Heft Nr. 4/19 9. Jahrgang
Ab
4 . 7.o
im K in
Literatur
Forschung
Musik
Theweleits neue Männerphantasien
Intelligente Kunst trifft KĂźnstliche Intelligenz
die Musiknerds von Liner Notes
KULTUR
Robokalypse oder Heilsversprechen
Fotos: © bar
Stadtwandforschung: Wo intelligente Kunst auf künstliche Intelligenz trifft
K
von Lars Bargmann
52 chilli Cultur.zeit Juni 2019
ünstliche Intelligenz ist, um es mit Gün- win Zulkifli vom Verein Kulturaggregat, ter Grass zu sagen, ein weites Feld. Ein der die künstlerischen Spielpartner fürs elektrisierendes. Eines, das auch an der Projekt ausgesucht hat. Mr. Woodland ist Freiburger Universität immer mehr dabei, der Freiburger Streetart-Künstler Raum greift. Hier, wo die ersten WM-Ti- Smy und die Künstlerin Sare, Marc C. tel im Roboter-Fußball geholt wurden, Woehr und Fritz Boogie aus Stuttgart, das wo schon 2012 Obelix in einer Robo- Berliner Künstlerteam Innerfields. Auf der anderen Seite stehen die Fortik-Version nicht nur von Kinderaugen bestaunt durch die Stadt gefahren ist, scher, stehen Informatik-Professor Wolfram wo für Rektor Hans-Jochen Schiewer Burgard, Philipp Kellmeyer, KI-Ethiker und „einer der interessantesten KI-Standorte weltweit“ ist, hat sich nun das Projekt „KI ist eine scheinbar bedrohliche Welt“ Stadtwandforschung aus dem Ei gepellt. Forscher treffen Künstler. Neurologe, der Neuro-Robotiker Joschka Leere Hausflächen mutieren zu Murals, Bödecker, die Informatikerin Marina Wandbildern. Eine Straßenbahn mit Kollmitz (alle Freiburg) und die japanische KI-Motiven tourt durch die Stadt. KI KI-Wissenschaftlerin Yukie Nagai. „KI ist eine scheinbar bedrohliche mischt sich unters Volk. Welt“, sagt Kellmeyer. Die einen sehen „Künstliche Intelligenz ist ein komple- in ihr das Heilsversprechen, Menschlixes Thema, wir Künstler stehen auf der ches, Allzumenschliches hinter sich zu Laienseite und haben jetzt die einmalige lassen; die anderen die Robokalypse, bei Chance, sich auf so hohem Niveau mit der die Maschinen in Terminator-MaForschern zusammenzusetzen“, sagt Dar- nier die Weltherrschaft an sich reißen.
WISSENSCHAFT & STREETART Genau das umrahmt das weite Feld, in dem die Stadtwandforschung sich jetzt in Freiburg einen aufmerksamkeitsstarken Platz erarbeitet. Kann Kunst, kann Streetart komplexe wissenschaftliche Prozesse greifbar machen? Ist Streetart ein neues Transportmittel in die Gesellschaft für die KI? Die Kunstaktion der Uni – ein Beitrag zum „Wissenschaftsjahr 2019 – Künstliche Intelligenz“ und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert – will Bewusstsein schaffen, Denkanstöße geben, eine Debatte eröffnen. Auf dem Fabrik-Gelände an der Habsburgerstraße ist eine erste Wand inszeniert. Ein Nussknacker, der einen Vogel hat, ist zu sehen. Ein Passant läuft vorbei, bleibt kurz stehen, geht aber schon nach ein paar Sekunden weiter. Ein bissiger Toaster, der Schlangenlinien auf die Blaue Brück wirft, die mehr Kontur als Kontrast hat. Weiter hinten zwei seltsame Figuren, mehr Maschinen als Menschen – auf den ersten Blick. Auf den zweiten doch irgendwie menschlich. Nicht bedrohlich. Fremd vielleicht. Auf einem anderen Polaroid erkennt man die Star-Wars-Figuren R2-D2 und C-3PO, so gezeichnet, als ob die Roboter wieder von einem Roboter erkannt werden. Kreiert haben die Wand die Künstler Smy und Fritz Boogie und KI-Forscher Burgard. Auch Motive auf der Tram gehen auf ihr Konto. Für jedes Werk arbeitet ein Forscher mit einem Künstlerteam zusammen. Bald, Ende Juli, soll auch das Sonnensegel an der Universitätsbibliothek mit gesprayten Kunstmotiven weiter Wind in der Debatte um die künstliche Intelligenz entfachen. „Ein Kunstwerk muss in drei Sekunden unmissverständlich sein“, sagt Mr. Woodland. Das hat die intelligente Kunst der künstlichen Intelligenz voraus.
Der Künstler Marc C. Woehr (l.) und der Informatiker Joschka Bödecker machen gemeinsame Sache bei der Stadtwandforschung. Die Impressionen (linke Seite und Beatles-Cover unten) sind von Smy und Fotos: © Minz & Kunst Fritz Boogie.
Info Die ersten Wände: Habsburgerstraße 9, Durchgang zum Hinterhaus. Humboldtstraße, Wand am KG III, Wandgespräche gibt es ab Juli immer dienstags ab 19 Uhr. Die KI-Tram: Fährt bis 31. November auf der Linie 4 durch die Stadt. Am 21. Juni gibt es Tramgespräche mit dem Informatik-Professor Wolfram Burgard (16 bis 17 Uhr, 19 bis 21 Uhr). Das Sonnensegel an der UB: Ab Ende Juli Graffiti- und KI-Workshop: 2. bis 5. September Ausstellung: 14. September bis 12. Oktober, Kulturaggregat, Hildastraße Wandexpeditionen: jeweils am 18. Oktober, 2. November und 16. November, Treffpunkt Hildastraße 5, 13 Uhr Die Projektleiterinnen: Mathilde Bessert-Nesselbeck und Sabrina Livanec vom Projekt „Nexus Experiments“ der Universität Freiburg. Juni 2019 chilli Cultur.zeit 53
Kultur
Kicken, spielen, aufklären Erfolgreiche Podcasts made in Freiburg von Stefan Mertlik
Botschafter per Podcast: Alexander Koneczny (Spodcast Freiburg), Moritz Prox-Ambil, Ismene Hermann, Sebastian Kromer und Simon Meier (Jung und Fotos: Privat, Stefan Mertlik / llustration: Pixabay Freudlos) und Manuel Fritsch (Insert Moin).
A
uch an Freiburg geht der Podcast-Hype nicht vorüber. Insert Moin, Spodcast Freiburg, Jung und Freudlos sind drei erfolgreiche Beispiele. chilli-Autor Stefan Mertlik hat sich mit den Machern getroffen.
Jung und Freudlos Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Splendid Research hört fast jeder Dritte Deutsche regelmäßig Podcasts. Das sind Millionen Menschen, die es zu erreichen gilt. Aber wie? „Zu Beginn waren wir Ärzte, die in ein Mikrofon gesprochen haben“, erzählt Sebastian Kromer von Jung und Freudlos, „aber jetzt, nachdem wir ein paar Folgen produziert haben, sind wir richtige Pod caster.“ Seine Kollegin Ismene Hermann nickt: „Wir hatten das Glück, kurz nach der ersten Folge die Macher des ‚PsychCast‘ zu treffen, die Werbung für uns gemacht haben.“ Deswegen sei das Quartett, zu dem noch der Techniker Simon Meier und der Student Moritz Prox-Ambil zählen, so schnell zu Erfolg ge54 chilli Cultur.zeit Juni 2019
kommen. „Wir haben von da an in den sozialen Medien gemerkt, dass uns viele Leute folgen, die auf keinen Fall mehr Studierende sind“, sagt Meier. Seit Oktober nimmt Jung und Freudlos einen Podcast für die Uniklinik Freiburg auf. Darin sprechen sie so erfolgreich über psychische Erkrankungen, dass sie längst über die Grenzen der Freiburger Hörsäle hinaus bekannt sind.
Insert Moin Manuel Fritsch schlägt mit „Insert Moin“ in eine ganz andere Kerbe. Zusammen mit seinem Partner Michael Cherdchupan veröffentlicht der 40-Jährige seit November 2010 den „täglichsten Spiele-Podcast der Welt“. Alle 24 Stunden erscheint eine neue Folge. Darin berichtet der Vaubaner über Video- und Brettspiele. Die Videospielindustrie ist mittlerweile zwar umsatzstärker als das Filmgeschäft, fristet im Bewusstsein der Massen dennoch ein Nischendasein. Das mache es auch für Videospiel-Podcasts deutlich schwerer: „Spielen ist Mainstream, aber sich gezielt über Videospiele zu
informieren, ist es noch nicht.“ Im Vergleich zu seinen Freiburger Kollegen hat Fritsch trotzdem etwas geschafft, von dem viele träumen: Er lebt vom Podcasten. „Ich hatte mit meinem Job in einer Agentur und dem Podcasten gefühlt zwei Jobs, also musste ich mich entscheiden, ob ich den Schritt wage und aus dem Hobby einen Beruf mache“, erinnert er sich an 2015 zurück. Damals richtete er ein Profil auf der Website „Patreon“ ein, über das Hörer monatlich spenden können. Im Gegenzug erhalten diese exklusive Folgen oder andere Geschenke. Mittlerweile unterstützen ihn rund tausend Hörer finanziell. Das reiche, um den Lebensunterhalt zu 80 Prozent zu bestreiten. Die restlichen 20 Prozent decke er als freier Journalist für Videospielmagazine ab.
Einen so ehrgeizigen Veröffentlichungsrhythmus wie Fritsch muss Alexander Koneczny vom „Spodcast Freiburg“ nicht einhalten. Seit der Fußball-Saison 2018/2019 analysiert der studierte Journalist in seinem Podcast die wöchentlichen Spiele des SC Freiburg. Koneczny ist von der Reichweite seines Podcasts überrascht. Und freut sich vor allem über die Teilhabe seiner Hörer: „Über Twitter und per E-Mail erhalte ich viel Lob, aber auch Verbesserungsvorschläge.“ Er ist sich sicher, dass seine Gäste einen großen Teil zu den Hörerzahlen beitragen. So seien Max-Jacob Ost vom Podcast „Rasenfunk“ oder Blogger und Podcaster Lennart Sauerwald in Fußballkreisen bekannte Gesprächspartner, die über ihre Kanäle Werbung für den „Spodcast“ machen. Koneczny bietet auf seiner Website zwar auch eine Möglichkeit für Spenden an, er sehe das aber nur als eine Art Trinkgeld: „Der Traum, mit dem Podcast Geld zu verdienen, ist da, er ist aber nicht die erste Priorität.“
Preis und Lehrauftrag Diese Gedanken müssen sich die vier Betreiber von „Jung und Freudlos“ nicht machen. Sie verstehen den Podcast als einen Teil ihres Lehrauftrags, wie Kromer verdeutlicht: „Der Podcast ist als innovatives Lehrprojekt gestartet, um Studenten auf eine andere Art zu erreichen und Psychiatriethemen unterhaltsamer zu vermitteln.“ Das überzeugte auch die Universität Freiburg, die das Projekt mit dem Lehrentwicklungspreis „Instructional Development Award“ auszeichnete. Das Preisgeld investierten sie in Equipment und die Bezahlung von Prox-Ambil, der als Interviewer im Podcast auftritt. Während „Jung und Freudlos“ für die Erfüllung eines Lehrauftrags angetreten sind, lebt Koneczny seine Leidenschaft aus. Heute arbeitet er zwar im Marketing, er wollte aber schon immer Sportjournalist werden. Einen Fuß habe er mit dem Podcast nun in der Tür. Fritsch genießt die Freiheiten, die das Medium im Vergleich zum geschriebenen Wort bietet: „Über Spiele
zu schreiben, ist etwas Analytisches“, erläutert er, „im Podcast schwingen dagegen auch die Zwischentöne wie Begeisterung oder Enttäuschung mit.“
Weite Wege Welchen Einfluss hat die Stadt Freiburg auf die eigenen Podcasts? Bei Koneczny ist der Bezug zur Breisgau- Metropole schon im Namen klar: „Selbstverständlich, ich bin immer ein Freiburger Bobbele gewesen.“ Nach dem Studium zog er aus beruflichen Gründen zwar nach Berlin, der Stadt sei er aber immer noch verbunden, plane sogar, irgendwann zurückzukehren. Fritsch sieht im Freiburger Leben keinen Vorteil für sein Schaffen: „Leider überhaupt nicht, weil Freiburg keine Medien- und Spiele-Stadt ist.“ Spielpräsentationen finden in Städten wie Berlin, Hamburg, Köln und München statt, klagt er: „Egal wohin, man ist immer lang unterwegs.“ „Freiburg hat die höchste Psychiater- und Psychotherapeutendichte Deutschlands“, erzählt Ismene Hermann scherzhaft, „da passen wir also perfekt rein.“ Als klassische Studentenstadt identifiziert auch Kromer seine Hörerschaft ganz klar mit Freiburg: „Wenn ich unsere Hörer imaginiere, denke ich immer an die Mensa in der Rempartstraße und frage mich, wen von dort könnte das interessieren.“
Kulturnotizen Zehn Jahre Kunsthalle Messmer Es gibt eigenwillige Wege, die zu einer Leidenschaft führen. So war es auch bei Jürgen Messmer, Gründer und Spiritus Rector der Kunsthalle Messmer in Riegel, die dieses Jahr ihr Zehnjähriges feiert. „Nach einer Schreibgerätemesse in New York bekam ich eine Einladung von dem Sammler Henry Drake“, erinnert sich Messmer. „Ich war todmüde und hatte eigentlich keine rechte Lust, bin aber hingegangen.“ Bereut hat er es nicht: Messmer entdeckte eine Skizze von Franz Marc, eine Vorarbeit zum „Blauen Pferd“ – und war gebannt. Drake bemerkte das und schleppte den Gast zwei Stunden durch sein Haus – vorbei an echten Kandinskys, an Werken von Feininger, Monet, Utrillo, Picasso, van Gogh: „Es war ein Erlebnis!“ Bei Messmer war das Kunstvirus nun endgültig ausgebrochen.
Foto: © Sammlung Messmer
Spodcast Freiburg
Eine langfristige Sache Ein Blick auf Spotify oder iTunes verrät, dass die Menge der Podcasts wöchentlich steigt. Freiburgs Podcaster sind sich einig, dass das nichts mit einem Hype zu tun hat, der bald abflaut. Koneczny meint, dass Podcasts in unsere schnelllebige Zeit passen: „Der Trend geht zu mehr Effektivität, weshalb man Podcasts häufig hört, während man etwas anderes macht.“ Fritsch hält das Wachstum ebenfalls für gesund und verweist auf die Entwicklungsmöglichkeiten, die das Medium noch habe: „Da ist noch sehr viel machbar, was Storytelling, Effekte und den Einsatz von Musik angeht.“ In die Zukunft schauen Freiburgs Podcaster mit viel Zuversicht. Die Szene mag klein sein, an Qualität mangelt es ihr jedoch nicht.
André Evard: Roses bleues, 1924.
Bei einem Besuch in Drakes Chalet in der Schweiz, 1978, lotste der ihn zu einem Kunsthändler, der „interessante Bilder“ hätte. Dort hingen, so erinnert sich Messmer, die ersten Evards, die er je sah. André Evard galt und gilt als wegweisender Schweizer Künstler der Moderne. „Ich musste Bilder von ihm haben“, sagt Messmer, „aber der Händler wollte nur das gesamte Nachlasskonvolut von 700 Arbeiten oder keine verkaufen.“ Messmer ging zu seiner Hausbank in Villingen-Schwenningen und bekam den nötigen Kredit. Im Prinzip war das auch die Geburtsstunde der Kunsthalle, die vor zehn Jahren in Riegel eröffnete. Ausstellungen über Marc Chagall, Le Corbusier, Victor Vasarely, Joan Miró oder Salvador Dalí waren die Publikumsrenner, aber auch Evard ist immer wieder zu sehen. So wie jetzt vom 20. Juni (mit Museumsfest und Vernissage) bis zum 15. September in einer Retrospektive zum Zehnjährigen. spk
Musik
Geteilte Leidenschaft Liner Notes droppen Debüt-Album
S
echs Musiker. Zwei Stimmen. Ein Sound mit Seltenheitswert. Liner Notes gibt’s erst seit eineinhalb Jahren. Nach rund 20 Shows hat die Freiburger Band im Juni ihre erste Platte rausgebracht. Die könnte HipHop-Fans genauso abholen wie Jazzer oder Soul-Liebhaber. In eine Schublade stecken lassen wollen sich die Musiker um Keyboarder Timo Langpap aber nicht.
von Till Neumann
Mögen es bunt und lässig: Timo Langpap (von links), Lukas Steinmeyer, Julia Mikulec, Björn Geiger, Nicolas Schneider und Paul-Aaron Wolf Fotos: © Linda Stark, Manos Tzivakis
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Bisher gelten Liner Notes als Geheimtipp. Die Kostproben der Crew sind überschaubar. Sie spielten eine Show bei „Freiburg Stimmt Ein“ auf dem Schlossberg. Im E-Werk machten sie das Vorprogramm für „Lola funkt“. Auch in der Klimperstube in Hugstetten gaben sie ihre Tracks zum Besten. Ein paar Konzerte gab’s außerhalb der Stadt. Die ersten Hörproben der neuen Platte zeigen: Da ist Potenzial für mehr. Frisch, international und zeitlos klingt das, was die Musiker zwischen 20 und 30 Jahren in den vergangenen Monaten zusammengebraut haben. Soulig kommen Beats und Gesang daher. Ergänzt durch smoothe Rap-Parts, Synthie-Spielereien und ein bisschen Pop- Appeal. Auffällig dabei: die entspannte
Grundstimmung der Platte. Abriss gibt’s anderswo. Groove, Lyrics und Melodien stehen im Vordergrund. Neo Soul nennen die Musiker ihren Sound. Ein Genre, das Sänger wie Erykah Badu oder D’Angelo geprägt haben. Dennoch wehren sich Liner Notes gegen eine Einsortierung. „Ich bin wahnsinnig genervt von Schubladen-Denken“, sagt Timo Langpap. „Aber irgendwas musste man ja ankreuzen.“ Die Bandkollegen lachen. Nach intensiven Produktionswochen ist die Stimmung gelöst. Die CD kam an diesem Vormittag aus dem Presswerk.
„Wahnsinnig genervt vom Schubladen-Denken” Freiburg können sie etwas bieten, das hier selten ist: eine weibliche und männliche Stimme in einer Band. Die beiden singen und rappen – auf Englisch und Französisch. „Das ist ein Wiederkennungswert“, sagt Drummer Paul-Aaron Wolf. Gerade hier im Grenzgebiet sieht er die Band damit gut aufgestellt. Er könnte sich das aber genauso gut in London vorstellen. Gerade war
Neo Soul er für ein Auslandssemester in Helsinki. Der internationale Ansatz ist da fast schon selbstverständlich. Dass Französisch Einzug in ihre Texte findet, ist kein Zufall. Sängerin Julia Mikulec kommt aus der Nähe von Genf und ist Muttersprachlerin. Ihr Kollege am Mikro ist Björn Geiger. Der studierte Tubaspieler ist in Kehl aufgewachsen, lebt aber mittlerweile in Freiburg. Die meisten Bandmitglieder sind oder waren Studenten der hKDM, die jetzt Macromedia heißt.
„Geheimwaffe” kommt auch live zum Einsatz Genau da ist auch die Band entstanden. Langpap hat die ersten Schritte mit seiner Bachelorarbeit gemacht. Sieben der zehn Album-Tracks hat er dafür geschrieben. Die Abschlussarbeit hieß wie die Platte heute: The Struggle and the Love. Ein Bild für Leid und Liebe eines Musikers. 2014 hörte er Björn Geiger auf einer WG-Party singen und sprach ihn an. Schnell war klar: Sie wollen gemeinsam was starten. Kurz vor der Abgabe seiner BA-Arbeit wurde ihm Julia Mikulec empfohlen, die ebenfalls an der hKDM studiert. Er nahm Kontakt mit ihr auf. Auch dort stimmte die Chemie. Heute ist sie fester Bestandteil der Gruppe und wird von allen Seiten geschätzt: „Sie aufzunehmen, war eine unserer besten Entscheidungen, das passt super zusammen“, sagt Langpap. Die Tracks erzählen von Sinnsuche, dem Leben als Musiker und von der Hoffnung, sich mit der Kunst selbst zu verwirklichen. Untermalt werden die Stimmen von klassischen Instrumenten wie Klavier, Gitarre und Bass. Auch ein paar Effektspielereien haben sich Liner Notes nicht nehmen lassen. So arbeitet Mikulec mit einem Harmonizer, um ihren Gesang flächiger zu machen. Ein Gerät, das sie auch live einsetzt: „Ich kenne keine Band, die das auf der Bühne nutzt“, sagt Langpap. Für Drummer Wolf ist die Maschine sogar eine „Geheimwaffe“. Er mag bei Liner Notes, dass jeder seine Freiräume bekommt. In Jazzmanier gönnen sich die Musiker Soli für jeden Einzelnen. Und haben den in Freiburg lebenden US- Jazztrompeter Gary Barone für ein Feature gewinnen können. Der spielte schon für Frank Zappa. Und steht mit seinem stattlichen Alter für den grenzenlosen Ansatz der Liner Notes.
Wichtig ist ihnen, eine Einheit zu formen. Das Plattencover zeigt sie als ein verschmelzendes Ganzes aus unzähligen Linien. „Solo zu arbeiten, würde mich langweilen“, sagt Langpap. Nach der Abgabe seiner Bachelorarbeit hat er das Projekt geöffnet, um es gemeinsam weiterzuentwickeln. „Wir wollen nicht HipHop oder R’n’B sein. Wir spielen einfach los. Das, was dabei rauskommt, kommt raus“, sagt er. „Vieles entsteht spontan“, ergänzt Björn Geiger. Als großer Freundeskreis verstehen sie sich. „Es fühlt sich bei Liner Notes nicht nach Arbeit an“, sagen sie. Ihr Bandname steht für den Text in CD-Booklets oder auf der Rückseite von CD-Hüllen. Mit dem Titel outen sie sich als Menschen, die solche Infos lesen. Musik-Nerds eben. Das verbindet. Genau wie die Begeisterung für Jazzpianist und HipHop-Produzent Robert Glasper. Der trägt ein Shirt mit dem Aufdruck „I read Liner Notes“, erzählt die Band. Darin haben sich die Freiburger wiedergefunden. „Wir lieben alle mehr oder weniger den gleichen Scheiß“, sagt Paul-Aaron Wolf. Geteilte Leidenschaften also. Den Struggle macht das leichter. Die Liebe größer. Ideen für die nächste Platte haben sie schon jetzt: Gerne würden sie sich mal an deutschen Texten versuchen.
Zusammengefunden: Das Plattencover verschmilzt die sechs Künstler zu einer Einheit. Initiiert hat die Band Pianist Timo Langpap. Für Vocals sind Julia Mikulec und Björn Geiger zuständig.
Juni 2019 chilli Cultur.zeit 57
Musik
Superhelden und Aliens
Leopold Kraus Wellenkapelle
Otto Normal
Surf
Indie Pop
So geht Musik
Puls (EP)
Foto: © Privat
4 Fragen an Dramaturg Jens Berger Wir verstehen viel mehr von klassischer Musik, als wir glauben. Davon ist der Freiburger Jens Berger überzeugt (45). Er hat das Buch „111 Gründe, klassische Musik zu lieben“ veröffentlicht. Im Interview mit Till Neumann erklärt er, warum es das braucht. Herr Berger, Sie schreiben, dass klassische Musik boomt. Warum gibt’s das Buch dann? Stimmt, die Zahl der jungen Konzertbesucher steigt. Ich habe viele gefragt, warum sie Klassik hören. Oft bekomme ich ein Schweigen als Rückmeldung. Sie trauen sich nicht, etwas zu sagen. Also liefere ich ihnen 111 Gründe. Sie schreiben mit Humor von Außerirdischen, Gruseligem und Most. Sollte man bei klassischer Musik mehr lachen? Ja, es gibt sehr unterschiedliche Konzerte. Manche sind sehr anspruchsvoll, andere eher Unterhaltung. Es würde mich nicht ärgern, wenn mehr gelacht wird. Da ist Luft nach oben. Beim Know-how aber weniger als gedacht ... Genau. Wir nehmen viel mehr davon auf, als wir meinen. Sie begegnet uns im TV und Kino. Kein Superheld kommt ohne sie aus. Darüber sprechen ist wie essen gehen. Ich koche vielleicht nicht zu Hause japanisch. Wenn ich im Restaurant war, kann ich darüber reden. Was ist Ihr Lieblingsgrund von allen 111? Ich habe mir die Vier Jahreszeiten von Vivaldi genauer angehört. Das ist wunderbare Unterhaltung. Aber ich habe beim zweiten Reinschnüffeln noch viel Tieferes gefunden. Da steckt mehr drin. 58 chilli Cultur.zeit Juni 2019
Sex und Ping Pong
Liebe und Politik
(bar). Die Scheibe braucht keine zwei Sekunden, um den Hörer in Bewegung zu setzen. Das dritte Album der Freiburger beginnt mit L.E.O.P.O.L.D. – und so geht die Musik gleich in Richtung eigenes Herz ab. Country „Plattfuß am Texaspass“ trifft später auf so was wie Rock’n’Roll (Hab’ keine Lust, aufzustehn, Die Girls hau’n ab), Torpedo Tom orgelt sich einen, Willi del Mare zupft den Bass, Manni Mabuse nimmt die Klampfe, Beat Bröngo trällert sich einen – und beim Hörer huschen Lächler übers Gesicht. Die Freiburger machen mächtig Welle und haben hörbar Spaß am Performen. Es geht um dufte und verpuffte Girls, schwere Tage, Sex und Einsamkeit. Es geht aber auch ganz ohne Worte (Soulbiest, Heimweh nach Tschipoke). Die Freiburger spielen seit 20 Jahren „beinahe immer geschmackvoll“ auf wenigen großen und dafür umso mehr kleinen Bühnen – und lassen sich durchaus überraschende Arrangements (Ping Pong mit King Kong) einfallen oder schicken einen Chor auf den Soundteppich (Für eine Handvoll Hafer). Es gibt die einen, die tagelang fußwippend zuhören könnten, und die anderen, denen die Songs am Ende doch zu ähnlich sind.
(tln). Anfang 2018 erschien das Album Wieder Wir von Otto Normal. Rund ein Jahr später bringt die Freiburger Indie-Pop-Band die nächste EP raus: Puls. Und die kann durchaus für Herzrasen sorgen. Die Beats sind wuchtig, gespickt mit technischen Spielereien. Verzerrte Stimmen, wabernde Dancehall-Delays und dicke Bässe schieben nach vorne. Dazu gibt’s Rap und Gesang. Textlich geht’s von Liebe über Politik bis zum Workalkoholic-Lifestyle. Beim Opener „Wenn Mona Lisa nicht mehr lächelt“ darf im Intro mitgesungen werden. Dann wird Gysi Kanzler und Dagobert Duck gibt einen aus. Das gleicht dem „achten Weltwunder“ und macht Spaß zu hören. Liebesgeschichten gibt’s bei Otto Normal nicht zu knapp. In „Sieben Leben“ erzählen sie vom Absprung aus einer Beziehung. Mit Autotune toben sich die Jungs im Outro ordentlich aus. Der erste Teil von „Alles und Immer“-Beats könnte auch Madonna gefallen. Die Hook hat Radio-Potenzial. Die sechs Tracks zeigen eine elektronischere Seite der Band. Gute Texte, markante Stimme, viel Energie. Der Mix aus Rap, Pop und Elektro klingt fresh. Wäre ein Wunder, wenn das nicht auch im Radio läuft.
Nächster Halt in Freiburg: 21. Dezember, Slow Club
Live: Otto Normal spielen am 13. Dezember im Jazzhaus Freiburg
Kolumne Alle Farben
EMU
Elektro
Indie-Rock
Sticker on my Suitcase
breathe in
... zum Datenschutz Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Kurzurlaub für die Ohren
Tief durchgeatmet
(mas). Sommer, Sonne, Partytime – so könnte man die neue LP von Alle Farben alias Frans Zimmer zusammenfassen. Passend zum Start der heißen Saison veröffentlicht der Berliner „Sticker on my Suitcase“. Schon beim ersten Track „Only Thing We Know“ haben Hörer das Gefühl, mit ausgestreckten Armen im Cabrio in den lang ersehnten Urlaub zu flitzen. Die leichten Elektro-Songs sind die ideale Hintergrundmusik für den entspannten Grillabend oder einen Strandausflug mit Freunden. Nachdem Zimmer 2016 mit „Music is my best Friend“ den Grundstein für seine erfolgreiche Chartkarriere legte, gelingt es dem Elektro-Enthusiasten jetzt, nahtlos an seine alten Gute-Laune- Hits anzuknüpfen. Neben „Fading“, „Little Hollywood“, „H.O.L.Y.“ und „Never Too Late” sind auch ein paar neue Lieder auf der Platte zu finden. Seinen Wurzeln bleibt Zimmer trotzdem treu: Besonders in der gelungenen Mitte des Albums erinnert „The Sad Cat“ an die Anfänge des Musikmachers. Mit „Sticker on my Suitcase” liefert er als gewachsene Szenegröße Sound für fast jedes sonnenverwöhnte Urlaubsszenario. Für eingefleischte Techno-Fans dürfte die Scheibe aber zu seicht ausfallen.
(pt). Auch auf ihrer zweiten Platte breathe in setzt das Freiburger Indie-Rock-Trio EMU auf die bewährte Mischung aus Gesang, Gitarre, Bass und Schlagzeug. Damit machen die drei zwar nichts neu, aber handgemachte Musik. Die elf Songs der Scheibe reichen von melancholisch bis sommerlich und von träge bis tanzbar. Direkt der zweite Track „Light It Up“ markiert einen Höhepunkt und erinnert mit einer Handvoll karibischer Klänge angenehm an die Beach Fossils in ihren besten Tagen. Bevor sich der Hörer aber dran gewöhnt, biegt der Song plötzlich rockig ab und verführt zum Schwofen statt zum Chillen. Damit breathe in vor lauter Sauerstoff nicht ins Hyperventilieren kommt, hält Frontmann Emanuel Hirt nach dem rockigen Start erst mal die Luft an und beschränkt sich auf den ruhigen „Liquid Lullaby“ und „Reed and Snow“ gekonnt aufs Hauchen und Säuseln. Danach nimmt die Scheibe schnell wieder Fahrt auf: „On the inside I’m untied, and I am glowing, heat it all all up“, schmettert Hirt auf „Heat“ ausgelassen über eingängige Riffs und kräftige Drums – Ohrwurmpotenzial. Leider kann nicht jedes Stück dieses hohe Niveau halten. Denn dort, wo die Produktion der Platte zu geschliffen ist, geht breathe in leider die Luft aus.
Live: Alle Farben legt auf am Samstag, 13. Juli auf dem Sea You-Festival auf.
Daten schützen, recht und gut, aber wer schützt uns vor den Daten selber, geschweige denn vor denen, die meinen, sich musikalisch des Themas annehmen zu müssen? Wie etwa eine gewisse Daniela Flickentanz mit ihrem Song „Daten, oh yeah, Daten“, der sich explizit mit der DSGVO auseinandersetzt. Das Ganze wurde initiiert vom Berufsverband der Datenschutzbeauftragten Deutschlands (BvD) – von wem auch sonst? Beworben mit dem Slogan „Datenschutz mit Ohrwurmqualität“ – der Wurm ist da ganz sicher drin – und dem Statement: Datenschutz kann auch Spaß machen! Mit einer Ukulele bewaffnet, räkelt sich die singende Datenschützerin zwischen Aktenordnern, und einige der Datenschutzbeauftragten gesellen sich zeitweise ebenfalls fingerschnippend dazu und leisten Beihilfe. Sie singt: „Daten oh, yeah Daten, wir müssen die Daten schützen, wir müssen sie hegen und pflegen, ich liebe Daten so sehr, darum müssen wir sie schützen, noch viel mehr.“ Daniela Flickentanz – wer schützt uns vor ihr? Die Geschpo warnt zumindest, einen voll umfänglichen Schutz kann sie nicht bieten, so viel ist sicher. Liebend gerne würden wir aber, auf welchem Wege auch immer, an die Adressdaten dieser Dame kommen, oh yeah, denn was kümmert uns der Datenschutz, wir müssen unsere Arbeit machen. Schutzlos grüßt, für die Geschmackspolizei Ralf Welteroth
kino
Konzert im Gedränge Brillanter Film über die grenzen überwindende Schönheit und Kraft der Musik von Erika Weisser
Der Klavierspieler vom Gare du Nord Frankreich 2019 Regie: : Ludovic Bernard Mit: Jules Benchetrit, Lampert Wilson, Kristin Scott Thomas, Karidja Touré u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 106 Minuten Start: 20. Juni 2019
E
ine Pariser Bahnhofshalle zur Rush-Hour: Menschenmassen drängen und drängeln, Lautsprecherdurchsagen mischen sich mit dem untergründigen Lärm der aus- und einfahrenden Züge, hereinströmende Ankommende behindern Eilige, die die bereits abfahrbereite Bahn noch kriegen wollen. Da hat niemand Zeit und Muße, dem Spiel des sehr jungen Mathieu Malinski zu lauschen, dessen schnelle Finger dem in der Halle aufgestellten öffentlichen Klavier höchst zauberhafte Klänge entlocken.
Der Junge und seine virtuos vorgetragene Musik werden von den gestressten, für ihre Umgebung blinden und tauben Passanten nicht einmal wahrgenommen. Nur ein einziger Mann ist mitten im widerströmenden Gedränge stehen geblieben: Pierre Geithner, der Leiter des Pariser Konservatoriums. Fassungslos und aufmerksam betrachtet er das Szenario, kann nicht glauben, was er zu hören bekommt. Er ahnt, dass die Musik für den Jungen überlebensnotwendig ist – wie für ihn. Indessen endet das faszinierende Spiel abrupt: Zwei Uniformierte tauchen auf, Mathieu bricht ab und rennt davon. Bald darauf begegnen sich die beiden wieder, dieses Mal jedoch nicht zufällig. Geithner, der von Mathieus außergewöhnlichem Talent tief beeindruckt ist, will den Jungen aus der Banlieue fördern und bietet ihm bei der besten Lehrerin des Konservatoriums kostenlosen Unterricht an. Doch der will nichts davon wissen, nimmt nur widerwillig die Visitenkarte des Älteren. Und er ruft ihn auch erst an, nachdem er wegen Diebstahls zu einer 60 chilli Cultur.zeit Juni 2019
Fotos: © Neue Visionen Filmverleih
Freiheitsstrafe verurteilt wurde: Während eines mit seiner Vorstadtgang verübten Einbruchs in einem wohlhabenden Haus setzte er sich ans Klavier, vergaß alles um sich herum – und wurde festgenommen. Geithner gelingt es, Mathieus Haftstrafe in Sozialstunden an der Musikhochschule umzuwandeln. Fortan geht der völlig undisziplinierte Junge täglich zum Putzen dorthin – und lässt keine Gelegenheit aus, die kostbaren Instrumente auszuprobieren – mit auswendig beherrschten Stücken von Liszt, Rachmaninow, Chopin und anderen. Angesichts seiner seltenen Fähigkeit, alle Emotionen in die Musik zu legen – und aus ihr herauszuspielen –, bemühen sich der Direktor und die strenge Klavierlehrerin zwar sehr um ihn, doch er bleibt merkwürdig resistent gegenüber ihren Versuchen, seinem großen Talent auch den nötigen theoretischen Schliff zu geben. Erst durch Mitschülerin Anna wird er zugänglicher. Der Stoff ist nicht neu. Doch Bernard hat die Geschichte, in der Menschen unterschiedlicher sozialer Milieus aufeinandertreffen und Unmögliches vollbringen, brillant und mitreißend umgesetzt. Mit ausgezeichneten Darstellern und viel Raum für die Musik.
KINO Britt-Marie war hier
Sunset
Inna de Yard
Foto: © Prokino
Foto: © MFA
Foto: © MFA
Schweden 2019 Regie: Tuva Novotny Mit: Pernilla August, Vera Vitali u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 97 Minuten Start: 13. Juni 2019
Ungarn 2018 Regie: László Nemes Mit: Juli Jakab, Vlad Ivanov u.a. Verleih: MFA Laufzeit: 142 Minuten Start: 13. Juni 2019
Frankreich 2018 Regie: Peter Webber Dokumentation Verleih: MFA Laufzeit: 99 Minuten Start: 20. Juni 2019
Plötzlich Fußballtrainerin
Rätselhafte Begegnungen
Die Seele Jamaikas
(ewei). Britt-Marie ist 63, als ihr Leben plötzlich eine unvorhergesehene Wendung nimmt: Ihr Ehemann Kent erleidet einen Herzinfarkt und muss ins Krankenhaus. Die putzwütige Frau nutzt die Gelegenheit seiner Abwesenheit zu einer gründlichen Aufräumaktion – und findet dabei Hinweise, dass Kent sie schon seit geraumer Zeit betrogen haben muss. Sie will sich damit nicht arrangieren und trennt sich nach 40 Ehejahren kurz entschlossen von ihm, besucht ihn nicht mehr und sieht sich stattdessen nach einem Job um. Doch die Arbeitsangebote in dem kleinen Städtchen Borg sind nicht eben üppig: Gesucht wird lediglich eine Fußballtrainerin, die einer quirligen und chaotischen Gruppe von Multikulti-Schülern Disziplin beibringen soll. Zwar hat sei keine Ahnung von Fußball, doch sie nimmt sich mit tatkräftiger Hingabe und skurrilem Humor der Kids an – und all ihrer Macken und Eigenheiten. Ein sympathischer Film über ein unspektakuläres Leben.
(ewei). Ein Film aus einer längst vergangenen Epoche: Als die junge Hut macherin Iris Leiter im Jahr 1913 aus Triest nach Budapest kommt, ist Ungarn noch Teil der kaiserlichen und königlichen Doppelmonarchie Österreich-Ungarn. Es ist der Vorabend des Ersten Weltkriegs, in der Stadt sind politische Spannungen und Unabhängigkeitsbestrebungen spürbar; es herrscht unbeschreiblicher Luxus einerseits und Massenverelendung andererseits. Doch Iris interessiert sich zunächst nur für den mondänen Hutmodensalon Leiter, der für seine sündhaft teuren Kreationen berühmt ist und der einst ihren Eltern gehörte. Sie kamen bei einem Feuer ums Leben, als Iris drei Jahre alt war. Nun will sie dort arbeiten, ihre Vergangenheit erkunden, doch sie stößt auf Ablehnung. Zufällig erfährt sie, dass sie einen Bruder hat und begibt sich auf die Suche nach ihm. Dabei kommt es zu rätselhaften Begegnungen, die sie tief in den geheimnisvollen Strudel aufrührerischer Wirren geraten lassen.
(ewei). In einem Haus an den Hängen über der jamaikanischen Hauptstadt Kingston treffen sich vier in die Jahre gekommene Größen des Reggae: Ken Boothe, Winston McAnuff, Kiddus I und Cedric Myton wollen sich auf ihre – vielleicht letzte – Welttournee vorbereiten und in einer Jam-Session ein neues Album aufnehmen. „The Soul of Jamaika“ soll es heißen und zu den Wurzeln ihrer Stücke zurückkehren, mit denen sie in den 1970er-Jahren auch weltweit erfolgreich waren. Im Garten, „Inna de Yard“, legen sie einfach los, lassen ihren Gefühlen und der Musik freien Lauf und produzieren – ohne Tonstudio und ohne akribische Planung – wie nebenher ein Album, das von ihren persönlichen Höhen und Tiefen zeugt. Man erlebt jeden einzelnen Sänger beim Vortrag seiner größten Hits, man dringt dabei weit in das Leben und Denken dieser Musiker vor, nähert sich ihrer Philosophie. Auf höchst unterhaltsame Weise, denn sie haben großen Spaß an der Performance und beglücken mit fantastischen Songs.
kino O beautiful Night
Kaviar
Yesterday
Foto: © KomplizenFilm
Foto: © Camino
Foto: © Universal
Deutschland 2019 Regie: Xaver Böhm Mit: Noah Saavedra, Marko Mandić, Vanessa Loibl u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 89 Minuten Start: 20. Juni 2019
Österreich 2019 Regie: Elena Tikhonova Mit: Margarita Breitkreiz, Georg Friedrich u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 100 Minuten Start: 4. Juli 2019
Großbritannien 2019 Regie: Danny Boyle Mit: Himesh Patel, Lily James, Ed Sheeran u.a. Verleih: Universal Laufzeit: 112 Minuten Start: 11. Juli 2019
Ein düsterer Geselle
Wer zuletzt lacht ...
Mit fremdem Federschmuck
(ewei). Als Juri erwacht, kauert eine Krähe auf seiner Brust und zerhackt sein Herz. Er will schreien – und bleibt stumm. Er will den schwarzen Vogel verjagen – und ist wie gelähmt. Dann kommt der junge Musiker zu sich. Und findet sich unversehrt in seinem Bett. Außer einem panischen, schier unerträglichen Herzrasen hat er keine Beschwerden. Zumindest äußerlich. Was in seinem Inneren geschieht, steht auf einem anderen Blatt: auf den Blättern seines Tagebuchs, in dem er alle Albträume und Panikattacken notiert, die seine tiefe Angst vor dem Tod dokumentieren. Diese Angst hat er, seit er denken kann, erklärt Juri später der Peep show-Darstellerin Nina, die er über einen hageren, ihm völlig unbekannten und ziemlich unheimlichen Mann kennenlernt. Dieser namenlose mysteriöse Mann behauptet, der von Juri so gefürchtete Tod zu sein und nimmt ihn und Nina mit auf einen anarchischen nächtlichen Trip, der die beiden zu sich selbst und zusammenfinden lässt.
(ewei). Igor, ein millionenschwerer russischer Oligarch, will seine undurchsichtigen Machenschaften von Wien aus treiben und sucht zum Zwecke der Gründung seiner Schiebergeschäftszentrale ein standesgemäßes, zentral gelegenes und repräsentatives Haus. Oder besser: Er will eines bauen lassen. Denn in Wien gibt es kein Gebäude, das nach seinem Geschmack wäre. Zwar gibt es eine Menge Prachtund Prunkbauten, doch keiner davon steht auf einer Donaubrücke. Für sein Vorhaben hat er sich die Schwedenbrücke auserkoren – und ist um keinen Preis von der Idee abzubringen. Im Gegenteil: Für die Verwirklichung seines Plans zahlt er jeden Preis. In der Aussicht auf üppige Schmiergelder, von denen der Großteil in ihre eigenen Taschen fließen soll, bieten sich der schmierige Anlagenberater Klaus und der mit ihm befreundete Winkeladvokat Ferdinand an, Igor die bürokratischen Wege unbürokratisch zu ebnen. Doch bei der Abzocke haben sie nicht mit Klaus’ Ehefrau und deren Freundinnen gerechnet.
(ewei). Schwer vorstellbar: Die Welt hat die Beatles vergessen, kaum jemand erinnert sich noch an die großen Hits der Fabulous Four, die von Liverpool aus das Musik-Universum auf den Kopf stellten. Auch Jack Malik, erfolgloser Musiker und großer Beatles-Fan, hält das nicht für möglich. Und doch stellt er fest, dass er unter seinen Freunden offenbar der einzige ist, der die Gruppe und ihre Songs kennt: Als er nach einem knapp überlebten Unfall zur Gitarre greift und „Yesterday“ spielt, sind die anderen begeistert von dem Lied, das sie für brandneu und von Jack getextet und komponiert halten. Jack, der gerade seinen Traum von einer Berufsmusikerkarriere aufgeben wollte, versucht es daraufhin doch noch einmal, mit Beatles-Titeln, die er in- und auswendig kennt. Bald wird man auf ihn aufmerksam, selbst der berühmte Songwriter Ed Sheeran nimmt ihn mit auf Tournee. Doch mit zunehmendem Erfolg meldet sich allmählich auch Jacks schlechtes Gewissen.
DVD Beautiful Boy USA 2018 Regie: Felix van Groeningen Mit: Steve Carell, Timothé Chalamet u.a. Studio: EuroVideo Laufzeit: 121 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Capernaum
Drei Gesichter
Libanon 2018 Regie: Nadine Labaki Mit: Zain Alrafeea, Jihad Hojeily u.a. Studio: Alamode Laufzeit: 121 Minuten Preis: ca. 15 Euro
Iran 2018 Regie: Jafar Panahi Mit: Behnaz Jafari, Jafar Panahi u.a. Studio: Weltkino Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Kleine Hoffnungsfunken
Ein Kind klagt an
Ungeplanter Ausflug
(ewei). Das aufrüttelnde Drogendrama zeigt einen engagierten Vater, der alles tut, um seinen einst hoffnungsvollen, jetzt Meth-süchtigen Sohn zu retten. Sehr einfühlsam und angenehm unpathetisch entwickelt Felix van Groeningen eine dramatische Geschichte, die ihre Stärke aus dem Realismus zieht. Das gilt sowohl für das außerordentliche Spiel der beiden Protagonisten als auch für die Story an sich, die nichts beschönigt und doch immer wieder kleine Hoffnungsfunken aufblitzen lässt.
(ewei). Zain weiß nicht, wie alt er ist. Seine Eltern auch nicht: Sie haben so viele Kinder, dass sie den Überblick verloren haben. Er sorgt für sich und seine jüngere Schwester Sahar, bis diese mit einem erwachsenen Mann verheiratet wird – für den Preis von ein paar Hühnern. Da haut Zain ab, wird zum Straßenkind, das sich allein durchschlagen muss. Er verklagt seine Eltern, weil sie ihn und seine Geschwister ohne Chance auf ein würdiges Leben in die Welt gesetzt haben.
(ewei). Die berühmte Teheraner Schauspielerin Behnaz Jafari erhält ein Handyvideo, in dem ein junges Mädchen aus einem abgelegenen Bergdorf klagt, dass sie nicht Schauspielerin werden darf, dass ihre Eltern sie unterdrücken und dass sie sich jetzt das Leben nimmt. Behnaz bittet ihren Freund und Regisseur Jafar Panahi, mit ihr in das Dorf zu fahren, um Näheres herauszufinden. Unterwegs in die archaische Welt haben sie verblüffende Begegnungen. Eine Liebeserklärung an das Land.
Female Pleasure Deutschland/ Schweiz 2018 Regie: Barbara Miller Dokumentation Studio: Warner Home Video Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Green Book USA 2018 Regie: Peter Farrelly Mit: Viggo Mortensen, Mahershala Ali u.a. Studio: TCF Home Entertainment Laufzeit: 125 Minuten Preis: ca. 14 Euro
Yardie Großbritannien 2018 Regie: Idris Elba Mit: Aml Ameen, Sheldon Sheperd u.a. Studio: Studiocanal Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 11 Euro
Selbstbestimmtes Leben
Alltäglicher Rassismus
Eine fatale Begegnung
(ewei). Fünf Frauen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Religionen – und doch sind sich die Mechanismen von Unterdrückung und Machtmissbrauch überall erschreckend ähnlich. Die Geschichten der fünf Protagonistinnen sind erschütternd – und ermutigend: Sie wollen sich ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht nehmen lassen. Eine wichtige Dokumentation, die zwar zum Großteil aus Talking Heads besteht, die deren Geschichten aber kraftvoll und packend an jede Frau bringen.
(ewei). Ein schwarzer, zur Oberklasse gehöriger Pianist geht auf eine gewagte Tournee durch die Südstaaten der USA, wo Diskriminierung noch immer an der Tagesordnung ist. Chauffiert wird der sensible Mann von einem hemdsärmeligen arbeitslosen Italoamerikaner, dessen UnderdogFrust sich auch in latentem Rassismus gegen Schwarze manifestiert. Doch während ihrer Tour im schicken Straßenkreuzer kommen sie sich näher, sehen sich mit anderen Augen. Oscar-Gewinner 2019 – zu Recht!
(ewei). Jamaika, in den frühen 1970ern: Kingston Town wird von Bandenkriegen terrorisiert. Bei einer dieser bewaffneten Auseinandersetzungen muss der 10-jährige Dennis „D“ Campbell mit ansehen, wie sein älterer Bruder erschossen wird. Sechs Jahre später ist „D“ selbst Bandenmitglied und immer noch von der Idee besessen, seinen Bruder zu rächen. Als er gerade auf dem Weg zurück in ein „normales“ Leben mit Frau und Kind ist, trifft er plötzlich den Mörder seines Bruders wieder. Juni 2019 chilli Cultur.zeit 63
Literatur
Wie Faschismus Realität herstellt Klaus Theweleits „Männerphantasien“ wird neu aufgelegt
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Foto: © Privat
von Erika Weisser
as Buch ist 40 Jahre alt, aber keineswegs veraltet – und bald wieder verfügbar: Im Juli erscheint das von Klaus Theweleit 1977/1978 veröffentlichte zweibändige Werk „Männerphantasien“ in Neuauflage bei Matthes & Seitz. Es gilt bis heute als Klassiker der Männer- und auch der Gewaltforschung. Rudolf Augstein bezeichnete es damals im „Spiegel“ als „die vielleicht aufregendste deutschsprachige Publikation des Jahres“.
von Klaus Theweleit Männerphantasien Mit einem Nachwort zur Neuauflage Verlag: Matthes & Seitz, 2019 1200 Seiten, Klappenbroschur Preis: 28 Euro
64 chilli Cultur.zeit Juni 2019
Klaus Theweleit: „Brüchiger Panzer“
Der Freiburger Kulturhistoriker entwickelt darin eine Faschismustheorie, die an den Körperstrukturen ansetzt und ergründet, „warum es (vorwiegend männliche) Körper gibt, die nicht leben können, ohne irgendjemand oder irgendwas zum Verschwinden zu bringen“. Er beschreibt, worin dieser Zwang besteht, wie er entsteht und „wie er diese Körper dann beherrscht“. Er wisse, erzählt Theweleit beim Gespräch in seinem Arbeitszimmer, dass er „den Leserinnen und Lesern einiges abverlangt“. Denn, so schreibt er auch im Nachwort zur Neuauflage, „wer das Buch mit Gewinn lesen will“, müsse sich von einigen „in der öffentlichen Rede vorherrschenden Ansichten vom Menschen lösen“ und die „psychoanalytisch begründete Figur des Nicht-zu-Ende-Geborenen zulassen“.
Ob er das Buch heute wieder so schreiben würde? „Natürlich“, sagt Theweleit und lacht. An den durch Fakten fundierten Thesen habe sich ja nichts geändert. Er würde heute lediglich Erkenntnisse aus Raul Hilbergs „gründlich recherchierter“ Studie zur „Vernichtung der europäischen Juden“ einfließen lassen, die er damals noch nicht kannte. Seine eigenen Erkenntnisse seien inzwischen durch neurologische Forschungen bestätigt worden, sagt er mit sichtlicher Freude und verweist etwa auf Studien des Neurowissenschaftlers António Damásio, der nachgewiesen habe, dass „die Körperstrukturen die Denkstrukturen beeinflussen“, also der Körper und dessen Erfahrungen das Denken und somit auch das Handeln eines Menschen bestimmen. Ein misshandelter und „mit Ängsten angefüllter Körper“, erklärt Theweleit, könne keine deutliche Abgrenzung zu seiner Umgebung entwickeln und fühle sich deshalb von außen bedroht. Deshalb baue er sich „durch militärischen Drill oder ersatzweise übertriebenes Training in der Muckibude“ einen Panzer auf, der jedoch „sehr brüchig“ sei. Diese wahrgenommene mangelnde Ganzheit des Körpers werde mit einer durchlässigen Landesgrenze gleichgesetzt, und die sie passierenden „Fremden“ würden „als Invasion des eigenen Körpers“ empfunden, als „Flut“, die diesen auflöse und deshalb „unbedingt aus dem Weg geräumt werden“ müsse. Nach Theweleits Überzeugung handeln und töten Männer wie der Utøya-Attentäter Anders Breivik, der Christchurch-Mörder Brenton Tarrant, IS-Kämpfer oder SS-Mitglieder „unabhängig von Religion oder Weltanschauung“ nach dem immer gleichen „faschistischen Muster“: Sie vernichteten, um ihre körperliche Kohärenz aufrechtzuerhalten, alles „Andersartige“ im angeblichen Auftrag einer „übergeordneten Macht“, die ihre Taten legitimiere. „Faschismus“, sagt Theweleit, „ist keine Ideologie“. Sondern „eine zerstörerische Art und Weise, Realität herzustellen“.
FRezi
Deutsch für alle
von Abbas Khider Verlag: Carl Hanser, 2019 127 Seiten, gebunden Preis: 14 Euro
GRM Brainfuck
von Sibylle Berg Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2019 640 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro
Freiburg urban
von Gisela Graf & Carola Schark Verlag: Rombach, 2019 224 Seiten, Broschur Preis: 19,90 Euro
Heiterer Augenöffner
Lesbarer Sprengstoff
Von wegen beschaulich
(ewei). „Seit ich die deutsche Sprache kenne, träume ich nicht mehr davon, die Welt zu verändern. Ich habe nur noch ein Ziel im Leben: Ich will diese Sprache erneuern“, schreibt Abbas Khider. Er kennt diese Sprache schon lange: Seit 2000 lebt er in Deutschland; landete hier nach einer lang währenden Flucht aus dem Irak, wo er viele Monate in einem Gefängnis Saddam Husseins verbracht hatte. Beeinflusst und somit verändert hat er sie bestimmt auch schon: Nach einem Studium der Literatur und Philosophie wurde er erfolgreicher Autor mehrerer auf Deutsch verfasster Romane; 2017 war er der letzte Preisträger des alten Adelbert-von-ChamissoLiteraturpreises. Denn Khider, der bei seiner Ankunft nur drei deutsche Wörter kannte, findet sich heute mühelos in diesem Labyrinth aus „heimtückischen Artikeln, gefährlichen Deklinationen, auflauernden Verbflexionen“ und allerhand präpositionierten Stolperfallen zurecht. Er habe, schreibt er, dazu allerdings mehr als ein „verfluchtes Jahrzehnt“ gebraucht. Um Schicksalsgenossen den Zugang zu erleichtern, hat er dieses „Ungeheuer an Komplexität“ auf seine Vereinfachungsmöglichkeiten untersucht. Das Resultat ist ein heiteres, fast subversives Buch, das gerade auch Muttersprachlern die Augen für die besonderen Eigenheiten dieser wunderbaren Sprache öffnet.
(ewei). In der nordwestenglischen Stadt Rochdale hat der Neoliberalismus zwar schon vor dem Brexit gründliche Arbeit geleistet, doch in den Jahren danach setzt ein regelrechter sozialer Kahlschlag ein. Hier leben Jugendliche, die nichts anderes kennen als die Realität eines gescheiterten Gemeinwesens: Ein hoffnungsloses Dasein in tristen Sozialwohnungsblocks, gewalttätige Verteilungskämpfe um alles Konsumierbare, verschwundene Väter und die Manipulation durch die von rechtsextremen Nationalisten beherrschten unsozialen Medien. Hier leben Erwachsene, die schon aufgegeben haben, Leute, die noch andere, bessere Zeiten kannten, deren Jobs inzwischen aber von künstlichen Intelligenz-Automaten erledigt werden. Eine Ausnahme sind Krankenschwestern, die sich „um die Folgen der Langeweile im Ort“ kümmern müssen: Schuss- und Stichwunden, halb totgeschlagene Frauen und Kinder, Komasuff, Selbstverletzungen. Karens Mutter ist so eine Krankenschwester; sie muss täglich Menschen zusammenflicken, die überflüssig und des Lebens überdrüssig geworden sind – da hat sie keinen Nerv mehr für ihre Tochter und deren zwei Brüder. Also tut sich Karen mit Hannah, Don und Peter zusammen, um mit ihnen außerhalb dieses Systems zu überleben. Ein schonungsloses Buch mit der Wirkung von Sprengstoff.
(ewei). Dort, wo 101 Jahre lang die alte Brauerei Feierling stand, erhebt sich heute das Atrium wie eine zeitgemäße Festung über dem Augustinerplatz, der an seiner Nordseite von einem originalen Stück der mittelalterlichen Stadtmauer mit Steinquadern und Zinnen begrenzt wird. Ein paar Schritte weiter, auf der „Insel“ am ehemaligen Gewerbebach, befindet sich die heutige Hausbrauerei, in einem modernen Gebäude mit hohen Fensterfronten. Alt und neu liegen in Freiburg nahe beieinander, historische und zeitgenössische Bauwerke finden auf engem Raum zu einträchtiger Nachbarschaft. Jedenfalls meistens. So bildet etwa das 1911 eingeweihte KG I der Universität mit der 100 Jahre später entstandenen postmodernen UB, dem 1958 errichteten KG II und dem nach dem Krieg nach den Originalvorlagen wieder aufgebauten Stadt theater eine zwar heterogene, doch durchaus harmonische architektonische Umgebung für den Platz der Alten Synagoge. Dieser Platz, schreiben die Autorinnen von „Freiburg urban“, habe „das Zeug dazu, Freiburgs Image vom beschaulichen Städtle“ zu korrigieren. Und nicht nur diese „neue Mitte Freiburgs“: Gisela Graf und Carola Schark stellen noch rund 60 weitere Bauwerke vor, zu deren Entdeckung sie einladen – mit übersichtlichen Karten, schönen Fotos und viel Hintergrundwissen. Juni 2019 chilli Cultur.zeit 65