chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 6/19 9. Jahrgang

ab 25. Juli im Kino Literatur

Museum

Leinwand

20 Jahre unter sternen

40 Jahre Freiburger stuck

18 Jahre Sommernachtskino


Kultur

Verborgene Kleinode Freiburger Stuck-Museum wird 40 Jahre alt

M

itten im Freiburger Industriegebiet Nord liegt Hans Richs „Kleines Stuck-Museum“. Hier hat der Sammler in jahrzehntelanger Arbeit hunderte von Raritäten zusammengetragen. Manch eines der kostbaren Stücke musste er dafür aus dem Schuttcontainer retten. Am 1. August feiert das erste deutsche Stuck-Museum seinen 40. Geburtstag.

von Tanja Senn

landen die kunsthandwerklichen Kleinode oftmals achtlos auf dem Müll. „Die sind dann dick zugeschmiert mit Farbe“, erzählt er, „was sich Schönes darunter verbirgt, wissen die Leute gar nicht.“ Seinem geschulten Auge entgeht hingegen nichts: Rich ist nicht nur Sammler, sondern selbst auch Stuckateur-Meister und Restaurator. Die Decke im hintersten Raum seines Museums ist eine Nachbildung seines Gesellenstücks. Darunter finden sich an den Wänden Diplome und Auszeichnungen

Wer an den Containern des Recyclinghofs und großen Lagerhallen vorbeifährt, erwartet sicherlich nicht, dass sich nur wenige hundert Meter weiter eine Oft bis tief in die Nacht hinein der größten Stucksammlungen Deutschlands verbirgt. So un- restauriert und rekonstruiert scheinbar Hans Richs Museum im Hinterhof eines Wohnhauses von außen von sich und seinem Sohn. Nicht nur Rich ist, so beeindruckend ist die Fülle an Expo- hat das Talent für Stuckarbeiten in die naten im Inneren. Prachtvolle Rosetten, Wiege gelegt bekommen – sein Vater war detailgetreu gearbeitete Simse, hunderte „ein Genie“, betont er mehrmals – auch und aberhunderte von Säulen, Zierelemen- Sohn und Enkel haben Talent und Leidenten, Büsten, Figuren und Reliefs lagern in schaft geerbt. Erzählt der 84-Jährige von seinem Sohn, ebenfalls Stuckateur und Diden kleinen, labyrinthartigen Räumen. Jahrzehntelang hat Rich sie zusammen- plom-Ingenieur, und seinem Enkel, der begetragen. Mal kommt er bei Firmenauflö- reits „Meister im Fach“ sei, schwingt nicht sungen an die Stücke, mal rettet er ein Ele- nur Stolz in seiner Stimme mit, sondern ment aus einem Schuttcontainer. Werden auch die Hoffnung, dass diese einmal sein Villen in Herdern oder der Wiehre entkernt, Lebenswerk „Stuck-Museum“ fortführen. 60 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019


Fotos: © tas

Dafür braucht es jemanden, der Richs Leidenschaft nachvollziehen kann. Vor 40 Jahren hat er die Idee eines eigenen Museums neben seiner Arbeit als Stuckateur umgesetzt. Ohne jegliche Fördermittel ist nicht nur sein eigenes Geld, sondern vor allem seine Arbeitskraft hineingeflossen. Fast täglich stand er bis tief in die Nacht in seiner Werkstatt und hat beschädigte Stücke restauriert oder rekonstruiert. Wie viele Stunden in seine Leidenschaft geflossen sind, hat Rich nie gezählt: „Wenn man für etwas Feuer und Flamme ist, kann man 16, 18 Stunden am Tag arbeiten und wird nicht müde.“ Vor allem in Fachkreisen hat er sich so einen Namen gemacht. Gewerbeschüler, Restauratoren, Bauherren und Denkmalpfleger besuchen regelmäßig diese Fundgrube handwerklichen Kulturerbes, in der sich einige kunsthistorisch wertvolle Modelle finden lassen. Darunter sind auch Stücke aus Freiburgs Geschichte wie das dunkle Gipsmodell, das vor Rich auf dem Tisch liegt. Anhand eines historischen Fotos kann

Kulturnotizen Besucherrekord Die Basel Tattoo Parade hat am 13. Juli einen neuen Besucherrekord gefeiert: 140.000 Menschen verfolgten das farbenfrohe Spektakel in der Basler Innenstadt und bestätigten damit das große Interesse am Basel Tattoo, das noch bis zum 20. Juli in der Kaserne läuft.

Jazzfestival Freiburg Vom 14. bis 22. September sind beim Jazzfestival Freiburg etwa Archie Shepp, Tord Gustavsen, das Portico Quartet und Indra Rios-Moore zu Gast. Den Auftakt macht traditionell der „Minigipfel“ in zehn Lokalitäten und Bars im Stühlinger und der Innenstadt. Bei „Jazz ‚n‘ Green“ im Stadtgarten am 22. September spielen zahlreiche Musiker*innen aus Freiburg und Umgebung bei freiem Eintritt. Foto: © Unsplash

Sammler aus Leidenschaft: Hans Rich in seinem „Kleinen Stuck-Museum“, das größer ist, als es der Name vermuten lässt.

man nachvollziehen, dass es als Vorlage für die acht Schmuckelemente am Vorbau der 1944 zerbombten Lutherkirche diente. Besuchern zeigt er seine umfangreiche Sammlung gerne. Eintritt verlangt er nicht, mittlerweile ist der Besuch aber nur noch nach Anmeldung möglich. Etwas Zeit sollte man mitbringen: Zu fast jedem Exponat hat Rich eine Geschichte zu erzählen. Nur die Frage nach dem Wert der Sammlung sollte man sich verkneifen. „Immer wollen die Leute wissen: Was kostet das? Was kostet das?“, grummelt der Stuckateur. Natürlich seien solche kunsthandwerklichen Arbeiten bei den heutigen Löhnen nicht mehr zu den Preisen aus dem 19. Jahrhundert zu machen. Für Rich spielt das auch keine Rolle: Schließlich kann man an eine Leidenschaft kein Preisschild hängen.

Info Kleines Stuck-Museum Liebigstraße 11 79108 Freiburg Besichtigung auf Anfrage Tel.: 07 61/50 05 55 rich-kg@stuckmuseum.de

Benefiz-Gala Am 15. September veranstaltet Willi Auerbach im großen Haus des Theater Freiburg wieder eine Varieté-Benefiz-Gala zugunsten der Stiftung Menschen für Menschen. Bei der jüngsten Gala kamen 11.111 Euro für Äthiopien zusammen.

Neu: Debatten-Arena Am 23. Juli steigt die Premiere der neuen Debatten-Arena im Pavillon im Freiburger Stadtgarten. „Mittlerweile hat sich ein starkes zivilgesellschaftliches Bündnis gefunden, um die Idee, Demokratie spielerisch in den öffentlichen Raum zu bringen, Realität werden zu lassen“, sagt Jürgen Eick vom E-WERK, Initiator und verantwortlicher Träger des Projektes. Die Veranstaltung ist kostenfrei, eine Anmeldung nicht notwendig. „Aufgrund einer zunehmenden Polarisierung unserer Gesellschaft und einer teilweise nicht mehr vorhandenen Diskussionskultur gilt es, neue Wege politischen Dialogs zu erproben, die eine friedliche und diskursive Streitkultur ermöglichen“, so Michael Wehner, der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Freiburg. bar


Kultur

Mittler zwischen den Kulturen Carl-Schurz-Haus und Centre Culturel Français mit erfolgreichen Jahresbilanzen

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ie ticken die Menschen in anderen Ländern? Um das herauszufinden, muss man nicht unbedingt die nächste Urlaubsreise abwarten. Zwei Freiburger Institute bringen den Bewohnern der Bächlestadt die amerikanische und französische Kultur näher – mit großem Erfolg. Aktiv, abwechslungsreich und erfolgreich – so fasst das Team des CarlSchurz-Hauses das vergangene Jahr zusammen. Spannend war zur Halbzeit der US-Regierung vor allem der Blick auf den Präsidenten, der so umstritten ist, wie wohl kaum einer seiner Vorgänger. In Freiburg zeigt sich das an einem regen Andrang zu Vorträgen und Panel-Diskussionen. Umso erstaunlicher scheinen die Besucherzahlen, die das Deutsch-Amerikanische Institut in seinem Jahresbericht vorlegt: Während 2017 noch rund 80.000 Besucher die Angebote nutzten, waren es im vergangenen Jahr gerade noch knapp 60.000. Die hitzige US-Politik, „the american way of life“ – plötzlich uninteressant?

dele es sich also „schlicht um eine striktere Art, ab 2018 eigene Besucherzahlen zu definieren“. Diese sind über die beiden Jahre hinweg stabil geblieben. Auch für 2019 erwartet Freudenthal ähnliche Besucherzahlen, die erst im Präsidentschafts-Wahljahr 2020 leicht anziehen dürften. Trumps steile Thesen und provozierende Tweets – sie sind nach wie vor beliebtes Diskussionsthema. Zusammen mit deutschen und amerikanischen Experten versucht das CarlSchurz-Haus, sie in einen Kontext zu setzen: ein wichtiger Teil der Verständigungs- und Vermittlungsarbeit, für die das Institut steht. Trump ist jedoch nicht das einzige Zugpferd. Neben der Bibliothek mit ihren mehr als 13.500 Besuchern, den Sprachkursen oder den Beratungen zu Studium und Austausch, bietet das Haus ein breites Kulturprogramm. Stolze 263 Veranstaltungen hat das Team im vergangenen Jahr auf die Beine gestellt, darunter Besuchermagneten wie eine Ausstellung zu John F. Kennedy, eine Lesung des Pulitzer-Preisträgers Andrew Sean Greer oder ein Vortrag des bekannten Wirtschaftswissenschaftlers Clemens Fuest über den ökonomischen Kurswechsel der USA.

Kooperieren, vernetzen, informieren, unterhalten – binationale Institute in Freiburg boomen Mitnichten, weiß Pressesprecher René Freudenthal. Die Diskrepanz liege an einer Änderung der Aufstellungsart: Durch neue Vorgaben des Auswärtigen Amts falle eine Reihe von Kooperationsveranstaltungen und -reihen aus der Statistik. Statt eines drastischen Besucherrückgangs han62 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019

Für den Austausch zwischen den Kulturen setzt sich in Freiburg nicht nur das Carl-Schurz-Haus ein. Einen Blick über die nahe Grenze wirft das Centre Culturel Français Freiburg (CCFF). Während im amerikanischen Institut Trump momentan im Fokus steht, hat im französischen Äquivalent

Foto: © Nachweis

von Tanja Senn

Lesung mit Film: Das CCFF lädt regelmäßig Autoren wie Maryam Madjidi ins Kommunale Kino.

das 50. Jubiläum des Pariser Mai das Kulturprogramm des vergangenen Jahrs stark geprägt – mit einer Ausstellung, einem Vortrag und Filmvorführungen. Was Besucherzahlen und die Masse der Veranstaltungen angeht, ist das CCFF deutlich übersichtlicher aufgestellt. Die 57 Events in 2018 besuchten 5296 Menschen. Auch hier sind die Besuche über die vergangenen Jahre konstant geblieben beziehungsweise leicht gestiegen. Immer wieder probiert das CCFF dafür neue Formate aus, wie etwa Abende mit dem Kommunalen Kino, bei denen im Anschluss an eine Autorenlesung ein Film zu einem verwandten Thema gezeigt wird. „Das wird extrem gut angenommen“, freut sich Kulturassistentin Sarah Lefebvre. Um sowohl hier lebende Franzosen als auch interessierte Freiburger anzusprechen, sind fast alle Veranstaltungen zweisprachig. Auch die Politik wird nicht ausgeklammert. „Wir möchten die französische Kultur vermitteln und dazu gehört natürlich auch die Politik“, sagt Lefebvre. „Über die wird momentan nicht so viel gesprochen wie über Trump, wir knüpfen aber trotzdem in vielfältigen Veranstaltungen an spannende Ereignisse an.“


Kultur

Authentischer Ort in bester Lage Die Planung des NS-Dokumentationszentrums geht zügig voran von Erika Weisser

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Für Projektleiterin Kathrin Ellwart ist der gewählte Standort im ehemaligen städtischen Verkehrsamt die „ideale Immobilie“ fürs geplante NS-Dokumentationszentrum in Freiburg.

„Richtig viel“ habe sich getan seit dem einstimmigen Gemeinderatsbeschluss vom 24. Juli 2018 zugunsten des Zentrums, zu dem auch ein Gedenk- und ein Lernort gehören sollen. So sei, und das ist für Ellwart der wesentlichste Faktor für die zügige Umsetzung des Vorhabens, mit dem ehemaligen städtischen Verkehrsamt beim Rotteckhaus eine „geradezu ideale Immobilie“ ausgewählt worden. Sie ist „unendlich dankbar“, dass Oberbürgermeister Martin Horn sich mit der Internationalen Studien- und Berufsakademie (ISBA), die das Haus gemietet hatte, auf die Rücknahme des Vertrags einigen konnte. Nicht nur, weil sich das 1936 nach Plänen des damaligen Stadtbaudirektors Joseph Schlippe errichtete Gebäude in der gewünschten zentralen Lage befindet. Sondern auch, weil das in unmittelbarer Nähe zum Platz der Alten Synagoge gelegene Haus als authentischer Ort, als städtebaulicher Zeuge der Vorkriegs-Nazizeit gelten kann: Im Keller waren Luftschutzräume untergebracht, die mitsamt schweren Türen, phosphoreszierenden Orientierungslinien und einer nach außen hermetisch verschließbaren Gasschleuse im Original erhalten sind. Und bleiben.

In einem rund 100 Quadratmeter großen Teil dieses Untergeschosses, erläutert Kathrin Ellwart bei der Ortsbesichtigung, sei eine Dokumentation über die „Zwischenkriegszeit“ vorgesehen. Sie informiert über die Ereignisse und Bedingungen, die zum Aufstieg des Faschismus führten. Es gehe ja nicht nur um die Jahre von 1933 bis 1945, sondern auch um die Zeit davor und danach, so Ellwart. Da seien sich die an der inhaltlichen Planung beteiligten Mitglieder des eigens gegründeten Beirats einig. Er besteht aus Vertretern öffentlicher Institutionen und zivilgesellschaftlicher Organisationen. Ein Bereich der nach Abzug von Foyer und Funktionsräumen knapp 200 Quadratmeter umfassenden Erdgeschoss-Ebene ist für die bei den Bauarbeiten am Platz der Alten Synagoge zutage geförderten Fundamentsteine reserviert. Hier soll ein separater Ort des Gedenkens entstehen. Eine Option, die die umtriebige Projektleiterin sehr begrüßt: Das gebe es „nirgendwo in Deutschland“, dass „unter einem Dach Raum für Gedenken, Erinnern und Vermitteln“ sei. Die letztgenannten Räume sollen ihren Platz auf mehr als 350 Quadratmetern im Obergeschoss finden. Hier

Foto: © privat

eit Januar 2019 ist Kathrin Ellwart seitens der Stadtverwaltung mit der Projektleitung des Informations- und Dokumentationszentrums zur NSZeit in Freiburg betraut. Nach sechs Monaten zieht die 51-jährige promovierte Bildungsberaterin, die bis dahin im Büro des Ersten Bürgermeisters Ulrich von Kirchbach stellvertretende Leiterin war, „eine sehr erfreuliche Zwischenbilanz“.

Fotos: © Achim Kaeflein

werden neben Schulungs-, Seminarund Recherchebereichen auch die Räume für die Dauer- und die Wechselausstellungen entstehen, die „das Herzstück des Hauses ausmachen“. Das pädagogische Konzept sowie die Konzeption für die Dauerausstellung seien in den Grundzügen bereits erarbeitet, freut sich Ellwart. Sie würden dem Beirat bei dessen Sitzung im November vorgelegt. Doch zunächst gibt es eine Sitzung des Gemeinderats: Am 23. Juli berät er über die Rechtsform des Zentrums. Und damit über seine Finanzierung.

Die Luftschutzräume im Keller bleiben als Zeugen der Vorkriegszeit erhalten. Juli/August 2019 chilli Cultur.zeit 63


Musik

Surround Sound freiburger Münster ist Hightech-Mekka der Orgelspieler

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von Till Neumann

MÜNSTERORGANIST Jörg Josef Schwab wurde 1976 in Illertissen (Bayern) geboren. Er studierte an der Freiburger Musikhochschule Schul- und Kirchenmusik (Diplom). Weitere Stationen waren Mainz, Berlin und Amsterdam. Seit Oktober 2013 ist er Münsterorganist in Freiburg. Konzerte spielte er unter anderem in Italien, den Niederlanden oder Schweden.

er Segen kommt von oben, der Sound aus allen Richtungen. Das Freiburger Münster bietet in Sachen Beschallung großes Kino: Vier Orgeln hängen quer durch die Kathedrale verteilt. Die jüngste ist kürzlich für knapp eine Million Euro angeschafft worden. Wie sich das einzigartige Ensemble bedienen lässt, versteht Organist Jörg Schwab (Foto oben) wie kein Zweiter. Das chilli hat ihn begleitet und viele staunende Gesichter gesehen.

tion“, sagt der 43-Jährige zu dem Quartett. Schließlich sind alle vier von unterschiedlichen Herstellern. Und gleichzeitig spielbar. Wie das geht, demonstriert Schwab nur zu gerne. Dafür läuft er Richtung Altar. Direkt daneben steht der sogenannte Spieltisch. Er setzt sich, aktiviert das System und greift konzentriert in die Tasten. Zwei Stücke füllen die Stille des Münsters. Von den Sitzreihen aus ist nicht zu sehen, was seine Hände bewerkstelligen. Ein Kinderspiel dürfte es nicht sein. Aus allen vier Orgeln ertönen die Pfeifen –, als satter Bass, glasklare

Im Zentrum stehen an diesem Mittwoch vier Riesen: die opulenten Orgeln der Freiburger Kathedrale. „Es gibt tausend Möglichkeiten, Am besten bändigen kann sie ihr Meister Jörg Schwab. Wie da findet man kein Ende“ das geht, zeigt der Münsterorganist an diesem Abend einer Besucher- Klarinetten oder einer dem menschlichen gruppe, die hinter die Kulissen des Orgel- Gesang nachempfundenen „Voix Humaine“. Woher welcher Ton kommt, ist kaum zu ensembles blicken möchten. Dunkle Jeans, blaues Hemd, braune Le- orten. Klänge überlagern sich, hallen durch derschuhe. Jörg Schwab steht vor rund 25 den Raum, verlieren sich wieder. Die ZuhöBesuchern und zeigt, wo die vier Instrumen- rer sind begeistert, flüstern sich zu, nicken te verteilt sind: die Marienorgel schräg links beeindruckt. „Die Orgel ist unglaublich vervor den Besucherreihen, die Langschifforgel ändert worden über die Jahrhunderte“, er– Spitzname Schwalbennestorgel – hängt zählt Schwab. Erste Belege für deren Exislinks über den Sitzbänken, die Michaelsor- tenz gibt es um 1545. Fast 500 Jahre später gel thront hoch oben am Eingangsbereich basiert das System weiter auf traditionellen und die nagelneue Chororgel auf der Em- Orgeln, doch die Technik ist hochmodern: pore hinter dem Altar. „Eine seltene Attrak- „Es gibt tausend Möglichkeiten, da findet

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kirche man kein Ende“, sagt Schwab und lacht. Das Münster verfügt jetzt über 166 Klangfarben (Register) mit insgesamt 10.195 Pfeifen. Der elektrische Spieltisch ist 2013 für rund 200.000 Euro angeschafft worden. Mit ihm können alle Pfeifen und Klangfarben der Münsterorgeln angewählt werden. Wie viele Tasten er hat, weiß nicht einmal Schwab. Die vier Spielebenen sind umgeben von zahlreichen weiteren Knöpfen. Rechts daneben ist ein buntes Touchpad. „Man hat die maximale Ausbeute, kann alles koppeln und mischen“, schwärmt Schwab.

Scharfe Kritik am Million Dollar Baby Und scherzt: „Man muss dann nur noch selbst kapieren, was man angerichtet hat.“ Ob das alle vier Orgeln in einem Stück waren, will ein Zuhörer nach dem Stück wissen. „Ja, aber nicht volle Pulle“, antwortet der Organist. Auch die Tischposition nahe am Altar ist eine Rarität. Für alle gut sichtbar agiert dort der Spielende – wie ein DJ. „Selten ist der Organist so prominent zu sehen wie hier“, sagt der gebürtige Bayer. Der Vorteil sei, mitten im liturgischen Geschehen zu sein. „Machsch ned so lang, zwei Strophen reichen“, raune ihm der Pfarrer da manchmal zu. Der Nachteil: Der Spieler ist weit weg von seinen Instrumenten. „Die Chororgel ist eine Art Monitorbox“, erklärt Schwab. Sie steht ihm am nächsten. Für Sonderfälle gibt es einen kleineren Spieltisch, der bewegt werden kann. Gerade bei Zeremonien, die nicht am Altar stattfinden, helfe das, um näher am Geschehen zu sein. Die Chororgel ist das jüngste Element im Klangkörper. Für stattliche 900.000 Euro wurde sie angeschafft und am Ostermontag geweiht. Sie ersetzt ihren „mangelhaften“ Vorgänger, wie Schwab erklärt. Das neue Instrument verfügt über ein Auxiliarwerk, eine separate Sonderanfertigung, die in einem Fenster rechts vor den Zuschauerreihen versteckt ist. „Sehr glücklich“ sei man über die neuen Klangfarben, die man sich lange gewünscht habe, erzählt Schwab.

Er berichtet auch von negativen Meinungen zum Million Dollar Baby des Münsters: „Wir sind auch in der Kritik, das ist viel Geld.“ Erstaunte, verärgerte oder ungläubige Reaktionen zur Rieseninvestition sind dem chilli bekannt. Die Erdzdiözese Freiburg habe offensichtlich Geld wie Heu, heißt es in einer. Schwab findet solche Aussagen unsachlich. Schon seit 1936 gebe es vier Orgeln im Münster. Die Erneuerung sei nötig gewesen. Die Gelder stammten zudem nicht vom Erzbischöflichen Ordinariat, sondern von kirchlichen und weltlichen Stiftungen und mehr als 550 Klangpaten. Auch das „großartige Engagement“ des Stiftungsrates habe die neue Orgel möglich gemacht. Schwab erklärt: „Wir sind sehr stolz und dankbar, dass wir dieses Projekt realisieren konnten und so viel Unterstützung erfahren haben, auch wenn es bei solchen Summen natürlich immer auch kritische Stimmen gibt.“ Gebaut hat die Orgel die Schweizer Werkstatt Kuhn aus Männedorf am Zürichsee. Lokale Firmen hätten sich den Auftrag auch gewünscht, erklärt Schwab. Doch im schweizerischen Fribourg habe man sich in ein ähnliches Modell verliebt, das eben von dieser Werkstatt angefertigt wurde. Begehrlichkeiten weckt die Super-Surround-Installation allemal. Viele Interessenten meldeten sich, um darauf zu spielen, heißt es. „Alle bekommen eine technische Einweisung“, erklärt Schwab. Gastorganisten übten teils bis tief in die Nacht, um die Technik für ihren Auftritt bei der Dienstagsreihe zu beherrschen. Jetzt dürfen die Besucher endlich zum Spieltisch. Dort gibt Schwab eine finale Kostprobe. Gebannte Blicke folgen seinen schnellen Händen. Die Führung neigt sich dem Ende entgegen. Doch Fragen haben die Besucher noch viele. „Verrückt, man weiß nicht, woher der Klang kommt“, raunt einer. Dann ist Feierabend. Seinen Orgeln wird Schwab Ende September für ein paar Tage den Rücken kehren. Für ein Gastspiel geht’s nach London in die St. Pauls Cathedral. Dort steht eine dreiteilige Orgelanlage. Dürfte also doch mal ein Kinderspiel werden für den Orgelmeister.

ORGELFÜHRUNGEN Einmal im Monat gibt es Führungen zu den Münsterorgeln. Die nächsten Termine sind am 3. August, 13. September und 2. Oktober. Die Tour geht von 19.45 Uhr und 21.15 Uhr und kostet 15 Euro (ermäßigt 10 Euro). Anmeldung und weitere Infos auf www.muensterorgel.de Fotos: © tln

Tradition trifft Moderne: Jörg Schwab zeigt den Besuchern am Spieltisch, wie sich alle vier Orgeln parallel spielen lassen.

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Musik

Anwälte, Reifen und ein Hit

Django 3000

Mighty99

Mundart-Folk-Rock

Rap

Django 4000

Asperger

Foto: © the brothers

3 Fragen an

Die Brüderband „The Brothers“

„Bisserl erwachsener“

Für die Hater

40 Jahre stehen „The Brothers“ gemeinsam auf der Bühne. Das feiern sie am 31. Juli mit einer Show beim ZMF. Zwölf CDs haben die Brüder rausgebracht. Sie waren im TV, im Radio und auf unzähligen Bühnen. Wie sie das geschafft haben, verraten Coco, Lorenz und Tilo Buchholz im Interview mit Till Neumann.

(tas).Hui, was ist denn da passiert? Ein paar Sekunden lang war der typische Django-Sound im Opener „Menschen von Morgen“ noch zu hören, doch plötzlich haben Schlagzeug und Bass die fiedelnden Geige und gezupfte Gitarre abgelöst. Rockig, poppig, mit ernsten Texten – ist das noch Django 3000? Nein. Der Titel des neuen Albums „Django 4000“ verrät es: Die Chiemgauer haben sich auf das nächste Level begeben. „Ein bisserl erwachsener“, beschreibt es Geiger Florian Starflinger. Dass sie nicht nur Polka-Party können, haben die fünf Jungs schon auf dem Vorgänger mit seinen vielen melancholischen Tönen gezeigt. Daran knüpfen sie in Songs wie dem wahnsinnig starken „Heimat“ an. Auf dem im Juni erschienenen fünften Studioalbum dominieren jetzt aber erstmals rockige, klare Töne, gepaart mit einem hohen Anteil an gesellschaftskritischen Texten über Materialismus oder die Hass-Gesellschaft. Ein deutlicher Schritt, um sich noch weiter von Party-Buam wie Gabalier oder Voxxclub zu entfernen. Die verspielten, kreativen Töne, für die die Band von ihren Fans geliebt wird, kommen trotzdem nicht zu kurz. Etwa, wenn sich bei „Dirty Scum“ indische Meditationsklänge mit dem bayerischen Sound vermischen oder bei „Wo bist du“ gerappt wird.

(pt). „Keine Karte für die Redaktion von fudder“, mumbelt der Freiburger Joshua Büchler alias Mighty99 monoton ins Mikrofon. Dabei teilt Büchler auf „Asperger“ sonst reichlich aus. Über fünf trappige Tracks bekommt das lyrische Du mit viel Battlerap sein Fett weg. Auf Genre-Klischees darf dabei natürlich nicht verzichtet werden. Trapphone? Klingelt. Gucci? Im Kleiderschrank. Uzi? Vor der StuSi. Statt Lean aber gibt’s immerhin alkoholfreies Ingwerbier. Klänge eben, die in Freiburgs musikalischem Portfolio aus Indie und Instrumenten bisher gefehlt haben – und in dieser Form nicht von jedem vermisst worden sein dürften: Die Produktion ist wüst, Höhen zu spitz und der proklamierte „kritische Blick auf Umgebung und Vergangenheit“ schielt oft am Ziel vorbei. „Asperger, Asperger, hör mal diesen Bass, Hater!”, kontert die EP dann und stampft nach einem irischen Intermezzo um ein Rudel Brudis in Feierlaune los. Für die ist die Musik auch gedacht. Seine stärksten Momente zelebriert der Stream aber mit „immerimmerimmer“ und leiseren Tönen aus der eigenen Produzentenriege. „Auf die nächsten Jahrzehnte, in denen wir uns nie wieder sehen“, verabschiedet sich der Rapper zum Schluss dann wehmütig. Schade, eigentlich.

Coco, 40 Jahre als Brüder in einer Band. Wie habt ihr das geschafft? Ein Heer von Anwälten haben wir verschlissen ... Nein, Spaß! Wir haben das eine Ziel, das „zusammen“ Musikmachen. Man lernt mit der Zeit, die Stärken des anderen zu nutzen und seine Schwächen auszugleichen. Klar, manchmal rumpelt es, aber das ist in einer Band ohne Familienbande nicht anders. Lorenz, was war euer größtes Abenteuer? Soll ich jetzt vom „Reifenplatzer vorne rechts“ erzählen, nördlich von Göttingen, als wir gerade auf der linken Spur eine LKW-Karawane überholten? Oder davon, dass der Sprit doch nicht mehr reichte und wir beinahe den Gig in Ingelheim verpassten? Wahrscheinlich war es aber der Auftritt auf einem Kreuzfahrtschiff bei 11 Windstärken im Karibischen Meer 2006. Tilo, welchen Traum wollt ihr euch erfüllen?
 Irgendwie schlummert in mir immer noch der Traum von dem einen großen Hit. Es gibt sie, die Nummern, die ohne spezielle Zielgruppe das besondere Etwas haben. Neben dem, der sie schreibt, braucht es den, der sie entdeckt. Ansonsten wäre ich zufrieden, wenn wir auch in zehn Jahren noch Projekte verwirklichen. 66 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019


Kolumne Michael Oertel Band

Dieter feat. Bohlen

Blues

Pop

A Little Faith

Das MEGA Album

... zur Hitze Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Gitarre und Gefühl

Gekonnte Selbstüberschätzung

(tln). Anfang 2018 präsentierte der Freiburger Gitarrist, Sänger und Songwriter sein Debütalbum „Soul Sailor“. Rund ein Jahr später legt Michael Oertel schon den Nachfolger „A little Faith“ vor. Seinem Stil bleibt er treu: Blues, Folk, Rock mit viel Gitarre und Gefühl prägen den Sound. Musik ist für den zurückhaltenden Mann eine Frage des Glaubens. Im Titeltrack erzählt er von schmerzhafter Veränderung, erzeugt durch die Kraft des Geistes. „Change don’t come easily. Painfully slow.“ Seinen englischen Texten hört man gerne zu, einfühlsam und eingängig singt er seine Lieder. Begleitet von zwei Back­ groundsängerinnen und Instrumentalisten, die ihr Handwerk verstehen. Herzen und Ohren wollen die Musiker öffnen. Das könnte klappen. „Thank you Mama“ widmet er seiner Mutter, „Aunt Leonie“ geht an die Tante. Doch Oertel kann auch Kante: In „Shoe Store Man“ brettern Gitarre und Drums nach vorne, headbangen erlaubt bis erwünscht. Das Album haben die sechs Musiker durchweg analog und live aufgenommen. Ihr Herz schlägt unverkennbar für alte Schule und Bühne. Die ganz großen Events sind dem Vollblutmusiker bisher verwehrt geblieben. Wenn er sich mit dem Tempo weiterentwickelt, könnte sich das ändern. Die Fähigkeiten sind zweifelsohne da.

(tln). „Wie drei Promille morgens aus der Disco.“ Dieter Bohlen teilt gerne aus. Blöd nur, dass sein neues Album „Dieter feat. Bohlen“ tatsächlich wie nach einer durchzechten Partynacht klingt. Es ist in drei Versionen erschienen und versucht mit einer Mischung aus Bohlens ehemaligem Erfolgsduo „Modern Talking“ und DSDS zwölf alte Hits neu aufzuwärmen. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. Auch der Titel des Albums ist bescheiden. Mega ist hier nur eins: das Gefühl, nachdem man auf die Stoptaste gedrückt hat. Von „You’re My Heart, You’re My Soul“ bis hin zu „Cheri, Cheri Lady“. Modern Talking, ganz ohne Thomas Anders. Da kommt Dieter Bohlens dünne Stimme erst richtig zur Geltung. Angekündigt waren Features mit Capital Bra und Kay One. Daraus geworden ist nix. Auch die DSDS-Siegersongs wie „Take Me Tonight“ sind schwach gesungen. Es wird mit Autotune und anderen technischen Effekten gearbeitet, um von der Stimme abzulenken. Man hat das Gefühl, Dieter Bohlen versucht krampfhaft, jung zu bleiben. Sein Versuch, die alten Kisten aus dem Keller zu holen, ist leider gescheitert. Eins muss man ihm aber lassen: Das Album sorgt für Aufmerksamkeit. Und das ist wohl auch das, was Dieter Bohlen damit erreichen möchte.

Der heißeste Scheiß kommt derzeit zweifelsfrei von Wolfgang Lippert – Ossi-Altlast und Schlager­nudel. Mit seinem Song „Hitzefrei“ haut er mit dem Vorschlaghammer voll auf den Zehennagel des guten Geschmacks, aua, aua, aua – klingt in etwa so wie lauwarmes, alkoholfreies Bier schmeckt, nur noch viel schlimmer. „Hitzefrei, hitzfrei hitzefrei, durch die ganze Bude geht ein Jubelschrei, hitzfrei um drei, hitzefrei, ich wär sofort dabei, oho, oho oho.“ Keine Frage, der Mann ist gefährlich. Fiel er doch schon damals als Wetten-dass-Moderator unangenehm auf, selbst Paul McCartney, der seinerzeit einmal in der Show zu Gast war, weiß noch ein Lied davon zu singen. Oder wohl eher nicht. Lippert fasst ein viel zu heißes Eisen an und verbrennt sich prompt die Finger, zudem ist der Mann eh schon total hirnverbrannt. Hier reimt sich heiß auf – Bingo! – Schweiß und Schwüle – logo! – auf Kühle. Die Geschmackspolizei hat definitiv nie hitzefrei, während Lippi sich um Kopf und Kragen singt und dabei schwer baden geht. Und wer muss es wieder mal ausbaden? Genau.

In diesem Sinne grüßen die Hitzköpfe von der Geschmackspolizei Ralf Welteroth


kino

Kein Streber-Migrant Sensible Komödie mit tiefgang – über das Leben zwischen zwei Welten

Made in China Frankreich 2019 Regie: Julien Abraham Mit: Frédéric Chau, Medi Sadoun, Julie de Bona, Steve Tran, Bing Yin, u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 87 Minuten Start: 18. Juli.2019

F

rançois ist zu 100 Prozent Franzose. Er ist in Paris geboren, zur Schule gegangen, hat hier seine Fotografen-Ausbildung absolviert und ein eigenes kleines Studio eröffnet, von dem er einigermaßen leben kann. Er ist zufrieden mit seinem Leben, hat gute Freunde, einen hippen Bekanntenkreis und eine liebenswerte Freundin: Sophie, mit der er sich eine Zukunft vorstellen kann. Wenn der sehr kultivierte junge Mann nicht gerade in den Spiegel schaut oder von seinem besten, ohnehin wenig sensiblen Freund Bruno direkt darauf gestoßen wird, denkt er so gut wie nie daran, dass er zumindest äußerlich eigent­lich überhaupt nichts Französisches an sich hat. Das wird ihm aber ziemlich schmerzhaft bewusst, als er, mit einer Tüte mit Gastgeschenken in der Hand, ein wenig verspätet auf der Party bei einer von Sophies Freundinnen eintrifft und diese ihm die Tür vor der Nase zuknallt. Mit dem giftigen Hinweis darauf, dass sie auf keinen Fall Sushi bestellt habe. Auf der gleichen Party, die er wegen der diskriminierenden Äußerung der ihm bis dahin unbekannten Freundin bald wieder verlässt, eröffnet Sophie ihm überglücklich, dass sie schwanger sei. Und dass sie es ganz prima fände, wenn er wieder Kontakt zu seinem Vater aufnehmen würde. Denn sie wünscht für das gemeinsame Kind, dass es nicht nur mit ihrer ziemlich überdrehten und überbehütenden bretonischen Mutter aufwachsen solle, sondern auch mit François’ chinesischer Familie, zu der außer dem Vater und der Großmutter auch ein Bruder, eine Tante und mehrere Cousinen gehören.

68 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019

Fotos: © Neue Visionen Filmverleih

von Erika Weisser

Doch François hat seit zehn Jahren nichts mehr zu tun mit der Verwandtschaft, die in einem weniger angesagten Arrondissement der französischen Haupt­stadt wohnt als er selbst. Und er macht sich wenig Hoffnung auf eine Versöhnung mit seinem Vater, dessen Haus er im Streit verließ. Weil er nicht der stereotypische asiatische Streber-Migrant sein wollte und sich weigerte, entgegen seiner Interessen und Neigungen ein Ingenieurs-Studium zu absolvieren. Er soll Recht behalten: Der Vater ist eisig und abweisend, verweigert jede freundliche Geste; lediglich dem tollpatschigen Bruno gelingt es, ihn zumindest zu einem gemeinsamen Friedhofsbesuch bei François’ früh verstorbener Mutter zu bewegen. Doch ein unbedachtes Wort des Sohns macht alles wieder zunichte. Dabei hat der Vater selbst lange und sehnsuchtsvoll auf seine Rückkehr gewartet, kann aber nicht über seinen von traditionellem Rollenverständnis geprägten Schatten springen und seine Gefühle offenbaren. Ein berührender und liebevoller Film, der die generationsbedingten Widersprüche und Konflikte innerhalb von Migrantenfamilien sensibel und humorvoll thematisiert, ein Erzählstück zwischen Komödie und Drama.


KINO Der unverhoffte Charme des Gelds

Foto: © Cinemaginaire Inc.

Ein ganz gewöhnlicher Held

Foto: © Koch

Foto: © Weltkino

Cleo

USA 2018 Regie: Emilio Esteves Mit: Emilio Esteves, Alec Baldwin u.a. Verleih: Koch Laufzeit: 119 Minuten Start: 25. Juli 2019

Kanada 2018 Regie: Denys Arcand Mit: Alexandre Landry, Maripier Morin u.a. Verleih: MFA Laufzeit: 128 Minuten Start: 1. August 2019

Eine magische Zeitreise

Zuflucht in der Bibliothek

Zwei Taschen voller Banknoten

(ewei). Cleo ist eine ganz zauberhafte junge Frau. Und eine ziemlich willensstarke obendrein. Doch sie ist extrem verschlossen, geradezu unnahbar. Denn hinter ihrer angestrengt auf Normalität ausgerichteten Fassade lauern Abgründe, Ängste und Schuldgefühle. Cleo lebt in Berlin, wo sie am 9. November 1989 zur Welt kam. Und da ihr Vater mit seiner von heftigen Wehen geplagten Frau in den Massenaufläufen zur Öffnung der Mauer feststeckte, starb ihre Mutter direkt nach der komplizierten Geburt. Seither wird Cleo von der fixen Idee getrieben, dass sie unbedingt eine Uhr finden muss, die einst von einem Ganoven-Bruderpaar erbeutet wurde. Mit dieser Uhr, auf der man die Zeit zurückdrehen kann, will sie ihre Mutter retten. Und den Vater, der bei einer ihrer ersten Suchexkursionen ums Leben kam. Als Paul mitsamt passender Schatzkarte ihren Weg kreuzt, beginnt eine magische Zeitreise. Eine schöne, ungewöhnliche Liebeserklärung an das Leben – und an Berlin.

(ewei). Der Winter in Cincinnati ist so eiskalt, dass sich viele Wohnungslose tagsüber in öffentlichen Gebäuden aufhalten, um ein wenig Wärme zu speichern für die bevorstehende Nacht im Freien. Eine ziemlich große Gruppe flieht Tag für Tag in die städtische Bücherei; hier können die Männer ausruhen, im Internet surfen oder ein Buch lesen – und werden obendrein freundlich behandelt. Der Bibliothekar Stuart Goodson ist nämlich ein zwar zurückhaltender, doch sehr zuvorkommender Mensch, der mit allen Besuchern gleich aufmerksam umgeht. Umsichtig versieht er seinen Dienst, eckt nie an. Das ändert sich, als die Temperaturen weiter sinken, nachts die ersten Straßenbewohner erfrieren und die bisherigen Tagesgäste beschließen, am Abend einfach in der Bibliothek zu bleiben. Dieses Vorhaben ruft Politiker, Polizei und Presse auf den Plan – doch Stuart erklärt sich mit den Obdachlosen solidarisch und handelt. Er vermittelt an allen Fronten und erzielt eine überraschende Wendung.

(ewei). Pierre-Paul glaubt an das Gute, an einen Ausweg aus seinem tristen Dasein: Mangels anderer, seiner Bildung angemessener Arbeitsangebote muss der studierte Philosoph sein Leben als Lieferfahrer fristen, was ihm nicht einmal das Existenzminimum sichert. Die Überzeugung, er sei zu intelligent, um erfolgreich zu sein, tröstet ihn da nur sporadisch. Immer nach neuen plausiblen Argumenten suchend, hofft er auf den Durchbruch. Der kommt schneller als erwartet: Eines Tages wird Pierre-Paul bei seiner Arbeit Zeuge eines Überfalls mit Schießerei. Und ehe er sich versieht, liegen zwei Gangster tot auf der Straße, der dritte entkommt schwer verletzt. In einem unerwarteten Schub krimineller Energie schnappt er sich kurzerhand die beiden zurückgebliebenen, mit Banknoten vollgestopften Taschen und haut ab. Was zwei wenig philosophische Fragen aufwirft: Was macht man mit so viel Geld? Und: Wie hängt man seine Verfolger ab?

Deutschland 2019 Regie: Erik Schmitt Mit: Marleen Lohse, Jeremy Mockridge u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 110 Minuten Start: 25. Juli 2019


kino Es gilt das gesprochene Wort

Foto: © Kino Friedrichsbau

Freiburgs schönster Kinosaal

Im atmosphärischen Innenhof des Schwarzen Klosters harren die Zuschauer in der Dunkelheit der Sommernacht der cineastischen Highlights unterm Sternenhimmel.

Internationale Stars unter heimischem Sternenhimmel (ewei). Nun beginnt sie endlich wieder, die Sommernachtsfreiluftkinozeit – und sie dauert heuer eine Woche länger als sonst: Da die Kinosäle im Friedrichsbau bis Mitte September zur Nachbesserung des Brandschutzes Baustelle sind, hat sich das Team um Ludwig Ammann und Michael Isele kurzerhand entschlossen, diesmal ganze 46 erfrischende Film­ abende im Innenhof des Schwarzen Klosters anzubieten. Wenn das keine gute Nachricht ist! Allein sieben Premieren stehen in diesem hoffentlich ohne Abendregen verlaufenden Sommer auf dem Programm – aus der Sicht der Veranstalter „ein halbes Filmfest“. Besonderer Auftakt zu den Kinonächten unterm Sternenhimmel ist die Freiburger Erstaufführung von Pedro Almodóvars „Leid und Herrlichkeit“. Dieser autobiografisch geprägte Film, dessen Hauptdarsteller Antonio Banderas bei den Filmfestspielen in Cannes die Silberne Palme als bester Schauspieler gewann, wird am Mittwoch, 24. Juli, 21.30 Uhr gezeigt. Außer den Premieren, zu denen einige wirklich gelungene Satiren wie „Der unverhoffte Charme des Geldes“ gehören, gibt es natürlich 70 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019

auch wieder „Klasse Klassiker“. Dieses Jahr sind es sogar drei an der Zahl – allesamt ziemlich durchgeknallte Komödien. Da gibt es ein Wiedersehen mit „The big Lebowski“, „Good bye Lenin“ und „Tanz der Vampire.“ Und es gibt gute Chancen, gerade diese (und alle anderen) Filme nicht zu verpassen: Erstmals sind die Tickets für das Sommernachtskino online zu erwerben, ab sofort! Fast schon zu den Klassikern zu zählen ist auch „Weit“, der Film der beiden Freiburger Weltreisenden Gwen Weisser und Patrick Allgaier, der mehr als zwei Jahre im Friedrichsbau lief. Doch auch die 35 anderen Produktionen können sich sehen lassen, handelt es sich doch um die besten Streifen der letzten 12 Monate. Spektakuläre Abenteuerfilme, thrillige Krimis, rasante oder auch bedächtige Road-Movies, spannende Dokumentationen, realfiktionale Dramen und grandiose Musikfilme sind dabei – diese sind Open Air natürlich ein Highlight. Nicht nur zum Ausklang am Samstag, 7. September, 20.45 Uhr, wenn „Bohemian Rhapsody“ zu sehen ist. Und zu hören. Info: www.sommernachts-kino.de

Foto: © X-Verleih

Deutschland 2019 Regie: : Ilker Çatak Mit: Anne Ratte-Polle, Ogulcan Arman Uslu u.a. Verleih: X-Verleih Laufzeit: 120 Minuten Start: 1. August 2019

Näher als geplant (ewei). Marion, eine selbstbewusste, unabhängige Pilotin aus Deutschland, trifft am Strand von Marmaris auf Baran, einen charmanten jungen Mann, der von einem besseren Leben träumt. Zielstrebig bittet er Marion, ihn mit nach Deutschland zu nehmen. Und sie lässt sich, ganz gegen ihre sonst so überlegte Art, auf dieses Wagnis und einen Deal mit ihm ein. Sie ist gerade selbst dabei, ihr Leben zu überdenken. Denn ihre Dauer-­ Affäre Raphael ist eben nur eine bequeme Dauer-Affäre. Baran gibt alles, um die Chance auf ein neues Leben zu nutzen. Das beeindruckt Marion – ihre Zurückhaltung bröckelt, und beide kommen sich näher als geplant. Trotz aller persönlichen und kulturellen Gegensätze und mit dem Mut, sich dem Fremden zu stellen und Herausforderungen anzunehmen. Studenten-Oscar®-Preisträger Ilker Çatak legt eine schöne Liebesgeschichte vor, die gängige gesellschaftliche Klischees und Vorurteile mit pointiertem Witz klug und subtil entkräftet.


KINO Photograph

So wie du mich willst

Ich war zuhause, aber ...

Foto: © NFP

Foto: © Alamode

Foto: © Piffl

Indien/Deutschland 2019 Regie: Ritesh Batra Mit: Sanya Malhotra, Nawazuddin Siddiqui u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 110 Minuten Start: 8. August 2019

Frankreich 2019 Regie: Safy Nebbou Mit: Juliette Binoche, Nicole Garcia u.a. Verleih: Alamode Laufzeit: 101 Minuten Start: 8. August 2019

Deutschland 2019 Regie: Angela Schanelec Mit: Maren Eggert, Jakob Lasalle u.a. Verleih: Piffl Laufzeit: 105 Minuten Start: 15. August 2019

Wenn Spiel zu Ernst wird

Flirt in digitalen Sphären

Aus der Bahn geworfen

(ewei). Rafi arbeitet als Fotograf an Mumbais „Gate to India“. Täglich knipst er mit freundlicher Beharrlichkeit sorglose Touristen, schüchterne Pärchen und glückliche Familien – und gibt ihnen die frisch ausgedruckten Bilder gleich mit. Das Geld schickt er jeden Monat zur Großmutter – um die Schulden seines verstorbenen Vaters zu begleichen und das verlorene Haus zurückzukaufen. Doch die Oma ist eher an einer Heirat Rafis interessiert, droht ihm regelrecht. In seiner Not schickt er ihr das Foto einer lächelnden jungen Frau, das er am Gateway aufgenommen hat. Als sie die angebliche künftige Ehefrau selbst kennenlernen will, bleibt Rafi nichts anderes übrig, als die Unbekannte zu suchen. Er findet sie – doch Miloni stammt aus der aufstrebenden Mittelklasse, die für mittellose Menschen wie Rafi nur Verachtung übrig hat. Dennoch macht Miloni bei der Scharade mit: Sie hält nichts von Standesdünkeln. Das Spiel wird Ernst – mit einer Reise mitten in Indiens Kastenwesen.

(ewei). Literaturprofessorin Claire ist um die 50, als ihr Mann sie nach 20 Ehejahren wegen einer jüngeren Frau sitzen lässt. Zwar tröstet sie sich ihrerseits mit einem jüngeren Mann, doch der hat außerhalb des Betts wenig Aufmerksamkeit für sie. Enttäuscht über die offenbare Ungleichheit der Geschlechter, entschließt sie sich, in einem sozialen Netzwerk ein nicht ganz zutreffendes Profil anzulegen. Mit einem Foto aus jungen Jahren und dem Namen Clara geht sie auf Männersuche – und trifft ausgerechnet auf Alex, den besten Freund ihres Liebhabers. Der natürlich nichts ahnt. Aus dem digitalen Flirt entwickelt sich – auf beiden Seiten – eine veritable Verliebtheit; sie telefonieren miteinander, Alex will sich mit Clara treffen. Doch Claire scheut sich davor, ihm einzugestehen, dass alles außer ihren Gefühlen Lüge war. Sie steckt in einer Zwickmühle und sieht keinen Ausweg. Packendes Psychogramm eines Ausflugs in digitale Sphären mit einer großartigen Juliette Binoche.

(ewei). Astrids 13-jähriger Sohn Philip war eine Woche lang verschwunden. Ohne Nachricht, ohne Spur. Dann taucht er plötzlich wieder auf, wortlos, ohne Angaben, mit verletztem Fuß. Die Gründe für sein Verschwinden bleiben im Dunkeln; Astrid und Philips Lehrer können auch über seinen Aufenthaltsort nur Mutmaßungen anstellen. Allmählich kehren Normalität und Routine des Alltags zurück: Astrid geht ihrem Beruf im Berliner Kunstbetrieb nach, kümmert sich um Philip und seine kleine Schwester, für deren Erziehung sie seit dem noch nicht lange zurückliegenden Tod ihres Mannes allein zuständig ist. Philip geht zur Schule, nimmt dort mit seiner Klasse die Proben für eine Aufführung von Shakespeares Hamlet wieder auf. Doch seine Wunde entzündet sich, er muss mit einer Blutvergiftung ins Krankenhaus. Aus der Bahn geworfen, erkennt Astrid, dass das bereits zerfallene Familiengefüge sich neu zu bilden beginnt. Aber ganz anders als zuvor. Silberner Bär für die beste Regie bei der Berlinale 2019.


Literatur

Eine Stunde Unbeschwertheit Jubiläum bei den literarischen Sommerabenden „Unter Sternen“

V

von Erika Weisser

Unter Sternen ist Literatur entspannend – auch wenn sie spannend ist.

or 20 Jahren startete die Sommernacht-Vorlesereihe „Unter Sternen“, die längst fester Bestandteil der Freiburger Kulturagenda im August ist. Die Organisatoren dieser Kooperation zwischen E-Werk und Vorderhaus – Kultur in der Fabrik finden, dass sich das Projekt „gut entwickelt“ habe. In all den Jahren, freut sich Vorderhaus-Programmplanerin Karin Hönes, sei keine Lesung abgesagt worden, seien immer konstant 80 bis 100 und nie weniger als 25 Besucher gekommen, „nicht einmal bei Regen“. Sie erinnert sich an den allerersten, komplett ausverkauften Leseabend im August 1999. Damals habe der Freiburger Regionalkrimiautor Roland Weis im Innenhof des Adelhausermuseums aus seinem „Güllelochmord“ gelesen, als mittendrin ein heftiges Gewitter mit Starkregenguss losgebrochen sei. Viele Anwesende hätten unter dem einzigen vorhandenen, riesigen Schirm Zuflucht gesucht und dort in aller Ruhe mit Weis über sein Buch gesprochen. Autorengespräche seien normalerweise jedoch nicht üblich: „Literaturanalyse ist nicht unser Kerngeschäft, uns geht es einfach um eine Stunde Unbeschwertheit.“ In den ersten Jahren gab es bei den Vorleseabenden nur zwei literarische Genres: Freitags war die Stunde des Krimis, samstags die der Erotik. Dabei, sagt Hönes, seien nicht nur die Schriftsteller selbst zu Wort gekommen, unter denen bis heute auch immer einige Freiburger sind: Hiesige Kabarettisten, Kleinkünstler und Schauspieler hätten Texte bestimmter Autoren ausgesucht und präsentiert. So seien „spannende Verbindungen entstanden“, die vergnügliche Lesungen versprachen. Und dies auch einhielten. Ebenfalls bis heute. Gern denkt sie an inspirierende Veranstaltungen wie „Frank Sauer liest Wolf Haas“ oder „Georg Schramm liest Philip Roth“ zurück. Oder an Donna Leon, die als Fan des Freiburger Barockorchesters

72 chilli Cultur.zeit Juli/August 2019

Foto: © Felix Groteloh

„über diese Connection“ gleich im zweiten Jahr bei „Unter Sternen“ persönlich zu Gast war. Freilich wurde ihr Auftritt wegen des großen Andrangs in den Rathausinnenhof verlegt. Sie und ihre Kollegen hätten anfangs „eine Zeit lang ziemlich rumgesponnen mit besonderen Orten wie etwa der Pathologie, einem Schrottplatz oder einer Kleingartenanlage“, erzählt Hönes. Derlei Ideen hätten sich aber nicht umsetzen lassen. Außer bei Lisbeth Felder, die im Schulungsraum des Polizeireviers Nord aus Friedrich Glausers Wachtmeister-Studer-Romanen las. Inzwischen gefalle es ihnen auch sehr gut in der Spechtpassage, wo „unter Sternen“ nach einem kurzen Intermezzo im Haus zur lieben Hand seit 2010 gastiert. Nach dem Verlust der ersten Spielstätte in dem ab 2008 wegen Umgestaltung geschlossenen Adelhauser-Innenhof steht der „bei ganz unterschiedlichen Literaturbegeisterten nach wie vor sehr beliebten Lesereihe“ ein zentral gelegener Ort zur Verfügung, der mit dem Jos-Fritz-Café nötigenfalls sogar Obdach bietet. Obwohl „die Leute lieber draußen sitzen“, zur Not auch mit Schirmen. Seit dem Umzug werden sämtliche literarischen Genres bedient, ist für jeden etwas dabei. Auch im Jubiläumsjahr. Info: www.vorderhaus.de; www.e-werk-freiburg.de


FRezi

Saison der Wirbelstürme

14. Juli

von Éric Vuillard Verlag: Matthes & Seitz 2019 135 Seiten, gebunden Preis: 18 Euro

von Fernanda Melchor Übersetzung: Angelica Ammar Verlag: Wagenbach 2019 240 Seiten, Broschur Preis: 22 Euro

Schnappschüsse

von Claudio Magris Übersetzung: Ragni Maria Gschwend Verlag: Carl Hanser 2019 191 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro

Unruhe vor dem Sturm

Chronik eines absehbaren Tods

Poetische Prosaminiaturen

(ewei). Im Juli 1789 herrschten ähnlich brütende Temperaturen wie an den eben überstandenen letzten Juni- und ersten Julitagen 2019. Doch anders als hier und heute brauten sich vor 230 Jahren im absolutistischen Frankreich nicht nur klimatische, sondern auch heftige gesellschaftspolitische Gewitter zusammen; sie sollten Europa für immer verändern. Éric Vuillard lässt die Leser in seiner in mitreißend bildhafter Sprache verfassten Erzählung „14. Juli“ die erstickende Hitze, die fiebrige Unruhe des Pariser Revolutionssommers förmlich selbst spüren. Ebenso wie die nach langen, zunehmend existenzbedrohenden Entbehrungen entstandene Wut unter den namenlosen Angehörigen des dritten Stands. Wie auch deren verzweifelten Umsturzwillen, der sich im Aufstand gegen die Herrschaft von König, Adel und Klerus und dem Sturm auf die Bastille Bahn brach. Er schreibt aus der Sicht der verarmten Tagelöhner, kleinen Bediensteten, niederen Soldaten und völlig Besitzlosen, verleiht ihnen zuweilen auch eine würdige Individualität. Etwa dann, als zwei namentlich genannte Geschwister ihren Bruder identifizieren, der bei der Plünderung des luxuriösen Anwesens eines Unternehmers erschlagen worden war. Ein erhellendes fiktionales Stück realer Zeitgeschichte.

(ewei). Das Gruseln packt einen schon auf der ersten Seite: Da durchqueren fünf Kinder das von Geiern überflogene Dickicht eines Zuckerrohrfelds und stoßen im Uferschilf des Bewässerungskanals auf eine Tote. Obwohl ihr Gesicht halb verwest und zu einer grausig grinsenden Grimasse entstellt ist, erkennen sie die Frau sofort. Entsetzt sehen sie, dass es sich um die Dorfhexe von La Matosa handelt. Um die Bruja, wie die abergläubischen Bewohner dieses gottverlassenen Orts in der mexikanischen Provinz die eigentümliche Frau nennen. Die für sie eine Ausgeburt des Teufels ist – und nicht etwa das Produkt einer brutalen Massenvergewaltigung ihrer Mutter, der gleichfalls unheimliche Zauber- und Anziehungskräfte nachgesagt wurden. Die in wüster Sprache und ununterbrochenem Redefluss wiedergegebenen Beobachtungen einiger Nachbarn erschließen nach und nach die Vorgeschichte dieses Mords. Die Geschichte der namenlosen Bruja, deren gewaltsames Schicksal gleichnishaft ist für die in den durch Ausbeutung verelendeten und verrohten Gesellschaften viel zu alltäglichen Übergriffe auf Frauen. Eine schwer zu ertragende Chronik, deren Autorin und Übersetzerin soeben mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet wurden.

(ewei). Ragni Maria Gschwend, die Grande Dame der Freiburger Literaturübersetzerzunft, hat ein schönes kleines Buch aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen. „Schnappschüsse“ heißt es und es ist ein beredtes Dokument der Weisheit, die sich im Laufe der Zeit bei solchen Menschen einstellen kann, die aufnehmend und aufmerksam durchs Leben gehen. Der Triester Autor – und ehemalige Freiburger Germanistikstudent – Claudio Magris hat darin knapp 50 lebenskluge, manchmal spöttische, oft selbstironische und richtig poetische Prosaminiaturen zusammengefügt. Momentaufnahmen, die der heute 80-Jährige zwischen 2009 und 2016 bei Begegnungen, Beobachtungen und Gesprächen festgehalten hat. „Selfie“ nennt er eine Episode, in der er von einem Mann erzählt, der die Ausfahrt seiner Garage von einem Wagen versperrt findet und ungeduldig zu hupen beginnt. Der dann wütend ein völlig verängstigt in dem Auto sitzendes Kind anbrüllt – bis er sein Gesicht in der Scheibe gespiegelt sieht. Und feststellt, „dass ich mich noch nie so hässlich und unsympathisch gesehen habe“. Bei einer weiteren Begegnung, an seinem Triester Lieblingsort Riviera di Barcola, freut er sich, dass eine Frau ihn an seinem Hund erkennt. Ein Buch voller Gedanken – die zum Weiterdenken anregen. Juli/August 2019 chilli Cultur.zeit 73


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