übergangszeit ohne Einnahmen seien die Mitarbeiter in Kurzarbeit, außerdem hofft Ammann mit Blick auf die fortlaufenden Pachtzahlungen auf eine faire Regelung mit den Eigentümern der Häuser, in denen die Kinos untergebracht sind. Auch im Kommunalen Kino ist man vorsichtig mit Vorhersagen. Zwar steht an der Tür, dass bis 17. Mai nichts läuft, doch sei alles ungewiss, sagt Florian Fromm. Deshalb startet dort jetzt das Programm „Kreativ durch die Krise“. Das bietet die Möglichkeit, Filme von Independent-Verleihen zu streamen, wobei die Einnahmen unter allen teilnehmenden kleinen Kinos geteilt werden. Eine zweite Idee ist es, Nachbarn an Fenstern oder auf Balkonen ein gemeinsames Kinoerlebnis zu ermöglichen: mit der mobilen Projektionstechnik von „Living Walls“, mit der ein Zweierteam – „mit Mundschutz und Abstand“ – Kurzfilme an die Wände zaubert – etwa in Innenhöfen.



Kultur

Weiblichkeit & Lebensfreude pur Daniela Häbig – Kreatives Allround-Talent

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ie sind bunt, rund, sinnlich und voller Lebensfreude: die Frauenfiguren von Daniela Häbig aus Freiburg, die stark an die Nanas der 2002 verstorbenen französischen Künstlerin Niki de Saint Phalle erinnern. Zum Teil lebensgroß, zum Teil nur 20 Zentimeter bis einen Meter hoch, beeindrucken sie durch ihre Fröhlichkeit, Energie und Präsenz.

von Stella Schewe

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„Mich fasziniert das Archaische an diesen Figuren: die Frau, die die Kraft hat, Leben zu schenken“, sagt die Künstlerin. „Hier kommt die weibliche Seite zum Vorschein. Und das Schöne ist: Das Runde ist immer positiv. Der Bauch, der Busen, das darf alles da sein.“ Das gilt auch für die Schwarzwaldmädls – ihre ganz eigene Weiterentwicklung der NanaSkulpturen, mit Bollenhut und Co. Die 51-Jährige lacht und schüttelt ihre Locken. Ihre erste Figur, geschaffen Anfang der 2000er-Jahre, war mit 1,80 Meter so groß wie sie selbst, erinnert sie

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sich: „Sie war wie ein Spiegel für mich, und ich fühlte mich ihr verbunden.“ Entstanden sei dieser Prototyp beim Grundkurs „Nanas gestalten“ in einem Lahrer Frauenzentrum. „Den habe ich besucht und danach war es nicht mehr zu halten. Mir war klar: Das mache ich.“ Ihr Weg bis dahin war alles andere als gradlinig, Häbig lebte vieles aus, sagt über sich selbst: „Ich bin eine Allrounderin.“ Auf die Lehre zur Tapetenzeichnerin folgten eine Schauspielausbildung und

„Das schwingt in mir“ eine Trommel- und Tanzfortbildung in Ghana. Seit 1999 lebt sie zusammen mit ihrem Mann Volker Kantwerg – ebenfalls ein Künstler – als freischaffende Künstlerin in Freiburg. Ihre Figuren entstehen im Atelier der gemeinsamen Wohnung im sechsten Stock eines Hochhauses: Lichtdurchflutet ist es,


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Hat sich mit Nanas einen Namen gemacht: Künstlerin Daniela Häbig. Fotos: © Daniela Häbig, Volker Kantwerg

mit Sicht bis zum Kaiserstuhl, die Wände weiß und hellblau, die Holzdielen am Boden mit bunten Farbklecksen gesprenkelt. Mittendrin eine rot gekleidete Nana, eine von vielen Auftragsarbeiten – wobei „gekleidet“ fast schon übertrieben ist: Sie trägt nur ein knappes Mieder, das ihre Rundungen so richtig zur Geltung bringt. Geformt ist die Schöne aus Hasendraht – für Häbig ein „Zaubermaterial, das sich beliebig biegen lässt“. Darüber kommt Pappmaschee, danach wird die Drahtform mit Bauschaum ausgefüllt und schließlich mit Modelliermasse die Figur herausgearbeitet. „Ich brauche viel Material“, erzählt sie, „allein für diese Frau 23 Päckchen Plastiform“. Nach dem Trocknen an der Luft folgt der Feinschliff: erst mit einer kleinen Schleifmaschine, dann von Hand – ein Arbeitsgang, den Häbig liebt. Ganz zum Schluss kommen die Farben ins Spiel. „Das ist für mich wie eine Belohnung. Dieses Rot zum Beispiel, das schwingt doch in mir.“ Die Künstlerin selbst hat viel von den Figuren, die sie schafft: Ihre Fröhlichkeit und Energie springen im Gespräch förmlich über. Wer sich davon anstecken lassen mag – Häbig gibt Kurse, privat ebenso wie an der Volkshochschule, Vorkenntnisse braucht es dafür keine. Ob Nanas oder Schwarzwaldmädls, ob leuchtende Herzen aus Büttenpapier, „verrückte Stühle“ oder auch mal Hühner und Fische – der Fantasie und Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Auch ihre Trommelkenntnisse gibt sie in Kursen weiter. Kreativ sein bedeutet für sie: In etwas eintauchen und alles andere rundherum vergessen. „Etwas Neues schaffen und damit bei mir ankommen.“

Info www.daniela-haebig.de April/Mai 2020 chilli Cultur.zeit 53


KULTUR

POLITISCHE KONZEPTKÜNSTLERIN „Mit der Kunst der Gesellschaft etwas zurückgeben“

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von Arwen Stock

Das Mobile „Born This Way“ und das inszenierte Fotoshooting „Du steckst nicht in meiner Haut“ der jungen Künstlerin Ellinor Amini. Fotos: © Elinor Amini, Jana Pausenberger

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ie Demokratisierung der Kunst ist ihr wichtig. Ellinor Amini, 27, findet, Kunst sollte nicht nur in Museen, sondern unabhängig von finanziellen Mitteln und Öffnungszeiten für Menschen zugänglich sein. Gesellschaftliche Normen, Frauen und Körper sind die Themen, aus denen sie ihre Inspiration zieht. Vögel, mit Draht umwickelte, hängen an einem Mobile. Bei genauerem Betrachten erkennt man, dass die Origami-Kraniche aus Seiten von Ellinor Aminis iranischem Reisepass gefaltet sind. Damit greift die 27-jährige Künstlerin als Thema ihre doppelte Staatsbürgerschaft auf. Und die Vögel versinnbildlichen in „Born This Way“ die Freiheit in Deutschland. Die Arbeit sollte in der Jahresausstellung des Kulturkreises Emmendingen zu sehen sein. Nun hofft Amini, dass diese im Spätjahr stattfinden kann. In Emmendingen aufgewachsen, studierte sie nach dem Abitur zunächst Textildesign, dann Künstlerische Konzeption und Design in Reutlingen. Mit dem Master in der Tasche zog sie im Sommer 2019 zurück in ihre Heimatstadt. Und machte sich selbstständig als Künstlerin und Designerin. Warum sie auf so einen unsicheren Berufsweg wie den des Künstlers setzt? „Weil es

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aus mir kommt, ich muss das tun“, sagt sie, „ich kann nicht damit aufhören.“ Ihre künstlerischen Spuren im öffentlichen Raum hat sie bereits hinterlassen: „Hidden Sheroes“ lautete der Titel ihrer Masterarbeit. Auf Ablagekästen der Deutschen Post in Leipzig prangen nun die Porträts von Mascha Kaléko, Elisabeth Mann Borgese, Gertrude Bell, Hilla von Rebay, Clara Schumann und Aenne Burda – stellvertretend für viele weitere Frauen weltweit. „Ich finde es ungerecht, dass man Frauen nicht mehr weibliche Vorbilder an die Hand gibt“, betont Amini. Auch, dass ihre Protagonistinnen nicht mehr Anerkennung bekommen haben und bekommen, kritisiert sie – ob als Dichterin oder Seerechtsexpertin und Ökologin, Forschungsreisende, Malerin, Musikerin oder Journalistin. „Ich versuche, Dinge anzusprechen, die oft tabuisiert sind“, betont die junge Künstlerin. In ihrer Konzeptkunst steckt viel Recherche: „Ich bin kein Arzt, ich kann keine Leben retten: Deshalb versuche ich mit der Kunst, der Gesellschaft etwas zurückzugeben.“

Info www.hiddensheroes.de



Kultur

Diese begnadete Gegend Albi Maier, der Schwarzwaldmaler

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lbi Maier und der Schwarzwald – der Maler und seine Heimat – gehören zusammen, sind quasi unzertrennlich. Schwarzwaldhöfe mit tief heruntergezogenen Dächern sind sein liebstes Motiv. Die Inspiration dazu erhält der in Neustadt lebende Künstler in seinem Atelier hoch oben im Feldbergturm, dem höchsten Arbeitsplatz des Landes.

von Stella Schewe

Schwarzwaldhöfe mit tief heruntergezogenen Dächern sind Albi Maiers Markenzeichen. Fotos: © Albi Maier, Steffi Maier

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Der Weg ist beschwerlich: erst vom Parkhaus auf den 1493 Meter hohen Gipfel und dann noch einmal 60 Stufen hoch bis in den vierten Stock des Feldbergturms. Doch die Sicht, die sich von den großen Fenstern aus bietet, ist überwältigend. Bei gutem Wetter bis zu den Alpen, bei schlechtem gerade mal ein paar Meter weit – was Albi Maier nichts ausmacht. „Manchmal reißt der Nebel innerhalb von Sekunden auf. Wenn das Wetter umschlägt, ist es am interessantesten. Dann kann diese Masse von Landschaft und Himmel auf mich wirken.“ Abends, wenn es ruhiger wird, ist er am liebsten auf dem Höchsten im Schwarzwald. „Publikumsverkehr kann

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ich nicht gebrauchen, und untertags ist das Licht auch nicht so schön“, sagt der 67-Jährige, der hier vor allem „Wetterund Stimmungsstudien“ macht. Zu Pinsel und Farbe greift er dann im Atelier in seinem Wohnhaus mitten in Neustadt. Hier finden sich seine Bilder, stehend oder hängend, fast an jeder Wand: hügelige, menschenleere Landschaften in erdigen, gedeckten Farben – von Schwarz

„Manchmal reißt der Nebel innerhalb von Sekunden auf“ über Braun und Grün – bis hin zu cremigen Weißtönen. Im Vordergrund meist ein Bauernhaus, das manchmal auch Maiers Fantasie entspringt. „Viele Höfe sind heute ja modernisiert oder mit Elementen aus anderen Ländern, sei es aus Dänemark oder Italien, verfremdet“, kritisiert er. „Ich male sie dann so, wie sie einst waren, ziehe zum Beispiel das Dach bis zum Boden. Das symbolisiert für mich Bodenständigkeit und Aufgehobensein.“ Das Ursprüngli-


Kultur che, die Eigenarten des Schwarzwalds sind ihm wichtig – die „Entwicklung hin zur Beliebigkeit“ empfindet er dagegen als tödlich. Maier wünscht sich, dass Ruhe aufkommt beim Betrachten seiner Werke, deren Motive oft winterlich sind. „Der Schnee deckt vieles zu, das kommt mir entgegen. Die Bilder sind dann sehr reduziert.“ Den Frühling, in dem alles sprießt und aufblüht, mag er nicht. „Ich brauche etwas Gewachsenes. Die Furchen in Gesichtern von Menschen sind für mich interessanter als glatte Gesichter.“ Schließlich entstünden seine Bilder auch „nicht in einem Zug“, sondern über Wochen oder Monate hinweg. „Malen ist, wie das wirkliche Leben auch, ein Prozess. Manchmal kommen neue Erfahrungen hinzu, dann arbeite ich nach, übermale etwas wieder. Eigentlich sind meine Bilder nie wirklich fertig.“ Wie viele Werke er in seinem Leben geschaffen hat, vermag Maier nicht zu sagen: zwischen 1500 und 2000, schätzt er. Sicher aber weiß er: Ein Tag ohne Malen ist ein verlorener Tag. „Wenn Geburtstage oder andere Unternehmungen anstehen und ich nicht malen kann, dann werde ich nervig.“ Mit 15 Jahren begann er seine Ausbildung zum Maler, war dann als Uhrenmaler tätig und machte sich 1984 schließlich als freischaffender Künstler selbstständig. Sein Atelier am Feldberg öffnet er einmal im Jahr, immer am letzten Septemberwochenende, um seine Bilder

Albi Maier will die Schwarzwald-Eigenarten in Bildern festhalten.

zu zeigen. Seit Kurzem hat er außerdem in Hinterzarten neben der Kirche einen Ausstellungsraum. Immer wieder werde ihm empfohlen, in der Toskana oder der Provence zu malen, wegen des schönen Lichts. „Aber der Schwarzwald ist so eine begnadete Gegend, das reicht mir.“

Info Ausstellungsraum in Hinterzarten Adlerweg 25 www.albi-maier.de

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Musik

„Nicht nur Selbstdarstellung“

4 Fragen an Musiker Max Büttner Alle Konzerte sind abgesagt. Der Schock ist auch eine Chance, sagt Drummer Max Büttner (28). Der Freiburger Popakademie-Student hat die Videoserie „quarantine collaborations“ gestartet. Er findet: Es braucht mehr Miteinander. Herr Büttner, wie hat Sie der Shutdown getroffen? Es sind mega viele Sachen beerdigt worden. Die Planung der nächsten Monate ist total den Bach runter. Aber man muss kreativ bleiben. Die Frage ist, wie man das Problem gemeinsam lösen kann? Ich finde, wir sollten mehr zusammenarbeiten. Das tun Sie mit einer Videoserie auf Instagram ... Genau. Ich finde, es braucht weniger Selbstdarstellung. Daher habe ich mir das Format „quarantine collaborations“ überlegt. Einmal täglich mache ich eine einminütige Recordingsession mit Musikern auf Instagram. Am Abend gibt’s dazu ein Live-Gespräch. Wie sind die ersten Eindrücke? Super. Es ergeben sich viele witzige Sachen. Es gab schon Anfragen für Recordings und Kontakte bis nach Irland und Argentinien. So können die Zuschauer auch sehen, wie es Musikern in anderen Städten und Ländern geht. Sind die Collaborations tagesfüllend? Nein. Die Tage sind ja lang zu Hause. Ich gebe weiterhin Musikunterricht. Jetzt aber per Skype. Das klappt erstaunlicherweise gut. Man kann dem Ganzen auch was Positives abgewinnen. Corona wird die Musikpädagogik mächtig revolutionieren. Die Sessions im Netz: instagram.com/mxbttnr 58 chilli Cultur.zeit April/Mai 2020

„Alles weggebrochen“ Musiker und Veranstalter im Shutdown von Till Neumann

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teigt das Festival Sea You im Sommer? Wann können Musiker wieder auf Bühnen? Wie überstehen sie die Corona-Krise? Solche Fragen können selbst die Betroffenen derzeit kaum beantworten. chilliRedakteur Till Neumann hat sie dennoch gestellt. Seit 20 Jahren lebt Markus Schumacher von und für Musik. Seit der Schule hat der 42-Jährige nichts anderes gemacht. Mit der Band Al Jawala tourt er durch die Welt. Seit einem Jahr hat er mit seiner Agentur Black Forest Voodoo ein zweites Standbein. 20 Bands sind dort unter Vertrag. Die Corona-Krise trifft den dreifachen Familienvater doppelt. Er lebt von Gagen seiner Band und der Organisation von Shows anderer Gruppen. „Mehr als 30 Gigs sind in wenigen Tagen abgesagt worden, die ganze Vorarbeit war für nichts“, erzählt Schumacher. Der Haken seiner Branche: Bezahlt wird nur für gespielte Konzerte.

Die Zeit zur Krisenbewältigung ist knapp: Derzeit ist er auch Lehrer seiner Kinder. „Ich frische gerade nebenher mein Mathe auf“, sagt der Drummer und lacht. Doch die Lage ist ernst: Bis in den Oktober sind Konzerte abgesagt. „Das wird Auswirkungen auf die nächsten zwei, drei Jahre haben“, berichtet Schumacher. Entschädigungen für ausgefallene Konzerte gibt’s nicht. Corona sei höhere Gewalt. Zumal Veranstalter selbst in der Patsche sind. Die Ungewissheit ist groß, merkt Schumacher. Selbst wenn man im Herbst wieder spielen könne, bleibe es schwierig. „Sind die Leute dann in Stimmung für Konzerte? Haben sie das Geld dafür?“ Auf etwa 20.000 Euro schätzt er seine Umsatzeinbußen. Stand jetzt. Eine Band seiner Agentur sind El Flecha Negra. Die Latinos aus Freiburg touren eigentlich fleißig durch Europa. „Jetzt haben wir plötzlich viel Zeit“, sagt Bandleader Tatán González Luis. Das sei gut für die Familie. Doch das Geld ist knapp. 15 Shows sind abgesagt. Der Verlust: etwa 15.000 Euro.

Fotos: © Sea You, Felix Groteloh, Till Neumamnn

Foto: © Samsun Presspicture


Kolumne Gelebt wird von Reserven. „Wir sind sparsam, gehen nicht raus zum Essen“, erzählt der 34-Jährige. Wie er seine Rechnungen bezahlen soll, wenn der Shutdown länger dauert? „Ich weiß es nicht, zum Glück habe ich meine Frau.“ Musik machen kann er trotzdem: Der gebürtige Chilene spielt jetzt täglich für seine Kinder. Auch bei Veranstaltern ist Land unter. Am 18. und 19. Juli soll die Sea You steigen. Ob das klappt? „Ich habe Hoffnung, dass der jetzige Zustand maximal bis Ostern dauert“, sagt Veranstalter Bela Gurath. 100.000 Euro habe er für Marketing ausgegeben. Das Booking sei komplett. Der Vorverkauf gut angelaufen: 14.500 Tickets sind verkauft, 5500 noch zu kriegen. Und das bleibe erst mal so: „Der Verkauf ist in den vergangenen Tagen komplett eingebrochen“, berichtet Gurath. Der Sea-You-Chef sagt: „Bis Mitte Juni muss eine Entscheidung fallen.“ Eine Absage wäre ein Supergau. „Mit dem Booking ist schnell eine halbe Million versenkt.“ Auf den Worst Case will Gurath vorbereitet sein. Ein Plan B sei angeleiert. Was das ist, verrät er nicht. Eine Verschiebung seines MegaElektro-Events am Tunisee scheint schwierig. Möglich sei das hingegen fürs Schlossbergfestival: Es soll eigentlich vom 30. Juli bis 4. August steigen. Einen Ersatztermin vier Wochen später hat er der Stadt bereits vorgeschlagen. Krisenstimmung herrscht auch bei Michael Musiol. Der Jazzhaus-Chef spricht von Verlusten um die 100.000 Euro. Bis Mitte Juni sind alle Konzerte abgesagt. Die Folgeplanungen sind kompliziert, da auch der Herbst ungewiss ist. „Wir haben keine Einnahmen, alles bei null“, sagt der 56-Jährige. Sein 13-köpfiges Team hat er mit Kurzarbeit auf Notbetrieb runtergefahren. Nur vier, fünf Leute seien noch für wenige Stunden da. Ob er die Krise übersteht? „Ich kenne den Gedanken“, sagt Musiol. Trotz Existenzängsten sagt er sich aber: „Das Haus muss gerettet werden.“ Seine Hoffnung ruht auf finanziellen Hilfen der öffentlichen Hand. „Konkrete Zuschüsse, keine Darlehen, die man zurückzahlen muss.“

Angefragt hat er bereits vielerorts. Das Jazzhaus möchte er auch in Notlagen nicht zu sehr verschulden. Eine Idee, Musiker zu supporten, kommt aus dem E-Werk. „Karten kaufen und Gutes tun“, heißt es da. Bis Ende Juni können Tickets für abgesagte Konzerte gekauft werden. Für Preise von 5 bis 100 Euro. „Die Erlöse gehen zu 100 Prozent an Freiburger Künstler*innen, deren Veranstaltungen im E-Werk nicht stattfinden können“, heißt es. Die Aktion zeigt: Not macht erfinderisch. Und solidarisch.

... zum Bierfrevel Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen. Bier geht immer. Bier ist ein Grundnahrungs mittel, deutsches Kulturgut, Weltkulturerbe gar. Gerade deshalb müssen wir aber auch strikt darauf achten, dass unser liebstes Kaltgetränk nicht in falsche Hände respektive Kehlen gerät und unbedingt mit dem nötigen Respekt und Anstand behandelt wird. Die Liste der Straftaten in diesem Zuammenhang ist aber leider lang. Beispiel gefällig? „Hier spricht der Bierkapitän, darf ich bitte mal die Bierbäuche sehen, wohin es geht ist scheißegal, Bier ist international. Mit ziemlich strammem Segel hissen wir die Partysegel ... ob in Sölden oder Arenal ist total egal, ob München, Köln oder Mainz, ein lauwarmes Bier ist besser als keins.“ Noch Fragen? Der Täter nennt sich (un)sinnigerweise Richard Bier und geht absolut skrupellos vor. Wer zum Verzehr von lauwarmem Bier auffordert, dem ist aber nun auch wirklich alles zuzutrauen. Das deutsche Reinheitsgebot gilt auch für Lieder über Gerstensaft. Hier hört für uns der Spaß auf. Aber im Bierkönig, dieser berüchtigten deutsch-mallorquinischen Terrorzelle, sieht man das naturgemäß völlig anders. Dort wird auch lauthals „Geh mal Bier holen, du wirst schon wieder hässlich“ mitgesungen. Unrechtsbewusstsein? Fehlanzeige. Das gibt ne Anzeige. Es grüßt bierselig, Ralf Welteroth für die Freiburger Geschpo

In der Krise: Bela Gurath, Tatán González Luis und Markus Schumacher (v.o.). Eine Absage des Sea-You-Festivals (Foto links) wäre ein „Supergau“.


Musik

Hüte, Wembley und Harmonie The Rehats setzen auf teamgeist und ohrwürmer

von Till Neumann

Ziehen durch: Die vier Freiburger von The Rehats wollen sich von der Corona-Krise nicht vom Kurs abbringen lassen. Ihr Album „Nothing but the Truth“ erscheint wie geplant am 29. Mai.

Corona hat auch die Rehats durcheinandergewirbelt. Am 29. Mai soll ihr Debütalbum erscheinen. Diskussionen, das Release zu verschieben, habe es gegeben, erzählt Bandleader Johannes Stang (Zweiter von links). Doch der Entschluss steht Mitte März fest: durchziehen. Zwölf Songs haben sie auf „Nothing but the Truth“ gepackt. Mit eingängigen Melodien, Wohlfühlgitarren und Mitsingrefrains. „Jede Menge Songs mit Ohrwurmcharakter“, sagt Stang. Sicher ist: Seine Stimme bleibt hängen, obwohl er nie Gesangsunterricht hatte. „Ich weiß nicht, was ich mache, ich mache es einfach“, berichtet der 31-jährige Grundschullehrer und lacht.

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Das Quartett komplettieren Michael Simon am Schlagzeug, Maximilian Steffens an der Gitarre und Nadine Traoré am Bass. Die gebürtige Pariserin ist auch stimmlich dauerpräsent. Meist dezent im Hintergrund. Doch wer die Platte bis zum Schluss hört, entdeckt sie als Leadsängerin auf Französisch in „Monsieur Romantique“. Als Referenzen nennen die Rehats Mumford & Sons, The Kocks oder auch AnnenMayKantereit. Ihre englischen Lieder erzählen von großen und kleinen Momenten: Es geht um Liebe, Freundschaft und Abschiede. Ein Eckpfeiler ist „Nothing but the Truth“. Die Single erscheint am 17. April, ist aber eigentlich ein alter Hut. Schon

Fotos: © Rehats, Marvin Mears

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as Timing ist denkbar ungünstig. Oder doch nicht? In Shutdown-Zeiten bringen The Rehats eine Platte raus. Die vier Freiburger droppen damit nach fünf Jahren ihr erstes Album. Mit Indie, Pop und Folk, der zum Träumen einlädt. Dem chilli verraten die Musiker, wofür ihr Herz schlägt.


Musik 2017 haben die Rehats den Song auf YouTube veröffentlicht. Auch ihre Debüt-EP hieß so. Jetzt gibt’s ihn in neuem Gewand zu hören. Angefangen hat alles mit einem Facebook-Aufruf von Johannes Stang. Als Singer-Songwriter stellte er Solosachen ins Netz und suchte Mitstreiter. Bald war das Quartett zusammengestellt. Mehr als 100 Shows haben sie seit 2016 gespielt und waren unter anderem im Deutschlandfunk zu hören. Das Album bringen sie über das Indie-Label Neil Grant Music Production raus. Fürs Recording haben sie in Köln Produzent Wolfgang Stach getroffen. „Der hat schon mit Bands wie Jupiter Jones gearbeitet“, erzählt Stang. An vielen Details sei dabei geschliffen worden. Ein aufwendiger Prozess, der sich gelohnt hat: „Gut Ding will Weile haben, wir sind sehr zufrieden mit dem Ergebnis“, sagt Stang.

Gleiche Leidenschaft – in jeder Lebenslage Die Releasetour startet im Herbst – wenn Corona das zulässt. Die Laune verderben lassen sie sich nicht: „Wir haben die Leidenschaft für ein und dieselbe Sache“, sagt Maximilian Steffens. „In jeder Lebenslage.“ Auch sein Bandkollege Michael Simon sieht das Kollektiv als Trumpf: „Jeder von uns hat eine besondere Stärke, die er in die Bandgemeinschaft einbringt.“ Das bestätigt Nadine Traoré. Sie findet: „Die Unterschiede fallen weg, wenn wir zusammenspielen.“ Eine eingefleischte Truppe also – mit Ambitionen. Stang hofft auf Festival-Shows und Radioairplays. Ihr fein produzierter Pop ist mainstreamtauglich. Kritiker könnten sagen: zu schmusig. Kanten und Ecken gibt’s kaum. Fans dürften die gefühlvollen Lieder aber in Dauerschleife hören. Denn die Rehats schaffen mit ihrem Debüt ein richtig rundes Ding. Wo sie das am liebsten zeigen würden? Auf dem Southside Festival, sagen die drei Musiker. Traoré denkt schon weiter: „Das Wembley Stadium wäre doch mal ein Anfang.“

Bukahara

True Punch

Folk

Rock/Crossover/New Metal

Canaries in a Coal Mine

Satyagraha

Leichte Schwere

Quietschende Gitarren

(herz). Auch das vierte Studioalbum der Band Bukahara strotzt vor Energie und startet mit einem Lied über die Freude. In „Happy“ besingt das Quartett den Mut, zu tanzen, auch wenn das Leben schwer ist: „And your feet, they keep on moving, even when the nights are cold.“ Die vier Musiker haben tunesische, jüdisch-schweizerische, palästinensische und deutsche Wurzeln. Sie vereinen Vielfalt und Toleranz bereits in ihrem Bandkonzept – durch die sprachliche Variation ihrer Lieder und mit eingängigen Songs wie „Ktir“ oder „Afraid No More“. Auf der anderen Seite sind sie tiefsinnig bis melancholisch und positionieren sich gegen Hass und Gewalt – etwa in „The Vulture And The Little Boy“ oder „Under The Sea“. Darin thematisieren sie Hungerleiden sowie das Ertrinken im Meer: „I had a wife and a little daughter, oh it feels like it was only yesterday when they were washed away by the water.“ Ein gelungenes Werk der Vollblutmusiker, das deutlich mehr Tiefe beweist als die Vorgängeralben. Die deutschen Tracks sind etwas langatmig und lassen vergebens auf den Mitreißer warten, das wird aber vom Mut zu Tiefgang in den anderen Stücken aufgefangen. Bukahara haben mit dem Album und ihrem Wagnis zu gesellschaftskritischen Themen viel mehr als nur tanzbaren Folk entkoppelt.

(herz). Das zweite Album der Freiburger Band True Punch entführt in eine alte, schummrige Kneipe, die Wände voller Plakate von ewig-jungen Rocklegenden, der Tischkicker klebrig, die Toiletten bekritzelt mit Verewigungen. E-Gitarre, Drums und Bass in altbekannter Vereinigung schaffen einen düsteren Sound. Dazu die rotzige Stimme des Sängers und schnell wird klar: Die Stücke der fünf Musiker können nicht leise gehört werden. Erst wenn der Lautstärkeregler auf Anschlag steht, kommt die Wucht der simplen Lines zum Ausdruck. Textlich sind die Lieder nicht besonders scharfsinnig. Es geht um einfache Probleme: In „Trousers“ sucht der Sänger vergeblich seine Hose, in „Bitch“ gibt er sich verletzt und beschimpft eine Frau: „You’re a stupid cow now, B.I.T.C.H.“ und in „DOG 25“ singt er über einen ihm zugelaufenen Hund. Hier besticht besonders der Refrain: „Wuff wuff“. Für Metal-Heads und Freunde energiegeladener Exzesse ist „Satyagraha“ ein augenzwinkerndes Album zum Dampfablassen. Ironisch werden die Problemchen des Lebens auf den Arm genommen. True Punch liefern weder Stoff zum Nachdenken noch verführen sie zum Schunkeln, sondern lassen selbst hartgesottene Headbanger ordentlich außer Puste kommen. April /Mai 2020 chilli Cultur.zeit 61


Literatur Atlas der Weltwunder

Verlag: Kosmos, 2020 136 Seiten, gebunden Preis: 30 Euro

Wissenswertes visualisiert (bar). hat seine 50 spektakulärsten Sehenswürdigkeiten der Welt zwischen zwei große Buchdeckel gepackt, teilweise herrlich illustriert, teilweise nachlässig bis fahrlässig lektoriert. Wenn im Beitrag zum World Trade Center etwa von den „tragischen Ereignissen des 11. September 2011“ geschrieben wird, dann wird der Leser, wenn er nicht schon verärgert ist, auch anderen Informationen – und aus vielen kleinen Informationsbissen besteht der schriftliche Teil des Werks – mit Misstrauen begegnen. Die Auswahl der Weltwunder ist indes nachvollziehbar und gut, weil sie neben Erwartbarem (Oper in Sydney, Eiffelturm, Angkor Wat, Golden Gate, Machu Picchu) auch Überraschendes (Kaninchen- und Dingozaun, Habitat 67 in Montreal, Pentagon (wussten Sie, dass in dem Gebäude 26.000 Leute arbeiten und es sechs Postleitzahlen hat?) oder den weltweiten Saatguttresor auf Svalbard bereithält – die Samenbank für den Weltuntergang. Auch die Internationale Raumstation war Gaszyński ein Kapitel wert. Was ein Dingozaun im Atlas zu suchen hat? Der wurde von 1880 bis 1885 aus zwei Meter hohem Maschendraht auf einer Länge von 5614 Kilometern (!) quer durch den Südosten Australiens gebaut, um die dort grasenden Schaf- und Rinderherden vor Raubtieren zu schützen. Er ist damit der längste der Welt. Nicht das einzig Wissenswerte. 62 chilli Cultur.zeit April /Mai 2020

Lektüre per Wurfpost Kreative Literaturhändler und -vermittler

D

ie Corona-Krise macht auch dem lokalen Buchhandel das Leben schwer. Die Läden sind fürs Publikum geschlossen, Mitarbeiter zu Hause. Aber die Händler sind einfallsreich, liefern per Kurier, bieten persönliche Beratungen am Telefon oder schicken auditiven Lesestoff übers Internet. „Ein Buch ist viel mehr als ein von zwei Einbandklappen umfangener Text“, findet der gerade aus der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung ausgeschiedene Journalist Kurt Kister. Recht hat er: Lesen erweitert den Horizont, regt zum Nachdenken und Weiterlesen an, kann Abenteuer- und Reiselust wecken oder auch stillen, kann die Fantasie so beflügeln, dass Grenzen und Mauern überwunden werden. Der letztere Aspekt ist in den Zeiten verordneter oder selbst auferlegter Ausgangs- und Kontakteinschränkung besonders relevant. Zumal viele Menschen infolge reduzierter Arbeitszeiten, abgesagter Veranstaltungen und der Schließung von Kinos, Theatern, dem Literaturhaus und anderen Versammlungsräumen jetzt auf einmal auch mehr Zeit zum Lesen haben. Und es gibt, wie jedes Frühjahr um die Leipziger Buchmesse herum, jede Menge Neuerscheinungen, die der Lektüre harren. Lesehungrige kommen trotz geschlossener Buchhandlungen und Bibliotheken an diese Bücher heran. Gemäß der Überzeugung, dass Bücher

von Erika Weisser geistige Grundnahrung und die Buchhändler also systemrelevant seien, arbeiten sie im Krisenmodus weiter, um Literaturbegeisterte mit neuem Lesestoff zu versorgen. Dazu haben sie sich einiges einfallen lassen: Sie haben, wie etwa die Buchhandlung zum Wetzstein, nachmittags persönliche Sprechstunden am Telefon (0 76 1/3 39 99) eingerichtet. Sie beraten, nehmen Wünsche und Bestellungen entgegen, leiten diese an die Verlage weiter und koordinieren die Auslieferung der begehrten Ware an die Kunden. Per Post wie bei Rombach (0 76 1/ 45 00 24 00), Vogel (0 76 1/6 72 44) oder Herder (0 76 1/2 71 73 00) oder auch mit dem Fahrradkurier wie bei den kleineren Buch­handlungen Jos Fritz (0 76 1/2 68 77) oder Schwarz (0 76 1/ 7 18 06). Die Lieferung der Bücher, sagt Michael Schwarz, könne sich verzögern: Die Buchhändler, die ja immer nur einzeln vor Ort sind, hätten gerade alle Hände voll zu tun. Doch sie sind froh darüber: Die große Nachfrage hilft ihnen über die Krise. Gute Ideen haben auch die Mitarbeiter des Literaturhauses entwickelt: Gleich nach der Absage der Lesung von Éric Vuillard verschickten sie eine Wurfpost mit einem Link auf eine soundcloud, auf der Auszüge aus seinem neuen Buch zu hören sind: Gelesen von Schauspieler Heinzl Spagl, der den Abend moderiert hätte. Die zweite Wurfpost ist gerade fertig. Sie enthält exklusive Texte der Autoren, die in diesen Tagen dort zu Gast gewesen wären. Sie kommt auf Bestellung ins Haus (info@literaturhaus-freiburg.de).

Foto: © Picture alliance/Uwe Zucchi/dpa

von


Entsetzliches Freiburg

FRezi

TERMITENKÖNIGIN

Ein Nazienkel und sein GroSSvater

N

Foto: © Alexa Geisthoevel

eu ist das Buch nicht. Doch es gehört zu jenen Werken, die auch sechs Jahre nach ihrem Erscheinen eine gewinnbringende Entdeckung sind: Per Leos „Flut und Boden“ ist zugleich eine sorgfältig rekonstruierte Familiengeschichte und ein kluger philosophischer Essay über herrschende Machtverhältnisse und deren unterschiedliche Wirkung auf Individuen mit eigentlich gleichen Voraussetzungen. Ein Teil dieses bemerkenswerten Romans, der 2014 für den BelletristikPreis der Leipziger Buchmesse nominiert war, handelt in „der entsetzlichen Stadt“ Freiburg. Dieser Handlungsstrang nimmt zwar nur wenig Raum ein, doch er erweist sich für den Autor, sein Schreiben und den Verlauf seines Romans als nachhaltig prägend. Denn der Ich-Erzähler ist nicht fiktiv, sein Großvater, ein überzeugter und ziemlich hoch angesiedelter SS-Karrierist, so wenig erfunden wie dessen für Naziparolen überhaupt nicht anfälliger Bruder: Per Leo erzählt die Geschichte seiner eigenen, einst sehr wohlhabenden und hoch angesehenen Bremer Fabrikantenfamilie. Nicht chronologisch, sondern in Kapiteln, die bestimmten Ereignissen zugeordnet sind. Und trotz verwandtschaftlicher Zuneigung und emotionaler Verstrickung mit unbestechlicher Klarheit und der wissenschaftlichen Distanz eines Historikers. Und er lässt keinen Zweifel daran, dass er den Anstoß zu dieser Herangehensweise an komplexe Themen während seines Geschichtsstudiums in Freiburg bekam. Im Wintersemester 1996/97, ein Jahr nachdem er bei der Sichtung des Nachlasses seines Großvaters zu der im Grunde nicht wirk-

von Erika Weisser

von Philipp Brotz Verlag: Klöpfer, Narr, 2020 319 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro

Noch lange nicht zu Ende Unorthodoxe Denkbewegungen: Per Leo

lich überraschenden und dennoch niederschmetternden Erkenntnis gekommen war, nahm der „Nazienkel“ an einem Holocaust-Hauptseminar von Ulrich Herbert teil, dem ebenfalls real existierenden und „damals bedeutendsten Naziforscher der Welt“. Und plötzlich „hielt dieses Studium das einzige Mal alles, was ich mir davon versprochen hatte“: Herbert, schreibt Leo anerkennend, „reformierte unser kirchentagsmäßiges Bild vom Holocaust, indem er ihn von einer monströsen, aber letztendlich einfachen Tatsache (...), die eine Schlüsselstellung in unserem Gefühlshaushalt eingenommen hatte, zu einem hochkomplexen, nur mit größtem Fleiß und geistiger Anstrengung rekonstruierbaren Prozess machte.“ Das Ergebnis von Per Leos geistiger Anstrengung ist dieses erkenntnisreiche Buch, das sehr viel mehr ist als eine autobiografische Familienchronik. In unorthodoxen analytischen Denkbewegungen macht es Entwicklungsprozesse nachvollziehbar – ohne sie jedoch jemals gutzuheißen.

Flut und Boden. Roman einer Familie von Per Leo Verlag: Klett Cotta, 2014 350 Seiten, gebunden Preis: 21,95 Euro

(ste). Sie ist die „Königin der Berliner Lesebühnen“: Für ihre Lesungen wird die Germanistikstudentin Lena vom Feuilleton gefeiert. Ganz anders Paul. 26 Jahre alt, auch er Germanistikstudent, auch er schreibt Texte. Doch im Gegensatz zu Lena ist er überaus schüchtern. Auf einer Lesebühne auftreten? Für ihn unvorstellbar. Die beiden treffen und verlieben sich – doch ihre Beziehung ist von Anfang an alles andere als einfach. „Hinkt die immer so?“, fragt Paul, als er die schöne Lena zum ersten Mal sieht. Sie hat eine halbseitige Körperlähmung, Hemiparese. Paul tut sich schwer damit. Kaum haben die beiden zueinandergefunden, erkrankt Lena an Lymphdrüsenkrebs. Ihre Liebe wird auf eine harte Probe gestellt. „Die Rollen waren klar verteilt. Er hatte stark zu sein.“ Auch, um ihre Geschichte aufzuschreiben, die „noch lange nicht zu Ende“ ist. Dafür muss Paul seinen Ekel vor der Krankheit und den Folgen der Chemotherapie überwinden: Lena hat eine Glatze und ist so blass, dass ihre Adern – wie bei einer Termitenkönigin – unter der Haut durchschimmern. Der in Freiburg lebende Deutsch­ lehrer Philipp Brotz schildert all das in schonungsloser Offenheit. Mit der „Termitenkönigin“ hat er einen starken zweiten Roman vorgelegt: gespickt mit literarischen Zitaten und trotz des schweren Themas voller Humor. April /Mai 2020 chilli Cultur.zeit 63


Literatur Sagenhafter Hotzenwald

von Sandhya Hasswani Verlag: Friedrich Reinhardt, 2020 320 Seiten, kartoniert Preis: 22,80 Euro

Lexikon der Doppelwörter

Oreo

von Fran Ross Übersetzung: Pieke Biermann Verlag: dtv, 2019 288 Seiten, Hardcover Preis: 22 Euro

von Manuela Fuelle Verlag: Derk Janßen, 2020 150 Seiten, broschiert Preis: 18 Euro

Edelsteine im Beerenkorb

Übermütiges Meisterwerk

Oberförster im Liebeswahn

(ewei). „De Beeri-Maa isch zuen üs cho un hätt üs alli Beeri gno“, klagt die kleine Liesel, als die Mutter sie angesichts des leeren Körbchens fragt, wo denn die so mühsam gesammelten Beeren geblieben seien. Und als der Sohn kurz darauf die gleiche Antwort gibt, schickt sie die beiden Kinder zurück in den Wald, um von Neuem Beeren, Wurzeln und Kräuter für das karge Abendessen zu suchen. Als sie aber – gleichfalls mit unerklärlich leeren Körben – in der heimischen Köhlerhütte ankommt, „reute es sie, dass sie ihnen nicht geglaubt hatte“. Die Geschwister dringen derweil immer tiefer in den Wald, finden neue Beeren und treffen ein seltsames Männlein, das den Inhalt ihrer Körbe in Edelsteine verwandelt. Als sie nach einer bestandenen Probe in des Vaters Hütte zurückkehren, sind zwar sieben Jahre vergangen, doch fortan können sie „ohne Sorg und Not“ leben. Der Görwihler Beeri-Maa ist eine der etwa 30 Hotzenwälder Sagengestalten und historischen Persönlichkeiten, die Sandhya Hasswani in ihrem von ihr selbst mit zauberhaften Aquarellen illustrierten Buch zum Leben erweckt. Das akribisch recherchierte Hintergrundwissen zum Heidewiibli, dem Murgtäler Moosteufel, dem Stehli-Fürscht und anderen Figuren macht das Werk zudem zu einem veritablen kulturhistorischen Schatzkästlein.

(ewei). Oreo heißt eigentlich Christine Clark. Ihrer besonderen Beschaffenheit wegen wird sie aber nach den in den USA so beliebten schwarzen Schoko-Cookies mit weißer Cremefüllung genannt: Als Kind einer schwarzen Mutter und eines weißen jüdischen Vaters ist sie irgendwie beides. Der Vater hat die Familie früh verlassen; Oreo wuchs bei ihren schwarzen Großeltern in den Südstaaten auf. Als sie 16 ist, begibt sie sich nach New York, um ihn aufzuspüren – anhand einer Liste mit Hinweisen, die er ihr hinterließ, damit sie ihn einst finden könne. Wenn sie einmal groß sei. Die mit einem Superhirn und einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn ausgestattete Feministin trifft auf einen „Reisehenker“, der anonym Manager feuert, einen sprachlosen Radiomacher und andere schräge Menschen aus unterschiedlichen Milieus. Mit List und ihrem respektlosen, selbst erdachten Kampfsport „WITZ“ besteht sie jedes absurde Abenteuer, besiegt jeden hinterhältigen Angreifer und nähert sich unaufhaltsam ihrem Ziel. Die übermütige Geschichte voller jiddischer Weisheiten und Südstaaten-­ Slang erschien 1974 und war ein Flop; die Autorin (mit der gleichen Herkunft wie Oreo) verstarb 1985. Die posthume Neuauflage von 2000 hat Pieke Biermann nun bravourös ins Deutsche übertragen: Leipziger Buchpreis in der Kategorie Über­setzung.

(ewei). Nein. Die Monika, die man so schön an den Haaren ziehen und die dabei unversehens zu einer Ziehharmonika werden kann, ist in Manuela Fuelles Lexikon der Doppelwörter nicht zu finden. Es wäre ja auch ein Dreifachwort. Bei so manch doppeldeutiger Definition der von ihr ausgesuchten und wohl nur im Deutschen anzutreffenden Wortballungen steht die Freiburger Autorin dem spitzfindigen Sprachwitz von Georg Kreisler, dem Erfinder des besagten Instruments, jedoch in nichts nach. So stellt sie sich etwa vor, dass ein Bedenkenträger jemand sei, der „in städten neben mir herläuft und mir alle bedenken abnimmt“. Oder dass bei der Erhebung der Bettensteuer „betten steuer zahlen müssen, weil sie faulenzer und schläfer unterstützen“. Und dass ein Oberförster ein „herr ober“ sei, „der im zweitberuf förster ist“. Fuelle bleibt indes nicht bei ihren teils sehr erheiternden, teils ins Philosophische tendierenden Definitionen. Beim Oberförster etwa macht sie sich Gedanken, warum es in manchen Großstädten üblich sei, dass „man sich nur mit zwei, drei beruflichen tätigkeiten die miete für eine wohnung leisten kann“. Und beim „Liebeswahn“ schreibt sie eine hintersinnige Abhandlung über diese „schlimme sache“. Ein erfreuliches Buch mit geistreichen Anregungen zu eigenen Überlegungen für neue amüsante Wortspiele.

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DVD Der Glanz der Unsichtbaren Frankreich 2018 Regie: Louis-Julien Petit Mit: Adolpha van Meerhaeghe u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 102 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Pferde stehlen Norwegen 2018 Regie: Hans-Petter Moland Mit: Stellan Skarsgård, Jon Ranes u.a. Studio: cinema+ MFA Laufzeit: 122 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Frau Stern Deutschland 2019 Regie: Anatol Schuster Mit: Ahuva Sommerfeld, Kara Schröder u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 79 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Eigenwillige Methoden

Enthüllte Geheimnisse

Der letzte Wille

(ewei). Lady Di, Edith Piaf, Brigitte Macron: Die Besucherinnen des „L’Envol“, einem Tageszentrum für wohnungslose Frauen, tragen prominente Namen. Doch dieser einzige Ankerpunkt ihres prekären Alltags steht vor der Schl ießung. Zu seiner Rettung bleiben den Sozialarbeiterinnen und ihren Schützlingen nur drei Monate. Dabei entwickeln sie ganz eigene Wege und Methoden – mit ungeahntem Schwung, kleinen Tricks und witzigen Schwindeleien: Alle Mittel sind erlaubt …

(ewei). Als Trond in das kleine Dorf im Wald zieht, sucht er nur die Einsamkeit. Doch dann erkennt er in einem Nachbarn seinen Freund aus Jugendtagen wieder, holt ihn die Vergangenheit ein: Plötzlich sind da die Erinnerungen an jenen Sommer, als Trond 15 Jahre alt war und mit seinem Vater mehrere Wochen beim Holzfällen im Wald verbrachte. Der Sommer, in dem er mit einem Freund „Pferde stehlen“ spielte, er die Liebe entdeckte und Geheimnisse ans Licht kamen.

(ewei). Frau Stern hat viel gesehen in ihrem Leben. Viel geraucht hat sie, viele Männer geliebt, die Nazis überlebt, ein Restaurant geführt. 90 Jahre ist sie – und findet, dass es nun Zeit ist, aus der Welt zu gehen. Als all ihre diesbezüglichen Versuche scheitern, soll Enkelin Elli eine Waffe besorgen. Doch Elli bringt Frau Stern dem Tod nicht näher – im Gegenteil. Geistvolles Kino, das mit Respekt und Humor von der letzten Entscheidung eines Menschen erzählt.

Die glitzernden Garnelen Frankreich 2019 Regie: Maxime ­Govare & Cédric Le Gallo Mit: Nicolas Gob, Alban Lenoir u.a. Studio: Salzgeber Medien Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Dunkel, fast Nacht Polen 2019 Regie: Borys Lankosz Mit: Magdalena Cielecka, Rafal Mackowiak u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 111 Minuten Preis: ca. 13 Euro

A Rainy day in New York USA 2019 Regie: Woody Allen Mit: Timothée Chalamet, Elle Fanning u.a. Studio: Filmwelt Laufzeit: 92 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Mit allen Wassern

Düstere Spurensuche

Mit allen Wassern

(ewei). Nach homophoben Äußerungen im Fernsehen wird der V ­ izeSchwimmweltmeister Matthias Le Goff von seinem Verband zu einem besonderen Job verdonnert: Er muss eine schwule Wasserball-Mannschaft trainieren und für die Gay Games in Kroatien fit machen: die glitzernden Garnelen. Doch denen geht es weniger um den bevorstehenden Wettkampf als vor allem darum, miteinander auf einer glamouröse Reise eine schillernde Zeit zu haben. Überbordend chaotisches Road-Movie.

(ewei). Wegen einer Reihe mysteriöser Kindesentführungen kehrt die Reporterin Alicja Tabor nach langer Abwesenheit in ihre Heimatstadt zurück. Während ihrer eigenmächtigen Ermittlungen gerät sie unerwartet auf die Spur zu dramatischen Ereignissen, die Jahrzehnte zurückliegen. Bald sieht sie sich selbst einer düsteren, kaum fassbaren Bedrohung ausgesetzt. Erinnerungen an schockierende Geschehnisse in ihrer eigenen Kindheit werden wach – und lassen sie nicht los.

(ewei). Woody Allen schickt die Zuschauer ins moderne New York und präsentiert ein vergnügliches und gelegentlich melancholisch angehauchtes Märchen um junge Menschen und die Liebe – und natürlich über das New York, das nur in Allens Filmen existiert: Alle seine über die Jahrzehnte erdachten und gedrehten Werke zeigen einzelne Facetten der Stadt, immer wieder neu und faszinierend. Hier kommt eine weitere hinzu, und sie ist so bittersüß wie ein Manhattan-Cocktail. April /Mai 2020 chilli Cultur.zeit 65


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