chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 3/21 11. JAHRGANG

FreiRäume 2021 – eine Kulturkarawane VOM 7. – 9. MAI

Subkultur

Musik

Literatur

GELDSEGEN FÜRS POPBÜRO

BEAT-BASTLER SAMMELT MILLIONEN KLICKS

DEUTSCH-SPANISCHE DIALOGE AM STAMMTISCH


KULTUR

Endlich wieder aufdrehen: Das Nachtleben in Freiburg wartet auf einen Neustart. Aus dem Gemeinderat gibt‘s dafür eine Finanzspritze.

Subkultur im Aufwind

JUBEL ÜBER NACHTMANAGER, VEREIN GRÜNDET SICH

P Foto: © pixabay.com/Free-Photos

aukenschlag in der Kul­ turkrise: Der Freiburger Gemeinderat gibt grünes Licht für eine deutliche Erhöhung des Budgets für das Popbüro. Damit soll Freiburg unter ande­ rem eine(n) Nachtmana­ ger·in bekommen. Getrom­ melt dafür hatte auch die IG Subkultur, die zum Verein wird.

Kaum war die Nachricht da, be­ gann das Spekulieren. Wer könnte die oder der Nachtmanager·in wer­ den? Ein Freiburger Portal nannte zehn Namen. „Die Debatte ist eine Frechheit“, sagt Markus Schillberg von der IG Subkultur. Viel wichtiger sei, erst einmal das Stellenprofil zu erarbeiten. Die Debatte zeigt: Der Jubel ist groß über die unverhoffte Stelle. Die IG Subkultur hatte 25.000 Euro für den Posten gefordert. Die JUPI-Fraktion erhöhte das Budget jedoch auf 70.000 Euro – und fand mit Grünen und SPD/Kulturliste eine Mehrheit. Damit gibt es zu den 25.000 Euro für den Popsupport Tilo Buchholz weitere 70.000 Euro 38 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL/MAI 2021

von Till Neumann obendrauf. JUPI beantragt, damit eine neue Stelle zu schaffen, die das Popbüro um Buchholz ergänzt. Die IG Subkultur verbucht den Er­ folg auch für sich. Zuletzt hatte die Inte­ ressengemeinschaft konkrete Forde­ rungen erarbeitet und dafür ein Netzwerk aufgebaut: Gemeinsam mit den Initiativen „Kultur Rettung Frei­ burg“ und „Kulturgesichter0761“ haben sie die Kultur­agenda 2021 entwickelt. Darin fordern sie unter anderem vom Rathaus zusätzliche Freiflächen für Events, eine Plattform für Room-Sha­ ring, die Stelle des Nachtmanagers und die Wiedereinrichtung der Stabsstelle Veranstaltungsmanagement. Letztere soll die Organisation von Veranstaltun­ gen vereinfachen: „Das war bisher im­ mer ein Dschungel, ein Hin- und Her­ geschiebe zwischen den Ämtern“, sagt Johannes Lutz von der IG Subkultur. Es fehle eine Task Force mit festen An­ sprechpartner·innen. Ob der Nachtmanager den Trubel um den Späti hätte verhindern kön­ nen? „Er ist kein Allheilmittel“, sagt Schillberg, der sich mit dem Thema intensiv befasst hat. Dennoch hätte eine solche Stelle etwas bewirken können.

Die IG Subkultur möchte wach­ sen: Für Juni steht eine Vereinsgrün­ dung an. Schillberg erhofft sich mehr Handlungsfähigkeit. Dank fes­ tem Personal, einem eigenen Konto und dem Vereinsstatus. Möglich sei­ en beispielsweise Klagen gegen städ­ tische Auflagen. Bisher hätten sie das nur als Privatpersonen machen können. „Die IG Subkultur war sehr lose“, sagt Johannes Lutz. Flache Hie­ rarchien wolle man zwar beibehal­ ten, aber mit dem Verein Leute und Initiativen zusammenbringen, die bis­ her eher nebeneinander als mitein­ ander gearbeitet hätten. Zugesagt ist ein runder Tisch mit dem Rathaus und Szenevertreter·in­ nen am 23. April. Lutz und Schillberg hoffen auf Kulturevents im Sommer: „Corona kann für die Bewegung so­ gar eine Chance sein“, finden sie. Jetzt könne man Forderungen zu Freiflächen stellen, die vorher un­ möglich gewesen seien. Auch JUPI-Stadtrat Sergio Pax begrüßt die Bündelung von Kultur­ initiativen: „Lange gab es nix, jetzt ganz viel, ich bin happy damit“, sagt Pax. Vielleicht könnte sich sogar ein Dachverband entwickeln.


THEATER

Dramatisches Ende eines Irrwegs EIN MUSIKTHEATER ÜBER DAS ENGLÄNDERUNGLÜCK AM SCHAUINSLAND von Erika Weisser

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m Morgen des 17. April 1936 brechen 27 Schüler in Begleitung eines einzi­ gen Lehrers zu einer Wan­ derung von Freiburg über den Schauinsland nach Todtnauberg auf – in kur­ zen Hosen, leichten Halb­ schuhen, dünnen Jacken, ohne Kopfbedeckung und mit wenig Proviant, von Jugendher­ berge zu Jugendherberge. Die Jungs, zwischen 12 und 17 Jahre alt, sind tags zuvor aus London angereist, um den Schwarzwald zu erkunden und sich vor Ort ein Bild zu machen von dem Land, das sich mit dem ihren noch nicht im Krieg befindet.

Foto: © Julia Kneuse

Die als Abenteuer und Bewährungs­ probe gedachte Bergtour wird jedoch bald zu einer desorientierten Tour de Force durch teils hüfthohen Neu­ schnee, Nebel und Finsternis. Und der Lehrer ist weder durch Wettervorher­ sagen oder Warnungen von Einheimi­ schen noch durch anhaltendes Schnee­

Kommando Himmelfahrt inszeniert: Thomas Fiedler (l.), Jan Dvorak und Julia Warnemünde

treiben zur Umkehr zu bewegen. Auch dann nicht, als er mit seinen Schützlin­ gen nach stundenlangen Irr- und Um­ wegen erst in der Dämmerung unter­ halb der Kappler Wand ankommt: Er zwingt sie, sich über diesen steilen Auf­ stieg zum Schauinslandkamm hinauf­ zukämpfen. Von den nun folgenden Gescheh­ nissen zeugen heute ein Denkmal und ein Kreuz auf dem Berg und eine Ge­ denktafel an der Hofsgrunder Kirche. Deren Abendgeläut hören die verirr­ ten Schüler nämlich und gehen dem Klang nach – auf der Suche nach Zu­ flucht und Rettung für die Kollegen, die entkräftet und unterkühlt im Schnee liegen bleiben. Fast alle Hofs­ grunder Männer machen sich sofort auf den Weg, doch für fünf Jugendli­ che kommt ihre Hilfe zu spät. Von den Geschehnissen und den Folgen berichtet auch eine soeben er­ schienene historische Dokumentation von Bernd Hainmüller, der seit 20 Jah­ ren zu diesem Thema forscht. „Tod am Schauinsland“ heißt das Buch, in dem der ehemalige Lehrer und Lehreraus­ bilder zu dem Schluss kommt, dass die Ursache der Katastrophe „eine gerade­ zu groteske Mischung“ aus bodenlo­ sem Leichtsinn, mangelnder Ausrüs­ tung, fehlender Ortskenntnis, fehl­geleiteter Pädagogik und Ehrgeiz war. Die 2016 zunächst als Broschüre ver­ öffentlichten Recherchen des Freibur­ gers fasste damals Kate Conolly, Deutschland-Korrespondentin des „Guardian“, in einem Artikel zusam­ men – und diesen las die Londoner Theaterautorin Pamela Carter. Sie beschloss, daraus ein Theater­ stück aus der Sicht der Kinder zu ma­ chen, begann ihrerseits zu forschen und nahm Kontakt zu Hainmüller auf. Er führte sie im Sommer 2017 an die Orte des Geschehens. Mit von der

Partie war auch Rüdiger Bering, da­ mals neuer Chefdramaturg am Thea­ ter Freiburg. Er und der gleichfalls neue Intendant Peter Carp waren bei ihrer Suche nach bühnengeeigneten lokalen Stoffen über den Suhr­ kamp-Theaterverlag auf Carters Vor­ haben aufmerksam geworden und mit ihr in Kontakt getreten. ANZEIGE

Sie waren sich bald einig: Pamela Carter schrieb ihr Stück „Schauins­ land. The Misfortune of the English“ als Auftragswerk fürs Freiburger Thea­ ter. Und da diese laut Bering „wunder­ bar vielstimmige und poetische Text­ fläche“ sich „weniger als Schauspiel denn als perfektes Libretto für zeitge­ nössisches Musiktheater“ erwies, suchten sie einen passenden Kompo­ nisten. Und fanden ihn in Jan Dvorak vom Hamburger Musiktheaterkollek­ tiv Kommando Himmelfahrt. Er ver­ tonte das Stück und entwickelte es zusammen mit seinem Kollektiv-Kolle­ gen, dem Regisseur Thomas Fiedler, zu einem „Mysteriösen Hör- und Bil­ dertheater“. Daran beteiligt sind ein Sprecher, eine Sängerin, ein Ensemble mit sechs Kindern, ein Streichquartett, mehrere Schlagwerke und ein E-Bass. Nach Auskunft von Dramaturgin An­ nika Hertwig geht es dabei um die „Darstellung der vom Äußeren beein­ flussten inneren Prozesse der Gruppe und der Einzelnen, untermalt von at­ mosphärischer Musik“ – und in engli­ scher Sprache. Die Uraufführung war Mitte April vorgesehen – zum 85. Jah­ restag der Tragödie. Sie findet nun am 19. Juni statt. Im Großen Haus. APRIL/MAI 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 39


KULTUR

Warten auf das Publikum NEUN FREIBURGER KULTURKÖPFE IN IHREN LEEREN SÄLEN

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eere Konzertsäle, leere Kinos, leere Thea­ ter. Vielen schlägt das auf den Magen. Auch der chilli-Redaktion. Nicht nur, weil unser Kulturkalender weggebrochen ist. Doch wie geht es den Macher·innen des Freiburger Kulturprogramms? chilli-Foto­ grafin Julia Rumbach hat sie an ihren gäh­ nend leeren Wirkungsstätten getroffen

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und fotografiert. Danach sollten sie mit einem 140-Zeichen-Tweet auf das eigene Foto reagieren. Wir lesen nicht nur Ent­ täuschung aus den Gesichtern und Texten. Hoffnung und Optimismus sind den neun Kulturmenschen offenbar nicht abhanden gekommen. Till Neumann

Fotos: © Julia Rumbach

Foto: © iStock.com/aerogondo; Illustration: pixabay; Montage: Tatjana Kipf


KAPITELKOPF Was ich denke, wenn ich dieses Foto sehe: Ein Ort, der sonst mit Leben, Kunst und Menschen gefüllt ist, strahlt eine eigenartige Einsamkeit aus, wenn all diese Dinge fehlen.

Manuela Kowatsch E-Werk

Was ich denke, wenn ich dieses Foto sehe: Alles wie gehabt. Einziger Lichtblick: Die Novemberhilfe ist da. Wetten, dass dafür die Sündenbock-Schließung noch lange nicht endet?

Ludwig Ammann Harmonie & Friedrichsbau Lichtspiele

Was wir denken, wenn wir dieses Foto sehen: Wir bleiben im Theater weil hier: • keine einfachen Antworten zu finden sind • Gesetzmäßigkeiten auf den Kopf gestellt werden • kulturelle Teilhabe für alle möglich ist

Sonja Karadza & Alexander Lepach Theater im Marienbad

APRIL/MAI 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 41


KULTUR

Was ich denke, wenn ich dieses Foto sehe: Schade, dass ich momentan der einzige Gast sein darf! Habt noch etwas Geduld, dann ist es wieder so weit und wir präsentieren ein buntes & vielfältiges Programm.

Michael Musiol Jazzhaus

Was wir denken, wenn wir dieses Foto sehen: Es stimmt uns traurig, in einen leeren Saal zu blicken. Aber wir bleiben, trotz des harten Jahres, zuversichtlich und freuen uns auf unsere Künstler·innen und unser Publikum.

Magdalena Schweizer & Regina Leonhart Vorderhaus 42 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL/MAI 2021


KULTUR

Was ich denke, wenn ich dieses Foto sehe: Traurigkeit, weil die Hallen nicht mit Menschen gefüllt sind und wir diese Momente vermissen ... Zuversicht, weil diese Momente wieder zurückkommen werden!

Daniel Strowitzki Sick Arena

Was ich denke, wenn ich dieses Foto sehe: Dynamisch warten! Aktiv sitzen! Entschlossen schlafen! Seit 392 Tagen. Ein zuvor nie dagewesenes Tiefenerlebnis.

Sévérine Kpoti Slow Club


MUSIK

Ein Mann, 1000 Beats DER HIPHOP-PRODUCER BE FRANKY GENERIERT MILLIONEN AUFRUFE

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von Till Neumann

Bastelt Beats und lebt davon: Vincent Franck alias Be Franky. Der 27-Jährige lädt täglich einen Oldschool-HipHop-Beat auf seinen YouTube-Kanal und bekommt dafür viel euphorisches Feedback. Foto: © privat

eats, die in die Golden Era des Rap katapul­ tieren. Das macht der HipHop-Produzent Be Franky. Der 27-jährige Freiburger hat rund 1000 Instrumentals veröffentlicht und wird dafür im Netz gefeiert. Seine Devise: Ackern, wenn andere feiern gehen. Die fast 50.000 YouTube-Follower danken es ihm. HipHop war Liebe auf den ersten Hit: „Als ich mit zwölf in meinem Zimmer saß, kam auf big-fm eine 2Pac-Sendung“, erin­ nert sich Vincent Franck. „Ab da war ich gecatcht.“ Der 27-Jährige lebt in Frei­ burg-Hochdorf und hat sich als „Be Franky“ einen Namen gemacht. „Ich ver­ suche, den Vibe der Golden Era of Hip­ Hop der East Coast einzufangen“, sagt Franck. Gemeint sind die 90er-­Jahre, als Acts wie Nas, Notorious B.I.G. oder Jay-Z die Charts stürmten. Schon mit 14 Jahren probierte er sich mit Beats aus. Doch erst Kanye West brachte ihn 2014 richtig zum Producing. Auf YouTube sah er, wie Leute mit Samp­ le-Maschinen und Schallplatten Instru­ mentals machten. 2015 startete er durch –

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parallel zu einem Lehramtsstudium in Deutsch und Geschichte, das er mittler­ weile mit einem Master abgeschlossen hat. Seit 2016 hat er rund 1000 Beats ge­ macht. Vor allem mit dem PC, aber auch mit der legendären Sample-Maschine Akai MPC und einem Plattenspieler. Am Anfang saß er bis zu zehn Stunden an einem Werk. Heute sind es im Schnitt noch zwei. „Der Workflow automatisiert und routiniert sich mit der Zeit selbst“, erklärt Franck. Seine Frequenz ist hoch: Seit zwei Jahren lädt er alle zwei Tage einen Beat auf seinen YouTube-Kanal „Be Franky“. Seit einem halben Jahr gibt’s sogar täglich einen frischen Beat. Franck ist über­ zeugt: „Egal wie viel Talent jemand hat, wenn er nicht bereit ist, hart zu arbeiten, wird je­ mand mehr Erfolg haben, der weniger Talent hat, aber dafür härter arbeitet.“ Die Samples für seine Produktionen fin­ det er in alten Soul-, Jazz- und Funksongs. „Ich werde oft von Leuten auf YouTube ge­ fragt, wo ich sie herhabe“, erzählt Franck. Seine Antwort: „Musik ist überall.“ Er ent­ deckt sie im Tatort-Soundtrack, im Aufzug als Hintergrundmusik, beim Feiern in einer


Bar oder in alten Nintendo-Spielen. Um zu wissen, was läuft, hat er eine Tracking-App auf dem Smartphone. Sie erkennt Melodien und zeigt ihm die Songtitel an. Für Franck ist der Job auch harte Arbeit: „Man kann nicht nur darauf hoffen, dass einen die Inspiration überkommt.“ Manchmal müsse man sie auch erzwingen. „Wenn der erste Versuch nichts ist, ein paar Änderungen vornehmen und noch mal probieren.“ Was Be Franky anders macht als der Rest? Franck zitiert einen Kommentar unter einem seiner Beats: „Literally the exact timbre of 90s New York. Killed this.“ Wenn man Instrumentals wolle, die einen in die 1990er katapultierten, finde man sie bei ihm. In Freiburg ist er dennoch nur wenigen ein Begriff. Im Netz ist das anders: 49.800 Abonnenten zählt sein YouTu­ be-Kanal, mehr als zwei Millionen Aufrufe hat seine Pro­ duktion: „(free) Mobb Deep x Wu Tang Type Beat | Frontin (ft. nigma)“. Wie der Titel zeigt, ist der Beat angelehnt an den Sound der Raplegenden Mobb Deep und Wu Tang.

YouTube-Algorithmus macht jeden Upload zur Wundertüte So viele Leute zu erreichen, ermöglicht ihm, Geld zu ver­ dienen. Details nennt er ungern, nur so viel: Sein Einkom­ men generieren Beatverkäufe auf seiner Website befranky. beatstars.com und YouTube-Werbung auf seinem Kanal. Als er dort einem anderen Beatmaker kürzlich Lob aussprach, antwortete dieser: „Appreciate that, coming from the one and only! You have been an inspiration for time bro!“ Franck freut das: „Das ist schon cool, wenn man in der Szene be­ kannt ist und als Inspiration für aufstrebende Beatmaker dient.“ Nebenher arbeitet Franck in einem Fitnesscenter. Der Schlüssel zum Erfolg ist für ihn „konsistente Arbeit“. Seit mehreren Jahren gehe er am Wochenende nicht mehr feiern: „Wenn andere um 11 ins Bett gehen, gehe ich an den PC und arbeite.“ Nervig findet er das nicht. Im Gegen­ teil: „Wir können froh sein, in einem Zeitalter zu leben, in dem wir mit dem Internet quasi mit jedem Menschen auf der Welt in Verbindung treten können.“ Ärgerlich findet der Freiburger lediglich den unbere­ chenbaren YouTube-Algorithmus: „Manche Videos ver­ selbstständigen sich, andere unerklärlicherweise nicht.“ Somit sei jeder Upload eine Wundertüte. Seine Devise lautet dranbleiben: „Mit jedem hochgeladenen Video ver­ größere ich meine Chancen auf einen potenziellen Hit.“ Mehrere seiner Instrumentals haben Hunderttausende Aufrufe oder mehr. „Hätte ich nur 20 Beats auf meinem Channel, wäre das vermutlich nicht der Fall.“ Für ihn gleicht das einem Glücksspiel: „Wenn du 1000 Lottoschei­ ne kaufst, ist die Wahrscheinlichkeit zu gewinnen höher, als wenn du nur fünf Stück kaufst.“ Schon 2015 hat Be Franky eine Compilation mit Rap­ pern aus den USA, der Karibik, aus Australien und Großbri­ tannien gemacht. Anfragen für Zusammenarbeiten be­ kommt er immer wieder. Oft lehnt er ab, sein YouTube-Kanal gehe vor. Der Produzent sieht Vorteile im Ackern ohne Team: „Andere Leute haben oft nicht den gleichen Ehrgeiz. Wenn man von diesen abhängig ist, wird es schwierig.“

FreiRäume 2021 EINE KULTURKARAWANE

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reiburg wollte 2020 sein 900-jähriges Stadtju­ biläum feiern. Doch aufgrund der Corona-Pan­ demie mussten die meisten Veranstaltungen abgesagt werden. Auch die FreiRäume2020. Im Mai nun soll die Veranstaltung nachgeholt werden. Vom 7. bis 9. Mai sind Bewohner und Besucher zu einer außergewöhnlichen Stadtrauminszenierung einge­ laden: FreiRäume 2021 präsentiert zwölf besondere Freiburger Orte, die von regionalen Künstler·innen, Per­ former·innen, Theatermacher·innen, Tänzer·innen und Musiker·nnen auf sehr unterschiedliche Weise bespielt und in Szene gesetzt werden. Die Bandbreite reicht von kurzen szenischen Perfor­ mances und Textlesungen über Theater, Tanz und Artis­ tik bis hin zu Clownerie und traditionellen Tänzen. Die Freiräume für unterschiedlichste Darsteller machen Stadträume neu erlebbar – die Inszenierungen variieren von ganz klein bis groß. Die Zuschauer werden an drei Tagen in zwei „Kunst­ karawanen“ auf einer zweistündigen Route zu zwölf be­ sonderen Orten in Freiburg geführt. Dort erleben sie außergewöhnliche Stadtrauminszenierungen und kön­ nen Freiburg von seiner kreativen, bunten und räumlich atmosphärischen Seite entdecken. In geführten fußläufigen Touren steht die historische Geschichte Freiburgs im Kontext von „damals und heu­ te“. Die beiden „Kunstkarawanen“-Routen sind inhalt­ lich unterschiedlich gewichtet. Es wird auch eine barrie­ refreie Tour angeboten. FreiRäume 2021 ist eine Veranstaltung der Stadt Frei­ burg, die von Pro Kultur e.V. in Zusammenarbeit mit Freiburg-Living-History durchgeführt wird. Karten sind über Reservixx und die Vorverkaufsstelle der BZ erhältlich. Coronabedingt ist die Gruppengröße begrenzt. mos

INFO FreiRäume 2021 – eine Kulturkarawane Stadtrauminszenierung Freiburg Termin: 7.– 9. Mai 2021 , Uhrzeit: 19 Uhr Veranstaltungsort: diverse FreiRäume2021 APRIL/MAI 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 45

Foto: © Pro Kultur e.V./ralfburon

KULTUR


MUSIK DISARSTAR

Klarinette trifft HipHop

DEUTSCHER OKTOBER Rap

DJ BROWNCAT

DEEP-MOTIONS EXPERIMENTAL HOUSE VOL 1 Deep House

Foto: © Micha Frank

3 FRAGEN AN Detechtive

Gangster in Birkenstock

Süßes Sommerfeeling

Klassische Instrumente mit modernen Sounds verbinden. Das möchte die Freiburger Musikerin Mirja Maier alias Detechtive. Die 24-Jährige hat gerade ihre erste EP „Case N° 1“ rausgebracht. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann spricht sie über musikalisches Schnüffeln und Songwriting.

(herz). Disarstar ist mit seinem fünf­ ten Studioalbum zurück. Schon im Intro feuert der Rapper gegen ande­ re Musiker seines Genres. Auch die restlichen zwölf Tracks auf „Deut­ scher Oktober“ bleiben unheilvoll. Eine Portion Klassenkampf liefert der Hamburger in „Nachbarschaft“ – der Slogan „aus der Gosse zum Millionär“ ist ihm zu platt, er ist Retter der Schwachen – oder er­ klärt ihnen zumindest die Welt („Sick“): „Soll’n ma’ die anderen wähl’n geh’n / Als ob die Misere sich ändert / Dein Chef hat ’n Lambo und zahlt dir 8,50, wer ist hier Gangstеr?“ Ein bisschen Block darf mit „24/7“ nicht fehlen. Aber auch die Weltenretter brauchen hin und wieder einen kleinen Ego-Push („Tsunami“): „Disarstar, der Krie­ ger, Integrität, solang’ ich die Stim­ me erheb’ / Ich kenne das Ziel und ich finde den Weg.“ Der bekennende Marxist ist trotz Rapper-Attitüde politisch in der lin­ ken Ecke zu verorten. Die Beats bal­ lern, die Texte ebenfalls: Gerrit Fali­ us, wie der Musiker mit bürgerlichem Namen heißt, hat eine Drogenab­ hängigkeit und kriminelle Karriere hinter sich. Dass er aber geschickt weiß, daraus Konsequenzen zu zie­ hen, zeigt er auch auf Deutscher Oktober wieder. Feurige Tracks für graue, uninspirierte Pandemietage.

(herz). Es ist eine Wohlfühl-Gedan­ kenwelt, in die DJ Browncat & Blackzas neues House-Album „Deep-Motions Experimental House Vol 1“ entführt: Die plaudernden Stimmen vieler Men­ schen mischen sich ineinander. Es ist warm, lauer Wind weht, und der Schein vieler Lampions erhellt die Area. Langsam erklingen sanfte elek­ trische Töne, es folgt ein Beat, einzelne Menschen tanzen. Nach über einem Jahr Verzicht sind das beinahe verges­ sene Welten – die zwei Produzenten haben es dennoch geschafft, sie mit ihrer Platte einzufangen. Sozialarbeiter, Buchautor, Tonkünst­ ler: Der Freiburger DJ Browncat, der mit bürgerlichem Namen Muthivhi Khathutshelo Moses heißt, ist ein ech­ tes Multitalent. Mit Deep-Motions Ex­ perimental House Vol 1 bringt er be­ reits sein zweites klangliches Werk auf Streamingportalen an den Start. Die 14 Tracks sind rein instrumen­ tal, es gibt keine großen Aufreger. Stattdessen verbleibt die Musik auf ihrer gemütlich wabernden Frequenz. Alle Lieder haben eine Länge zwi­ schen fünf und sieben Minuten, das Album wirkt dadurch nach hinten raus etwas langwierig. Ein bisschen mehr Wumms hätte aus der abendli­ chen Idylle vielleicht doch noch eine durchzechte Nacht gezaubert. Für das erste sommerliche Grillevent ist die Platte dennoch geeignet.

Sie verbinden Klassik mit Pop. Wie kam’s dazu? Ich habe vor 15 Jahren angefangen, Klarinettenunterricht zu nehmen. Auf der Klarinette habe ich neben Jazz und Klezmer hauptsächlich Klassik gelernt. Während des Studiums ist mir aufgefallen, wie wenig die Klarinette in der Popmusik vertreten ist. Also habe ich begonnen, über HipHop und Pop zu improvisieren. Sie haben alles selbst produziert. Wie entstehen die Songs? Ich schreibe und komponiere am Klavier, an der Gitarre oder direkt in Ableton. Meistens improvisiere ich und entdecke dabei eine coole Melodie oder Akkordfolge, die ich dann „weiterspinne“. Thematisch drehen sich meine Songs um Dinge, die mich persönlich beschäftigen. Das sind persönliche, aber auch gesellschaftliche Themen. Wem schnüffeln Sie als Detechtive hinterher? Vor ein paar Jahren hatte ich die Idee für den Namen. Damals meinte ich aus Witz, dass es cool wäre, wenn sich ein Techno-Act Detechtive nennt und im Detektiv-Outfit auflegt. Als mein Projekt kam, dachte ich: Hey, warum nehme ich ihn nicht selbst? Man könnte sagen, dass ich immer auf der Suche nach neuen Genre-Kombinationen bin. Ich suche nach Hinweisen in bisher da gewesener Musik und verbinde sie zu etwas Neuem. 46 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL/MAI 2021


KOLUMNE KINGS OF LEON

YOUSSOUPHA

Southern/Alternative Rock

Rap

WHEN YOU SEE YOURSELF

NEPTUNE TERMINUS

... aus der Geschmacksquarantäne Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth normalerweise fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Gemeinsam im Club

Punchlines aus dem All

(kuhl). Auf das Album „When You See Yourself“ der Kings of Leon mussten Fans fünf Jahre warten. Schon vor der Pandemie fertig, zögerten die vier Künstler ein ganzes Jahr und haben Anfang März ihre achte Studioscheibe veröffentlicht. Auf Mitgröllieder wie „Sex on Fire“ warten Musikliebhaber aber vergeblich. Insgesamt gibt es nur wenige Lieder für große Konzertsäle. Das Album gibt einem vielmehr das Gefühl, mit den drei Brüdern Caleb, Jared und Nathan Followill sowie de­ ren Cousin Matthew Followill privat im Wohnzimmer oder in einem klei­ nen Club zu sitzen. Ruhige, melodische Stücke durch­ ziehen die elf Tracks. Unterstützt durch experimentierfreudige Synthe­ sizer-Einlagen, wirken die Stücke eher introvertiert und intim. Sie er­ zählen von unerfüllten Sehnsüchten, dem Wunsch nach Geborgenheit. Es geht um Demenz, eine Banditenjagd und den Klimawandel. „Golden Restless Age“ und „Echoing“ sind die beiden Stücke, die am meis­ ten Beat haben. Alle anderen plät­ schern ein bisschen vor sich hin und sollen wohl nachdenklich machen. „When you see yourself, are you far away? Is it night or day? / When it co­ mes to you, if you reach the moon can I be there, too?“ Keine Festivalkracher, aber sicherlich ein Album mit Potenzi­ al für laue Sommerabende.

(tln). Mit 41 Jahren und sechs Alben kann sich der französische Rapper Youssoupha zu den HipHop-Veteranen zählen. Sein neues Album „Neptune Terminus“ (Endstation Neptun) unter­ streicht eindrucksvoll, dass er noch im­ mer ein Meister seines Fachs ist. Mit den 14 Tracks bleibt er seinen Wurzeln treu: Politischer Straßenrap trifft auf melodisch-afrikanische Sounds und RnB-Balladen. Autotune ist hier genauso zu finden wie eine Piano­ nummer für seinen Sohn. „Mon Roi“ (Mein König) zählt zu den Highlights der Platte. Genau wie das tiefschür­ fende „Interstellar“ mit dem Schrift­ steller und Rapper Gaël Faye. Wer einem wortgewandten Poeten zwischen frechen Punchlines und raf­ finierten Wortspielen auf Französisch folgen kann, dürfte an den Lyrics die pure Freude haben. Doch auch ohne der Sprache mächtig zu sein, können Rapfans einige Perlen entdecken. Youssoupha träumt im mächtigen „Astronaute“ (Astronaut) von der Rei­ se ins All, disst in „Soolar pleure“ (Soo­ lar weint) den Labelchef, der ihm sag­ te, er sei MC Solaar in schlecht, und hat mal wieder jede Menge Weishei­ ten im Gepäck: „Tas pas besoin de contredire un con, attends un peu il le fera lui-même“. Du musst einem Idioten nicht wiedersprechen, warte einfach ein bisschen, dann tut er es selbst.

Da aber die Geschmackspolizei die letzten Wochen im ostereierharten Lockdown respektive in der Geschmacksquarantäne verbrachte und somit nicht ermitteln konnte, zeigen wir dieses Mal, wie man sich einen Sounddreck selber macht. Das ist vom Prinzip her recht einfach. Man benötigt dazu nur ein Stück schlechte Musik (bevorzugt zu finden im Radio auf Antenne Brandenburg, SWR 4, Foxradio Burscheid oder auch Radio Paloma), zwei Ohren (am besten die eigenen), eine Prise Anstand, etwas gesunden Menschenverstand, den Teil des Gehirns, in dem sich der Geschmackssinn befindet, und zu guter Letzt argloses Papier, auf dem man die Gefühle während des Hörens niederschreibt und dabei in geeignete Worte fasst. Falls man gerade keine geeigneten Worte findet, dürfen es auch ungeeignete sein, eigentlich sind alle Worte erlaubt, auf keinen Fall aber dürfen sie einem fehlen. Den Text ungefähr eine Stunde oder einen Tag liegen lassen. Fertig. Die Sache ist natürlich nicht ganz ungefährlich. Kinder, Schwangere, labile Personen, aber auch sanfte Gemüter sollten besser die Finger davon lassen, das lehrt uns zumindest die Erfahrung. Für alle andern gilt aber: Der erste eigene Sounddreck entschädigt für die Mühen und Schmerzen, die er vermutlich verursacht hat. Vielen Dank für Ihre Hilfe – arbeitslos grüßt Ralf Welteroth


LITERATUR

Weltliteratur am Stammtisch BEI DER TERTULIA FREIBURG WIRD ZWEISPRACHIG GELESEN UND DISKUTIERT

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von Erika Weisser

Tertulia: Der zweisprachige literarische Stammtisch findet in Kneipen, Bars, Cafés oder Gemeindesälen statt – oder ganz zwanglos mit Picknick im Park. Foto: © Tertulia Freiburg

INFO www.tertuliafreiburg.de

ertulia Freiburg ist ein junger und kleiner, doch sehr aktiver Verein: In den fünf Jahren seines Bestehens haben die etwa 20 Mitglie­ der mehr als 50 kulturelle und gesellschafts­ politische Treffen und Veranstaltungen orga­ nisiert – vorwiegend literarische. Regelmäßig kommen sie zusammen, um sich klassische und moderne spanischsprachige Literatur zu erarbeiten und sich darüber auszutauschen. Und oft laden sie dazu international bekann­ te Autoren ein. Unter den Gästen war etwa der vor einem Jahr verstorbene Priester und Dichter Ernesto Cardenal. Anfangs trafen sie sich bei einem Glas Wein in Kneipen – entsprechend ihrer his­ torischen Vorbildern: Als Tertulia, sagt die Vereinsvorsitzende Yaosca Padilla de Roth­ mund, bezeichnet man die künstlerisch intellektuellen Stammtische in Bars und Cafés, die vor etwa 100 Jahren in Spanien und Lateinamerika sehr verbreitet waren. Im Lauf der Zeit hatten diese Freiburger Tertulias jedoch so viel Zulauf, dass sie in Gemeindesäle oder Versammlungsräume befreundeter Hausgemeinschaften ver­ legt wurden. 50 bis 60 Leute, sagt sie, sei­ en bei den letzten literarischen Treffen vor dem Lockdown dabei gewesen, und „nicht immer die gleichen“. In Freiburg, schätzt sie, gibt es über 5000 Menschen, die Spanisch sprechen, oft

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auch als Zweit- oder Drittsprache. Über den Tertulia-Newsletter würden etwa 300 Leute aus 15 Ländern erreicht. „Das ist nur in einem Einwanderungsland möglich, dass so viele Nationalitäten in einer Stadt zusammenkommen“, findet die Lehrerin, die aus Nicaragua stammt. Dieser Interna­ tionalismus, erzählt sie, habe den Vorstand des seit 2020 eingetragenen Vereins dazu bewogen, ein interkulturelles Projekt an­ zugehen: Literatura y Migración. Nach Padilla de Rothmunds Angaben dient es „dem Austausch über Migrati­ onserfahrung mithilfe literarischer Wer­ ke“ und wird von „bwirkt!“, einer Landes­ stiftung für entwicklungspolitische Inlands­ ­ projekte, finanziell gefördert. Vor­ aussetzung: Die Hälfte der Teilnehmer müssen Deutsche sein. Denn außer um Literatur soll es auch um die Vermittlung der Tatsache gehen, dass „jeder Mensch mit Einwanderungsgeschichte außer sei­ ner Herkunft noch viele andere und ganz eigene Identitätsmerkmale hat“. Beim Projekt werden auch die Werke „Volverte Palestina“ von Lina Meruane und „Vallejo“ von Cervantes-Preisträger Sergio Ramírez gelesen, der aus seiner Zeit in Berlin erzählt. Dann wird zweisprachig in verschiedenen – virtuellen – Treffen mit den Autoren und dem renommierten Übersetzer Lutz Kliche diskutiert.


FREZI

ANGRIFF AUF DIE DEMOKRATIE

von Andre Wolf Verlag: edition a, 2021 200 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

YPSILONS RACHE

von Lou Bihl Verlag: Unken Verlag, 2020 287 Seiten, Hardcover Preis: 22 Euro

VOM LETZTEN TAG EIN STÜCK

von Ute Bales Verlag: Rhein-Mosel, 2021 246 Seiten, gebunden Preis: 19,80 Euro

Das enthüllte Unterwandern

Kristian oder Kristina

Verwundete Landschaft

(bar). „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Zusammenspiel von rechts­ populistischen politischen Führern mit einem rechtsextremen bewaffne­ ten Mob demokratisch gewählte Volks­vertreter das Leben kostet und eventuell sogar zu einem Umsturz führt.“ Das ist kein Fake, das ist ein Statement eines Autors, der seit Jah­ ren gegen Fakenews recherchiert. Andre Wolf ist Autor und Presse­ sprecher sowie „Content- and Social Media Coordinator“ der Recherche­ plattform Mimikama, einem Verein zur Aufklärung von Internetmiss­ brauch, der im vergangenen Jahr den Menschenrechtspreis gewon­ nen hat. Er deckt in seinem jüngsten Buch auf, mit welchen Strategien die „Neue Rechte“ in den sogenann­ ten sozialen Medien arbeitet, welche Zielgruppen sie wie manipuliert, wie Verschwörungsmythen sich verbrei­ ten, wie radikalisiert, an den Grund­ mauern der Demokratie geschlif­ fen wird, wie Menschen verändert werden, wie Feindbilder gemalt wer­ den, um User zu instrumentalisie­ ren. Sehr authentisch, weil auch Wolf selbst seine Erfahrungen mit Manipulationen hat, sehr profund und durchaus warnend. Rechtsex­ treme würden immer lauter, über „Social Media“ bringen sie ihre Bot­ schaften immer massiver bis in die Mitte der Gesellschaft ein. Ein auf­ klärerisches, ein wichtiges Buch. Und zuweilen auch ein erschre­ ckendes.

(ewei). Kristian Starcks lange herbei­ gesehntes Sabbatjahr beginnt mit einer sehr bösen Überraschung: Sein Freund und Medizinerkollege eröffnet dem 55-Jährigen, dass das Ergebnis eines Prostata-Routine­ checks Krebs lautet. Kristian kann es nicht fassen. Nicht nur, weil dieser Befund die ihm noch verbleibende Lebenszeit ganz ungehörig verkürzen könnte. Sondern auch, weil er diesen wo­ möglich kläglichen Lebensrest nun vielleicht doch anders gestalten muss als beabsichtigt: Nach jahr­ zehntelangem Zögern hatte er sich schließlich durchgerungen, sich als transidente Person zu outen. Er wollte während seiner Auszeit aus dem Doppelleben aussteigen und endlich die Kristina werden, als die er sich immer fühlte und die er im­ mer sein wollte. Geschlechtsanglei­ chende OP inklusive. Doch die ist laut Auskunft des Arztfreundes nach einer Prostatektomie eher schwierig. Kris heult, fühlt sich noch ver­ kehrter im falschen Körper, klagt bei der besten Freundin über die Strafe des „heiligen Sankt Ypsilon“, weil „ich ihm die Dankbarkeit fürs Geschlechtshormon verweigere“. Sie rät ihm zuerst zur Therapie und da­ nach zur Selbstfindungstour. Er fährt gleich. Es wird eine regelrech­ te Achterbahnfahrt – mit vielen Be­ gegnungen, schweren Abschieden, einer großen Liebe und einigen ent­ scheidenden Einsichten.

(ewei). Ute Bales lebt schon lange in Freiburg. Doch bevor sie zum Studi­ um hierherkam, lebte sie in der Vul­ kan-Eifel. Dort spielen die meisten ihrer Romane, auch der gerade er­ schienene neue: „Vom letzten Tag ein Stück“. Um Kindheit und deren nicht nur religiöse Rituale geht es in dem Buch, um die Besonderheiten von Landschaft und Sprache, die beides prägen. Und um die Berge als Ur­ sprung unerschöpflich scheinender Mineralquellen, als Orte der tröstli­ chen Aussicht auf ein Leben nach dem Tod: „Am jüngsten Tag treffen wir uns auf dem Berg“, hatte der Vater der Ich-Erzählerin immer ge­ sagt, in der sich möglicherweise die Autorin selbst verbirgt. Es geht aber auch um Bertram, der als Sohn eines nicht aus der Ge­ gend stammenden evangelischen Vaters nur ganz selten zu den sonntäglichen braven Kirchgängern gehört. Wegen seines auch ansons­ ten unangepassten Verhaltens wird er im Dorf schnell zum Außenseiter – und weckt die Neugier der Erzäh­ lerin. Später nähert sie sich ihm, teilt bald seine ökologischen und antikapitalistischen Ansichten. Be­ sonders dann, als er gegen den Aus­ verkauf der Landschaft und den höchstprofitbringenden Total-Abbau des Vulkangesteins kämpft – und damit gegen das Verschwinden der Berge, die Trost spenden sollten für den letzten Tag. APRIL/MAI 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


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