chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 5/21 11. JAHRGANG

OIL

Anzhelika Kovalenko

FATCAT Hannah Wilhelm

WeLive

Das Online-Musikfestival

Jens Glaseker QULT

Julian Maier-Hauff Hinsken

Dead Venus

No Authority

Cornelia Lanz

Einblicke

Ausblicke

Lichtblicke

EGO-DOKUMENTE IM TAGEBUCHARCHIV

MULTIMEDIALE REISEN „INS WEITE“

AUSGEZEICHNETER AUTOR KARL-HEINZ OTT


KULTUR

Kompass bei der Lebenswanderung EIN AUFSCHLUSSREICHER BESUCH IM DEUTSCHEN TAGEBUCHARCHIV EMMENDINGEN

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von Erika Weisser

Blick auf eine Epoche: In dem Tagebuch eines jungen Mädchens ist der Zeitgeist der 1950-er und 1960-er Jahre anschaulich festgehalten und niedergeschrieben. Fotos: © DTA

in paar Gehminuten vom Bahnhof Emmendingen entfernt, im Alten Rathaus am belebten Markplatz der hübschen Altstadt, hat „ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung“ Sitz und Geschäftsstelle: das 1998 gegründete und seit 2019 mit dem hier zitierten Vermerk in das Denkmalbuch des Landes BadenWürttemberg eingetragene Deutsche Tagebucharchiv (DTA). Es versteht sich als Aufbewahrungsort für autobiografische Zeitzeugnisse des Alltags von jederfrau und jedermann; hier werden Tagebücher, Briefe und Reisebeschreibungen oder für die Familie niedergeschriebene Lebensrückblicke von Privatpersonen gesammelt und vor allem der Wissenschaft zugänglich gemacht. Solche „Ego-Dokumente“, sagt Marlene Kayen, seien „eine wichtige Quelle für die Erforschung der Alltags-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte“: Tagebücher dienten den Schreibenden zwar zunächst als eine Art Kompass bei ihrer großen und unwäg-

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baren Lebenswanderung. Doch dem autorisierten Zweitleser könnten diese Momentaufnahmen aus vergangenen Zeiten nachträglich Aufschluss geben über die Wirkung großer zeithistorischer oder weltpolitischer Ereignisse auf die kleine Lebenswelt und den Alltag der Menschen in der jeweiligen Epoche. Marlene Kayen wirkt seit neun Jahren im Deutschen Tagebucharchiv mit, lernte die verschiedenen Arbeitsbereiche wie etwa Indexieren und Transkribieren kennen – und nicht zuletzt die digitale Erfassung der Neuzugänge. Seit 2016 ist sie Vorsitzende des Trägervereins. Nach ihren Angaben gehören inzwischen mehr als 23.600 Selbstzeugnisse aus der Feder von knapp 5000 weitgehend unbekannten Autoren aus dem ganzen deutschsprachigen Raum zum Bestand. Und jedes Jahr kommen rund 1000 weitere Dokumente dazu, „die den Bogen vom Privaten zur Zeitgeschichte spannen“ und


deren Lektüre eine „emotionale und intellektuelle Bereicherung“ sei. Durch ihre Mitarbeit, sagt die ehemalige Englisch- und Französischlehrerin, habe sie „hier ein komplettes und nachhaltiges Studium Generale bekommen“. Jedes Jahr gebe es etwa 250 Rechercheanfragen von Historikern, Journalisten oder Studierenden, die zu bestimmten und ganz unterschiedlichen Themen arbeiten wollen; im vergangenen Jahr habe es viel Interesse an Tagebuchaufzeichnungen über die vor 100 Jahren grassierende Spanische Grippe gegeben. Oft nachgefragt werden aber auch Fluchtgeschichten. Sie erfahre immer wieder von Veröffentlichungen, die auf der Grundlage der Forschungen des DTA zustande kamen. So „schaffen Laien Wissen für die Wissenschaft“, freut sie sich. Sie arbeitet ehrenamtlich mit den beiden Hauptamtlichen, dem Geschäftsstellenleiter Gerhard Seitz und der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Jutta Jäger-Schenk, zusammen und ist mit dem Gesamtvorstand für die Koordination der Arbeit der etwa 100 ehrenamtlich Mitarbeitenden zuständig. Durch deren engagierte und unbezahlte Arbeit, betont Marlene Kayen, werde „die sorgfältige Erschließung und fachgerechte Aufbewahrung der Dokumente überhaupt erst ermöglicht“. Denn das einzige Tagebucharchiv Deutschlands erhält – außer der mietfreien Überlassung der Räume des Archivs und des angeschlossenen kleinen Tagebuchmuseums durch die Stadt Emmendingen – trotz seiner anerkannten Bedeutung für die Forschung wenig öffentliche Förderung. Es wird vorwiegend aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und anderen Zuwendungen finanziert, für deren Akquise die Vorsitzende ebenfalls verantwortlich ist. Damit auch „interessierte Laien“ von der vielfältigen Arbeit erfahren, gibt es jedes

Jahr zwei Lesungen mit Auszügen aus den Dokumenten, die beispielsweise auch von Leuten stammen, die einst auswanderten. Diese „Zeitreisen“ haben immer einen bestimmten Themenschwerpunkt, der aus unterschiedlicher Perspektive beleuchtet wird. Für die interessierte Öffentlichkeit gibt es auch das kleine Museum, wo unter dem Motto „Lebenslust – Lebenslast – Lebenskunst“ in wechselnden Langzeitausstellungen ganz besondere Schätze präsentiert werden, mit Führung oder Audioguide: Lebensspuren in schönen Vitrinen.

INFO Deutsches Tagebucharchiv e.V. Besuche nach Anmeldung: Tel.: 07641/574659 E-Mail: dta@tagebucharchiv.de www.tagebucharchiv.de

KULTURNOTIZEN Loretta verlässt das Lollo Nein, so, mit blanker Brust und wallendem blondem Haar, nicht. Nicht vor Deutschlands einzigem Damenbad. So musste der bekannte Holzkünstler Thomas Rees seine Skulptur vor dem Lorettobad wieder mit nach Hause nehmen, nachdem sich an der Dame ein Stürmchen der Entrüstung entfacht hatte. Die „Loretta“, so ihr Name, wäre ein Fall für die Kunstkommission gewesen. So sagte Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach – nachdem das Kunstwerk schon viele Blicke gefangen hatte. Sodann befasste sich auch der Kulturausschuss des Gemeinderats mit dem Thema, und ab sofort soll ganz, ganz sensibel mit Kunst im öffentlichen Raum umgegangen werden. Und die Kunstkommission vorher gefragt werden. Der Förderverein des Lollo hatte der Betreiberin, der Regio Bäder GmbH, das Werk halt einfach so mal geschenkt. Und Loretta stand seither eigentlich auch gar nicht im öffentlichen Raum. Dennoch waren „die Beteiligungsprozesse in dem gesamten Verfahren verbesserungswürdig“, so Ulrich von Kirchbach. Nun wird die Loretta wohl nach Stuttgart gehen. Ohne dort vor einer Kommission „vorspielen“ zu müssen.

Stabi goes digi Weniger Besucher, nur geringfügig gesunkene Ausleihzahlen und viel Zuspruch für neue digitale Angebote – so lautet die Bilanz 2020 der Freiburger Stadtbibliothek (Stabi). 280.000 Menschen, im Vorjahr waren es doppelt so viele, waren an den Münsterplatz gekommen. 1,356 Millionen Medien wurden ausgeliehen (2019: 1,475), fast 85.000 Zugriffe gab es auf die digitalen Angebote „Filmfriend“, „Freegal Music“ und „Naxos Music Library“. Die Pläne für den Ausbau des Online-Angebotes hatten längst in der Schublade gelegen, erzählt die Leiterin Elisabeth Willnat: „Als dann der Lockdown kam, habe ich es einfach gemacht und die Verträge unterzeichnet.“ Die Onleihe (das Ausleihen digitaler Medien) war mit 267.650 Vorgängen fast 35 Prozent stärker frequentiert als 2019. Die Stabi hat den Spagat zwischen analog und digital gemeistert.

Großzügiges Geschenk

Schätze: Manche Tagebücher sind von den Schreibenden selbst illustriert und liebevoll gestaltet.

Der Freundeskreis Augustinermuseum hat das Bild „Spielende Kinder“ des Furtwanger Malers Johann Baptist Kirner (1806 bis 1866) für 29.500 Euro gekauft und dem Museum gespendet. Das Gemälde entstand 1838 und zeigt einen Jungen, auf dem ein kleines blondes Mädchen reitet. Die Ausstellung „Johann Baptist Kirner. Erzähltes Leben“ im Augustinermuseum startet am 27. November und läuft bis zum 27. März. Parallel ist vom 30. Oktober bis zum 30. Januar ein Auszug aus Kirners zeichnerischem Werkbestand im Haus der Graphischen Sammlung zu sehen. bar


KINO

Die Erfahrung anderer Welten GÄRTEN UND HÖFE ALS NACHDENKORTE ÜBER DAS REISEN – MIT KINO, LITERATUR UND MUSIK

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von Erika Weisser

Unterwegs: Auf großer Leinwand im Mensagarten wie in Michael Glawoggers „Untitled“ (oben) oder unter Kastanien am Kommunalen Kino (rechts): Beim Festival geht es um Reiseerfahrung als Lebenserfahrung. Fotos: © KoKi, Alexander Heneka

in Festival geht in die zweite Runde: Bis zum 31. August heißt es im Mensagarten, im Innenhof des Museums für Neue Kunst und unter den Kastanien beim Alten Wiehrebahnhof wieder: „Ins Weite“ Diese „Reisen in Film, Musik und Literatur“ werden veranstaltet vom Kommunalen Kino, dessen Geschäftsführerin Neriman Bayram auch in diesem Jahr Kooperationspartner und Sponsoren gefunden hat. Sie ist für das Filmprogramm zuständig, der Literaturwissenschaftler Hansjörg Bay für Lesungen und Autorengespräche, der Journalist Stefan Franzen für Konzerte. Es gibt zwei Themenschwerpunkte: „Die Welt als Mosaik“ und „Going East“. Das Festival mit seinen knapp 60 Veranstaltungen, sagt Hansjörg Bay, ist „nicht als Ersatz für ausgefallene oder aufgeschobene Reisen gedacht“. Sondern vielmehr als Gelegenheit, darüber nachzudenken, „was es mit dem Reisen und seinen nicht immer unproblematischen Facetten auf sich hat“. Oder auch

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darüber, ergänzt Neriman Bayram, wie die Welt aus der Sicht jener aussieht, „zu denen wir als touristische Konsumenten reisen, die selbst aber nicht reisen können“. Weil sie keinen Pass haben. Oder kein Geld. Oder weil ihre einzige Vorstellung von einer Reise die einer Emigration ist – um einem Krieg zu entkommen oder von besseren Weltgegenden aus die Familie zu unterstützen.

World Chamber Music und Stummfilmkonzert Um eine solche „Reise“ handelt es sich bei einem der ersten Filme im Freiluftkino auf der Mensawiese (24. Juli, 21.45 Uhr): „Der Mann, der seine Haut verkaufte“. Er stammt von der tunesischen Regisseurin Kaouther Ben Hania, feierte 2020 bei den Filmfestspielen von Venedig seine Premiere und wurde 2021 mit dem „Friedenspreis des deutschen Films – die Brücke“ ausgezeichnet. Am selben


KINO

INFO Das ganze Programm: www.koki-freiburg.de/insweite/

IN FREIBURGS SCHÖNSTEM KINOSAAL

Foto: © Kino Friedrichsbau

Abend um 20 Uhr gibt es dort ein World Chamber Music-Konzert mit dem Instrumentalist·innenkollektiv „Beyond the Roots“, dessen fünf Musiker·innen nach Auskunft von Kurator Stefan Franzen „durch die Kraft der Improvisation Weltmusik und Kammermusik verbinden“. Beide Veranstaltungen gehören zum Themenschwerpunkt „Going East“. Zum Themenschwerpunkt „Die Welt als Mosaik“ gibt es ein ganzes Special zu Michael Glawogger: am 17. Juli, 21.45 Uhr, unter Kastanien am Alten Wiehrebahnhof ist sein Film „Slumming“ zu sehen, am 28 Juli im Mensagarten gibt es „Workingman’s Death“ – und zwei Tage darauf „Untitled“ (30.7., 21.45 Uhr). Der Film entstand 2017 mit Bildmaterial von Glawogger – mehr als zwei Jahre nach seinem plötzlichen Tod in Liberia, während der Dreharbeiten zu dieser Dokumentation. Zuvor, um 20 Uhr, besteht die Möglichkeit, den Filmemacher auch als Autor kennenzulernen: Seine Witwe Andrea Glawogger liest im Mensagarten zusammen mit dem Freiburger Schauspieler Peter Haug-Lamersdorf aus seinem Buch „69 Hotelzimmer“. Auf dem Programm stehen noch einige weitere Höhepunkte: So kommt Werner Herzogs „Nomad: In The Footsteps of Bruce Chatwin“ am 4. August auf die große Leinwand im Mensagarten; am 21. Juli gibt es dort ein Chaplin-Stummfilmkonzert mit Musik des Studierendenorchesters. Selbst an ein Kinderprogramm haben die Veranstalter gedacht.

Im atmosphärischen Innenhof des Schwarzen Klosters harren die Zuschauer in der Dunkelheit der Sommernacht der cineastischen Highlights unterm Sternenhimmel.

20 Jahre Sommernachtskino im Schwarzen Kloster (ewei). In diesem Jahr ist alles anders als sonst: Das Sommernachtskino im Innenhof des Schwarzen Klosters begann schon am 31. Mai – mit den Lesbenfilmtagen, gefolgt von der Schwulen Filmwoche. Angesichts der immer noch in der Luft liegenden Pandemie wurden diese Veranstaltungen aus den Sälen ins Freie verlegt – und gingen nahtlos in die Jubiläumsausgabe des Sommernachtskinos über: Zum 20-Jährigen gab es die gute Nachricht, dass sich Kinogänger heuer auf rekordverdächtige 104 erfrischende Filmabende in Freiburgs schönstem Kinosaal freuen können, letzte Vorstellung im Sommernachtskino ist am 11. September. Eröffnet wurde das feine Festival mit dem umwerfenden Oscar-Abräumer „Nomadland“, der seit Mitte Juni auch im Harmonie-Kino zu sehen ist. Es folgten Filme, die zwar nicht mehr ganz neu sind, doch im zurückliegenden Jahr nur kurz oder gar nicht im Kino gesehen werden konnten. Es waren und sind, wie es sich für ein Jubiläum gehört, ein paar Klassiker dabei – etwa am 17. Juli, 21.45 Uhr Wim Wenders’ „Buena Vista Social Club“. Und natürlich gibt es wie immer auch viele Premieren, manchmal sogar mit Gästen. So präsentierte etwa Pepe

Danquart hier seinen Pasolini-Film „Vor mir der Süden“, der inzwischen im regulären Programm im wieder offenen Friedrichsbau läuft. Eine weitere Premiere feiert der AuslandsOscar-Gewinner „Der Rausch“ am 21. Juli; mit diesem Film öffnet tags darauf auch der Kandelhof wieder. Danach stehen noch weitere acht Premieren auf dem Programm der hoffentlich regenfreien Sommernächte. Dazu gehören „Wer wir sind und wer wir waren“ (28.7., 21.30 Uhr), „Gunda“ (17.8., 21.15 Uhr), der liebenswerte „Hochzeitsschneider von Athen“ (22.8., 21 Uhr, mit Hauptdarstellerin Tamila Koulieva) und Johannes Nabers neues satirisches Polit-Drama „Curveball – wir machen die Wahrheit“ (7.9., 20.45 Uhr). Zuvor, am 29. Juli, 21.30 Uhr, gibt es den Gewinnerfilm des Silbernen Bären 2020 zu sehen: „Niemals selten manchmal immer“. Und am 9. August, 21.15 Uhr, ist der Freiburger Regisseur Anselm Pahnke zu Gast. Er bringt seinen Dokumentarfilm „Anderswo. Allein in Afrika“ mit, den er 2018 produzierte, mit Aufnahmen von seiner Reise durch Afrika – an 414 Tagen auf dem Fahrrad. Info: www.sommernachts-kino.de JULI/AUGUST 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 41


KINO

Träume aus Tüll IN SONIA LIZA KENTERMANS LANGFILMDEBÜT SCHLÄGT EIN STANDESBEWUSSTER HERRENSCHNEIDER NEUE BERUFSWEGE EIN von Erika Weisser

Der Hochzeitsschneider von Athen Griechenland 2020 Regie: Sonia Liza Kenterman Mit: Dimitris Imellos, Tamila Koulieva u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 100 Minuten Start: 26. August 2021 Premiere: 22. August, 21 Uhr Sommernachtskino

N

ikos arbeitet seit seinem 16. Lebensjahr im Herrenschneider-Atelier seines Vaters; er führt den gediegenen Laden im Zentrum Athens inzwischen allein. Doch die Geschäfte laufen nicht mehr wie früher: Eine Wirtschaftskrise beutelt das Land, teure Maßanzüge kann sich niemand mehr leisten. Tag für Tag steht der stets vornehm gekleidete 50-Jährige in der staubfreien Werkstatt und hält durch das blankgeputzte Schaufenster Ausschau nach Kunden. Vergeblich: Die einzigen Männer, die sich blicken lassen, sind Schuldeneintreiber der Bank, die mangels Tilgung ihres Kredits an das Traditionsgeschäft mit dessen Liquidation droht. Als der hochbetagte Vater ins Krankenhaus muss und Kosten für Behandlung und Medikamente anstehen, ist Nikos gezwungen, sich nach neuen Absatzmärkten umzusehen. Mit einem selbst gebauten mobilen Verkaufsstand steuert er nun jeden Morgen einen Straßenmarkt an, wo außer frischen Fischen und anderen Lebensmitteln auch allerhand billiger Tand zu haben ist. Dort will er seine feinen Dreiteiler aus edlen Materialien an den Mann bringen. Mit mäßigem Erfolg: Die Leute sind auf der Suche nach Schnäppchen, erkennen

Fotos: © Neue Visionen

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den Unterschied zwischen Massenware und Maßarbeit nicht mehr. Doch dank seines stoischen Durchhaltevermögens und stark herabgesetzter Preise in Kombination mit Warentausch fällt schließlich ein kleiner Erlös ab. Den investiert er in ein Moped, um den Verkaufsstand nicht mehr von Hand zu ziehen. So gelangt er in die Vororte, wo er bald den Auftrag für sein erstes, gnadenlos heruntergehandeltes Hochzeitskleid bekommt. Nachbarin Olga lehrt den feinfühligen und schüchternen Herrenschneider die Kunst der Damenschneiderei – und bald können sich die beiden vor Bestellungen nicht mehr retten. Das einst so nüchterne, peinlich aufgeräumte Atelier verwandelt sich in ein pastellfarbenes Traumgemach aus Tüll, Spitze, Pailletten, Samt und Seide. Und wird zu einem Refugium für Nikos und Olga, deren Ehemann zur Sicherung des Familienunterhalts fast ununterbrochen mit seinem Taxi unterwegs ist und die aufkeimende Verliebtheit der beiden lange ignoriert. Als er das nicht länger kann, erweist sich Nikos einmal mehr als Anpassungs- und Überlebenskünstler. Ein schöner und bildstarker Film, ein poetisches Porträt eines Mannes und seiner Stadt – erzählt als persönliche Geschichte vor politischem Hintergrund. Hauptdarstellerin Tamila Koulieva kommt zur Freiburg-Premiere am 22. August im Sommernachtskino.


KINO DER RAUSCH

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FABIAN

Foto: © Weltkino

Foto: © Weltkino

Foto: © DCM

Dänemark 2020 Regie: Thomas Vinterberg Mit: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larssen u. a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 117 Minuten Start: 22. Juli 2021

Deutschland 2020 Regie: Franka Potente Mit: Jake McLaughlin,Kathy Bates u. a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 100 Minuten Start: 29. Juli 2021

Deutschland 2021 Regie: Dominik Graf Mit: Tom Schilling, Saskia Rosendahl u. a. Verleih: DCM Laufzeit: 176 Minuten Start: 5. August 2021

Ein halbes Promille

Plädoyer für Vergebung

Der Gang vor die Hunde

(ewei). Martins Leben verläuft in geordneten Bahnen. Er ist Anfang 40, Geschichtslehrer am Gymnasium einer dänischen Kleinstadt, wohnt mit Ehefrau und zwei Kindern in einem Häuschen mit Meerblick. Und er ist gelangweilt: von sich selbst, von seiner Ehe, von der Routine des Vateralltags, von den Schülern. Diese beklagen sich über seinen langweiligen Unterricht, fürchten wegen des Desinteresses bei der Wissensvermittlung gar um ihre Noten. Bei einer Feier mit drei Kollegen scheint sich ein Ausweg aus der lustlosen Gleichförmigkeit des Lebens aufzutun: In einem kollektiven Selbstversuch wollen sie herausfinden, ob die These eines norwegischen Psychiaters zutrifft, nach der Menschen nur bei einem konstanten Blutalkoholwert von 0,5 Promille ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Also trinken sie im Schulalltag – in Maßen und mit gutem Ergebnis. Doch bald läuft alles aus dem Ruder. Auslands-Oscar 2021. Freiburg-Premiere: 21. Juli im Sommernachstkino, danach im Kandelhof.

(ewei). Als Marvin nach 17 Jahren aus der Haft entlassen wird, trägt er den Trainingsanzug, in dem er als Teenager verhaftet wurde. Und er macht sich mit dem Skateboard auf den Weg nach Hause, auf dem er flüchtete, als er die Großmutter der Flintows getötet hatte. Nach Hause: Das ist das heruntergekommene Haus seiner Kindheit in einer öden amerikanischen Kleinstadt, wo nicht nur seine inzwischen todkranke Mutter lebt, sondern auch der Flintow-Clan, der ihn mit unverhohlenem Hass und allen Mitteln wieder aus dem Ort vertreiben will. Schnell merkt Marvin, dass auch die anderen Bewohner der Kleinstadt seine Tat selbst nach so vielen Jahren nicht vergessen haben. Doch er ist bereit, sich den Konsequenzen seiner Vergangenheit zu stellen. Als er alle Schikanen ohne Gegenwehr erträgt, beginnt die junge Delta Flintow ihn mit anderen Augen zu sehen. Mit ihrem Langfilmdebüt ist Franka Potente ein Plädoyer für Vergebung gelungen – in der besonderen Atmosphäre der amerikanischen Provinz.

(ewei). Berlin gegen Ende der Weimarer Republik. Das Leben in der Stadt bewegt sich zwischen schriller Vergnügungssucht und dunkler Resignation. Kriegstraumata, Arbeitslosigkeit, NaziAufmärsche, Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit prägen die brodelnde Gesellschaft. Jakob Fabian lebt in diesen Widersprüchen. Der Germanist wäre gern Schriftsteller, verdingt sich aber als Werbetexter einer Zigarettenmarke. Erfolglos: Er wird von einer Stunde auf die andere entlassen, findet nur in seiner großen Liebe Cornelia Halt. Doch nicht lange: Sie träumt von einer Schauspielerinnenkarriere und lässt sich, da sie kein Geld hat, mit einem reichen Filmproduzenten ein – auch zu Fabians Unterstützung. Er kann sich nicht damit arrangieren und verlässt sie. Als sich sein bester Freund Labude – wegen der Intrige eines Nazis – das Leben nimmt, bleibt ihm nur der Weg zurück zu den Eltern. Eine großartige Adaption von Erich Kästners scharfsinnigem Roman, von den Nazis als „Sudelbuch“ diffamiert.


MUSIK

„Das macht sonst nur MTV Unplugged“ DIE MACHER DES WELIVE-FESTIVALS ÜBER VERGESSENE BANDS, SELBSTAUSBEUTUNG UND KRITIKER

M Kunst, kein Stream: Das WeLiveFestival hat zuletzt die Freiburger Band Fatcat mit Gastsängerin Hannah Wilhelm in Szene gesetzt. Fotos: © FATCAT & Hannah Wilhelm, Alexandre Goebel

usik-Streams gab es viele in Corona-Zeiten. Die Idee von Pirmin und Maik Styrnol geht weit darüber hinaus: Die Brüder aus Lahr haben mit dem WeLive-Festival aufwendige Konzertfilme produziert und damit zwei Preise gewonnen. „Vergessene“ Bands sollen so ins Rampenlicht rücken. Warum ihr Vorhaben die Pandemie überleben kann, erzählen die Macher im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann. cultur.zeit: Die Kultur steht vor dem Restart. Ist das WeLive-Festival damit überflüssig? Pirmin: Nein, das ganz sicher nicht. Es ist doch toll, dass endlich wieder was geht. Wir warten selbst seit Ewigkeiten darauf. Wir haben am Sonntag (20. Juni) mit Fatcat und Hannah Wilhelm einen Film veröffentlicht. Der wurde nicht weniger angeguckt als die Filme von vor einem Jahr. Ich bin überzeugt: Das funktioniert weiter. Es gibt so tolle Künstler, die vom „Mainstream“ vergessen werden und denen wir eine große Bühne bieten können. Material und Ideen haben wir genug. cultur.zeit: Es gab unzählige Streams. Eure Idee ist anders. Wie kamt ihr darauf? Maik: Wir hatten das Gefühl, dass die Livestreams zum Großteil gut gemacht sind, aber trotzdem den Musikern nicht

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gerecht wurden. Wir haben uns gefragt: Was können wir besser oder anders machen? Das sind Planung und Nachproduktion eines Drehs. So wollten wir ein Produkt schaffen, das die Band auch nach Corona verwenden kann. Ein Livestream wird einmal gespielt und ist dann weg. Ein guter Konzertfilm bleibt ewig. Pirmin: Ein Livestream möchte kein Film sein, er möchte übertragen. Wir möchten ein Kunstprojekt sein, das die Arbeit der Künstler auf eine weitere Ebene setzt. Ist der FC Bayern besser als die Adler Mannheim? Nein, die einen spielen Fußball und die anderen Eishockey. Ich denke, dass man das nicht vergleichen sollte. cultur.zeit: Großer Sport ist teuer. Was kostet eine Produktion? Pirmin: Was sie wirklich kostet? Oder was sie kostet, nachdem wir auf Geld verzichtet haben (lacht)? Pro Film liegen wir bei 25.000 bis 45.000 Euro – je nach Location und Act. Das ist das Geld, das man haben müsste, damit auch die Arbeit von Maik und mir adäquat bezahlt wird – und man nicht irgendwo unterhalb des Mindestlohnsektors rumdümpelt. Im letzten Jahr war das nicht mal ansatzweise möglich. Da hatten wir ein paar Sponsoren, die uns einfach vertraut haben. Denen sind wir unheimlich dankbar. Man muss aber auch


MUSIK cultur.zeit: Wie sehr beutet ihr euch dabei aus? Maik: Ich hatte noch keinen Sonnentag dieses Jahr. Pirmin: Erst jetzt fängt es an, dass finanziell was bei rumkommt. Wir haben uns ein Ei ins Nest gelegt, als wir gesagt haben, die Künstler sollen nicht kostenlos auftreten. Es gab schon Diskussionen mit Leuten von außerhalb, die gesagt haben: Ihr stellt den Künstlern jetzt schon Filme hin, die einen fünfstelligen Betrag kosten, jetzt wollt ihr auch noch Geld dafür bezahlen? Wir sind aber der Meinung: Wir können nicht auf der einen Seite immer sagen, die Künstler sollen nicht ständig auf Hut spielen. Und dann auf der anderen Seite selbst kommen und erwarten, dass die Künstler bei uns umsonst auftreten. Da möchten wir auch ein Zeichen setzen.

sagen: Viele Leute haben sich an den Kopf gefasst und gesagt: Die spinnen, die wollen Livemusik nicht mal live zeigen. cultur.zeit: Weil es das so noch nicht gab? Maik: Das macht sonst nur MTV Unplugged – und das war’s. Nicht mal die Super Bowl Half Time Show ist ein Film. Die machen das alle live. Wir wollten das nicht. Das den Leuten zu erklären, ohne etwas in der Hand zu haben, war schwierig. Nach sechs produzierten Filmen hat man uns dieses Jahr aber zugehört. Wir haben viele Sponsoren, vor allem auch Politiker überzeugen können. Daher können wir die Idee jetzt auch in ganz Baden-Württemberg anbieten. Komplett ist das Projekt damit aber noch lange nicht. cultur.zeit: Was unterscheidet euch von MTV? Pirmin: MTV Unplugged macht gefühlt drei Mal Udo Lindenberg. Wir möchten etwas anbieten, das es in der deutschen Kulturszene nicht gibt. Nämlich dieses Level an Kameraausstattung und Postproduktion, das wir sonst für Uriah Heep oder bei Deep Purple bringen, regionalen Künstlern zu bieten. Fatcat haben die bei MTV übrigens noch nie eingeladen.

cultur.zeit: Was wünscht ihr euch für den Kulturneustart? Maik: Wir wünschen uns, dass es nicht zur Normalität zurückkehrt, sondern besser wird. Künstler konnten auch vorher fast nicht von ihrer Kunst leben. Zu etwas zurückzugehen, womit keiner wirklich zufrieden war, finde ich jetzt nicht wirklich gerechtfertigt. Wir sollten jetzt die Unterstützung, die Kommunen oder Städte geboten haben, fortsetzen. Pirmin: Unsere Kritik geht auch in Richtung vieler Medien: Ich fand es schon am Anfang der Krise sehr befremdlich, dass viele gute Angebote von regionalen Musikern einfach übersehen wurden. Das hat sich nicht verbessert. Das geht bei Radiostationen los. Die sagen: Ich spiele James Blunt, aber ein Singer-Songwriter wie Dominik Büchele passt nicht ins Programm. Da fasse ich mir an den Kopf. Das macht einfach keinen Sinn.

INFO Preisgekröntes Projekt Das Online-Festival der Lahrer Rockwerkstatt und des punchline Studios in Lahr der Brüder Maik und Pirmin Styrnol hat seit Februar 2019 sieben Konzertfilme veröffentlicht. Fünf weitere sind geplant. Dafür touren die WeLive-Macher durch Baden-Württemberg. Auch ein Film in Strasbourg ist anvisiert. Für ihre Idee haben die Styrnol-Brüder den Deutschen Rock-und-Pop-Preis erhalten und sind mit dem Alternativen Medienpreis ausgezeichnet worden.

cultur.zeit: Ihr dreht mit 10 bis 15 Kameras. Wie viele Leute arbeiten an einem Film? Maik: In der Sternberghalle in Friesenheim waren es inklusive Fatcat etwa 30 Leute. Mit dabei auch die Ehrenamtlichen der Lahrer Rockwerkstatt. Ohne so einen total verrückten Verein würde es nicht gehen. Wir haben wochenlange Vorplanungen, danach bin ich vier Wochen im Schnitt. Auch in die Planung der Veröffentlichung stecken wir viel Zeit. Das haben wir anderen Projekten voraus. JULI/AUGUST 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 45


MUSIK

Mobile Mutmacher

01099

OLIVER SCHEIDIES

Rap

Singer/Songwriter

DACHFENSTER

ICH BIN

Foto: © duoeinfachso

3 Fragen an

Cäcilia Bosch und Elena Bernhardt

Rap für den Sommer

Poet mit Gitarre

Musik direkt vor der Haustür. Das will das Duo Einfach So mit dem Theater Oniversum im Sommer anbieten. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann erzählen Cäcilia Bosch und Elena Bernhardt, wie ihre „mobile Mutmacherei“ laufen soll.

(paf). Im Osten was Neues: 01099 veröffentlichen Anfang Juli ihre EP „Dachfenster“. Bekannt geworden ist das Dresdner Rap-Kollektiv in letzter Zeit vor allem durch die Tracks „Frisch“ und „Durstlöscher“. Die neue Platte überzeugt aber nicht nur durch die beiden Hits. 01099 – das sind Gustav, Zachi, Paul und Dani. Ihr Sound ist eine Mischung aus Rap, Pop und EDM. Die jungen Musiker haben sich im Orchester kennengelernt. So gibt es in „Frisch“ ein Zink-Solo zu hören. Ein mittelalterliches Blasinstrument, das optisch an eine Flöte erinnert. „Dachfenster“ ist ihre dritte Platte. Die sechs Lieder darauf eignen sich für das, was sie beschreiben: „Ich lieg’ beschwipst im Gras und guck’ in die Wolken“ – zwanglos draußen feiern mit Freunden. Der Tonträger erinnert an laue Sommerabende und macht Lust auf eine Runde „Bierball“ mit Freunden an den Ufern der Dreisam. Warme, entspannte Beats und französische Textpassagen tragen ihren Teil zur sommernächtlichen Atmosphäre bei. Die EP zeigt: 01099 ist kein „OneHit-Wonder“. Mit Tracks wie „Dachfenster“ oder „VHS“ bleit sich die RapCrew treu, ohne eintönig zu sein. Einziges Manko: Die Lieder klingen manchmal einen Tick überproduziert und wirken ein bisschen zu clean. Im Trend liegen sie damit aber allemal.

(tln). Die offenen Wunden der menschlichen Seele entblößen. Das möchte der Freiburger Oliver Scheidies mit seinem Debütalbum und „abgrundtief lustiger Poesie“. Zehn Lieder sind auf „Ich bin“ – eingespielt mit der „Kapelle für alle Fälle“. Liedermacher Scheidies spielt Gitarre, textet und singt. Gleich im Opener „Maskenball im Tanzpalast“ zeigt er, wie tiefgründig das klingen kann: „Ich bin alles ich bin nichts, die Liebe hab ich abgegeben im Foyer an der Garderobe / wer sie findet, dem schenke ich mein Leben.“ Der Tango-Beat groovt federleicht, das Akkordeon zieht auf die Tanzfläche. Scheidies hört man gerne zu. Die Stimme strahlt Ruhe aus, ein Geschichtenerzähler mit Wortwitz. Die Facetten sind zahlreich: Blues, Rock, Pop – die Songs sind mit Liebe zum Detail arrangiert. Ein Highlight ist „Die Welle“. Der Freiburger spricht mit dem Meer, schlafwandelt und fliegt zu sich selbst. Die sphärische Gitarre entführt in ferne Welten. Weniger überzeugend klingt „Deutschland Deutschland“, eine Kritik an der Republik, in der jeder auf jeden zielt. Da vermisst man die Raffinesse anderer Kompositionen. Scheidies ist dennoch ein abwechslungsreiches und hörenswertes Debüt geglückt. Wer geistreiche Musik mit deutschen Texten schätzt, wird hier fündig.

Ihr wollt Kulturinseln schaffen. Was verbirgt sich dahinter? Bosch: Die Idee ist simpel: Wir wollen im privaten Raum Möglichkeiten zur Begegnung und kultureller Teilhabe schaffen. Nachdem wir alle im letzten Jahr gelernt haben, Abstand zu halten, können wir im Sommer wieder offener aufeinander zugehen und Erlebnisse teilen. In unserem Fall Kultur. Wie sollen die „mobilen Mutmacher“ ablaufen? Bernhardt: Geplant sind Shows von maximal 90 Minuten, in denen das Theater Oniversum, das Duo Einfach so und diverse Musiker·innen einen Abend zum Thema Glück und Mut gestalten. Stattfinden soll das in Gemeinschaftsgärten, Hinterhöfen und vergleichbaren privaten Räumen mit Platz für 20 bis 40 Menschen. Habt ihr keine Sorgen wegen Lärmbeschwerden? Bosch: So nicht anders abgesprochen, beginnen wir um 19 Uhr, sodass wir spätestens gegen 20.30 Uhr durch sind. Ich denke, das ist auch für die älteren Semester in unserer Student·innenstadt verkraftbar. Außerdem werden Anwohner·innen im Vorhinein informiert und im besten Fall ja auch eingeladen. Interessenten können sich melden unter der Mail info@duoeinfachso.de 46 CHILLI CULTUR.ZEIT JULI/AUGUST 2021


KOLUMNE EVIDENCE

JUL

US-Rap

French Rap

UNLEARNING VOL. 1

DEMAIN ÇA IRA

... zum Gendern Auch die Freiburger Geschmackspolizei kommt nicht umhin, sich mit der Gender-Thematik zu beschäftigen. Wir wurden nun von oberster Stelle dazu angehalten, Liedgut dahingehend zu prüfen und gegebenenfalls entsprechend tätig zu werden. Wahrlich ein weites Feld und Fass ohne Boden. Wo hört man auf oder fängt man erst gar nicht an?

Besser langsam

König der Verkäufe

(tln). Im HipHop-Underground ist Evidence eine Legende. Mit den Dilated Peoples mischte der Rapper vor knapp 20 Jahren die Szene auf. Heute wandelt der 44-jährige Michael Perretta auf Solopfaden. Spitzname „Mister Slow Flow“. Evidence bevorzugt es laidback. Er wählt seine Worte genau, platziert sie millimetergenau auf soulige SampleBeats, die Fans der alten Schule jubeln lassen. So auch auf seinem vierten Soloalbum „Unlearning Vol. 1“. Songs für die Charts findet man da nicht. Dafür Stoff für Rapfans der alten Schule. „All of that Said“ sticht heraus. Ein Beat mit wuchtiger Gitarre, dafür fast ohne Drums. Viele Worte braucht Evidence nicht, um mitzureißen. Im Ohr bleibt auch „Won’t give up the Danger“. Ein knisternder Beat, der nach einer durchzechten Nacht klingt. Den Refrain singt Murkage Dave mit heiserer Stimme. Evidence erzählt von Dankbarkeit und Demut, aber auch dem Unterschied zwischen Ver- und Aufgeben. Der Rapper aus Los Angeles hat einen Grammy für seine Mitarbeit an Kanye Wests „College Dropout“ gewonnen. Er stand mit den Beastie Boys und Linkin Park im Studio. Jetzt liefert er einen weiteren Beweis seiner außergewöhnlichen Qualitäten. Das Rad erfindet er nicht neu. Er dreht es lieber langsam, aber unaufhaltsam weiter.

(tln). Die Platten von Jul gehen weg wie Klopapier im Lockdown. Kein Rapper aus Frankreich hat mehr verkauft als der Mann aus Marseille. In seiner Stadt wird Jul verehrt wie ein Präsident. Ganz Frankreich kennt das HipHop-Schwergewicht, das eher daherkommt wie ein Merguez-Brater als ein Star der urbanen Kunst. Mit „Demain ça ira“ (Morgen geht’s wieder) meldet sich Jul eindrucksvoll zurück: 19 Songs, elektronisch produziert, Autotune und Effektspielereien treffen auf seine unverkennbar hohe Stimme. Vier Millionen Streams hatte die Scheibe nach nur 24 Stunden. Jul macht Songs zum Tanzen, Feiern, Mitsingen. Er erzählt ungehobelt vom Leben mit Partys, Weed und Frauen. Aber auch von Zweifeln und Scheitern. Auf „Assassinat“ (Meuchelmord) gibt’s feinsten Zickzack-Flow und eine Hook, die auf jedem Dancefloor einschlagen dürfte. Die einen lieben ihn, die anderen hassen ihn. Das mag an der Optik und seiner Stimme liegen. Die Produktion setzt aber Standards. Auch für seine Hater hat Jul einen Song auf die Platte gepackt: „Finito“. Darin antwortet er allen, die sich über seine Musik oder seine Klamotten aufregen. Ein bisschen Beef ist sicher gut für noch mehr Verkäufe. Auch wenn ihm da eh kaum einer im französischen Rapgame was vormacht.

Also, dann gehen wir doch mal in medias res und werden konkret. Nehmen wir einen Schlager wie zum Beispiel „Er steht imTor“ von Wencke Myhre. Das Lied hat schon ein paar Jahre auf dem Buckel und kann so nicht mehr gespielt werden – respektive nur mit angepasstem Text. „Er steht im Tor, im Tor, im Tor und ich dahinter, Frühling, Sommer, Herbst und Winter, bin ich nah bei meinem Schatz“. Eben. Sie merken es selbst – die Frau muss ins Tor und er dahinter. Eine Manuela Neuer quasi. Weiter geht’s mit Peter Alexanders „Der Papa wird’s schon richten“, eine dümmliche Hommage an den alleskönnenden Vater. „Der Papa wird’s schon richten, der Papa machts schon gut, der Papa, der macht alles, was sonst keiner gerne tut.“ Nicht dein Ernst Peter! Auch das bisschen Haushalt? Eben. „Das bisschen Haushalt ist doch kein Problem, sagt meine Frau.“ Ja, so kann auch wieder Johanna von Koczians Proto-Feminismus-Hymne unbedenklich gespielt werden. Am Ende aber ist es doch alles ganz einfach, prima heruntergebrochen schon so um 1975 von Heinz Schenk und Lia Wöhr im Blauen Bock – Gendersternchen hin, generisches Maskulinum her: „Halt die Klapp und trockne ab.“

Fast neutral grüßt, Ralf Welteroth für das Gesch*POinnen


LITERATUR

Ein unangepasster Mensch DER WAHL-WITTNAUER KARL-HEINZ OTT WIRD FÜR SEIN LITERARISCHES GESAMTWERK AUSGEZEICHNET

K

von Erika Weisser

Glücklich: Karl-Heinz Ott freut sich über den Joseph-BreitbachPreis – und arbeitet schon an seinem nächsten Buch. Es geht darin um rechtsintellektuelle Bewegungen und ihre politischen und philosophischen Zusammenhänge, um Leute, die die Neuzeit rückgängig machen wollen. Es erscheint Anfang 2022.

arl-Heinz Ott erhält den von der Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur vergebenen Joseph-Breitbach-Preis 2021 – mit 50.000 Euro einer der drei höchstdotierten deutschen Literaturpreise. Nach Ansicht der Jury gehört der in Wittnau bei Freiburg lebende Autor „zu den intellektuell und sprachlich versiertesten Autoren seiner Generation“. In seinen Büchern spiegle sich „die Geistes- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik,“ seine Prosa sei „zugleich von einem Furor beseelt, der auch vor erfrischend ungerechter Polemik und makabrer Komik nicht zurückscheut“. Über so viel Lob für seine Arbeit freut sich der 63-Jährige sehr. Und auch über die Anmerkung der Jury, dass er gerade mit seinem jüngsten Werk „Hölderlins Geister“ gezeigt habe, „wie gedankentötend strikte Glaubenssätze fortwirken können“. Diese Bewertung, findet Ott, baue die Brücke zu Joseph Breitbach, dessen Biografie „vorbildlich und faszinierend“ sei: Er nahm sich in seinem Werk sozialer und politischer Themen an, löste sich jedoch von einengender Ideologie; er emigrierte noch vor der Machtübernahme der Nazis und arbeitete im französischen Geheimdienst gegen sie. Seine Bücher aber wurden in Nazi-Deutschland verboten und sind heute so gut wie vergessen. Ott hat sich vorgenommen, sie zu lesen. Er sieht sich selbst auch als „freien Geist“ – und würde der Einschätzung, ein streitbarer und unangepasster Mensch zu sein, „nicht widersprechen“: Schon während seiner Schulzeit im erzkatholischen oberschwäbischen Ehingen an der Donau habe er begonnen, sich kritische Gedanken zu machen, nicht nur über die Religion, sondern bald auch über so manche anderen Glaubenshaltungen und deren „dogmatische Koordinatensysteme“, in die man ja schnell gerate. Diese eigene, von messianischen Lehren unbelastete Perspektive auf die Welt habe sich auch während seines Studiums der Philosophie, Literaturwissenschaft und Musik in

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Tübingen bewährt und verstärkt. Damals, erzählt er heute, habe ihn sein erster selbstständiger Tramper-Urlaub in Richtung Südfrankreich nach Freiburg geführt. Und es habe ihm hier so gut gefallen, dass er sogar eine Zeit lang überlegte, „nach Freiburg zu wechseln“. Er tat es nicht – und kam „durch einen großen Glücksfall“ schließlich doch hierher: Nach seinem Studium hatte er ein Angebot der Württembergischen Landesbühne Esslingen angenommen, dort die Leitung der Schauspielmusik zu übernehmen. Und als der dortige Intendant Friedrich Schirmer 1989 ans Theater Freiburg berufen wurde, brachte er sein Team mit. Und so arbeitete Karl-Heinz Ott auch hier als Leiter der Schauspielmusik – und ist „nie mehr weggezogen“. Auch nicht in seiner Zeit als Chefdramaturg an der Oper Basel und später am Theater Neumarkt in Zürich. Vor 25 Jahren wagte er, der „immer schreiben“ wollte, den Schritt ins freie Schriftstellerleben. Und bekam gleich für seinen Erstling „Ins Offene“ den Thaddäus-Troll-Preis. Und ein Stipendium, das ihn zusammen mit ein paar kleinen Aufträgen, „über Wasser hielt“. Er hat diesen Schritt nie bereut, auch wenn es „kein einfaches Geschäft ist“. Und so kommt es, dass er sich außer über diese „große Auszeichnung“ auch über das Geld freut: „Nach eineinhalb Jahren Stillstand, ohne Lesungen, ohne Veranstaltungen und ohne die entsprechenden Einnahmen ist so ein Preis ein doppelter Glücksfall.“

Foto: © ewei


FREZI

SEX FÜR WIEDEREINSTEIGER

von Mila Paulsen Verlag: Goldmann, 2021 352 Seiten, Taschenbuch Preis: 10 Euro

WELTWEITE ABGRÜNDE

von Tilman Schulze Verlag: Harderstar, 2021 161 Seiten, broschiert Preis: 14,90 Euro

FREIBURGS GESPENSTER

von Uwe Schellinger & Michael Nahm Verlag: Eigenverlag IGPP, 2. Aufl. 2021 158 Seiten, broschiert Preis: 10 Euro

Raus aus dem Alltagstrott

Gelöschte Erinnerung

Spuk im Schulkeller

(rw). „Müsste man nicht auch ohne Hilfsmittel kommen? Das ist ja wie Doping beim Sport …“, meint Endvierzigerin Andrea zu Maren angesichts der Angebotsvielfalt im Sexshop, den die beiden erstmals aufsuchen. Den Anstoß dazu hatte den beiden Frauen, die sich zuvor nicht kannten, der Besuch eines Kurses mit dem Titel: „Sex für Wiedereinsteiger“ einer renommierten Therapeutin an der Hamburger VHS gegeben. Maren antwortet prompt: „Erlaubt ist, was gefällt! Und was Spaß macht.“ Also nichts wie ran ans Testen. Da stellt sich auch schon die nächste Frage: „Wenn Stiftung Warentest Vibratoren testet, ist dann ‚befriedigend‘ besser als ‚gut‘?“ Dieser und vielen weiteren offenen Fragen, die das Leben so stellt, stellt sich ein halbes Dutzend Frauen in den besten Jahren und sucht nach Antworten und Wegen aus der Vereinsamung und Verödung des Alltags. Jede von ihnen hat ihre ganz persönliche Ausgangsproblematik. Am Ende aber wagen alle den Neustart ihres Lebens – wiederum jede auf ihre Weise. Das erfolgreiche Autorinnen-Duo, das sich hinter dem gemeinsamen Pseudonym versteckt, lädt (nicht nur) Frauen zu einer ebenso beratend informativen wie lustvoll unterhaltsamen Lektüre ein, die dazu anstiftet, sein Leben nicht dem Alltagstrott zu überlassen, sondern selbst aktiv in die Hand zu nehmen. Es muss ja nicht gleich in Scheidung, später Schwangerschaft oder einer zweiten Karriere als Vertreterin für Sexspielzeug enden …

(ewei). Sigrid sitzt in der Halle des Flughafens Basel-Mulhouse-Freiburg und schreibt in ihr Tagebuch. Zum ersten Mal. Auf Anraten ihres Therapeuten, der ihr dabei helfen soll, ihren Gedächtnisverlust rückgängig zu machen. Wochen zuvor war sie in der Freiburger Fußgängerzone aufgefunden worden – ohne Orientierung, ohne Papiere. Jetzt hat sie wieder welche: Ein freundlicher Kripo-Beamter fand ihre Identität heraus – und sogar ein Bankkonto, das offenbar ihr gehört. Dessen Guthaben ließ darauf schließen, dass Sigrid in ihrem Vorleben „wohl einen ziemlich guten Job gehabt haben“ musste. Doch sowohl der vertrauenswürdige Therapeut als auch der fürsorgliche Polizist ließen plötzlich nichts mehr von sich hören, reagierten nicht mehr auf ihre Kontaktversuche. Ohne zu wissen, wer sie wirklich ist, war die junge Frau auf sich selbst zurückgeworfen. In der ausweglosen Situation fühlte sie sich zunehmend verfolgt und überwacht, ergriff schließlich die Flucht. Und nun sitzt sie im Euro-Airport, wartet auf ihren Abflug nach Wien und bedauert, dass sie nicht schon früher Tagebuch führte. Um der Wahrheit näher zu sein. Dabei ahnt sie nicht, dass sie ihr schon näher ist als ihr lieb sein kann. Dem Freiburger Autor Tilman Schulze ist ein spannender Psycho-Krimi über kriminelle Energie und falsche Freunde gelungen.

(ewei). Es geschah im Jahr 1966: Während der Bauarbeiten für die Vigelius-Schule in Freiburg-Haslach trugen sich im Keller des Gebäudes unerklärliche Dinge zu: Vor den Augen und ohne Zutun der Mitarbeiter des beauftragten Elektrobetriebs lösten sich etliche Metallhalterungen für eine Kabeltrasse aus einer Betonwand. Diese Haken waren zuvor mit je zwei Dübeln und neun Zentimeter langen Schrauben befestigt worden, hatten gar eine kräftige Belastungsprobe ausgehalten. Um sie wieder aus der Wand zu holen, genügte die bloße Anwesenheit eines gerade 15-jährigen Auszubildenden, der sich vor die Haken stellte und sie einfach nur ansah. Wie es zu diesem Phänomen kam, wurde nie wirklich geklärt, schreiben Uwe Schellinger und Michael Nahm in ihrer Dokumentation über 200 Jahre Spuk und Geister in Freiburg. Beide sind als wissenschaftliche Mitarbeiter am Freiburger Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP) tätig, in dessen Archiv sowohl die Kabelhalterungen als auch die Protokolle des „Falls“ aufbewahrt sind. Hans Bender, der damalige Leiter des 1950 von ihm gegründeten Instituts, hat diese parapsychologischen Vorkommnisse selbst dokumentiert. Dieser „Spuk im Schulkeller“ ist indessen nur einer von 43 lesenswerten Beiträgen des erhellenden Quellen- und Textbuchs. JULI/AUGUST 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


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