chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 5/18 8. Jahrgang

Am Strand FilmDrama mit Saoirse Ronan im Kino ab 21. Juni 2018

Kunst

Musik

Literatur

salvador DalĂ­ in der Kunsthalle messmer

Die steile Karriere des Robert Neumann

Poetenfest: Lauter leise LeSekonzerte


ausstellungen

Dokumente eines Exzentrikers Kunsthalle Messmer zeigt Dalí – zum zweiten Mal

U

von Valérie Scholten

hren zerfließen wie ein Stück Camem­ Gedanken in Form und Farbe gekenn­ bert in der Sonne. Spiegeleier brutzeln zeichnet. Vor allem faszinierte ihn ne­ in den Blüten farbiger Blumen. Lauter ben der Malerei schon früh die Grafik Telefonhörer ranken aus einem Strauß und deren Ausdrucksmöglichkeiten. Be­ Narzissen. Das ist nur ein Bruchteil der reits Mitte der siebziger Jahre avancier­ immer wiederkehrenden Motive, die te der Spanier durch die Verbreitung Salvador Dalí in seinen Malereien und seiner Druckgrafiken zu den meistver­ Druckgrafiken verwendete. Der spani­ kauften und populärsten Künstlern des sche Künstler zählt zu den bedeutends­ Jahrhunderts. Mit der zweiten Dalí-Ausstellung hat ten Gestaltern des Surrealismus. Er galt als Tabubrecher. Er war ein Exzentriker. Kunstsammler Jürgen Messmer bewusst Die Kunsthalle Messmer widmet nun den Fokus auf das grafische Werk des dem grafischen Werk Dalís eine Retro­ Künstlers gesetzt, dessen Geburtsstadt Fi­ spektive, in der mehr als 120 Arbeiten gueras er zwecks der Ausstellungsplanung zu sehen sind. Darunter in der Region noch nie zuvor gezeigte Symbole aus Träumen und Grafiken und Skulpturen.

Kindheitserinnerungen

„Er war ein Extremmensch inklusive seiner Malerei“, be­ schreibt Ausstellungsorganisatorin Ka­ tharina Sagel den wegweisenden Künst­ ler der Moderne. Dalí (1904 –1989) gehört zu den genialsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk ist durch seinen überragenden Reichtum an Ideen, seine tiefgründigen Fantasien und seine brillante Fähigkeit in der technischen Umsetzung seiner 52 chilli Cultur.zeit Juni 2018

vor zwei Jahren besucht hatte. Bei der ers­ ten Schau lag der Schwerpunkt bei kom­ pletten Zyklen von Dalí. „Mit dieser Aus­ stellung sind wir viel breiter aufgestellt als 2010“, sagt Messmer. Die gezeigten Grafi­ ken und Skulpturen stammen von bedeu­ tenden Privatsammlern, was für die Qua­ lität sowie die Echtheit der Werke spreche, versichert Messmer im Pressegespräch.


Kulturnotizen Freiburger Stadtjubiläum 2020 Ab sofort können sich Organisationen, Institutionen, Vereine oder Einzelpersonen für die Aufnahme ins Programm zum 900-jährigen Stadtjubiläum in Freiburg im Jahr 2020 bewerben. Unter www.freiburg.de/2020 sind für Kultur-, Stadtteil- und Sportprojekte jeweils Formulare hinterlegt. Über die Aufnahme ins – teilweise geförderte – Programm entscheiden Mitglieder der Projektgruppe Stadtjubiläum.

Sieben Millionen Besucher bei Beyeler Die am 18. Oktober 1997 gegründete Fondation Beyeler hat Anfang Juni die siebenmillionste Besucherin geehrt: Katrin Meyer. Die Deutsche, die in Basel lebt, bekam ein Wochenende in London und Paris spendiert und kann auf den Spuren von Francis Bacon und Alberto Giacometti wandeln, die derzeit in Riehen zu sehen sind.

Trump beflügelt Carl-Schurz-Haus

Die Retrospektive „Dalí – Der Zau­ ber des Genies“ präsentiert eine Viel­ zahl an Grafiken, die nicht nur sein Schaffen widerspiegeln, sondern auch einen Einblick in sein Leben bieten. Der Ausstellungsrundgang beginnt mit dem frühesten (1933/34) grafi­ schen Zyklus Dalís. „Die Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont war ein beliebtes Thema unter Surrealisten. „Die großen Meister haben Salvador Dalí zeit seines Lebens begeistert“, so Sagel. Ebenso zeigt Messmer Illustra­ tionen zu Dante Alighieris „Göttliche Komödie“. Der Ausstellungsbesucher wandert buchstäblich durch Dalís Darstellung der Hölle, des Fegefeuers und des Paradieses. Hinzu kommen unter anderem Werke aus Spanien mit charakteristischen Motiven wie dem Stierkampf, die populäre Blu­ menreihe „Flordali“ oder etwa Grafi­ ken zu Goethes „Faust“. Auch seine Bekanntschaft mit Sigmund Freud und die Bewunderung für dessen ­Psychoanalyse werden auf einigen Druckgrafiken sichtbar. Das Symbol der Schnecke erinnert an einen Be­ such Dalís bei Freud im Jahr 1938.

Info Dalí – Der Zauber des Genies 2. Juni bis 14. Oktober dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr Kunsthalle Messmer, Riegel Führungen: Sonntags um 14.30 Uhr und jeden zweiten Mittwoch im Monat um 17 Uhr

Das Freiburger Carl-Schurz-Haus hat seinen Jahresbericht für 2017 vorgelegt und blickt darin auch auf die ersten zwölf Monate des „kontroversen 45. US-Präsidenten Donald Trump und seiner konservativen Regierung“ zurück. Die deutsch-amerikanische Vermittlungsarbeit sei seit der live übertragenden Wahl „komplexer und vielschichtiger“, so Direktorin Friederike Schulte. Zu den Angeboten kamen mehr als 80.000 Gäste. Besonderen Anklang fanden Vortragsreihen zu Trumps außenpolitischen Herausforderungen.

Reif für die Insel?

Eintritt: 12,50 Euro, ermäßigt 10,50 Euro Freier Eintritt mit Museumspass

Kunst von der Insel.

Dalís faszinierende Bildwelten: (im Uhrzeigersinn) 1) Salvador Dalí, Bewegungslosigkeit der Zeit, 1975, Farblithografie ©messmer foundation 2) Salvador Dalí, Die Rose (Traum), 1976, Kaltnadelradierung mit Pochoir ©messmer foundation 3) Salvador Dalí, Der Phönix, 1976, Kaltnadelradierung mit Lithographie und Serigraphie, 76 x 56 cm ©messmer foundation 4) Salvador Dalí, Venus á la girafe, 1973, Bronze, versilbert, 56 cm ©messmer foundation

Foto: © Jilmara Arts

Die Galerie Artkelch zeigt in Freiburg seit dem 9. Juni die Ausstellung „Palaneri – Aboriginal Art der Tiwi“. Im Fokus stehen die Tiwi Islands vor der Nordküste Australiens. Die Tiwi (der indigene Begriff für die Ureinwohner der Tiwi Islands) haben aufgrund ihrer Insellage eine ganz eigene Kultur entwickelt. Dies spiegelt sich im zeitgenössischen Kunstschaffen wider, das von einer deutlichen Andersartigkeit im Vergleich zum Festland geprägt ist. Mehr Infos: artkelch.de


Kultur

„Ein großer Wurf“ Multicore plant Musikhaus am Güterbahnhof

S

von Till Neumann

Will was bewegen: Franck Mitaine (links) ist seit März Multicore-Vorstand. Der Veranstaltungstechniker feilt am Konzept für einen Hotspot der Freiburger Musikszene. Junge Bands wie die von Niklas Bastian (rechts) könnten davon profitieren. Fotos: © tln, Peter Hermann

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eit Jahren fehlen Freiburg Proberäume. Jetzt arbeitet die neu formierte Musiker­ initiative „Multicore“ an einem Konzept für ein Musikhaus am Güterbahnhof. Eine „große Lösung“ ist angedacht: 40 Pro­ beräume, ein Konzertsaal mit rund 1000 Plätzen, ein Café, Studios. Manches scheint möglich, nichts sicher. „Freiburg braucht das“, sagt Franck Mi­ taine. Der neue Vorsitzende von Multicore ist Feuer und Flamme fürs Musikhaus. Er merkt aber auch, dass ein langer Atem ge­ fragt ist. Sicher ist für den 54-Jährigen: „Freiburg ist eine geile Stadt, aber die Kul­ tur hat gelitten.“ Vor allem das Musikali­ sche sei zurückgedrängt worden.

Seit März ist der Veranstaltungstechniker Chef von Multicore. Für das Musikhaus pausiert Mitaine sogar von seiner Arbeit. Alle Hebel sollen in Bewegung gesetzt werden. Ein Konzept, wie das Musikhaus ausse­ hen könnte, ist bei Multicore in Arbeit. Doch die Lage ist komplex: Stadtverwal­ tung, Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM) sowie ein privater Investor sind laut chilli-Informationen in­ volviert – es geht um große Summen und verschiedenste Interessen. Mehrere Grundstücke am Güterbahnhof stehen zur Debatte. Doch fast alles dort ge­ hört der Aurelis Asset GmbH in Eschborn. Genau dort aber heißt es: „Wir sind in die Gespräche nicht involviert.“ Zu hören ist an vielen Ecken: „Die Pla­ nungen laufen, Details zu nennen ist nicht

möglich.“ Involviert ist auch Freiburgs Popbeauftragter Tilo Buchholz. „Ein großer Wurf wäre wichtig, das Konzept von Multi­ core ist super“, sagt der erfahrene Musiker. Ende Mai hat der bei der FWTM ange­ siedelte Popsupport der Stadt Freiburg eine Umfrage zum Proberaummangel gestartet. Das Ergebnis: 45 Acts suchen einen Raum zum Üben. 15 davon wollen ihn exklusiv nutzen, 30 wünschen Teilzeit. „25 neue Räume wären kein Thema“, sagt Buchholz. Auch bei 40 hätte er keine Bauchschmer­ zen. Entscheidend sei der Mietpreis. Die Schmerzgrenze für Künstler liege bei zehn Euro Miete pro Quadratmeter. Auch zu einem möglichen Konzertsaal hat er eine Meinung: „Veranstalter sagen mir, sie brauchen eine Location mit 1500 oder 2000 Plätzen.“ Idealerweise sei das ein Club mit fest installierter Technik. Zu be­ denken seien auch bestehende Locations wie Jazzhaus oder E-Werk. Diesen sollte man keine Konkurrenz machen, sondern im Konsens Nutzungsmöglichkeiten suchen. Im E-Werk selbst ist man in die Planun­ gen nicht eingebunden. „Wir begrüßen die Idee von mehr Räumen und einem Haus für lokale Bands“, sagt Matthias Adam, der das Musikprogramm im E-Werk macht. Eine gute Kommunikation zwischen den einzelnen Akteuren hält er für wichtig.

„Förderstrukturen sind geradezu inexistent“ Großen Handlungsbedarf sieht Markus Schillberg. Der Musiker von „Restless Feet“ ist Teil von Multicore und Mitgründer der IG Subkultur. Er kenne die Möglichkeiten in anderen Städten und findet: „Da kann man in Freiburg schon neidisch werden.“ Der Proberaummangel ist für Schillberg nur die Spitze des Eisbergs: „Popkulturelle Förderstrukturen sind hier geradezu in­ existent.“ Dazu zählt er auch Sprungbrett­ bühnen für junge Bands. Das künstleri­ sche Potenzial sei da, man müsse ihm nur Raum zur Entfaltung geben.


tanz

Geschichte geschrieben Freiburger gewinnen 1. Deutsche Breakdance-Liga

B

von Till Neumann

reakdance-Battles gibt es viele. Ein echtes Liga-System in Deutschland bisher nicht. Das hat sich nun geändert: Im Mai hat die Freiburger Crew „Direc­ tors Cut“ die erste Deutsche Break-Liga gewonnen. Deren Tänzer Astrit Berisha erzählt beim Training im Haus der Ju­ gend, wie es zum Erfolg kam. Liga-Organi­ sator Alexander Pusch hat große Pläne.

Bässe dröhnen, Breaker schwitzen, der Boden quietscht. Doch Astrit Berisha kann beim offenen Training nur bedingt mitma­ chen. Sein linkes Bein ist geschient. „Die Achillessehne ist gerissen, schon eine Wo­ che vorm Finale“, erzählt der 28-Jährige. Der VWL-Student hat in der Liga mit sei­ ner Crew „Directors Cut“ kein einziges Batt­ le verloren. Insgesamt acht Teams waren am Start. Über drei Monate trafen sie sich drei Mal zum Wettstreit fünf gegen fünf. Immer ein Tänzer trat dabei gegen einen anderen an – der Bessere bekam einen Punkt. Die Crew, die zuerst acht Punkte hatte, gewann. „Es war uns eine Ehre, Teil des Projekts zu sein“, postete Berisha mit einem Bild sei­ ner jubelnden Crew auf Facebook. Das Ganze ist Pionierarbeit, das Format des Backnanger Breakers Alexander Pusch für Deutschland eine Neuheit. „Bisher gibt es in der Form keine Liga“, sagt er. Gerade für junge Breaker sei die fehlende Struktur ein Problem, da sie bei Turnieren in der Regel früh ausscheiden und somit bei gleichem Startgeld wenig tanzen dürfen. „Ich kenne viele, die auf der Strecke bleiben“, berichtet der 30-jährige Physiotherapeut. Deutschland sei im internationalen Ver­ gleich nur mäßig aufgestellt. „Allein Moskau hat doppelt so viele Breaker wie ganz Deutschland“, sagt Pusch. In den 90ern habe man noch zur Weltspitze gehört. „Die Szene ist schwierig“, erklärt Berisha. Unzuverlässigkeiten machen Events schwer planbar. Immer wieder würden angemeldete Tänzer nicht erscheinen. Auch deswegen hat Pusch den Test mit ihm bekannten Crews

gemacht: „Er hat Leute ausgewählt, die zu­ verlässig sind“, sagt Berisha. Das habe sich ausgezahlt: „Das System hat definitiv Zu­ kunft.“ Er will gerne mitanpacken. „Astrit war der MVB, der Most Valuable Breaker“, lobt Pusch. Also der wertvollste Tänzer – eine Anspielung auf den Most Valuable Player (MVP) der NBA. „Break­ dance ist ein Ventil für mich“, sagt Berisha. Es sei und bleibe Hobby. Auch wenn er seit seinem 13. Lebensjahr tanzt und bei vielen Battles und Showtänzen am Start ist. Die Liga soll wachsen: Pusch will sie von acht auf zehn Teams erweitern. Außerdem sollen eine zweite und drei dritte Ligen hinzu­ kommen. Eine davon im badischen Raum mit dem Fixpunkt Freiburg. Sogar eine Champions League mit internationalen Top­ teams könnte er sich vorstellen. Der Erfolg der Erstauflage weckt Interes­ se: Pusch und Berisha berichten von Inves­ toren und TV-Sendern, die einsteigen wol­ len. Doch bisher ist Pusch vorsichtig: „Denen geht es um Unterhaltung, sie sind meist nicht szenekundig.“ Die Liga soll nach den Wünschen der Breaker ausge­ richtet werden, nicht nach Kommerz. „Das Finale steigt nächstes Jahr in Frei­ burg“, sagt Pusch. Dann wollen sich seine Backnanger Jungs die Krone vom Titelver­ teidiger zurückholen.

Gerockt: Die Crew „Directors Cut“ aus Freiburg und Baden-­ Baden feiert den Sieg der ersten deutschen Break-Liga. Bester Tänzer war Astrit Berisha (oben, zweiter von links). Fotos: © Phi Dang

Juni 2018 chilli Cultur.zeit 55


Musik

„Bin kein Wunderkind“ Ausnahme-Pianist Robert Neumann steht vor Durchbruch

G

von Till Neumann

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erade mal 17 Jahre alt ist Robert Neu­ mann. Und studiert bereits im 4. Semes­ ter an der Musikhochschule Freiburg. Jetzt hat das Ausnahmetalent einen Ver­ trag bei der international tätigen Kon­ zertdirektion Schmid unterschrieben. Seine Lehrerin lobt ihn in höchsten Tö­ nen. Den Titel „Wunderkind“ mag Neu­ mann aber gar nicht.

dig ist.“ Die renommierte Pianistin unter­ richtet ihn an der Hochschule für Musik Freiburg. Seit seinem zehnten Lebensjahr arbeitet sie mit ihm und ist beeindruckt: Mit „rasanter Geschwindigkeit“ erweitere er seine pianistischen Mittel. Beglückt sei sie über seine Gaben: Intelligenz, Kreativi­ tät, Begeisterung, Mut und Ernst.

Sein Arbeitsplatz ähnelt Schwarze Haare, schwarzes Hemd, schwarze Hose. Mit ge­ „Beethovens Besenkammer“ schlossenen Augen sitzt Robert Neumann an einem Steinway-­ Neumann ist kein gewöhnlicher 17-Jähri­ Flügel der Musikhochschule. Rund 25 Zu­ hörer lauschen gebannt. Chopin steht auf ger, das zeigt sich schnell beim chilli-Ge­ dem Programm. Die Finger des jungen spräch an der Musikhochschule. Er weiß Mannes fliegen über die Tasten. Mit atem­ viel, denkt schnell und redet wie ein Profes­ beraubendem Tempo und der Präzision sor. „Neben meinem Klavier sieht es aus wie eines Uhrmachers füllt er den Raum mit in Beethovens Besenkammer“, ist einer sei­ Musik. In wilden Passagen bebt sein Kör­ ner Sätze. Ein Klischeepianist sei er, doch per – mal lehnt er sich wie ein Surfer in gewillt, etwas gegen den Fachidiotismus zu die Kurve, dann vibriert der Kopf zur Mu­ tun. Gerade habe er deswegen bei den Diri­ sik. In ruhigen Momenten schaut er me­ genten der Musikhochschule reingeschaut und nehme Improvisationsunterricht. ditativ in die Ferne. Der Vertrag mit der Konzertdirektion Was Robert Neumann Anfang Juni in kleinem Rahmen vorführt, verblüfft selbst Schmid ist ein großer Schritt. „Andere Mu­ seine langjährige Lehrerin Elza Kolodin: siker würden mit 30 Jahren alles geben, um „Ich traue Robert alles zu, was für eine er­ da hinzukommen“, ist er überzeugt. Über folgreiche internationale Karriere notwen­ eine Empfehlung sei er dort ins Gespräch


klassik

„Wir hatten alle mindestens einen Knacks“ nationale Institutionen sollen für Förde­ rungen angefragt werden, um ihm die best­ mögliche Unterstützung zu bieten. Neumann weiß, dass die Erwartungen groß sind. Er selbst hat diese: „Ich hasse ungenutztes Potenzial.“ Doch tage- und nächtelanges Proben ist nicht seine Sache: „Ohne emotionale Erosion kann man nicht länger als eine Stunde am Tag üben.“ Den­ noch sitze er viel am Klavier, komponiere, improvisiere, denke nach. Das Piano begleitet ihn seit Kindesta­ gen. Die Mutter ist Pianistin, der Vater Cellist beim SWR-Symphonieorchester. „Dass ich Piano spielen will, war schon immer klar“, sagt der Student, der auch intellektuell die meisten Kommilitonen überragen dürfte. Seine Tempo ist atemberaubend: Aufge­ wachsen in Stuttgart, lernte er dort im Be­ gabtenzug des Karls-Gymnasiums. „Wir hatten alle mindestens einen Knacks“, sagt er und lacht. „Es gab Goethes, Einsteins, Klitschkos ...“ Und er? „Ich betrachte mich im Geiste als Schüler Beethovens, nicht als seine Reinkarnation.“ Schon mit 14 war er in der 11. Klasse. Das reichte ihm – er ging von der Schule, widmete sich ganz dem Klavier. Mit 15 nahm er ein Studium an der Musikhoch­ schule auf. Und pendelt seitdem zwischen Freiburg und Stuttgart, zwischen Lehrsaal und Bühne. Auf Studentenpartys trifft man ihn sel­ ten. „Ich habe mich gut unter Kontrolle“, sagt Neumann. Prüde sei er aber nicht. Und wenn er mal die Nase voll hat von Mu­ sik? „Das passiert selten“, antwortet er prompt. Nach zwei Stunden Chopin gebe

es dann eben zwei Stunden Bach. Abgese­ hen davon begeistern ihn antike Literatur und Antiquitäten. Zudem zeichnet er mit Bleistift – unter anderem Beethoven. Das Bild hat er mit dem Smartphone abfotogra­ fiert und griffbereit. Sein Talent streitet er nicht ab: „Ich ma­ che sicher nicht mehr als andere“, sagt Neumann. Er habe den Weg bis hierhin eben schneller geschafft. Über langfristige Pläne plaudert er dafür ungerne. „Eine tö­ richte Frage“, sei das, erwidert er dem Jour­ nalisten. Wichtiger ist ihm, den Moment zu nutzen, daraus das Beste zu machen. Dass er das meisterhaft beherrscht, stellt er beim Konzert in der Musikhochschule eindrücklich unter Beweis. „Er liebt und lebt das, was er macht“, schwärmt Elza Ko­ lodin. Für sie hat er das Potenzial, einer der großen Interpreten der Zukunft zu werden. Entscheidend sei aber, Demut, Bescheiden­ heit und Dankbarkeit zu behalten. Wie zum Beweis unterstreicht ihr Schützling: „Bar­ tók, Mendelssohn oder da Vinci, das waren Wunderkinder. Ich bin es sicher nicht.“

Fotos: © wildundleise.de, Musikakademie Liechtenstein, Illustration: © freepik.com

gekommen und sehr dankbar für die Chan­ ce. „Der Vertrag ist keine Garantie für ir­ gendwas“, stellt er klar. Es tue sich aber viel, unter anderem seien Begegnungen mit be­ kannten Musikern geplant. „Wir sehen großes künstlerisches Poten­ zial bei diesem jungen Künstler“, sagt Erd­ muthe Pirlich, Senior Artist Manager der Konzertdirektion Schmid. Sowohl auf rein pianistischer als auch auf musikalischer und intellektueller Ebene sei man von Neumann überzeugt. Erwartet werde, dass er offen sei für musikalische Anregungen, aber auch seinen eigenen Weg finde. Inter­

Lebt für die Musik: Student Robert Neumann will trotzdem kein Fachidiot werden. Juni 2018 chilli Cultur.zeit 57


e n g a a n r F ... 4

Kontra K

Neo-Pop

Rap

Third Eye

Erde & Knochen

Foto: © Privat

... Falk Schönfelder von weit.Filmmusik.live

Lola funkt

„Komische Zufallsgeschichte“

Spirit und Sphäre

Der Unverwüstliche

Der Freiburger Film „Weit“ ist die erfolgreichste Doku des Jahres 2017. Die Musik dazu hat auch Falk Schönfelder komponiert. Der 29-Jährige erzählt im Interview mit Till Neumann von einer gefeierten Tournee und zwei schicksalhaften Begegnungen.

(Till Neumann). „Lola funkt“ mischen Pop, Elektro und Funk. Die vierköpfige Band aus Hamburg und Freiburg um Sängerin Caroline Fuchs hat Mitte Mai ihr Debütalbum „Third Eye“ im E-Werk releaset. Geflüstert geht’s los: „This tree was caused by a flight of a bee around a pomegranate.“ Ein elektronisch-hypnotischer Beat setzt ein, Worte werden dahingehaucht, Gesangspassagen eingestreut. Fast wie im Rausch überlagern sich Stimmen. Die CD mischt Elektronisches mit Organischem. In „Air & Water“ funkelt eine Gitarre im Downtempo, während in „Third Eye“ nervöse Synthies wabern. Das Interlude „Drafter“ klingt nach Krieg der Sterne. Roter Faden ist die glasklare Stimme von Fuchs, die mal einfühlsam daherkommt, dann pathetisch-treibend oder kratzig. Sphärisch klingt das fast immer, fast schon spirituell. Gekonnt werden Geschwindigkeiten variiert und Überraschungsmomente eingebaut. So auch in „No Sound“, das als schwebende Slow-Motion-Nummer beginnt, dann plötzlich Fahrt aufnimmt. Trotz der vielen Facetten ist „Third Eye“ stimmig. Im Stile von Morcheeba kreuzen sich psychedelische Klänge mit einer starken Stimme. Nicht alles ist perfekt gelungen, doch viele starke Momente überwiegen.

(Isabel Barquero). Kontra Ks Erfolgssträhne reißt nicht ab: Eine Woche nach Veröffentlichung seines siebten Albums „Erde & Knochen“ konnte sich der Rapper über Platz eins in den Albumcharts freuen. Die dritte Nummer-1-Platzierung des Berliners. 18 Tracks hat die CD zu bieten. Der Song „Oder nicht“ hat Ohrwurmpotenzial. Die Intro-Sounds sind vom Hit „My Woman“ des 30er-Jahre-JazzSängers Al Bowlly gesampelt. In dem Track stellt sich der 31-Jährige als der Unverwüstliche dar, der „Schläge wegsteckt“ oder dem Tod entkommt – „bisher lief’s doch gut, oder nicht?“ Im Gegensatz zu vielen anderen Rappern erzählt der Tattoo-Liebhaber nicht über Luxus und Ruhm, sondern über den harten Weg dorthin. „Motten“ richtet sich an alle Neider, die nur bei Erfolg da sind. Auch die Feature-Partner haben es in sich: So steuern mit RAF Camora, Bausa und Gzuz drei angesagte Deutschrapper einen Part bei. Seine Beats klingen cool, lässig und teilweise auch nachdenklich. Der Rapper schlägt sanftere Töne als seine Szenekollegen an – diskriminierende Lyrics sucht man vergeblich. Das zeigt, dass Rap auch gut ohne Koks, Waffen und Co. funktioniert.

Falk, ihr wart gerade auf Tournee. Wie war’s? Super. Wir fünf haben 20 Konzerte gespielt. Das ist anstrengend, aber es gab viel positive Resonanz. Das Publikum war bunt gemischt, die Show hat voll eingeschlagen. Die Leute sind wegen des Films gekommen und haben wegen der Musik gejubelt. Im November könnte es eine Fortsetzung geben. Wie kam’s, dass ihr die Weit-Musik gemacht habt? Das ist eine komische Zufallsgeschichte rund um den Globus. Anselm hat 2014 bei einer Weltreise mit seiner Freundin die Filmemacher Gwen und Patrick kennengelernt. Ein paar Wochen später haben sie durch Zufall meinen Kumpel Isaac in Indien am Strand getroffen. Er hat ein bisschen Gitarre für sie gespielt. Drei Jahre später haben sie uns angerufen, ob wir was komponieren können für ihren „Weit“. Und ihr habt spontan zugesagt? Ja, das Timing hat gepasst. Wir waren zwei Wochen im Studio, haben komponiert und aufgenommen. Wir hatten nur Sequenzen des Films, aber unsere Musik hat Gwen und Patrick auf Anhieb gefallen. Und dann ging der Film durch die Decke ... Ja, über Nacht war es ein Riesenerfolg. Auch bei uns kam immer mehr Resonanz. Erst haben wir die Stücke auf Bandcamp gestellt. Eines Morgens kam mir die Idee: Wir sollten das live spielen. Also haben wir die Tour vorbereitet. 58 chilli Cultur.zeit Juni 2018

Live: Am Freitag, 27. Juli, tritt Kontra K ab 20 Uhr beim Zelt-Musik-Festival auf.


Jamie Isaac

Father John Misty

Songwriter

Singer-Songwriter/Folk

(04:30) Idler

God's Favorite Customer

Der Sounddreck ... ... auf Hannover

Headline Titel: Hannover Furz-Lied Urheber: Kralle und Ralle Jahr: 2016

Brit-Balsam

Vaterunser

(Till Neumann). „Wings“ heißt die erste Single des Songwriters Jamie Isaac. Über einen Bossanova-Groove singt der Londoner mit samtweicher Stimme von einer unorthod±oxen Liebe. Dezent ist das und zugleich unwiderstehlich groovend. Die Platte ist Balsam für Ohr und Herz. Wie gleißende Lichter über einer Stadt schimmert „(04:30) Idler“ mit Soul, Ruhe und Reduzierung durch die Boxen. Mal flüstert ein Saxophon, dann knistern Samples, bis effektbeladene Stimmen durch die Boxen wabern. Refrains hat der Jazzer für zahlreiche Künstler gesungen. Mit den experimentell-jazzigen Beattracks zeigt er, dass er mehr kann als nur Feature-Goldkehlchen. Der Brite erzählt von Schlafproblemen, wirkt verletzlich, herrlich neben der Spur. „Idler“ ist Englisch für Faulenzer. Auf Arbeiten macht die Musik keine Lust. Dafür auf ruhige Momente bei gedimmtem Licht. Nur kurz wird die gefühlte Stille im Song „Sleep“ unterbrochen – es wird hektisch, eine dumpfe Stimme fordert zum Schlafen auf. Man vermutet, es ist 4.30 Uhr morgens – siehe Albumtitel. Es lohnt sich, bis zum Ende zu hören: Im finalen „Delight“ schiebt ein minimalistischer Beat so subtil nach vorne, dass man die Platte gleich nochmal hören will.

(Philip Thomas). Singer-Songwriter muss man mögen. Für all jene, die das tun und Herbst-Melancholie auch im Hochsommer schätzen, offenbart der Posterboy dieser Szene sein viertes Studioalbum. „God’s Favorite Customer“ heißt die Besinnung auf Stärken von Joshua Tillman alias Father John Misty. Das Gesamtbild ist stimmig und weniger sozialkritisch als seine Vorgänger. Auch musikalisch hat sich der 37-Jährige reduziert. Trotzdem ist das Album ein kleiner Brocken. Denn es geht natürlich um Liebe in all ihren Formen. Damit dieses Motto über zehn starke Songs nicht abflaut, bricht Tillmann seinen Schwermut immer wieder mit feinem Humor: Auf „The Palace“ wünscht er sich ein Haustier: „Maybe I’ll get a pet / Learn how to take care of somebody else / Maybe I’ll name him Jeff“. Auf dem flotteren „Date Night“ fliegt die Scheibe mit hellen OohOoh-Oohs kurz über die dunkle Wolkendecke aus Drogen und Depressionen. Nur um dann auf „Please don’t die“ wieder abzustürzen: „You’re all that I have so please don’t die / Wherever you are tonight“, säuselt Tillman. Zwar wird auf „God’s Favorite Customer“ die Gitarre nicht neu erfunden. Textlich gelingt dem US-Musiker aber die Gratwanderung aus Kitsch und Gefühlen. Halleluja.

Armes Hannover. Durch den multizitierten Schüttelreim „Nichts ist doofer als Hannover“ ist die Stadt immer wieder der Verunglimpfung ausgesetzt. Insbesondere in Fußballkreisen ist hier einiges an Kleinkriminalität festzustellen. Auch im Bundestagswahlkampf wurde das unberechtigt schlechte Image der Stadt verwurstet. Gegen die Grünen wurde skandiert: „Ihr seid öder als Hannover, Lahm wie Lurche auf dem Sofa“ Die Hannoveraner, wie man die Bewohner nennt, haben jedoch auch ihr Scherflein zu der Negativimagekampagne beigetragen, wenn zwei Bewohner selbst so etwas wie das „Hannover Furz-Lied“ veröffentlichen: „Da ließ mal einer einen sausen, der ging bis nach Herrenhausen. Von Herrenhausen bis nach Limmer, wurde es noch Schlimmer. Von Limmer bis nach Döhren, konnte man ihn hören. Von Döhren bis nach Pattensen, da hatten sen“ Das geht jetzt noch mit einem Bußgeld durch. Aber, liebe Hannoveraner, Ihr müsst was tun. Beim nächsten Mal ...

Grüße an Hanno aus Hannover, Für Ihre Geschmackspolizei, Benno Burgey


kino

Stil stand als Dauerzustand Ein kluger Film über den Kreislauf der Gewalt von Erika Weisser

Foxtrot

Fotos: © Giora Bejach

Israel 2017 Regie: Samuel Moaz Mit: Lior Ashkenazi, Sarah Adler, Yonatan Shiray u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 113 Minuten Start: 12. Juli 2018

60 chilli Cultur.zeit Juni 2018

Z

unächst ist die Kühlerhaube eines Militärfahrzeugs zu se­ hen, das sich über unwegsa­ mes Gelände bewegt. Dann folgt die Großaufnahme eines Fingers, der auf einen Klin­ gelknopf drückt. Als die zuge­ hörige Wohnungstür geöffnet wird, erscheint das Gesicht ei­ ner Frau, die zusammenbricht, als sie erfasst, welche Botschaft die beiden noch schweigenden uniformierten Be­ sucher mitbringen. Denen – und uns Kinobesuchern – bleibt der Blick auf eine moderne Schwarz-Weiß-Grafik, die wie ein ins Bodenlose führendes Laby­ rinth wirkt.

Dafna und Michael versuchen, sich mit dem Heldentod ihres Sohnes Jonathan abzufinden.

Die Uniformierten fangen die Frau gerade noch auf, verpassen ihr eine Be­ ruhigungsspritze und bringen sie ins Bett. Vom Wohnzimmer aus beobachtet ein sichtlich schockierter und völlig er­ starrter Mann die Szenerie. Er löst sich nicht aus der Schockstarre, als die Sol­ daten ihm mitteilen, dass sein Sohn Jo­ nathan in Ausübung seiner landesver­ teidigenden Pflichten „leider gefallen“ sei. Wie in Trance lässt Jonathans Vater Michael die eingeübten Ratschläge und Beileidsbekundungen über sich erge­ hen und legt sich, als die ungebetenen Besucher endlich weg sind, neben seine schlafende Frau Dafna. Er lässt seine wütende Verzweiflung an seinem Hund aus, lässt sich, um den inneren Schmerz mit dem äußeren zu betäuben, kochend heißes Wasser über den Handrücken laufen. Doch er wird Wut und Schmerz nicht los, findet kei­ nen Trost. Weder bei seinem Bruder, der ihm Beistand anbietet, noch bei sei­ ner Mutter, die er in ihrem Pflegeheim für Holocaust-Überlebende besucht. Und schon gar nicht bei dem Miltärrab­ biner, der schließlich aufkreuzt. Sein Zorn verraucht nicht einmal, als er die

Nachricht erhält, dass alles eine Ver­ wechslung war. Unter lautstarken Beschimpfungen des „ganzen militärischen Irrsinns“ for­ dert Michael die sofortige Rückkehr Jo­ nathans, der mit drei anderen Wehr­ dienstpflichtigen einen Checkpoint im Niemandsland zwischen Israel und Pa­ lästina bewacht. Und der gerade unter einem türkis-rosafarbenen Abendhim­ mel mit seiner Gewehr-Partnerin einen skurrilen Foxtrott tanzt. Wobei er, glei­ chermaßen symbolisch für den politi­ schen und militärischen Zustand des ganzen Landes, auf der Stelle tritt. Tag für Tag hocken die vier Soldaten in und vor ihrem Container, erzählen sich die immer gleichen Geschichten, stochern lustlos im immer gleichen Do­ senfutter, kanalisieren ihre Langeweile in überflüssige Hinhaltestrategien gegen die wenigen Palästinenser, die hier die Grenze passieren. Ihre Anspannung ist indessen spürbar – und bei einer der Kontrollen entlädt sie sich. Jonathan wird daraufhin in dem Fahrzeug, dessen Kühlerhaube zu Beginn des Films zu se­ hen war, zurück nach Tel Aviv gebracht. Ein vielschichtiger Antikriegsfilm.


KINO Am Strand

voll von der Rolle

Frankreich 2017 Regie: Yvan Attal Mit: Carmélia Jordana, Daniel Auteuil u.a. Verleih: Square One Laufzeit: 95 Minuten Start: 14. Juni 2018

Foto: © Prokino

Foto: © Square One

Foto: © Marcus Hafner

Die brillante Mademoiselle NeÏla

Großbritannien 2017 Regie: Dominic Cooke Mit: Saoirse Ronan, Billy Howle u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 110 Minuten Start: 21. Juni 2018

Amüsante Wortgefechte

Unbehagliche Hochzeitsnacht

(ewei). Atemlos hetzt die Jura-Studen­ tin Neïla an ihrem ersten Uni-Tag über die Gänge und Treppen des altehrwür­ digen Gebäudes. Es nützt nichts: Sie trifft ein paar Minuten zu spät im fast voll besetzten Hörsaal ein, wo der strenge Professor Mazard bereits mit seiner Vorlesung begonnen hat. Sie entgeht seinen Argusaugen nicht; noch bevor sie sich setzen kann, attackiert er sie mit zwar rhetorisch perfekten, doch ziemlich rassistischen Bemerkungen, die die algerisch-stämmige junge Frau entschieden zurückweist. Ein paar konsternierte Kommilito­ nen filmen den Disput, stellen ihn spä­ ter ins Netz. Die Universitätsleitung kriegt Wind davon, fürchtet einen Skandal – und verdonnert den sturen Prof dazu, die streitbare Studentin in der Wortgefechtskunst zu schulen; sie soll die Hochschule bei einem Rheto­ rik-Wettbewerb vertreten. Widerwillig nimmt er den Auftrag an – und stößt auf eine gleicherma­ ßen sture Vertreterin ihm völlig fremder Positionen, die es bald mit ihm aufnehmen kann.

(ewei). Dass Florence und Edward sich wirklich und über alles lieben, wird erst in den Rückblenden deutlich, die immer wieder meisterhaft in den eher beklemmenden Handlungsstrang ein­ gefügt sind. Hier sehen wir, wie die selbstbewusste Atomwaffengegnerin und Unternehmerstochter aus heiler Familie und der ungestüme Sohn eines Volksschullehrers und einer nach ei­ nem Unfall hirngeschädigten Mutter sich zum ersten Mal begegnen. Wie sie bald nur noch Augen füreinander ha­ ben, jede freie Minute miteinander ver­ bringen. Und wie sie Florences Eltern von der für sie unmöglichen Liebe überzeugen. Zu Beginn des Films ist von dieser Unbeschwertheit nichts zu spüren: Nach der Trauung sitzen die beiden bei einem unfrohen Dinner in ihrem ei­ gens für die Hochzeit gebuchten Ho­ telzimmer – und fürchten die erste ge­ meinsame Nacht. Beide. Die sexuelle Annäherung misslingt, Florence flüch­ tet an den Strand. Edward folgt ihr, doch lässt seine gekränkte Eitelkeit ei­ nen gemeinsamen Weg nicht zu.

Miras Liebe zu David kann eine Tragödie in der Vergangenheit nicht überwinden.

Werkschau im Kandelhof (ewei). „Am Tag die Sterne“ heißt der Mittellangfilm, für den der 28 Jahre junge Freiburger Regisseur Simon Schneckenburger Ende November beim internationalen Filmfestival „Up and Coming 2017“ in Hannover den Deutschen Nachwuchsfilmpreis erhielt. Bisher war das Drama um den Bruder eines früheren Schüler-Amokläufers außer bei diversen Wettbewerben nur in Kirchzarten zu sehen; dort ist Schneckenburger aufgewachsen, dort und in der unmittelbaren Umgebung Kirchzartens hat er den Film im vergangenen Jahr gedreht. Jetzt kommt er endlich auch in ein Freiburger Kino: Am Montag, 25. Juni, 20.45 Uhr, gibt es im Kandelhof eine ganze Werkschau. Außer diesem 45 Minuten dauernden Streifen, in dem es um den unglücklichen und verunglückten Versuch des Protagonisten geht, in das Dorf seiner Kindheit zurückzukehren und an die durch die tödliche Gewalttat des Bruders jäh unterbrochene Jugendzeit und an seine frühere Liebe anzuknüpfen, bringt der Filmemacher auch noch andere „zwischen Schönheit und Entsetzen“ angesiedelte Werke mit, die 2017 entstanden sind. Dabei ist der Kurzspielfilm „Wintersonnwende“, der ebenfalls die Rückkehr einer der Hauptfiguren an den Ort seiner Kindheit und Jugend zum Inhalt hat und im Schwarzwald spielt, aber versöhnlicher endet als „Am Tag die Sterne“. Dabei ist auch „Here’s looking at you, kid“, das auf einem Songtext basierende kleine, gerade 5 Minuten dauernde Animationstheaterstück über Rockstars, Poetry-Slams, Zombies und Frauen. Während und nach der Werkschau, die durch ein 15-minütiges Frühwerk namens „Herr Olsson und die Einsamkeit“ und das Seidenstraßen-Tourvideo „Minua“ abgerundet wird, gibt es natürlich auch die Gelegenheit, mit Simon Schneckenburger und seinem Team ins Gespräch zu kommen – ein kleines Freiburger Filmfest.

Juni 2018 chilli Cultur.zeit 61


Die Wunderübung

Foto: © NFP

Österreich 2017 Regie: Michael Kreihsl Mit: Aglaia Szyszkowitz, Devid Striesow u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 95 Minuten Start: 28. Juni 2018

Candelaria

Foto: © dcm

Kuba 2017 Regie: Jhonny Hendrix Hinestroza Mit: Alden Knight, Veronica Lynn u.a. Verleih: dcm Laufzeit: 87 Minuten Start: 5. Juli 2018

Auf der Suche nach Ingmar Bergman

Foto: © Boerres Weiffenbach

Deutschland 2018 Regie: Margarethe von Trotta Dokumentarfilm Verleih: Weltkino Laufzeit: 97 Minuten Start: 12. Juli 2018

Wenn die Fassade bröckelt

Gefühle in Bildern

Kollegen auf Augenhöhe

(ewei). Was bleibt, wenn nach vielen Ehejahren die Leidenschaft der Liebe schwindet, wenn beim gegenseitigen Anblick nicht einmal freundschaftli­ che Gefühle aufkommen wollen – und das Paar trotzdem zusammenblei­ ben will, aus Gewohnheit, aus Angst vor dem Alleinsein im wirklichen Al­ ter? Genau: eine Paartherapie. Die, so haben sich Joana und Valen­ tin von befreundeten Therapieerfah­ renen sagen lassen, soll Wunder wir­ ken können. Und solche haben die beiden nötig: Nach einer zwar lange zurückliegenden, doch ziemlich hitzi­ gen Liebe auf den ersten Blick haben sie sich nichts mehr zu sagen. Oder besser: Er hat nichts mehr zu sagen. Joana, die nämlich immer schon vor­ her weiß, was Valentin sagen will, spricht ständig für ihn, lässt ihn gar nicht zu Wort kommen. Weder zu Hause noch in der ersten Sitzung beim Therapeuten, der sich zwar red­ lich und professionell müht, mit den beiden aber nicht recht zurande kommt. Doch allmählich bröckelt die Fassade. Witziges Boulevardstück.

(ewei). Havanna 1994. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion leidet Kuba verstärkt unter dem Wirt­ schaftsembargo der USA; die „Perio­ do especial“ beginnt, viele Menschen haben nicht genug zu essen. Auch Candelaria (75) und Víctor Hugo (76) führen ein entbehrungsrei­ ches Leben, können noch nicht in Ren­ te gehen. Sie arbeitet in der Wäscherei eines Hotels, er in einer Zigarrenfabrik. Ihr Alltag verläuft reichlich monoton – bis Candelaria in der Schmutzwäsche des Hotels eine Videokamera findet. Unsicher, was sie damit anstellen soll, nimmt sie diese erst einmal mit nach Hause. Und dreht, gegen den Protest des mürrischen Gatten, ihren ersten kleinen Film. Allmählich entwickelt sich die Kame­ ra zum ständigen Lebensbegleiter der beiden; sie filmen sich bei jeder mögli­ chen Gelegenheit, halten ihre Gefühle in Bildern fest, sehen sich mit anderen Augen und entdecken ihre Liebe neu. Doch dann verschwindet die Kamera. Im berüchtigten Hehlermarkt El Homi­ guero sucht Victor Hugo danach.

(ewei). Margarethe von Trotta hat mit 76 Jahren ihren ersten Dokumentarfilm gedreht. Eine sehr persönliche Annähe­ rung an den Mann, der zu den großen Regisseuren des 20. Jahrhunderts ge­ hörte, dessen Geburtstag sich am 14. Juli zum 100. Mal jährt – und der die Filmemacherin einst dazu brachte, selbst den Weg ins Kinogeschäft einzu­ schlagen: Ingmar Bergman. Anfang der 1960er Jahre hatte die damalige Studentin in Paris nämlich Bergmans wohl berühmtestes Werk „Das siebte Siegel“ gesehen und sich fortan dem Film verschrieben. Sie brach ihr Studium ab, wurde Schau­ spielerin und später auch Regisseu­ rin. Von Trottas 1981 entstandener Film „Die bleierne Zeit“ gehörte wie­ derum zu den zehn Filmen, die Ing­ mar Bergman auf Anfrage als seine Lieblingsfilme nannte. Solchermaßen auf Augenhöhe mit dem Filmkünstler, begibt sich die Regis­ seurin auf Spurensuche. Und wird fün­ dig – bei seinen Kindern, bei von ihm geförderten oder beeinflussten Kolle­ gen, bei einer seiner Ehefrauen.


DVD Simpel

Der Hund begraben Deutschland 2017 Regie: Markus Goller Mit: Frederick Lau, David Kross u.a. Vertrieb: Universum Film Laufzeit: 109 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Deutschland 2017 Regie: Sebastian Stern Mit: Justus von Dohnányi, Juliane Köhler u.a. Vertrieb: Al!VE Laufzeit: 83 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Casting Deutschland 2017 Regie: Nicolas Wackerbarth Mit: Judith Engel, Andreas Lust u.a. Vertrieb: good!movies Laufzeit: 91 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Barnabas forever

Streuner im Ehebett

Schatten des Rampenlichts

(ewei). Ben und Barnabas sind ein Herz und eine Seele – seit die beiden Brüder überhaupt denken können. Und die beiden jungen Erwachsenen wollen auch nach dem plötzlichen Tod der Mutter zusammenbleiben. Doch das ist nicht so einfach: Barnabas ist geistig auf dem Stand eines Kindes und soll in ein Heim eingewiesen wer­ de. Der einzige Mensch, der das ver­ hindern kann, ist der Vater, dem sie nach 15 Jahren Funkstille in einer ra­ santen und turbulenten Moped-Odys­ see auf die Spur kommen.

(ewei). Hans steckt in einer handfes­ ten Midlife-Crisis: Er hat seinen Job verloren, seine Kinder gehen ihm aus dem Weg, auch seine Ehefrau Yvon­ ne scheint ihn nicht mehr wirklich zu beachten. Das wird auch nicht bes­ ser, als sich eines Tages ein streunen­ der Hund zu der Familie gesellt: Da­ durch, dass Yvonne ihn mit offenen Armen aufnimmt und ihm gar einen ständigen Platz im Ehebett einräumt, fühlt Hans sich überflüssig und be­ deutungslos. Eine schwarze Komödie über die Angst, ersetzbar zu sein.

(ewei). Rainer Werner Fassbinders „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ soll neu verfilmt werden; der erste Drehtag steht kurz bevor. Doch Regis­ seurin Vera sucht in ihrem perfektio­ nistischen Ehrgeiz noch immer nach der Idealbesetzung für die Hauptrolle. Casting-Agentur-Chef Gerwin freut sich über diesen Schwebezustand, an dem alle anderen langsam verzweifeln: Er verdient sein Geld als Anspielpart­ ner für die Schauspielerinnen, die den nervenzehrenden Cast eigentlich gar nicht nötig hätten.

Haus ohne Dach Deutschland 2017 Regie: Soleen Yusef Mit: Mina Özlem Sagdıç, Sasun Sayan, Murat Seven u.a. Vertrieb: indigo Laufzeit: 117 Minuten Preis: ca. 16 Euro

Eine bretonische Liebe Frankreich 2017 Regie: Carine Tardieu Mit: François Damiens, Cécile de France u.a. Vertrieb: good!movies Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Rebel in the Rye USA 2017 Regie: Danny Strong Mit: Nicholas Hoult, Kevin Spacey u.a. Vertrieb: EuroVideo Medien Laufzeit: 105 Minuten Preis: ca. 10 Euro

Reise in den Krieg

Auf explosivem Terrain

Wege der Selbstfindung

(ewei). Die drei in Deutschland auf­ gewachsenen Geschwister Jan, Alan und Liya müssen den letzten Wunsch ihrer Mutter erfüllen und sie in ih­ rem im kurdischen Teil des Irak gele­ genen Heimatdorf beerdigen – neben dem Vater, der einst Selbstmord be­ ging. Widerstrebend machen sie, die nur noch wenig miteinander zu tun haben, sich auf eine Reise in das vom Krieg versehrte Kurdistan. Dabei bre­ chen alte Wunden auf, wird Totge­ schwiegenes plötzlich ausgesprochen. Eine Reise in das Herz einer Familie.

(ewei). Erwan hat eine gefährliche und anstrengende Arbeit: An der Küs­ te der Bretagne sucht er nach immer noch nicht geborgenen Weltkriegsmi­ nen, um sie mit der ihm eigenen Ruhe und Bedachtsamkeit zu entschärfen. Doch irgendwann wird sein Leben ganz anders durcheinandergewirbelt: Als seine Tochter schwanger wird und den Kindsvater nicht nennen will, stellt er fest, dass auch er nicht der leibliche Sohn seines Vaters ist. Au­ ßerdem taucht noch die mysteriöse und ungestüme Anna auf.

(ewei). Der spätere Schriftsteller J.D. Salinger kämpft im New York der 1930er Jahre um Selbstfindung beim Schreiben, Leben und Lieben. Er will Kurzgeschichten-Autor werden, ver­ sucht sich zu diesem Zweck in allen möglichen Experimenten in Sachen Sex, Drogen und Beziehung – pas­ send zu dem rebellischen Genie, für das er sich hält. Dabei verliebt er sich unsterblich – und unglücklich – in Oona O’Neill und trifft Professor Whit Burnett, der sein Talent in die richtigen Bahnen lenkt. Juni 2018 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Festival mit Volltreffern Lyrische Musiker und musikalische Lyriker beim poetischen Stelldichein im Literaturhaus

A

von Erika Weisser

Info Lauter leise Lesekonzerte 22. bis 24. Juni 2018 Literaturhaus Freiburg Bertoldstraße 17

64 chilli Cultur.zeit Juni 2018

m vorletzten Wochenende im Juni steigt im Literaturhaus Freiburg das erste Fes­ tival für Poesie. Einen Abend und zwei Tage lang gibt es dort „Lauter leise Lese­ konzerte“. Namhafte und unbekannte, junge und erfahrene, klassische und ex­ perimentelle Dichter treffen sich mit ebensolchen Musikern zu Lesungen und Sessions mit lauten und leisen Tönen: „Lyrik von heute, wie sie am schönsten klingt“, bringt Literaturhausleiter Mar­ tin Bruch das facettenreiche Projekt auf einen knappen Nenner.

Lyrik als Chorgesang präsentiert der Süduferchor.

Der erklärte Lyrik-Liebhaber kam schon vor geraumer Zeit auf die Idee, „so ein Po­ etenfest zu veranstalten“ und hat sich auch gleich die passende Alliteration für den Ti­ tel ausgedacht. Wegen des Umzugs vom Alten Wiehrebahnhof in die Alte Uni machte sich Bruch aber erst vor einem Jahr an die Umsetzung. Inzwischen hat er das Festival nicht nur minutiös konzipiert und organisiert, sondern – über Förderanträge beim Landes-Innovationsfonds Kunst – auch finanziert. Nun kommen „durch eine schöne Anrei­ hung von glücklichen Zufällen“ viele Auto­ ren zusammen, die sich in der deutschspra­ chigen Lyrik-Szene bereits einen Namen gemacht haben, darunter einige „Voll­treffer“. Er hofft, mit der bewussten Ak­zentuierung des Grenzbereichs zwischen Lyrik und Mu­ sik das richtige, leichte Format für die Dar­ stellung der besonderen Reize dieses literari­ schen Genres gefunden zu haben, das „schwierig zu präsentieren ist“. Deshalb gibt es auch nur drei klassische Lesungen, allerdings aus brandneuen Bü­ chern. Eröffnet wir dieser Samstagsnach­ mittags-Reigen mit „wundgewähr“ von José F. A. Oliver, dem Verfasser vieler lyri­ scher Fahrtenbücher zwischen Sprachen und Landschaften. Ihm folgt Martina Hefter, die in „Es könnte auch schön wer­ den“ die Unterbringung eines Familien­

mitglieds im Pflegeheim in Poesie verwan­ delt. Den Reigen schließt Raphael Urweider, dessen „Wildern“ im Dickicht der Städte und Wälder nichts anderes ist als Gegen­ wartskunde im Gedicht. Die titelgebenden Lesekonzerte sind über das ganze Festival verteilt. Sie werden von Dichtern gestaltet, die mit ihren Texten selbst musikalisch arbeiten. Dazu gehört etwa Ulrike Almut Sandig, deren „Hörbare Dichtung“ durch den Einsatz von Technik von der Lesung zum polyphonen Vortrag wird. Dazu gehören auch Ulf Stolterfoht, der Musikgedichte über den „Nachbau der Fo­ rellenmaske“ vorträgt, und Rike Scheffler mit ihrer Performance „Der Rest ist Reso­ nanz“. Und, natürlich, PeterLicht, der Pop­ musiker, der zur Eröffnung des Festivals gleich das Ende des Kapitalismus besingt. PeterLicht zählt zu den besagten „Volltref­ fern“, ebenso wie Marcel Beyer, dem Hu­ chel-Preisträger, der mit Christian Dierstein, dem Percussionisten des Ensemble Recher­ che, die Sonntagsmatinee zum Thema „Aber abends frisst uns die Musik“ gestaltet. Und bevor Nora Gomringer das Festival zum Fi­ nale furioso führt, stimmt der Süduferchor noch lyrische Minnesänge an, darunter Walther von der Vogelweides „Unter der Lin­ den“. Leider nicht wirklich unter Linden: der schattenreiche Innenhof ist gerade Baustelle und darf nicht betreten werden.


FRezi

Kein Kernkraftwerk in wyhl und auch nicht ...

von Marion Schneider (Hrsg.) Verlag: Metropol, 2018 176 Seiten, Broschur Preis: 19 Euro

Du springst, ich falle

von Maryam Madjidi Verlag: Blumenbar/ Aufbau, 2018 224 Seiten, Broschur Preis: 18 Euro

Carlo Büchners Vollschuss

von Carlo Büchner Verlag: Schmidt, 2018 48 Seiten, gebunden Preis: 12,50 Euro

Widerstand im Rheinwald

Ein Raum voller Wörter

Vom Runden im Eckigen

(ewei). Der nordwestlich des Kai­ serstuhls gelegene Rheinwald zwi­ schen Wyhl und Weisweil ist von zahlreichen verschlungenen Altrhein­ armen durchzogen. In dieser ar­ chaischen Landschaft ging einst der Weisweiler Fischermeister Baltha­ sar Ehret seinem Tagwerk nach. Dort war 1974 aber auch ein Projekt in Planung, das aus dem schon im­ mer recht streitbaren Mann einen Rebellen machte: das Kernkraft­ werk Wyhl, das die damalige Lan­ desregierung als unerlässlich für die Energieversorgung des Südwestens einstufte. „Der Belz“ mochte sich damit nicht abfinden. Zumal am gesamten Oberrhein Industrieansiedlungen geplant waren, von denen „große Gefahren für Natur und Mensch ausgingen“. Von der Sorge um diese zerstörerische Entwicklung getrie­ ben, organisierte er den Widerstand gegen sämtliche Vorhaben. Vom dem Tag an, da er davon erfuhr. Mit Gleichgesinnten aus dem El­ sass, der Schweiz, den umliegenden Kaiserstuhldörfern und „der Stadt“. Und oft von seinem Bett an der „Nie­ renmaschine in der Uniklinik“ aus. Mit Erfolg: Acht Jahre nach der Platzbesetzung und mehreren Pro­ zessen wurde das Projekt aufgege­ ben. Damals führte Marion Schnei­ der mit Ehret viele Gespräche. Aus den Aufzeichnungen ist nun das Buch entstanden, das die Geschichte wieder lebendig werden lässt.

(ewei). Maryam hat drei Geburten hinter sich. Dabei wäre es zur ers­ ten fast nicht gekommen: 1980, nach dem enttäuschenden Ende der Iranischen Revolution, protes­ tiert ihre schwangere Mutter an der Universität Teheran gegen den Un­ terdrückungsapparat der neuen is­ lamistischen Machthaber. Um sich vor den mörderischen Polizeiknüp­ peln zu retten, springt sie aus ei­ nem Fenster ins Freie. „Sie springt, und ich falle“ be­ schreibt die Autorin jenes pränatale Trauma, das sie lange belastet. Zu­ mal ihre Eltern ihr auch später nur wenig Halt geben. Als überzeugte Kommunisten leisten sie weiter Wi­ derstand gegen das Regime – was ihnen in der Wahrnehmung des Kindes wichtiger ist als die Tochter. Und als sie schließlich ins Exil nach Paris gehen, nehmen sie ihr noch den letzten Halt: die Großmutter, die zurückbleibt. Indessen verhelfen sie ihr zur zweiten Geburt, die nicht weniger schmerzhaft ist als die erste: Das Mädchen fällt in eine als feindlich empfundene Umgebung, verwei­ gert das Essen, die Sprache – und schafft es eines Tages, den Raum wieder mit Wörtern zu füllen. Fran­ zösischen Wörtern, die ihr später die dritte Geburt ermöglichen: zur selbstständigen Wanderin zwischen einst unvereinbaren Welten. Groß­ artig – Prix Goncourt du Premier Roman 2017.

(ewei). Es gab Zeiten, und die liegen noch nicht einmal so lange zurück, da war vom SC Freiburg noch wenig die Rede. Da galt die ganze Aufmerk­ samkeit dem inzwischen 111 Jahre alten FFC, der 1907 immerhin Deut­ scher Meister wurde, nach dem jetzt aber kaum mehr ein Hahn kräht. Doch früher spielten in diesem Verein heutige Trainer wie Lutz Han­ gartner und auch Christian Streich. Und noch früher Hans Büchner, der Großonkel des Emmendinger Car­ toonisten Carlo Büchner, der pünkt­ lich zur WM eine kleine und amü­ sante Chronik nicht nur dieser wichtigen Ereignisse rund um den Fußball gezeichnet hat. Aus gegebenem Anlass prangt natürlich bereits auf dem Cover un­ verkennbar ein weiterer ehemaliger Freiburger (SC-)Spieler, der seine Mannschaft gar zum Weltmeister trainiert hat: Jogi Löw. Er tritt in dem witzigen und dennoch recht informativen Bändchen immer wie­ der in Erscheinung; auf einer der letzten Seiten ist zu beobachten, wie er sich „bereits sehr intensiv“ auf die Mission Titelverteidigung und „unsere kommenden Gruppen­ gegner“ vorbereitet. Zur richtigen Bewertung bevor­ stehender Spiele und vor allem des Schiedsrichterverhaltens erklärt Büchner noch einmal die wichtigs­ ten Regeln – und liefert flott ge­ zeichnete Beispiele berühmter Ver­ stöße dagegen. Juni 2018 chilli Cultur.zeit 65


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