chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 7/18 8. Jahrgang

Mackie Messer

Brechts dreigroschenfilm Ab

1 3 .9.

im K in o !

Kultur

Musik

Kino

Jazzfestival bringt stars in die stadt

Saitenstreich mischen mittelalter und Metal

Brecht-Klassiker Furios inszeniert


Konzert

Kino-Feeling mit Live-Musik Concert & Cinema: Indiana Jones und die Jäger des verlorenen Schatzes

E

von Isabel Barquero

Gänsehaut-Potenzial: Das Sinfonieorchester Basel spielt während des Films live den originalen Soundtrack. Foto: © 1981 Lucasfilm Ltd. All

in Kinoerlebnis der besonderen Art bietet sich ab dieser Saison allen Filmliebhabern im Musical Theater Basel: Drei Filme – für jeden Geschmack ist etwas dabei – laufen auf der Großleinwand, dazu spielt das Sinfonieorchester Basel live den Soundtrack. Er ist furchtlos und schlagfertig – wer kennt ihn nicht, den stets charmanten Archäologen Indiana Jones? Regelmäßig stürzt er sich mit seinem Fedora und der Peitsche in waghalsige Schatzsuchen inmitten der exotischsten Orte dieser Welt. 1981 schuf Kultregisseur Steven Spielberg den witzigen Abenteuerfilm „Jäger des verlorenen Schatzes“. Inzwischen ist die beeindruckende Filmmusik von Maestro John Williams genauso legendär wie Indy selbst. Genau hier ergreift das Sinfonieorchester Basel, unter der Leitung von Ernst van Tiel, eine ideale Gelegenheit und führt eine neue Konzertreihe ein: Concert & Cinema. Der Großteil der Filmatmosphäre wird durch die Live-Musik erreicht und bietet wahres Gänsehaut-Potenzial – einzig die Dialoge werden ab Band gespielt. Der Film wird in englischer Sprache mit deutschen Untertiteln gezeigt. Um die Vorfreude auf Weihnachten zu erhöhen, erstrahlt der Klassiker „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ am 22. Dezem-

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Foto: © Matthias Willi

ber auf der Großleinwand. Im Februar 2019 bildet der einzigartige Musicalfilm „An American in Paris“ das Finale dieser Konzert­ reihe. Alle drei Konzerte sind außerdem im Abo erhältlich, Inhaber profitieren von einem Rabatt in Höhe von 20 Prozent auf alle Filmkonzerte und bestmöglichen Plätzen.

Weitere Filmhighlights mit Live-Musik im Winter Das Sinfonieorchester Basel ist eines der ältesten und zugleich innovativsten Orchester der Schweiz. Es genießt eine starke überregionale und internationale Ausstrahlung. Dabei steht das Publikum immer im Zentrum. In seinen eigenen Konzertreihen, im Theater Basel sowie bei Gastspielen im In- und Ausland beweist das Sinfonieorchester Basel immer wieder aufs Neue seine hohe Klangkultur.

Info Sinfonieorchester Basel Musical Theater Basel Donnerstag, 27. September, 19.30 Uhr www.sinfonieorchesterbasel.ch


KULTUR

Neun klingende, groovige Tage Jazzfestival Freiburg startet am 15. September

K

lingende Namen wie Michael Wollny oder Lars Danielsson, Newcomer der europäischen Musikszene, eine Jam- und eine Late-Night sowie ein Pianowettbewerb – mit dieser Mischung geht das diesjährige Jazzfestival Freiburg Mitte September an den Start. Bespielt werden dabei nicht nur Jazzhaus und E-Werk, die das Festival gemeinsam organisieren, sondern auch Bühnen im Gasthaus Schützen, im josfritzcafé, im Forum Merzhausen oder im Stadtgarten.

Von Marching-Act bis Mini-Gipfel – das Konzert-Spektrum ist groß Los geht’s am 15. September mit einem Marching-Act quer durch die Innenstadt und einem Mini-Gipfel in 15 Kneipen: mit einer Mischung aus Jazz, Singer-Songwritern, Blues und Funk. Einen Tag später feiern DePhazz im Jazzhaus ihr 20-jähriges Bühnenjubiläum – die „ganz große Besetzung“, so Matthias Adam vom E-Werk – und am 20. September tritt der schwedische Cellist und Bassist Lars Danielsson mit seinem Quartett im Jazzhaus auf, während Three Fall & Melane im Forum Merzhausen gastieren. In einer Hommage an ihre Inspirationsquelle, das Meer, nennen sie sich Mare Nostrum: der italienische Jazztrompeter Paolo Fresu, der schwedische Pianist Jan Lundgren und der französische Akkordeonist Richard Galliano, die am 21. September im E-Werk auftreten. Am 22. September folgt, auch im E-Werk, das Michael Wollny Trio, das seit seinem Debüt 2005 zum Inbegriff des jungen deutschen Jazz avancierte. Neben größeren Gigs wie diesen geht das E-Werk am 19. September mit einem

neuen Format an den Start: Beim Klangformator werden künftig einmal monatlich Freiburger Musiker mit Gästen aus den Weiten des Klangkosmos den Abend gestalten. Das Jazzhaus lädt am 20. September zur Jam-Night mit Freiburger Musikern, beim 6. Internationalen Piano­ wettbewerb darf das Publikum mit abstimmen, und zum Abschluss, am 23. September, laden die Veranstalter am Nachmittag wieder zu „Jazz ’n’ Green“ in den Stadtgarten und am Abend zum Konzert mit der israelischen Band Shalosh ins Jazzhaus. Mit knapp 2600 Besuchern erreichte das Jazzfestival im vergangenen Jahr einen Zuschauerrekord: „Die Messlatte liegt hoch“, sagt Michael Musiol vom Jazzhaus. Bezuschusst wird es von der Stadt Freiburg und dem Land Baden-Württemberg. Plakat und Flyer stammen vom Freiburger Streetart-Künstler Tom Brane.

Jung, innovativ, charismatisch: Three Fall & Melane (kommen ins Forum Merzhausen). Foto: © Mirko Polo / Artwork: © Tom Brane

Stella Schewe

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Musik

Mittelalter trifft Metal Power-Folk-Band Saitenstreich geht auf Tournee

I

von Till Neumann

Bereit zu starten: Louise Gillman und Michael Schwiening haben ein neues Album fertig und freuen sich auf die Tour mit Foto: © Lukas Löffler ihrer Band.

nternational, energiegeladen, traditionell: Die Freiburger Multikulti-Band Saitenstreich um Geigerin Louise „Lou“ Gillman und Gitarrist Michael Schwiening spielt Lieder aus vielen Ländern. Gesungen wird auf Englisch, Französisch und Deutsch. Erst auf der Straße, dann auf Märkten, jetzt auch in Clubs. Begonnen hat alles mit einer Liebesgeschichte.

Bandhomepage zu sehen. 2016 war das. Rund 100 Konzerte später ist die Gruppe sichtlich gewachsen: Bass und Percussion sind jetzt fest mit im Programm. Aus zwei sind bis zu fünf Musiker geworden: „Wir werden trotzdem immer noch abgestempelt als Duo, das Straßenmusik macht“, erzählt Schwiening. Der 36-Jährige sitzt mit seiner 25-jährigen Bandkollegin und Lebensgefährtin

Saitenstreich schwebt irgendDeutlich umtriebiger wo zwischen Mittelalter, Folklore, Punk, Chanson und als ihr giftiges Haustier Metal. Stillsitzen fällt schwer, wenn die Künstler aufdrehen: Michael in ihrer gemeinsamen Wohnung im FreiSchwiening bearbeitet die Gitarre, bounct burger Stadtteil St. Georgen. Hinter ihwild mit dem Kopf, die Dreadlocks wa- nen turnt ein kleines Kätzchen über die ckeln mit seinen zwei Bartzöpfen um die Möbel. Etwas weiter sitzt eine VogelspinWette. Lou Gillman bringt im roten ne unbeweglich in ihrem Terrarium. Die zwei leidenschaftlichen Musiker Kleid ihre Geige zum Glühen. Das Pubsind deutlich umtriebiger als ihre Spinlikum tanzt ausgelassen. Wie die zwei mit einer Uptempo- ne: Alle paar Tage sind sie mittlerweile Folknummer in Schweden für Stimmung live zu sehen. Zuletzt in Freiburg, der gesorgt haben, ist als Video auf der Bretagne oder der Schweiz. Als „unique

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kapitelkopf Power-folk ducken“ auf Tour. Im Gepäck ihr neues Album. Für Schwiening ist die Tournee mit fünf Shows „das nächste Level“. Eine Chance, sich zu zeigen, fernab von Märkten und Festen. Höhepunkt wird das Konzert am 3. November im Freiburger Jazzhaus. Haiducken-Klarinettist Andreas Heinzelmann freut sich, Saitenstreich dabei zu haben: „Mir gefällt ihre Vielfältigkeit. Sie schaffen den Spagat zwischen ruhigen, emotional geladenen Liedern und Songs zum Tanzen.“ Es mache einfach Spaß, mit ihnen zu feiern. Beide BUZ hier Bands arbeiten mit Beuz Thiombane zusammen. Der Percussionist bringt bei Saitenstreich eine afrikanische Note rein. „Er ist unser siebter Trommler“, erzählt Gillman. „Und der erste, mit dem wir länger als sechs Monate zusammenarbeiten.“ Die vorherigen seien schnell abgesprungen, was auch vielen intensiven Reisen geschuldet ist. Mehrere Stunden am Tag Musik machen, ist nicht jedermanns Sache. Für die zwei Energiebündel von Saitenstreich jedoch kein Problem. „Schnelle Fiddel, harte Gitarre“, bringt es Schwiening auf den Punkt. Sie packen so viel Power in ihren Folk, dass auch Fans der lauteren Töne es feiern: „Bei Metalfans kommen wir gut an“, erzählt Schwiening. Im Februar können sie das bei einem Metalabend in der MensaBar beweisen. Wo sie sonst gerne spielen würden? Das „Wacken“ wäre cool, sagt Gillman. Immerhin das größte Heavy-Metal-Event der Welt.

Gewachsen: Der Percussionist Beuz Thiombane ist Teil von Saitenstreich geworden. Auch ein Bassist ist regelmäßig mit von der Partie.

Buzhier

Foto: © Jan Bärtschi

auf Nischenmusik“ die lokalenbezeichnen Themen anpasst. sie ihrenDie Stilmix, Projekte der siewerden oft auf mit mittelalterliche Jugendlichen Märkte und jungen und Feste Erwachsenen führt. Dort erarbeitet, passen sie die mit am alternativen Rand derBühnenoutfits Gesellschaft stehen: und Schwienings Flüchtlinge, wildem Sinti, BartRoma, perfektMenschen ins Bild. mit Migrationshintergrund, Jugendliche Bis zu vier ausMal sozialen täglich Brennpunkten. spielen sie auf solchen Events. Wenn’s Fragen sein nach muss derauch Identität als rollendes – Was Duett sind meine auf der Wurzeln? LadefläWer che eines bin ich Holzwagens eigentlich?– – wie sollen ihr aktueller im Vordergrund Tourteaser stehen. zeigt. Um Bei den die Konzerten Jugendlichen geht’s zuausgelassen erreichen, wählen zu: Schwiening die Theatertanzt macher mit demgezielt Publikum, Ausdrucksmittel macht Grimassen, aus der singt Hiphop-Kultur. auch selbst geschriebene Es ist nichtdeutsche das ersteTexte. Hiphop-Projekt Gillman macht mitTempo Jugendlimit chen, Geige das oderPan.Optikum Akkordeon – und auf die strahlt Beine über stellt. beideAngefangen Ohren. hatte „Aufalles einem mitA****loch dem Stück klebt „Romeo keine feat. Flagge“, Julia“, heißt das esdie im Theatergruppe Chorus eines neuen 2012Tracks, mit 130 denJugendlichen Schwiening geschrieben aufführte. „Da hat. Unverblümt haben wir gemerkt, spricht er dass an,mit wofür Jugendlichen Saitenstreich hoch stehen: professionelle Weltoffenheit, Sachen Austausch entstehen und Toleranz. können,Das wenn Band-Reperman als Ausdruckssprache toire umfasst Melodien Rap und aus Hiphop Frankreich, wählt“, Kanada, erinnert Irland, sich Rettner. Schottland „Außerdem oder denerreicht USA. Dass manmehrsprachig damit auch Menschen, gesungen die wird, normalerweise versteht sich nicht von selbst. ins Theater Lou Gillman gehen.“ist gebürtige Engländerin In zahlreichen und spricht kleineren zudem Projekten fließend entwickelte Französisch und das Theater Deutsch.diese Der Percussionist Idee weiter, bis Beuz man Thiombane sich sicher stammt war: Was aus in dem Freiburg Senegal.funktioniert, Ihr Bassist aus klappt den USA auchlebt in anderen in Bern. europäischen Städten. Partner waren schnell gefunden – von einem Produzentenkollektiv in Norwegen über ein Sie pflegtindie Homepage, Nationaltheater Rumänien bis hin zum Theaterfestival auf Gran Canaria. er ist die „kreative Hausfrau“ Ab Dezember wird es über anderthalb Jahre hinweg in jeder der Partnerstädte eine Aufführung geben, auf diese Einzelprojekte folgt dann die Erarbeitung einer Kennengelernt haben sich Gillman und Schwiening Großproduktion in Freiburg. Je zwei bisindrei Jugendli2012 auf einem Kunsthandwerkermarkt Lörrach. Gillche verschiedenen Ländern werden in imMüllJuni man aus warden damals für einen Auslandsaufenthalt 2017 Freiburg um hier eines heim, nach um Deutsch zu reisen, lernen. „Ich habewährend auf dem Markt sechswöchigen Workshops unter Leitung der TheaterGeige gespielt, Michi hat mich angesprochen“, erinnert profis einViel Megaspektakel aufer,die Beine zu gebrochenen stellen. Feusie sich. geredet habe mit ihrem er, Pyrotechnik, Projektionen und bis zu zehn Deutsch verstand Wasser, sie vor allem eins: Er macht Musik. KurMeter sollen Publikum von fünf- bis ze Zeit hohe späterObjekte trafen sie sichein wieder, fuhren gemeinsam zehntausend pro Vorstellung anlocken. nach Freiburg,Menschen um auf der Straße zu spielen. „Nach Die nur erzählte Geschichte international verständlich einem Song wurden wir soll weggeschickt“, erzählt Schwiening sein, das Thema: „Power „Die Idee ist und lacht. Dem Kontakt tat of dasDiversity“. keinen Abbruch. Gillman entstanden, bevor diewieder Flüchtlingsproblematik aufkam kurze Zeit später nach Deutschland: „Beim kam“, Rettner,habe „aber ist das Themabeim nun ersten sagt Aufenthalt ichnatürlich Michi kennengelernt, brisanter dennwir je.“ein Konzert gespielt, beim dritten bin zweiten haben wenn alles klappt wie geplant, dann haben ichUnd bei ihm eingezogen.“ knapp 30 junge Menschen Migrationshintergrund Seit 2013 machen sie nun mit Musik als Saitenstreich. Das und ohne professionelle Theaterausbilduerzeugt, gemeinsame Musizieren finden sie „einen Traum“. dass Das die Stärke Europas in der Vielfalt liegt. Konzertreisen könne richtig romantisch sein, sagt Gillman. verbinden sie auch mal mit Urlaub, wie kürzlich in der Bretagne. Während sie sich um Organisation und Homepage kümmert, Info sei er der „Kreativkopf“ der Gruppe. „Und die Hausfrau“, ergänzt Schwiening und lacht. Sie einigen sich auf „kreative Hausfrau“. Teatro Mania, Bytong (Polen) Nur von Musikdeleben können Saitenstreich nicht. Temudas Fest,der Las Palmas Gran Canaria (Spanien) Gillman arbeitet als(Norwegen) Touristenführerin in Freiburg, Pikene på Broen, Kirkenes Schwiening mit einer 40-Prozent-Stelle als Heimerzieher. Cyprian Kamil Norwid Theater, Jelenia Góra (Polen) Auch wenn er das „saugerne“ tut, könnte er sich mehr MuThe Corn Exchange Trust, Newbury (UK) sik vorstellen: „Mein Traum Liederschreiber Teatrul National „Radu Stanca“ Sibiu ist, (TNRS), Sibiu (Rumänien)zu sein. Komponieren, im CaféGörlitz-Zittau sitzen, Leute anschauen.“ Gerhart-Hauptmann-Theater, (Deutschland) Die Band konsequent zu etablieren, zahlt sich aus. Im Passage Festival, Helsingør (Schweden) Oktober gehen sieFolkestone mit der Freiburger Klezmertruppe „HaiCreative foundation, (UK)

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e n g a a n r F ... 4 ... DJ Chris Veron

Wayne Graham

Dreamcontrol

Country

Elektro

Joy!

Zeitgeber

Foto: © Pascal Jesser/Kreativpixel

„Jeder will in die Charts“ Unlängst hat Chris Veron beim Freiburger Sea-You-Festival aufgelegt. Jetzt hat der TechnoDJ und Produzent einen Track beim italienischen Technolabel Unrilis rausgebracht. Im Interview mit Till Neumann erzählt der 39-jährige Freiburger von Verzicht, Erfolg und Karma. Chris, wie kam es zur Zusammenarbeit mit Unrilis? Man schaut nach Labels, die einen nach vorne bringen könnten. Dann schickt man ihnen zwei bis vier Tracks und hofft auf Antwort. Das kann einen manchmal verrückt machen (lacht). Wenn es heißt „We like your Track and wanna sign it“ beschert das einem einen tollen Tag – wie jetzt bei Unrilis. Das Label hat ihn auf einer Compilation releaset ... Ja. In den Release Charts waren wir recht weit vorne. In die Track Charts ist es dafür sehr schwer reinzukommen. Es gibt weit über 1000 Songreleases jede Woche, alle wollen in die Charts. Da braucht man auch Glück und Vitamin B. Du legst bei der Sea You auf. Ein Sprungbrett? Klar, Sea You kann ein Sprungbrett sein. Da versucht man besonders abzuliefern und einen tollen Set-Mitschnitt zu machen. Auch für Connections hat man die optimale Möglichkeit. Die Chance, dass man so entdeckt wird, ist gering. Ich bin aber auf diesem Weg schon an ein Release gekommen. Verdienst du mit der Musik etwas? Bisher leider nicht. Ich investiere alles in gutes Mastering und viel Promotion. Da kommt man nicht drum herum. In der Region kennt man mich. Wichtig ist jetzt, außerhalb zu spielen. Man muss einfach Step by Step seinen Weg gehen. Dazu gehört auch gutes Karma und auf seinen Körper achten. 58 chilli Cultur.zeit Septmeber 2018

Keine Western-Romantik

Rein in die Aliendisko

(tas). Country-Musik hat bei vielen ihren Ruf weg: kitschig, nostalgisch, klischeebeladen. Voller Sehnsucht nach der guten alten Zeit, die es so nie gab. Die beiden Brüder Kenny und Hayden Miles setzen da einen schönen Konterpunkt. Ihr fünftes Album „Joy!“ kommt klar, ja fast nüchtern, daher. Fast alle Songs sind dezent instrumentiert. Mal gibt es einen Abstecher in den Blues wie im Opener „On My Throne“, mal swingen die Songs fröhlich wie der Titeltrack „Joy!“, und mit der Indie-Pop-Ballade „Don Williams“ verlassen sie das Country-Terrain sogar gänzlich. Highlight ist allerdings „My Tomb“ – ein wunderbar verspielter Song, der mit unerwarteten Pausen und Brüchen überrascht und am Ende einfach im Sande verläuft. Auch textlich bleiben die Musiker straight. Die Brüder aus dem Südosten Kentuckys hätten allen Grund, sich in ein romantisiertes Cowboy-Leben zu flüchten. Ihre Heimat gilt als die mit der niedrigsten Lebensqualität in den USA: geringes Einkommen, niedrige Lebenserwartung, straff republikanisch. Doch statt Melancholie findet sich Kritik. Etwa im Song „Here“. Er prangert den Kohle-Raubbau in der Region an, der kurzfristigen Reichtum statt langfristigen Wohlstand gebracht hat. Ein cleanes Country-Album für alle, die keine Country-Fans sind.

(tln). Zwei in Freiburg lebende Pioniere der Elektromusik machen gemeinsame Sache: Als „Dream Control“ haben sich die Klangtüftler Zeus B. Held und Steve Schroyder zusammengetan. Nach drei Jahren gibt’s nun den ersten Longplayer: „Zeitgeber“. Zehn teils improvisierte Tracks nehmen mit ins Planetensystem der beiden Synthie-Veteranen und Keyboarder, die seit den 70ern international aktiv sind. Die Platte klingt verschrobelt, psychedelisch, anarchisch. Synthesizer geben den Ton an, verzerrte Stimmen setzen Highlights, Drums schieben monoton nach vorne. Der Sound ist ein Potpourri: ein bisschen Daft Punk, ein bisschen Westbam, ein bisschen Eurodance. Er klingt retro und futuristisch zugleich. Als Trip zu zehn Planeten könnte die Scheibe durchgehen. Laserkanonen funkeln im Raumschiff, LEDs blinken im Drogenrausch, bei „Tomaga“ kommt ein grünes Ungeheuer um die Ecke. Also nichts wie rein in die Aliendisko. Experiment und Stilbruch stehen im Vordergrund. Elektro-Frickelfans kommen da voll auf ihre Kosten: Wie bei „Blick aus meinem Fenster“. Bedrohlich geht’s los, dann rauschen schrille Stimmen umher. Freiburg ist das nicht. Eher eine Galaxis im Nirgendwo. Oder erweitertes Bewusstsein. „You got to go forward“, befiehlt eine Stimme. Auf ins All.


Clueso

Alligatoah

Pop

Rap & Breakbeat

Handgepäck I

Schlaftabletten, Rotwein V

Der Sounddreck ... ... zum Ende des Sommers Titel: Baustellaaa Song Urheber: Salihu u.a. Jahr: 2016

Auf Reisen

Schnurrbart statt Sturmmaske

(tln). Das achte Album von Clueso ist kein gewöhnliches: Mit „Handgepäck I“ nimmt der Erfurter mit auf rund zehn Jahre über Stock und Stein. Die 18 Tracks sind alle unterwegs entstanden. Der Musiker hat sie gesammelt und jetzt gebündelt veröffentlicht. Kleine akustische Nummern sind das. Clueso hat sie geschrieben in Hotelzimmern, an Flughäfen, hinter Bühnen. Alle Instrumente hat er größtenteils selbst eingespielt, alle Lieder eigenhändig abgemischt. Musikalisch ist Clueso auch hier unverkennbar: die leicht heisere Stimme, die flüsternden Gitarren, nachdenkliche Texte. 2014 stand er an der Spitze der Charts. Mit seiner sympathischen, ehrlichen Art hat er viele Herzen gewonnen. Auch die neue Platte dürfte seine Fans entzücken. Die „ergreifendste und intensivste Musik, die er bisher gemacht hat“, heißt es im Pressetext. Ohne Superlative kommt so etwas nie aus. Doch ergreifend ist Clueso definitiv. In „Paris“ erzählt er von einer Reise nach seiner ersten Headliner-Show. „102“ ist im Hotelzimmer auf einer Tournee mit Udo Lindenberg entstanden. „Landstreicher“ ist ein staubiger Bluestrack. „Ich bin nichts weiter als ne Schildkröte / trag seitdem ich denken kann auf meinem Rücken mein Haus“, singt Clueso. Wer ihm dabei nah sein will, kann das mit dieser Platte tun.

(pt). „Wir sind back!“ So meldete sich Rapper und Produzent Lukas Strobel bereits anno 2007 auf der zweiten toxischen Ausgabe von „Schlaftabletten, Rotwein“. Damals noch im Gewand der beiden Terroristen Kaliba 69 und DJ Deagle, versteckt unter der Sturmmaske seiner letzten Go-Kart-Fahrt. Jetzt ist Strobel auf seinem fünften Album als Alligatoah wieder zurück. Wie damals kreuzt der Musiker mit genreuntypischen Melodien den Battlerap und ist doch mehr Barde als Rapper: „Deine Hoe redet schon wieder über Präservative / Ich habe mit meiner Hoe ein Gespräch über Nietzsche.“ Die Philosophie: Überzeichnete Charaktere in aberwitzigen Reimketten und verrückten Vergleichen gegen Klischees und Konventionen antreten lassen. Wie zu Mixtapezeiten sind Strobels Texte krude und clever, alten Fans aber vielleicht zu geschliffen. Sie erinnern sich: 2013 legte der selbsternannte Terrorist seine Sturmmaske ab und ließ mit „Willst du“ eine Chart-Bombe platzen. Er schnupperte nach dem Kellermuff der Anfangsjahre verdiente Chartluft. Heute ist der Rauch verzogen, auch weil Strobel – irgendwie doch Rapper – den Dunstkreis des Pop erfolgreich vermieden hat. StRwV ist ein kleiner Knaller. Musikalisch nicht besonders eingängig, geht das Album kaum in die Beine. Es geht in den Kopf.

Wir alle kennen Karlheinz Stockhausens „Kurz­wellen“. Eine Komposition, in der neben wenigen anderen Instrumenten sechs Kurzwellenradios von sechs Musikern gespielt wurden. Ein kontrovers und viel diskutiertes Stück der Moderne. Auf Südbadens Baustellen hingegen: Alltag. Wo wird am meisten Musik gehört? In der Oper? In der Disko? Zu Hause oder im Supermarkt? Nein. Wie seit Urzeiten ist die Baustelle der Ort der Musik. Jeder Handwerker hört seinen eigenen Regionalsender. Es entsteht eine wunderbare Kakophonie für eine unbestimmte Zahl Radios. Wenn alle Werkzeuge versagen – das Baustellenradio läuft immer. Die „Kurzwellen“ werden täglich in den Schatten gestellt, dabei vermischen sich internationale und lokale Musikhintergründe zu einer neuen Moderne. Wegen dieses Verdiensts lassen wir die Bauwirtschaft in Frieden. Bei Tatbeständen wie dem folgenden müssen wir jedoch einschreiten: „Habe selbst geschriebe im Kopfe diese Text, / Was bei mir normal ist wie eine Reflex. / Meine halbe Leben mit Baustell verbracht. / Gebäude sanieren, Straße reparieren, / Mitarbeiter schlagen weil wir jeden Tag blamieren. / Ich liebe meine Arbeit Mädchen kannst Du glauben, / Also kucke nicht bei mir mit Deine hässliche Augen. / ... Kuck nicht meine Schaufel auch nicht Maschine, Sonst schlag ich deine Vater, deine Bruder und deine Cousine / Die kleine Blondine – Die aussieht wie eine Gardine.“ Das hat Stockhausen nicht gemeint. Wirklich nicht. Sei schlau, geh zum Bau. Aber bring gescheite Mucke mit. Für die Freiburger Geschmackspolizei, Benno Burgey


kino

Außer Rand und Band Bert Brechts Dreigroschensongs im mitreiSSenden Sound des SWR Symphonieorchesters von Erika Weisser

Mackie Messer: Brechts Dreigroschenfilm Deutschland 2018 Regie: Joachim A. Lang Mit: Lars Eidinger, Tobias Moretti, Hannah Herzsprung, Joachim Król u.a. Verleih: Wild Bunch Laufzeit: 130 Minuten Start: 13. September 2018

A

m 31. August 1928 kommt es im Berliner Theater am Schiffbauerdamm zu turbulenten Szenen: Die Schauspieler, die am Abend die Dreigroschenoper zur Welturaufführung bringen sollen, zerstreiten sich während der vormittäglichen Generalprobe mit dem ziemlich sturköpfigen Stückeschreiber Bertolt Brecht. Sie sind unzufrieden mit seinen Vorstellungen, ihren Rollen, den Texten. Hauptfigur Macheath bricht mitten in dem vom SWR-Symphonieorchester wuchtig intonierten Song „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ ab, Kurt Weill droht gar, dass er seine Frau Lotte Lenya „bei dieser sittenwidrigen Inszenierung“ nicht die Seeräuber-Jenny spielen lasse. Das Desaster bahnt sich an. Stunden später zeigt sich, dass der Sturkopf recht hatte: Das Stück gerät trotz der provokanten Inszenierung zu einem sensationellen Erfolg, Das Premierenpublikum ist außer Rand und Band, Brecht und das Ensemble werden frenetisch gefeiert. Die Dreigroschenoper wird bald auf den Bühnen der Welt gespielt. Und soll ins Kino. Doch Brecht weigert sich: „Die Filmindustrie ist zu doof und muss erst bankrott gehen“, findet er. Doch er

lässt sich auf Verhandlungen mit dem Produzenten Seymour Nebenzahl ein. Und während er diesem sein Konzept erläutert, laufen die Szenen dieses nie gedrehten Films ab: Da erklärt der Bettlerausstatter Peachum einem Berufsneuling, mit welchem Outfit und mit welcher Story er „Menschen dazu bringen kann, das Geld herzugeben“. Da verguckt sich im kriminellen Milieu von Soho und White­ chapel der Gangster und Zuhälter Mac­ heath in den Hintern von Peachums Tochter Polly – und „beschließt, diesen zu heiraten“. Da feiern Polly und Macheath in Anwesenheit des Polizeipräsidenten Hochzeit – und Peachum besticht dessen Huren, ihn an die Polizei zu verraten. Der bestens von Lars Eidinger verkörperte Brecht geht mit dem immer skeptischer werdenden Produzenten durch die Szenarien, zeigt ihm, worauf es ihm ankommt, was er mit Zuspitzung, mit Verfremdung meint – und wandert selbst mit ihm durch einen völlig verfremdeten Film im Film. Dabei gibt er Statements ab, die allesamt von dem Dichter selbst stammen; Regisseur Joachim A. Lang, der ausgesprochene Brecht-Kenner, der über die Dreigroschenoper promovierte, hat glänzend recherchiert. Diese Authentizität gibt diesem ohnehin überbordenden Film einen zusätzlichen besonderen Reiz – wie auch die ganz aktuelle Botschaft am Ende. Fotos: © Wild Bunch

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KINO Nach dem Urteil

blackKklansman

Grüner wird’s nicht

Foto: © Weltkino

Foto: © Universal Pictures

Foto: © Majestic

Frankreich 2017 Regie: Xavier Legrande Mit: Denis Ménochet, Léa Drucker u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 93 Minuten Start: 23. August 2018

USA 2018 Regie: Spike Lee Mit: John David Washington u.a. Verleih: Universal Laufzeit: 138 Minuten Start: 23. August 2018

Deutschland 2018 Regie: Florian Gallenberger Mit: Elmar Wepper, Emma Bading u.a. Verleih: Majestic Laufzeit: 116 Minuten Start: 30. August 2018

Leben in der Angstspirale

Rassistensuche per Annonce

Ein Gärtner fliegt davon

(ewei). Miriam ist entsetzt, als ihre Anwältin sie über die Entscheidung des Familiengerichts unterrichtet: Es hat ihrem geschiedenen Mann Antoine außer dem gemeinsamen Sorgerecht für den 11-jährigen Sohn Julien auch das Recht zugesprochen, regelmäßig Wochenenden mit ihm zu verbringen. Sie – und auch Julien selbst – hatten diese Treffen abgelehnt, aus Angst vor der zu erwartenden Gewalttätigkeit Antoines. Bald stellt sich heraus, dass sie recht hatten: Antoine nutzt den gerichtlich verordneten Kontakt zu seinem Sohn lediglich zu dem Versuch, Miriam wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Mit verbaler Gewalt und emotionaler Erpressung setzt er den verängstigten Jungen unter Druck, versucht herauszufinden, wo er, die Mutter und die 18-jährige Schwester jetzt wohnen. Aus Angst vor Stalking und Schlimmerem hatte Miriam ihm ihre neue Adresse nämlich verheimlicht. Zu Recht, wie die letzten Filmminuten zeigen, in denen die Angst auch für die Zuschauer unerträglich wird.

(ewei). Der junge Kriminalbeamte Ron Stallworth hat eben als erster Afroamerikaner einen Posten in Colorado Springs angetreten, als er in einer Tageszeitung auf eine ganz gewöhnliche Annonce stößt, über die der örtliche Ku-Klux-Klan nach neuen Mitgliedern sucht. Ron nimmt telefonisch Kontakt zu der Rassistenvereinigung auf, gibt sich als Gleichgesinnter aus und imitiert die hasserfüllte Sprache der Klansleute so überzeugend, dass er bald zu persönlichen Aufnahmegesprächen mit deren Anführer geladen wird. Natürlich geht er nicht selbst zu den Treffen; diese Rolle übernimmt sein weißer Kollege Flip Zimmerman. Gemeinsam unterwandern sie die Gruppe, dringen in die inneren Kreise vor, erlangen Insiderwissen über deren tödliche Pläne. Diese verdeckten Ermittlungen hat Ron Stallworth in den 1970er-Jahren tatsächlich unternommen – und Jahre später das Buch „Black Klansman“ geschrieben. Spike Lee hat kluge, groteske Kino-Satire daraus gemacht. Großer Preis der Jury in Cannes 2018.

(ewei). Obwohl grantelig und kauzig, ist Gärtnermeister Georg (Schorsch) Kempter ein gutmütiger Mensch. Vielleicht auch ein kleinmütiger: Seit Monaten lässt er sich vom Betreiber eines künftigen Golf-Resorts am Tegernsee mit fadenscheinigen Ausreden abspeisen, wenn es um die Bezahlung der von ihm geleisteten landschaftsgärtnerischen Arbeit auf dem riesigen Gelände geht. Er lässt seine miese Laune über die noch ausstehenden 83.000 Euro an Frau und Tochter aus – und steigt in seinem roten Doppeldecker-Motorflieger in lichtere Höhen. Obwohl er die Flugplatzgebühr ebenfalls seit Monaten nicht bezahlt hat. Als die Pfändung des Flugzeugs droht, macht er sich endgültig davon – und landet bei einer skurrilen Adelsfamilie, deren Schlossgarten er umgestaltet und deren schräge Tochter Philomena sich ihm beim Weiterflug kurzerhand anschließt. Auf ihrer Abenteuerreise treffen sie wunderbare Menschen – und finden schließlich ihre jeweiligen Lebenswege. Ein erfrischendes Sommermärchen.


kino Die 1000 Glotzböbbel ...

Foto: © Camino

Glücklich wie Lazzaro

Foto: © Piffl Medien

Utøya, 22.Juli

Foto: © Weltkino

Deutschland 2018 Regie: Fritz Lang/Remix: Dominik Kuhn Mit: Gert Fröbe, Peter van Eyck u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 85 Minuten Start: 30. August 2018

Italien 2018 Regie: Alice Rohrwacker Mit: Adriano Tadiolo, Luca Chikovani u.a. Verleih: Piffl Medien Laufzeit: 125 Minuten Start: 13. September 2018

Norwegen 2018 Regie: Eric Poppe Mit: Siv Rajendram Eliassen, Anna Bache-Wiig u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 93 Minuten Start: 20. September 2018

Dr. Mabuse auf Schwäbisch

Zwischen Erde und Himmel

Kein sicheres Versteck

(ewei). Schon seit geraumer Zeit ist die Stuttgarter Polizei hinter einem rätselhaften Gangster her, der eher an ein Phantom als an einen Menschen erinnert: Er scheint an mehreren Orten gleichzeitig zuzuschlagen, scheint 1000 Augen – und diese überall – zu haben, scheint noch vor den Ermittlern über deren nächste Schritte informiert zu sein. Und ist entsprechend nicht zu fassen. Man schreibt das Jahr 1960, und ein schwäbischer Tüftler hat gerade eine vermutlich bahnbrechende Erfindung gemacht, die aber vorerst noch geheim ist: Das Internet, dessen Schaltzentrale im unauffälligen Landhotel „Zum güldenen Grasdackel“ auf der Schwäbischen Alb versteckt ist. Und genau darauf scheint hat es der Bösewicht in seinem neuen Coup abgesehen zu haben. Als Kommissar Krass auf den Fall angesetzt wird, ist der bald sicher, es mit dem eigentlich verstorbenen Dr. Mabuse zu tun zu haben. Fritz Langs Thriller-Klassiker als komödiantisches Mundart-Remake von und mit Komiker Dominik Kuhn.

(ewei). Irgendwo im Süden Italiens schuften ein paar Dutzend Landarbeiter auf einem abgeschiedenen Stückchen Erde von märchenhafter Schönheit. Auf dem Landgut L’Inviolata bauen sie Tabak an, für die Marquesa Alfonsina de Luna, die sie wie Leibeigene hält. Sie wissen nicht, dass ihre Fronarbeit längst illegal ist, sie leben in bitterer Armut, in einer anderen Zeit. Einer von ihnen ist Lazzaro, der Glückliche. Der junge Knecht arbeitet unermüdlich – er schleppt die schwersten Tabakkisten, trägt abends die gehunfähige Nonna ins Haus, schützt nachts die Hühner vor dem Wolf – und ist dennoch immer guter Dinge, freut sich an den wenigen Glücksmomenten, die ihnen beschieden sind. Als Alfonsinas Sohn Tancredi ihn zu einer fingierten Entführung überredet, vertraut er ihm – und ahnt nicht, dass dadurch das feudale Gefüge zum Einsturz kommt. Eine wunderbare Geschichte zwischen Magie und Realismus. In Freiburg beim Sommernachtskino schon am 28. August, 21 Uhr zu sehen.

(ewei). „Mach dir keine Sorgen. Eine Insel ist der sicherste Ort der Welt“, sagt die 18-jährige Kaja zu ihrer Mutter, als diese sie am 22. Juli 2011 nach dem Autobombenanschlag im Osloer Regierungsviertel auf dem Handy anruft. Kaja befindet sich mit 500 Jugendlichen in einem von der Norwegischen Arbeiterpartei organisierten Sommer-­Zeltlager auf der Insel Utøya. Nach einer Streiterei mit ihrer jüngeren Schwester Emilie sitzt Kaja gerade mit ein paar Freunden an der Grillstelle zusammen, als plötzlich Schüsse zu hören sind. Schüsse, die sie zunächst für die Geräusche eines Feuerwerks halten, die aber nicht aufhören. Sondern näher kommen – hinter schreienden, flüchtenden Menschen her. Alle rennen los, finden kein sicheres Versteck, panische Angst bricht aus. Als nach etwa 75 Minuten – die Tatdauer im Film stimmt mit der Dauer der mörderischen Tat des Nazis Anders Breivik überein – die ersten Polizeiboote eintreffen, sind 69 Menschen tot. Ein Film von ergreifender Wucht.


DVD Black Panther USA 2017 Regie: Ryan Coogler Mit: Patrick Broseman, Lupita Nyong’o u.a. Vertrieb: Marvel Studios Laufzeit: 129 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Alte Jungs Luxemburg 2017 Regie: Andy Bausch Mit: André Jung, Marco Lorenzini u.a. Vertrieb: good!movies Laufzeit: 107 Minuten Preis: ca. 16 Euro

Molly’s Game USA 2017 Regie: Aaron Sorkin Mit: Jessica Chastain, Idris Elba u.a. Vertrieb: Universum Film Laufzeit: 140 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Auf wackeligen Füßen

Ausbruch aus der Fürsorge

Eine eiskalte Zockerin

(ewei). Nach dem Tod seines Vaters kehrt Prinz T’Challa – auch bekannt als Black Panther – als Thronfolger in sein wundersames Land Wakanda zurück, das sich trotz technischen Fortschritts stets auf seine afrikanischen Wurzeln besinnt. Sein Thron steht allerdings auf wackeligen Füßen; er hat einige Feinde und kommt bald einer Verschwörung auf die Spur. Zusammen mit dem Agenten Everett K. Ross und einigen getreuen Verbündeten muss der neue König um die Zukunft von Wakanda kämpfen.

(ewei). Vier alte Männer, die genug davon haben, wie kleine Kinder behandelt und von allen lebensversüßenden Genüssen ferngehalten zu werden, beschließen, aus dem Seniorenheim auszubrechen. Sie wollen ihre letzten Jahre in Würde und einer autonomen Alten-WG verbringen, in der es Freiräume gibt für gescheites Essen, ein gelegentliches Glas Wein, hin und wieder eine Zigarette und natürlich auch für Liebe und Sex. Zielstrebig organisiert das lebenslustige Quartett den Widerstand.

(ewei). Molly Bloom, einst erfolgreiche Freestyle-Skifahrerin, wird Sekretärin eines Veranstalters für Under­ ground-Poker-Spiele in Hollywood. Bei den Spielrunden lernt sie berühmte Schauspieler und schwerreiche Männer kennen, baut sich ein geheimes Netzwerk auf, wird schließlich selbst Organisatorin dieser profitablen Poker-Abende. Doch der Grat zur Illegalität ist schmal. Die spannende Geschichte einer Frau, die sich eiskalt in einer Männerdomäne behauptet. Bestechend gespielt.

50 Jahre Otto – Holdrio again Deutschland 2015 & 2016 Regie: Otto Waalkes Mit: Otto Waalkes, Udo Lindenberg u.a Vertrieb: Edel Motion Laufzeit: 214 & 104 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Als Paul über das Meer kam Deutschland 2017 Regie: Jakob Preuss Dokumentarfilm Vertrieb: Lighthouse Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Unterwerfung Deutschland 2018 Regie: Titus Selge Mit: Edgar Selge, Matthias Brandt u.a. Vertrieb: Studio Hamburg Entertainment Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Fünf Stunden Otto

Als es noch Rettung gab

Kein leichter Stoff

(ewei). Otto ist 70 geworden. Und macht seit mehr als 50 Jahren die Bühnen der Republik unsicher, trifft bei seinen Auftritten auf ein für seine manchmal dämlichen, oft witzigen und immer wieder auch geistreichen Blödeleien auf ein empfängliches Publikum. Zu seinem Geburtstag hat Edel Motion jetzt zwei DVDs und einen Ottifanten in eine Jubiläumsbox gepackt: Mit „Celebrating 50 Jahre“ und „Holdrio again“ gibt es eine Zeitreise durch die Otto-Welt, die mehr als fünf Stunden dauert.

(ewei). Bei Dreharbeiten zu einer Dokumentation über die Außengrenzen Europas lernt Filmemacher Jakob Preuss Paul Nkamani kennen. Er hat sich von Kamerun durch die Sahara bis nach Marokko durchgeschlagen, wartet nahe der spanischen Enklave Melilla auf sein Fortkommen. Eines Morgens ist Paul verschwunden; bald darauf ist er auf Nachrichtenbildern zu sehen – als einer der wenigen geretteten Überlebenden eines bei der Fahrt über das Mittelmeer in Seenot geratenen Flüchtlingsschiffs.

(ewei). Der Film verwebt den intensiven Bühnenmonolog des Erzählers François – grandios dargestellt von Edgar Selge im Deutschen Schauspielhaus Hamburg – mit einer fiktiven Filmhandlung in Paris im Jahr 2022. Auf der Grundlage von Michel Houellebecqs umstrittenem Roman zeichnet er das düstere Szenario einer europäischen Identitätskrise. In Zeiten von Populismus und zunehmender gesellschaftlicher Spaltung zwingt er zur Erkenntnis, dass Freiheitswerte nicht selbstverständlich sind. September 2018 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

40 Kinder in der Vorhölle Ute Bales widmet ihr neues Buch dem Freiburger Sinto Landolo Werst

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von Erika Weisser

von Ute Bales Verlag: Rhein-Mosel-Verlag, 2018, 410 Seiten, Hardcover Preis: 24,80 Euro Erscheint im Oktober

ie Freiburger Autorin Ute Bales hat gera- dingungslosem Gehorsam und Autoride ihren neuen Roman fertig geschrie- tätsglauben bestimmte Kindheit und Juben: „Bitten der Vögel im Winter“ heißt gend, beschreibt ihren zwanghaften er und erscheint im Oktober; für das Drang zum Sortieren und Aussortieren, Manuskript erhielt sie im Juni den ihren Wunsch, bedeutender Teil eines Martha-Saalfeld-Förderpreis des Landes bedeutenden homogenen Ganzen zu Rheinland-Pfalz. Das Buch beleuchtet sein. Und zeigt exemplarisch die damit ein tiefdunkles Kapitel der deutschen verbundene Verführbarkeit solcherart geprägter Menschen gegenüber völkiGeschichte. Es ist die Geschichte von Eva Justin, schen Überlegenheitsideologien, die dadie es als Krankenschwester und Anhänge- bei sind, Mainstream zu werden. Bales schreibt aber auch aus der Sicht rin der NS-Rassenideologie bis zur Stellvertreterin von Robert Ritter brachte, der Kinder, die Justin in der katholischen St. Josefspflege in Mulfinder die 1936 gegründete gen wochenlang beobachRassenhygienische Fortet, mit einem Tasterzirkel schungsstelle im Reichsvermisst, in Geschicklichgesundheitsamt in Berkeitsspiele verwickelt – und lin leitete. Sie lebte in „immer alles aufschreibt“, einem Abhängigkeitsverwie einige Probanden behältnis zu diesem übersorgt und misstrauisch zeugten Nazi, beteiligte feststellen. Angst haben sie sich bereitwillig an seivor ihr, vor ihrer Strenge, nen zweifelhaften Forihrer Kälte; wenn sie erschungen im Rahmen scheint, drängen sie sich großangelegter Aktionen zusammen „wie Vögel im zur „Bekämpfung der ZiWinter“, hoffen auf Nachgeunerplage“. sicht, auf Überleben, auf 1942 führte Justin für Nachricht von den Eltern. ihre vom Freiburger RasLiteraturpreis für ein Manuskript: senhygieniker Eugen Fi- Ute Bales Foto: © Michael Spiegelhalter Die sie nie bekommen. Bales, die vor 34 Jahscher geförderte Anthropologie-Dissertation in einem Kinderheim ren aus der Eifel zum Studium nach pseudowissenschaftliche Untersuchungen Freiburg kam und „hier hängen gebliean 40 Sinti-Kindern durch – mit dem Ziel, ben“ ist, hat das Buch, für das sie zwei zu beweisen, dass es sich dabei um „min- Jahre lang recherchiert und gearbeitet derwertige und nicht erziehbare Untermen- hat, einem Mann gewidmet, den sie zu schen“ handle, die an der Fortpflanzung zu Studienzeiten während ihrer Arbeit in hindern seien. Durch ihre „Gutachten“ und verschiedenen Freiburger Kneipen kenihre „Forschungen“ in verschiedenen Kon- nenlernte: Landolo Werst, der von allen zentrationslagern wurde sie mitverantwort- „Zigeuner-Schorsch“ genannt wurde. lich für die Deportation, Zwangssterilisati- Und den sie „leider nie nach seiner Kindon und Ermordung Tausender Sinti und heit gefragt“ hat, die in die Zeit des Porajmos fiel, des Genozids an den europäiRoma während der Nazizeit. Akribisch und aus der Sicht dieser Tä- schen Sinti und Roma. „Rassen gibt es terin zeichnet Ute Bales Eva Justins Werde- nicht“, schreibt sie zum Geleit. „Aber es gang nach. Sie schildert deren von be- gibt Rassismus.“

64 chilli Cultur.zeit September 2018


FRezi

Kleine Helden

von Almudena Grandes Verlag: Hanser, 2018 320 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro

Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?

von Timo Blunck Verlag: Heyne, 2018 460 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

Und jeden Morgen das Meer

von Karl-Heinz Ott Verlag: Hanser, 2018 144 Seiten, gebunden Preis: 18 Euro

Hinterrücks überfallen

Koks, Musik und Triebabfuhr

Wenn ein Stern erlischt

(ewei). Vor knapp zehn Jahren stürzte Spanien in eine Banken- und Immobilienkrise, von der sich Land und vor allem Leute bis heute nicht erholt haben. Die Sozialsysteme wurden gekürzt, viele Menschen verloren ihre Ersparnisse, ihre Wohnungen, ihren Job. Für so manchen wurde schon der Besuch eines Frisiersalons oder ein Bier in der Eckkneipe zum Luxus. Amalia, Diana und Pascual bekommen das ebenso zu spüren wie die anderen Bewohner des bunt gemischten Mikrokosmos in „irgendeinem der wenigen alten Viertel im Zentrum von Madrid“, in dem Almudena Grandes ihren Roman ansiedelt. Friseurin Amalia hat trotz gesenkter Preise immer weniger Kundinnen, Barbesitzer Pascual serviert selten andere Getränke als kostenloses Leitungswasser, Ärztin Diana hat nur noch die Hälfte ihres früheren Gehalts. Wegen der angekündigten Schließung des Gesundheitszentrums im Quartier bangt sie um ihren Arbeitsplatz – und um die Versorgung der Patienten, von denen sich einige die Fahrt zu einer weiter entfernten öffentlichen Klinik nicht leisten können. Doch die Leute widerstehen der Armut, „von der sie hinterrücks überfallen wurden – aus dem Herzen eines Europa, das sie reich zu machen“ versprochen hatte. Sie tun sich zusammen – und werden zu Helden des Alltags.

(dob). Spätestens nach den ersten hundert Seiten wird es öde: Koks, Brüste, Ärsche, trostlose Triebabfuhr, traurige Liebe, immer wieder. Und dann noch eine Prise Selbstbeweihräucherung. Timo Blunck war in den 1980er-Jahren mal Bassist der Avantgarde-Punkband „Palais Schaumburg“. Danach wurde er Komponist für Werbung und Events – und leider nun auch Buchautor. „Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern?“ heißt der Wälzer. Darin spielt Bluncks literarisches Alter Ego Schröder ebenfalls in einer Avantgarde-Punkband: „Villa Hammerschmidt“ und ist ebenfalls Komponist für Werbung und Events. Nach einer Koks-Nutten-Orgie bricht er zusammen, wird von seiner Schwester in die Klinik gesteckt und lässt fortan bei einer Psychotherapeutin sein Leben Revue passieren. Zum einen ist dies eine interessante, mitunter auch unterhaltsame Zeitreise in die damalige Subkultur: die Ramones, Kurtis Blow, das Studio 54, der Sound von Manchester und vieles mehr wird erwähnt. Und wer sich im Gegensatz zu Falco (er ruhe in Frieden!) doch noch an die 80er erinnert, dem kann warm ums Herz werden. Vor allem aber liest sich dieser mit einem Vorwort von Rocko Schamoni angeteaserte Roman so, als würde ein Opi vom Krieg erzählen. Und davon, dass dieser Opi damals, als Aids noch unbekannt war und sich die Frauen noch nirgendwo rasierten, es ziemlich draufhatte. Opi, lass’ gut sein.

(ewei). „Kann das Meer sich selbst fühlen? Oder der Abendhimmel, wenn er sich lodernd vom Tag verabschiedet?“ Fast immer, wenn Sonja auf den Klippen steht – und sie steht dort jeden Morgen, bei jedem Wind und Wetter –, gehen ihr diese Fragen durch den Kopf. Ebenso wie der Gedanke, dass sie springen könnte: zur Seite der schäumenden Gischt. Oder zur anderen, zum grünen Land mit Schafen und aufragenden Bergen. Im früheren Leben war sie Chefin eines noblen Hotels am Bodensee; 30 Jahre lang führte sie es mit ihrem Mann Bruno, der für die Küche verantwortlich war, sich gar einen Michelin-Stern erkocht hatte. Doch dann verlor er ihn wieder, die prominenten Gäste blieben aus, das Haus geriet in Schulden. Als Bruno von einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurückkehrt, übernimmt sein Bruder Arno zwar das Hotel samt Schuldenberg, doch Sonja muss verschwinden. Sie flieht zu Mr. Pettibone nach Wales. Und kommt bei der Analyse ihres Lebens zu bemerkenswerten Schlüssen. Der Freiburger Autor Karl-Heinz Ott hat einen sezierenden, bissigen Roman geschrieben, in dem sogar das Unglück für beglückende Lektüre sorgt. Überzeugen kann man sich davon bei seiner Lesung in der Reihe „Freiburger Andruck“, am 17. Oktober ab 19.30 Uhr im Literaturhaus. September 2018 chilli Cultur.zeit 65


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