chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 5/20 10. JAHRGANG

Open Air

On Air

Literatur

DAS GEHT AB IN DER REGION

GESTREAMTE KULTUR

KNASTALLTAG IN FREIBURG


Kultur

Nicht umsonst, aber draußen Kino, Musik, Theater, Kunst und Literatur auf Freiluftbühnen

von Erika Weisser & Till Neumann

Festival „Ins Weite“ Eine „kulturelle Alternative zum Verreisen“ bietet das Programm des Kommunalen Kinos all jenen, die in diesem Sommer in Freiburg geblieben sind. An kultigen Spielstätten wie dem Mensagarten oder der Wiese beim Waldsee gibt es Filme und Konzerte, die auf ganz unterschiedliche Weise „ins Weite“ tragen und neue Perspektiven auf die Welt ermöglichen. Ergänzt wird das Programm durch Lesungen unter den Kastanien am Alten Wiehrebahnhof. Zu den Gästen gehören Yoko Tawada, Marion Poschmann und Wolfgang Büscher. Ab sofort sind die Filme, oft nach MusikerAuftritten, am Waldsee zu sehen, darunter „Die Piroge“ und „TGV-Express“ von Mousa Touré (20. & 23.8.), „Johanna d’Arc of Mongolia“ von Ulrike Ottinger (27.8.). Einen Überraschungsfilm gibt es zum Abschluss (13. September). Info: www.ins-weite.de

Kunst auf der Liegewiese Im Skulpturenpark auf der seit Monaten verwaisten Liegewiese des Faulerbads tut sich wieder etwas: Jörg Siegele, der die Open-Air-Kunstausstellung seit mehr als 20 Jahren organisiert, ist gerade dabei, die Wiese für die Wintermona52 chilli Cultur.zeit September 2020

te schön zu machen. Etliche Bildhauer, die zuletzt viel Zeit in ihren Ateliers verbrachten, freuen sich, hier ihre neuen Werke zu präsentieren. Die Ausstellung startet am Sonntag, 20. September, um 17 Uhr – mit Musikern und Künstlern. Danach kann die Ausstellung sonntags von 10 bis 16 Uhr besichtigt werden. Bis Mitte Mai 2021.

Open-Air-Sommer Basler Hof Eigentlich ist der Kulturverein Resonance e.V. verantwortlich für die Reihe „Kultur im Freiburger Hof“ im Humboldtsaal. Angesichts der pandemischen Aerosol-Übertragungsgefahren in geschlossenen Räumen ist der Verein nun in den Basler Hof umgezogen. Der ist tatsächlich ein Hof – sogar ein sehr schöner und nur zu Publikumszeiten des dortigen Regierungspräsidiums zugänglich. Nun gibt es dort „Konzerte und Lesungen mit renommierten Künstlern“, wie Johannes Tolle verspricht, der künstlerische Leiter von Resonance. Vom Münsterplatz kommend, kann man hier bis zum 13. September regelmäßig freitags bis sonntags und gelegentlich werktags Klassik oder Jazz erleben, kann sich mit Schriftstellern oder Kabarettisten über ihr Werk austauschen. Alles live – und an der frischen Luft. Zu den Gästen gehören Cécile Verny & Johannes Maikranz (28.8.), das Pocket Orchestra Freiburg (11.9.) und viele andere. Info: www.openairsommerfreiburg.de

Theater der Immoralisten – Open Air Aus dem Saal auf die Terrasse: „Nach Stillstand und Kulturpause“ entzündet das Ensemble der Immoralisten vor dem

Foto: © Ulrike Ottinger, Pocketorchestra, Fidel Gómez-Sánchez , Immoralisten, Peter van Breukelen

D

ie Kulturszene ist arg gebeutelt. Monate ohne Auftritte, Einnahmen und Publikum liegen hinter Künstlern und Veranstaltern. Erst im Sommer waren erste Gehversuche möglich. Zwar mit strikten Begrenzungen und Auflagen – doch es funktionierte. Das meiste findet im Freien statt, etwa die Rathaushofspiele oder das Sommernachtskino. Das Freiburg Bluesfestival ist abgesagt. Dennoch gibt es auch in den nächsten Wochen ein feines Angebot. Das Jazz-Festival wagt sich sogar in geschlossene Räume.


kleinen Theater im Stühlinger Gewerbehof ein „open art“-Feuerwerk der Gedanken und Gefühle – in einem funkelnden Dialog über existenzielle Fragen. Auf der Basis des Stücks „Fräulein Julie“, das August Strindberg im Jahr 1888 „mit peitschenden Sätzen aufs Papier brachte“. So schreibt es Ensemblechef Manuel Kreitmeier im Programm. Donnerstags, freitags und samstags, 20.30 Uhr. Bis 12. September. Info: www.immoralisten.de

Kulturnotizen

Jazzfestival Freiburg

Der Verein „Perspektiven für Kunst in Freiburg“ plant für 2021 die erste Ausgabe einer „Biennale Für Freiburg“ (BFF). Diese neue Plattform für die Präsentation, Entwicklung und Vermittlung zeitgenössischer Kunst in Freiburg will sich künstlerischen Zugängen zu drängenden gesellschaftspolitischen Fragen widmen und soll in zwei Phasen stattfinden: Im Frühsommer sind Arbeits- und Rechercheaufenthalte für die teilnehmenden Künstler geplant und im Herbst ein Ausstellungsparcours.

Freiburg Stimmt Ein Zehn Jahre gibt es das riesige Mitmachfestival schon. Geplant war Freiburg Stimmt Ein (FSE) im Mai, jetzt steigt es am 20. September. Mehr als 100 Acts sollen rund 20 Freiburger Plätze bespielen. 150 Gruppen oder Solokünstler haben sich beworben, berichtet FSE-Chef Stefan Sinn. Neu dabei ist Kammermusik: Mit dem Motto „Klangvolle Straßennamen werden zu klingenden Straßen“ präsentiert FSE im sogenannten Komponistenviertel Freiburgs klassische Musik. So soll an der Johann-Sebastian-Bach-Straße Musik von Bach zu hören sein. In der Bruckner-Straße gibt’s Bruckner und in der SchubertStraße Schubert. Die Idee kommt vom Freiburger Cellisten und Dirigenten Walter-Michael Vollhardt. Etwa 15 Plätze hat er für sein Vorhaben anvisiert. Sinn freut sich über viele treue Bands, die seit Jahren mitmischen. Sein Wunsch fürs Festival: „Wir wollen ein Zeichen setzen: Hebt euren Hintern, lasst euch nicht nur bespielen und bespaßen.“ Sponsoren und Betreuerteams für die Bühnen werden noch gesucht. Info: www.freiburgstimmtein.de

In seiner Sitzung vom 28. Juli beschloss der Gemeinderat eine vorzeitige Vertragsverlängerung für Peter Carp. Der gebürtige Stuttgarter, dessen Dienstvertrag 2022 ausgelaufen wäre, bleibt damit bis Juli 2025 Intendant und Erster Betriebsleiter im Eigenbetrieb Theater Freiburg.

Biennale für Freiburg

„Haltestelle“ in neuem Licht Das Kunstwerk „Haltestelle“ von Richard Schindler, das am Berufsschulzentrum Bissierstraße an die Namensgeberin der Gertrud-Luckner-Gewerbeschule erinnert, wurde seit seiner AufFoto: © wartehalle gertrud luckne stellung im Jahr 1995 oft zur Zielscheibe von Vandalismus. Im Begehbares Kunstwerk: „Haltestelle“ Auftrag der Stadt wurde es nun mit neuen Glaswänden, Bänken und Bildern ausgestattet, Wände und Boden wurden saniert. Zudem wurde eine Beleuchtung installiert, die den Innenraum bei Einbruch der Dämmerung mit indirektem Licht erhellt.

Reinhold-Schneider-Preise 2020 Der Autor und Journalist Dietmar Dath sowie das Tanz- und ChoreographieDuo Graham Smith und Maria Pires erhalten den diesjährigen Kulturpreis der Stadt Freiburg in den mit jeweils 15.000 Euro dotierten Sparten Literatur und Darstellende Kunst. Stipendien von je 3000 Euro gehen an „Die Immoralisten“, Vanessa Valk und Jens Burde sowie an die Autorinnen Stefanie Höfler und Iris Wolff. Undotierte Ehrenpreise erhalten Renate Obermaier und Heinzl Spagl sowie Evelyn Grill.

Großzügige Schenkung Das Museum für Neue Kunst (MNK) in Freiburg freut sich über die Schenkung der Bronzeplastik „Die Klagende“ von Georg Kolbe. Christoph und Monika Jessen, in deren Haus im Freiburger Umland die 1926 entstandene Figur viele Jahre gestanden hatte, haben sich bei der Suche nach einer neuen Heimat für die von den Großeltern ererbte Plastik schließlich für das MNK entschieden – zur großen Freude von Direktorin Christine Litz. Und zur eigenen: „Wir wollten ‚Die Klagende’ an einem Ort wissen, an dem sie wertgeschätzt wird. Besonders freut uns, dass sie nun nicht im Depot verschwindet, sondern immer Schönes Geschenk: zu sehen ist“, so J essen bei der Übergabe. ewei Kolbes „ Klagende“

Foto: © Schenkung Jessen MNK

Improvisieren können Jazzer. So ging auch das Orgateam des Festivals in die Planung: Aktionen wie der Minigipfel oder eine durch die Stadt ziehende Brassband sind abgesagt. Konzerte im Jazzhaus und E-Werk finden unter Sonderbedingungen statt. Nur wenige dürfen rein und fast alle Acts spielen zweimal nacheinander. Im Jazzhaus dürfen pro Show 55 bis 60 Personen Platz nehmen, im E-Werk sind es 100 bis 120, berichtet Jazzhaus-Chef Michael Musiol. Das Programm hat etwas Internationalität eingebüßt. „Es ist trotzdem extrem hochkarätig“, betont Musiol. Eckpfeiler des Festivals vom 19. bis 27. September ist unter anderem die Band Rymden aus Norwegen. Ein „hochdekoriertes Super-Trio“, sagt Musiol. Besonders freut er sich auch auf Shake Stew, eine „riesige Groove-Maschine“ aus Österreich. Geplant sind zudem ein Pianowettbewerb, eine Jamsession oder Hammond Jazz Night Special. Info: www.jazzfestival-freiburg.de

Dienstvertrag verlängert


Uraufführung in neuer Dimension Schlosslichtspiele Karlsruhe finden weltweit erstmals als digitales Web Projection Mapping statt

von Erika Weisser

Virtuelle Bilder aus „Rüstungsschmiede“ und „thenightlab“ gehören zum neuen und innovativen Repertoire der diesjährigen Karlsruher Schlosslichtspiele.

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lichtspiele ahnen lässt: „Abbruch in der Realität – Aufbruch in die Virtualität“. In diesem Jahr findet das Projekt ausschließlich im digitalen Raum statt – als weltweit erstes Web Projection Mapping. Dazu wurden Schloss und Schlossplatz in einem aufwendigen Verfahren digital nachgebaut und dienen als Projektionsfläche, auf die die eigens für die digitale Ausgabe kreierten Shows „gemappt“ werden. Bis zum 13. September können Besucher abends ab 20.15 Uhr (MESZ) weltweit auf ihrem Endgerät in einem virtuellen Livestream etwas verfolgen, was nicht wirklich passiert. Dadurch, so Weibel, „haben wir die Möglichkeit, eine viel größere Reichweite durch ein nicht-lokales Massenpublikum im Online-Universum zu erreichen. Dabei wird das Publikum auch eine technische Innovation erleben – am Bildschirm wird es jetzt möglich, zwischen mehreren beobachtenden Positionen zu wählen, ganz so als ob man sich vor der Schlossfassade bewegen würde.“

Info www.schlosslichtspiele.info

Fotos: © KME

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s ist gerade fünf Jahre her, dass in Karlsruhe zum ersten Mal die Schlosslichtspiele stattfanden – 2015, zum 300. Geburtstag der Fächerstadt. Und da die an mehreren Tagen stattfindenden thematischen, auf Schloss und Schlossplatz projizierten Licht-Shows damals ein großer Publikumserfolg waren, beschloss die Stadt, dieses Spektakel in jedem Sommer neu aufzulegen – selbstverständlich mit wechselnden inhaltlichen Schwerpunkten und Programmen. So war es auch dieses Jahr für die Sommerferien geplant. Doch schon früh im Jahr, als die Pandemie noch im Anrollen war, wurde dem Kurator Peter Weibel und seinem Team vom Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) klar, dass es heuer kein Festival in der bisherigen Form geben würde: Dicht gedrängte Menschenmassen im realen Raum wären wegen der Gesundheitsgefährdung nicht machbar gewesen – und auch nicht vertretbar. Da war ein kreativer Umgang mit der gleichermaßen unvorhersehbaren wie unabsehbaren Situation gefragt. Diese wurde mit Bravour gemeistert, wie schon der Titel der diesjährigen Schloss-


Kultur

Fokus aufs Ungewisse Theater Freiburg stellt Spielplan 2020/21 vor von Liliane Herzberg

rungen bei den Sach- und Personalkosten. „Wir brauchen für die Spielzeit über die in der Zielvereinbarung zugesicherten Spielbetriebszuschüsse kein zusätzliches Geld von der Stadt. Wir brauchen aber auch da die planerische Flexibilität“, betont Beecken. Im Fokus des Musiktheaters in der neuen Spielzeit steht das Ungewisse: „Es geht darum zu schauen, was gerade interessiert, wie die Bedrohung der menschlichen Existenz“, verdeutlicht Musikdramaturg Heiko Voss. Etwa in dem Stück „Stabat Mater“ unter Regie

Bedürfnis nach emotionaler Nähe von Andriy Zholdak, das vom Ringen um menschliche Verluste handelt. Die Inszenierungen sind nicht einfach, auf große Opern wird verzichtet. Stattdessen werde das Kleine groß erzählt, sagt Carp. Es sei auch in diesem Spielplan ein künstlerisch sehr interessantes Angebot zu verzeichnen, etwa bei der Oper „Mr. Emmet takes a walk“ unter der Regie von Herbert Fritsch. „Das Schauspiel ist auch haarig, aber nicht ganz so schwer zu organisieren“, berichtet Chefdramaturg Rüdiger Bering. Gestartet wird am 25. September mit der Uraufführung des Stückes „Elektra“, inszeniert von Małgorzata Warsicka. Auch das Schauspiel reagiert auf die Pandemie: So beschäftigen sich die Künstler in „Die zehn Gebote“ mit der Frage, wie mit einem Neuanfang umgegangen werden kann. Die Tanzabteilung ist stark von den Hygiene- und Abstandsregeln eingeschränkt. Aber auch hier lautet das Motto: Mit Flexibilität ist alles möglich. So werden trotz der Widrigkeiten einige Deutschlandpremieren aufgeführt, die erst jüngst produziert wur-

Fotos: © KME

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ls am Jahresanfang die Pandemie um sich griff, war auch am Freiburger Theater nichts mehr wie geplant. Stattdessen gab´s ein großes Fragezeichen, viel Hirnschmalz und schließlich einen DreiPha­sen-Spielplan, der an alle Gegebenheiten anpassungsfähig ist und nun im September anläuft. „Corona schafft zwar Limits, aber ebenso Möglichkeiten und das starke Bedürfnis nach emotionaler Nähe“, erklärt Peter Carp, Intendant des Freiburger Theaters, der gerade seinen Vertrag bis 2025 verlängert hat. Die erste Phase des aktualisierten Spielplans gehe bis zum Jahresende und „ist bei uns die Corona-Zeit, in der wir viel mit den aktuellen Regeln arbeiten müssen.“ Ab Januar bis zum Ende der Spielzeit „planen wir den Betrieb unter normalen Bedingungen. Das ist aber nur eine Annahme.“ Es würde jetzt einfach mal davon ausgegangen werden, dass das Virus zum neuen Jahr hin verschwände, führt er schmunzelnd weiter aus. Die Spielzeit 2021/22 sei voraussichtlich die dritte Phase, da könne dann vieles aufgeführt werden, was ursprünglich für die Spielzeit 2020/21 geplant war, jetzt aber gestrichen worden sei – große Opern in voller Besetzung etwa. Finanziell habe das Theater die vergangenen Monate gut überstanden, so der Intendant. Das liege vor allem an der Unterstützung durch das Publikum und an zahlreichen Spenden, die weiter anhalten. Rund 115.000 Euro hat das Spielhaus von Unterstützern erhalten, so die kaufmännische Direktorin Tessa Beecken. Es sei dennoch ein Verlust von rund 1,2 Millionen Euro an Ticketeinnahmen zu verzeichnen. Dafür gebe es Einspa-

Fotos: © Laura Nickel

Mit planerischer Flexibilität: Das Freiburger Theater hat Corona zum Trotz den Spielplan 2020/21 entworfen.

den, verkündet Tanzkuratorin Adriana Almeida Pees stolz. Brandaktuell ist auch Michèle Noirets und David Drouards „Singende Ruinen, singende Bilder“, in dem die Tänzer in einer Szene Schutzmasken tragen. Die Schwierigkeiten bei Konzerten erklärt Generalmusikdirektor Fabrice Bollon: „Unter Einhaltung der Abstandsregeln ist es schwer, ein vollständiges Orchester aufzustellen.“ Deshalb werde das philharmonische Orchester in kleinerer Besetzung auftreten, jedoch nicht mit minder hochkarätigen Solisten. Als Auftakt des Jungen Theaters geht das „Lirum Larum Lesefest“ über die Bühne. In „Glorreiche Halunken“ kehren Vater und Sohn Graham und Simão Smith nach häuslicher Quarantäne auf die Bühne zurück. September 2020 chilli Cultur.zeit 55


MUSIK

„Freiburg neu sehen“

Fotos: © René Thoma Foto: © Marc Doradzillo

4 FRAGEN AN Fiona Combosch „Stadtraumlieder“ heißt ein neues Chorprojekt des E-Werks. 20 Lieder rund um Migration sind in einer App zu hören. Bei einem Audiowalk durch Freiburg können die Geschichten dazu entdeckt werden. Chorleiterin Fiona Combosch (41) erzählt, was es damit auf sich hat. Frau Combosch, wie kam’s zu dem Projekt? Jan F. Kurth und ich leiten den Südufer-Chor. Viele Mitglieder haben Migrationshintergründe. Ein Jahr haben wir an der Idee „Stadtraumlieder“ gearbeitet. Wir wollen mit der App zeigen, wo Migrationsgeschichte in Freiburg stattgefunden hat und sie durch Musik hörbar machen. Dazu gibt’s sicher unzählige Orte. Ja, es ist eine willkürliche Auswahl. Manche Lieder haben konkreten Bezug zu Freiburg, manches ergibt sich aus der Geschichte. Wir haben sie mit dem Chor an den jeweiligen Orten aufgenommen. Zum Beispiel ein Lied von Goran Bregović an der Basler Straße 8, wo früher das jugoslawische Konsulat war. Was für Lieder sind zu hören? Es gibt zum Beispiel ein Stück einer portugiesischen Migrantin aus Freiburg. Aus dem Elsass haben wir ein Lied über die Heimat. Am Münster singen wir eine Komposition des Österreichers Paul Hofhaimer. Sechs Lieder sind schon online. Genau. Die weiteren folgen bis 2021. Noch sind nicht alle Aufnahmen im Kasten. Am 4. Oktober bieten wir ab 11 Uhr einen musikalischen Spaziergang mit dem Südufer-Chor an. tln 56 CHILLI CULTUR.ZEIT SEPTEMBER 2020

„Wir sind Vampire“ DIE SEVEN PURPLE TIGERS SIND NACHTAKTIV von Till Neumann

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egegnet sind sich Austin Horn und Philip Dyszy vor fünf Jahren in Krakau. Seitdem arbeiten sie gemeinsam am großen Traum. Bei Contests haben sie ihr Potenzial unter Beweis gestellt. Jetzt ist das zweite Album der Indie-Rock-Band in Arbeit. Der Proberaum der Seven Purple Tigers in Emmendingen liegt in einer ehemaligen Gaststätte. Um reinzukommen, muss man sich durch die Wäschekammer schlängeln. Drinnen stehen ein Drumset, Keyboards und eine Klappcouch. Die Atmosphäre ist schummrig. Zum Interview sind die Frontmänner der Seven Purple Tigers vertreten: Austin Horn und Philip Dyszy. Sie wirken aufgeweckt, dabei fängt der Arbeitstag erst in drei Stunden an. „From six to six“, beschreibt Horn ihren Rhythmus. Die beiden werkeln am liebsten nachts. Da sind die Straßen leer, die Ideen sprießen. Horn gießt Kaffee ein.

In Freiburg machen die zwei mit ihren Kollegen Sebastian Heieck und Felix Schwer zusehends von sich reden. Im Februar gewannen sie den Nachwuchscontest „Rampe“ im Jazzhaus. Beim Fürstenberg Lokal Derby schafften sie es 2019 auf Platz zwei. Als Türöffner sehen sie solche Plattformen. „Sie bringen uns Bühnen und Bekanntheit“, sagt Dyszy. Im Gepäck haben sie ihr Debütalbum, das heißt wie die Band: Seven Purple Tigers. Der Name ist wie vieles kein Zufallsprodukt. Hunderte hat Dyszy sich vor dem ersten Release ausgedacht und getestet. Die sieben lila Tiger blieben hängen. „Man hat sofort Bilder im Kopf“, sagt der Gitarrist. So sollen auch ihre Konzerte sein: Entertainment bieten, ein Lebensgefühl vermitteln. Die Band sehen sie als Gesamtpaket, bei dem es um mehr geht als nur um Musik. Ihre Platte haben sie 2019 veröffentlicht. Indierock mit feinen Melodien, nachdenklichen Texten und eingänglichen Gitarrenriffs. So wollen sie es nach oben schaffen. „Es kann immer zack machen“, sagt Horn und


KOLUMNE Begegnet sind sie sich 2015 in Polen. Beide waren für ein Auslandsstudium in Krakau. Im Proberaum einer Uni-Band spielte Dyszy Led Zeppelin, als Horn plötzlich das Mikro nahm. „Krasse Stimme“, sagt sich Dyszy. Der Funke schlug über. In einem halben Jahr schrieben sie 30 Songs. Dann ging es zurück in die Heimat. Horn in die USA, Dyszy nach Freiburg. Ihre Ansage: Wer zuerst das Studium abschließt, kommt zum anderen. So gesagt, so getan. Horn zog 2017 in den Breisgau. Als Boheme sehen sie sich. Freigeister, die für ihre Kunst leben. Beste Freunde sind die WGMitbewohner obendrein. Die gemeinsame Vision schweißt zusammen. Bis tief in die Nacht: „Eigentlich sind wir In Krakau schlägt totale Vampire“, sagt Dyszy. Am besder Funke über ten arbeiten sie im Geheimen, wenn die Sonne untergeht. In die neuen Stücke setzen sie viel Die Momente, die Songs live zu präsentieren, sind rar. Kürzlich spiel- Hoffnung: „Sie klingen eingängiger ten sie eine Streamshow bei ZMF On und zugleich komplexer, intensiver Air. „Wir wollten das Maximale raus- und moderner“, sagen die zwei Muholen“, sagt Horn. Dafür luden sie siker. Präsentieren würden sie die einen Saxofonisten und drei Back­ Tracks am liebsten im Madison Square groundsängerinnen ein. Mit dem Garden. Warum dort? „Da haben alle Ergebnis sind sie zufrieden. Online- unsere Lieblingsbands gespielt“, sagt Konzerte kommen den zwei Viel­ - Dyszy. Die Stones oder Led Zeppegereisten gar nicht ungelegen. Die lin. Der Weg auf die ganz großen YouTube-Übertragung ermögliche, Bühnen scheint noch weit. Doch der dass auch viele Freunde im Ausland Glaube, es zu schaffen, ist groß. „Kurz zuschauen konnten. Im Nachhinein vor dem Sprung“ sehen sie sich. Am ein kostenloses Livevideo zu haben, Selbstbewusstsein dürfte es nicht scheitern. sei sogar ein großer Vorteil. schnippst mit dem Finger. Jeden Tag kämen Bands aus dem Nichts. Zum Leben reicht es bei ihnen aber noch nicht. Nebenher jobben sie als Englischdozent, Pizzalieferant und Roadie. Für viele bedeutete die Pandemie Stillstand. Bei den zwei Fricklern liefen die Songs nur so aus der Feder. Im Proberaum schrieben sie in den vergangenen Monaten ein ganzes Album. „Das war eine schwierige Zeit, eine unfassbare Zäsur für die Menschheit“, sagt Dyszy. „Als Band war das trotzdem ein ziemlich gutes Jahr.“ Ohne Ablenkung hätten sie an den Kompositionen feilen können. Eine einmalige Situation, die sie vorangebracht habe.

... zu 900 Jahre Freiburg Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Dank eines sachdienlichen Hinweises aus der Bevölkerung, sind wir Marc Lorinser auf die Schliche gekommen. Der Song „Freiburg 900 Jahre, diese Liebe endet nie“ ist, wie der Titel schon verrät, als Hommage an die Stadt zur 900-Jahr-Feier angelegt, leider aber gründlich im Bächle baden gegangen. Aber hören respektive lesen Sie selbst: „Freiburg, Du bist die Badische Queen, Freiburg, diese Liebe endet nie, Münschterplatzwurscht, das ist Weltgeschmack, Bächle, roter Bäre, Adolf Seger, Schlossberg, Wiehre, Colombipark, SC Freiburg megastark ... Strandbadmensche, gesunde Zukunftsstadt, Freiburg, du bist die Badische Queen ...“ Das alles ist dann auch noch so glatt und langweilig produziert wie ein Werbejingle für den ADAC– unsymbadischer Rock mit Hang zum nervigen Gitarrensolo, die Badische Queen hat Besseres verdient. Seit 2009 ist Marc Lorinser übrigens als Deutschlands einziger Originaltonart-Stimmenimitator eine eingetragene Marke (Urkunden-Nr. : 30 2009 055 926) in der Bundesrepublik. Was immer auch das zu bedeuten hat, wir fürchten nichts Gutes. Dafür kann es nur die Badische Höchststrafe geben: 900 Jahre Kehrwoch auf der Geschäftsstelle des VfB Stuttgart – abführen! Es grüßt, ewig jung für Ihre Gechmacksbobbelezei Freiburg, Ralf Welteroth

Fest entschlossen: Die Seven Purple Tigers wollen mit ihrer Musik hoch hinaus.


Viel Spektakel, verhaltene Spenden FREIBURGS KULTUR-STREAMING-PLATTFORMEN ZIEHEN BILANZ

United We Stream (UWS) Upper Rhine machten im Mai den Auftakt. Fatcat traten in der Mensabar auf, DJ JanxNeu legte im Café Pow auf. 404 Euro Spenden kamen zusammen. Rund 200 Menschen schauten zu. 29 Events hat der Oberrhein-Ableger des Berliner Stream-Projekts bisher gestemmt. Simon Waldenspuhl ist überzeugt: „Wir haben etwas für die Szene gemacht.“ Aufwendig sei das gewesen und improvisiert. Das Programm ging vom Barockorchester-Auftritt über eine Talkrunde bis zur Kunstperformance. Schwerpunkt war Subkulturelles. 2000 Euro kamen an Spenden zusammen. Waldenspuhl findet das absurd wenig. Doch das zehnköpfige Orgateam bekommt zudem 3500 Euro vom Kulturamt und 12.000 Euro von der Berliner UWS-Zentrale. Alle Beteiligten sollen in Kürze eine Aufwandsentschädigung erhalten: Für DJs gibt’s 50 Euro, Bands kriegen 150 Euro und Clubs 200 Euro. 58 CHILLI CULTUR.ZEIT SEPTEMBER 2020

Nach der Sommerpause will die Gruppe mit Einzelevents weitermachen – bis das Clubleben wieder losgeht. Manches will Waldenspuhl ins analoge Nachtleben mitnehmen: „Streams könnten fester Bestandteil der Clubkultur werden.“ Deutlich finanzkräftiger ist #inFreiburgzuhause gestartet. Das Projekt von der Freiburger Sparkasse, der FWTM und dem Kulturaggregat feierte Ende Mai Auftakt mit Cécile Verny im Jazzhaus. Mehr als 3000 Euro Spenden kamen rein. 21 Veranstaltungen hat Koordinator Thomas Walz von der Sparkasse gezählt. 50.000 Euro seien im Topf gewesen. 15 weitere Events sollen nach der Sommerpause noch steigen.

Virtuelle Tickets bringen 14.500 Euro „Wir wollen der Kulturszene helfen“, sagt Walz. Der 45-Jährige ist mit dem Ergebnis zufrieden. Die Vielfalt der Freiburger Kulturlandschaft habe ihn begeistert. Etwa 5700 Zuschauer seien live dabei gewesen. Mit virtuellen Tickets hat das Projekt rund 14.500 Euro erwirtschaftet. Die mit Abstand größte Summe der drei Freiburger Plattformen. Künstler und Veranstalter bekamen pro Event je nach Locationgröße 2000 bis 3000

Euro netto. Zusätzlich gab’s 60 Prozent des Ticketerlöses. Beim Verny-Konzert gab’s demnach rund 4800 Euro für Location, Artist und Technik. Als Letzter ins Rennen ging das Zeltmusikfestival mit „ZMF On Air“. 40 Events gab’s von Juni bis August. Rund 100.000 Euro seien dafür geflossen, berichtet ZMF-Sprecherin Hanna Teepe. Finanziert haben das NaturEnergie, der Förderkreis Freiburger Musikfestival und weitere Sponsoren. Mit Spenden hat das ZMF rund 7000 Euro erwirtschaftet. Für etablierte Künstler gab es Festgagen im unteren vierstelligen Bereich. Die beliebtesten Videos sind bisher auf dem ZMF-YouTube-Kanal etwa 1000 Mal geklickt worden. Andere haben dafür nur 20 Aufrufe. Die Übertragung hat die Veranstaltungsfirma TecStage im Industriegebiet Nord gemacht. Die Acts haben so nicht nur unter Topbedingungen spielen können (mit bis zu 15 VIP-Gästen vor der Bühne): Sie haben jetzt auch ein Hochglanz-Live-Video auf YouTube. Viel Aufwand sei das gewesen, aber auch viel Spaß, berichtet Teepe. Sie hofft dennoch, dass ZMF On Air nicht wieder steigen muss. Die ZMF-Kassen seien eh klamm. Der Freiburger Streaming-Sommer zeigt: Mit rund 24.000 Euro Spenden sind 90 Events nicht im Ansatz zu finanzieren. Ohne Sponsoren und Förderer sieht Online-Kultur alt aus.

Foto: © Klaus Polkowski

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nited We Stream, #inFreiburgzuhause und ZMF. Gleich drei große Anbieter haben im Sommer Kultur­ events gestreamt. Fast 100 Konzerte und Co. haben sie übertragen. Weder Klickzahlen noch Spenden sind astronomisch. Die Veranstalter sind trotzdem zufrieden.

von Till Neumann


LABRASSBANDA

VON WELT

NOTSCHREI

Pop / Reggae / Techno

Rock

Postcore, Rock

DANZN

SCHWARZ

„AUS DEM NICHTS“

Bayrische Stimmungsmacher

Clevere Chartbreaker

Apokalyptischer Schrei

(herz). Jubelnde Menschen wirbeln herum, die Musiker sprühen vor Energie. Barfuß, in bayrischen Lederhosn – wer „danzn“ mag, kommt auf seine Kosten, der Muskelkater am nächsten Tag ist obligatorisch. Lange haben sie die bayrischen Landesgrenzen hinter sich gelassen und die Welt erobert, als „Tanz-Band“ sind sie bekannt: LaBrassBanda. Worüber sie singen, ist dabei oft gar nicht so wichtig. Aber freilich haben die Texte Hand und Fuß, etwa in „Discobauer“: „Wir scheißen auf zu viel Chemie und feiern die Bio-Anarchie, drum fressen wir statt einem Avocado-Brot lieber Omas Krautsalat.“ Gesellschaftskritisch geht’s auch in „Bach“ zu: „Die Nachrichten machen mich krank, ich verlier’ meinen Verstand.“ LaBrassBanda stehen für handgemachte Party – und bleiben sich auch auf ihrem fünften Studioalbum treu. Ohne viel Wirbel geleiten sie durch Musikstile, mal rein instrumental auf „Tecno III“, im Seventies Soul- und Disco-Style auf „Gipshaxn“ (eingegipstes Bein) oder als Reggaeband in „DeOideMo“. Für gute Laune allemal gemacht, muss der Dialekt und die rotzig-freche Art der Jungs aus Oberbayern doch gemocht werden. Wer nicht danzn mog, sondern Freund der kultivierten, gepflegten Musik ist, ist hier falsch. Denn LaBrassBanda „Spia as Leben, schee.“

(tln). Südbadener in den Charts. Die Band Von Welt hat es im Juli mit ihrem Album „Schwarz“ auf Platz 35 geschafft. Die Songs sind auf Spotify 100.000-fach gestreamt. Den Erfolg haben sich vier Mittzwanziger mit cleverem Marketing und einem stimmigen Konzept erarbeitet. Das zeigen die 14 Tracks ihrer Platte eindrücklich. Geballte Energie gibt’s da. Gepaart mit deutschen Texten. Auch eine Prise Gesellschaftskritik findet sich in Songs wie „Vorkriegskinder“. Das Schlagzeug klingt nach schwerem Geschütz, der nervöse Bass lässt den Atem stocken, die Stimme von Sänger Nicolas Kuri trägt Wut und Schmerz. Düster geht’s zu bei den Schwarzwäldern. Sie liefern Stoff zum Headbangen, Mitsingen und Fallenlassen. Geleitet von eingängigen Refrains und die gibt’s zuhauf. Dazu auch immer wieder kleine Ruhepausen. Die Dosis stimmt. Mal mischt sich Rap unter den Gesang. Dann wird mit dezenten Effekten gearbeitet, in „Eiszeit“ mogelt sich eine Frauenstimme auf die testosterongeladene Scheibe. Bei der Variabilität könnte Von Welt noch eine Schippe drauflegen. Bei Deutschrockfans, die’s brachial mögen, dürfte das aber einschlagen. Klare Linie, wuchtige Produktion. Mit „Schwarz“ ist ein dunkles Werk gelungen, das vor Energie nur so strotzt.

(tln). Mit dem programmatischen Schrei „Aus dem Nichts!“ durchbrechen die Instrumente die Stille. Der brachiale Sound der fünf Freiburger drischt auf den Hörer mit plötzlicher Klanggewalt ein. Die Musiker zeigen, dass sie aufdrehen wollen. Die brutale Monotonie der reduzierten Melodien wechselt sich zeitweise mit wohlklingenden Gitarrenakkorden ab. Der für Postcore typische Wechsel zwischen klangvollen und chaotischen Passagen konfrontiert den Hörer mit abrupter Aggression. Für Rock-Laien klingt der wütende Gesang nach Rammstein. „Verzweiflung, sie holt mich ständig ein, nimmt mir mein Lächeln und lässt mich allein“, röhrt Sänger Markus Fürderer. Die Texte schildern apokalyptische Szenarien. Es geht um eine entwichene Welt mit verblasstem Himmel, gepaart mit Finsternis und Albträumen. „Schließ die Augen! Lass los! Von nun an, schmerzlos!“, schreit der Frontmann. Satanisch klingt das, fast schon furchteintflößend. Etwas ruhiger geht’s lediglich in Intros und Zwischenteilen zu. „Glaub nicht dem, der am lautesten spricht“, heißt es in „Was bleibt“. Bei dem maximal aufgedrehten Notschrei-Volumenknopf blitzt da fast schon Selbstironie durch. Die VierTrack-EP ist nix für zarte Ohren. Man muss schon (Postcore-)Fan sein, um das zu mögen. SEPTEMBER 2020 CHILLI CULTUR.ZEIT 59


KINO

Nachdenklich und heiter ROY ANDERSSONS NEUER FILM WIRKT WIE EIN KALEIDOSKOP ÜBER DAS MENSCHSEIN von Erika Weisser

Über die Unendlichkeit Schweden 2019 Regie: Roy Andersson Mit: Martin Serner, Jessica Lothander, Thore Flygel, Bent Bergius u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 78 Minuten Start: 17. September 2020

M

it Filmen wie „Das jüngste Gewitter“ (2007) und „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“ (2014) hat Regisseur Roy Andersson eine meisterhafte Trilogie über das menschliche Wesen gedreht. In starren Einstellungen, ohne tieferen Handlungsstrang, dafür mit viel schwarzem Humor erzählt er darin bravourös von den Möglichkeiten des menschlichen Zusammenlebens. Auch in „Über die Unendlichkeit“ bleibt der Schwede seinem Stil treu. Die Kamera fokussiert lange auf das Objekt, das sie gerade filmt. Sehr lange. So lange, dass man fürchtet, der Film sei stehengeblieben, habe sich verhakt. Mit sanfter Stimme aus dem Off nimmt uns die Erzählerin an die Hand und lässt uns imaginär umherschweifen. Scheinbar nichtige Augenblicke verdichten sich zu intensiven Zeit-Bildern und stehen historischen ­ Ereignissen gegenüber. In vielen kleinen Vignetten zeigt der Episodenfilm ein Potpourri kleiner, trivialer menschlicher Momente, die, wenn man sie allein betrachtet, zwischen tiefer Traurigkeit und makabrem Humor schwanken, und die nur partiell durch wiederkehrende Figuren oder Schauplätze miteinander verbunden sind: Ein

Fotos: © Neue Visionen

60 CHILLI CULTUR.ZEIT SEPTEMBER 2020

Vater macht die Schuhe seiner Tochter zu, während sie im Regen stehen. Ein Pärchen fliegt über das zerbombte Köln nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Pfarrer hat seinen Glauben verloren und sucht Rat bei einem Psychiater. Ein Mann weint in einem Bus. Die immer gleichbleibende Stimme der Erzählerin erläutert keineswegs ­planlos aneinandergereihte Episoden. Sie soll an Scheherazade – und ihre in 1001 Nächten erzählten Geschichten um Liebe, Leid, Untergang, Überleben und Unendlichkeit – erinnern und damit „die Unendlichkeit von Zeichen menschlicher Existenz, des Menschseins“ symbolisieren. Andersson will „zeigen, dass das Leben weitergeht, dass Liebe, Zärtlichkeit, Sinnlichkeit bleiben“. Das ist ihm gelungen, selbst bei den skurrilen Geschichten über die Untiefen und Widersprüche menschlichen Daseins. Der Film ist wie ein surrealer Traum, dessen einzelne Szenen nur lose miteinander verbunden sind, sie eröffnen dadurch neue Assoziationsräume. Pragmatisch und unsentimental kommentiert die weibliche Erzählstimme das Geschehen, das Großartiges neben Alltägliches, Historisches neben Erstaunliches stellt – in Anderssons unverwechselbarer Handschrift. Ein groß­artiger Film, den man nicht einfach weglachen kann, sondern der einen nachdenklich zurücklässt. Und irgendwie auch heiter.


KINO EXIL

SCHLINGENSIEF

DIE OBSKUREN GESCHICHTEN ...

Foto: © Alamode

Foto: © Weltkino

Foto: © Neue Visionen

Deutschland 2020 Regie: Visar Morina Mit: Mišel Matičević, Sandra Hüller, Rainer Bock u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 121 Minuten Start: 20. August 2020

Deutschland 2020 Regie: Bettina Böhler Dokumentarfilm Verleih: Weltkino Laufzeit: 124 Minuten Start: 20. August 2020

Spanien 2019 Regie: Aritz Moreno Mit: Polar Castro, Luis Tosar u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 103 Minuten Start: 20. August 2020

Verfolgung oder Wahn?

Eine unbändige Energie

Müllpresse und Hundefutter

(ewei). Xhafer stammt aus dem Kosovo. Und fühlt sich als Teil der deutschen Gesellschaft, als „perfekt integriert“. Er lebt schon lange hier, führt ein bürgerliches Durchschnittsleben: Er arbeitet als Laborant bei einem Pharmaunternehmen, bewohnt mit seiner Ehefrau Nora und den drei gemeinsamen Kindern ein Reihenhaus in einer großstädtischen Vorstadtsiedlung, kommt gut mit Kollegen, Nachbarn und anderen Eltern zurecht. Doch allmählich bekommt seine Selbstwahrnehmung Risse, lösen merkwürdige Geschehnisse erste Zweifel aus an der Gewissheit, dazuzugehören. Zunächst ist da eine tote Ratte am Gartenzaun, dann wird in der Firma eine wichtige E-Mail nicht an ihn weitergeleitet, später stellt ein Kollege seine Forschungsergebnisse infrage, schließlich steht ein brennender Kinderwagen vor seinem Grundstück. Das Gefühl der Verfolgung wird dichter, zermürbender, doch niemand glaubt Xhafer, auch Nora nicht. Ein großartiger Film über Wirklichkeit und Wahrnehmung von Realität.

(ewei). Über zwei Jahrzehnte hat Christoph Schlingensief den kulturpolitischen Diskurs mitgeprägt – bis er 2010 mit 49 Jahren starb. Die renommierte, aus Freiburg stammende Filmeditorin Bettina Böhler unternimmt nun den Versuch, den Ausnahmekünstler in seiner ganzen Bandbreite zu dokumentieren. Dabei durchlebt sie seine gesamte Entwicklung vom pubertierenden Filmemacher im KunstBlutrausch über den Bühnenrevoluzzer von Berlin und Bayreuth bis zum Bestsellerautor, der kurz vor seinem Tod die Einladung erhält, den Deutschen Pavillon in Venedig zu gestalten. In ihrem unterhaltsamen und zugleich tief berührenden Regiedebüt montiert Böhler virtuos private Aufnahmen und künstlerische Arbeiten – und überträgt Schlingensiefs unbändige Energie auf das Kinopublikum. Mit diesem ersten umfassenden Filmporträt dieses provokanten Regisseurs ist ihr eine tiefgründige Annäherung an sein mannigfaltiges Oeuvre gelungen – und an seine ebenso vielfältige Persönlichkeit.

(ewei). Zunächst ist an Helga nichts Ungewöhnliches festzustellen. Denn die Tatsache, dass sie ihren bei einer höchst zweifelhaften Beschäftigung ertappten Ehemann in einem psychiatrischen Sanatorium in Nordspanien unterbringt, liegt durchaus im Bereich des Gewöhnlichen, ist zumindest eine naheliegende, nachvollziehbare Reaktion. Auf der Rückfahrt mit dem Zug nach Madrid wird sie – und damit das Kinopublikum – freilich mit verborgenen Schichten ihrer Persönlichkeit und möglicherweise absichtlich zugeschütteten Erinnerungen konfrontiert, von denen bis zum Ende des Films nicht klar wird, ob es sich dabei um wirkliche Begebenheiten im Leben der Verlegerin handelt oder um Träume und ihre Deutungen. Denn der Mitreisende, der mit ihr ins Gespräch kommt und sich als Psychiater ausgibt, bringt in ihr mit grenzwertigen Patientengeschichten, in denen Müllpressen und Hundefutter eine Rolle spielen, ungeahnte Saiten zum Schwingen. Sehr, sehr schwarze und zuweilen beklemmende Arthaus-Komödie.


FREILUFT-KINOSAAL IM KLOSTERHOF

Foto: © Kino Friedrichsbau

VITALINA VARELA

Im atmosphärischen Innenhof des Schwarzen Klosters harren die Zuschauer in der Dunkelheit der Sommernacht der cineastischen Highlights unterm Sternenhimmel.

Lauschige Sommernächte mit Spannung und Distanz (ewei). Allen Unkenrufen zum Trotz: Das Sommernachtskino im Innenhof des Schwarzen Klosters findet statt. Zwar ist es um eine Woche kürzer und bietet weniger ­Publikumsplätze und auch weniger Premieren als in den anderen Jahren. Doch dafür haben sich die Betreiber der Kinos Friedrichsbau, Harmonie und Kandelhof für dieses Jahr eine neue Reihe ausgedacht: Black Cinema Matters. Vier Filme haben sie dafür ausgesucht: Green Book, 12 Years a Slave, Moonlight und Just Mercy. Zwei davon sind schon gelaufen; am Donnerstag, 27.8., 21 Uhr, kommt mit „Moonlight“ der Oscar-Gewinner von 2017 noch einmal auf die Leinwand. Er erzählt die Geschichte des jungen Afroamerikaners Chiron, der trotz massiver Armuts-, Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen für seinen Platz in der Welt kämpft und dabei weitgehend auf sich allein gestellt ist. Am Dienstag, 1. September, 20.45 Uhr, folgt mit „Just Mercy“ ein Film, der wegen Corona nur kurz im Kino zu sehen war. Darin geht es um einen afroamerikanischen Anwalt, der sich mit der Initiative „Equal Justice“ für Leute – vorwiegend Schwarze – ein62 CHILLI CULTUR.ZEIT SEPTEMBER 2020

setzt, die zu Unrecht zu lebenslangen oder gar Todesstrafen verurteilt wurden. Und der dabei mit massivem Rassismus konfrontiert wird. Dazwischen, am Samstag, 29. August, 21 Uhr, gibt es eine Premiere mit Gästen: Zwei Reisende und der Regisseur von „972 Breakdowns auf dem Landweg nach New York“ erzählen von ihrem „lückenlosen Pannen-Theater“, das sie auf ihrer mit klapprigen russischen Motorrad-Gespannen zurückgelegten Tour von Halle über Kasachstan, Sibirien, Alaska und Kanada bis zum Hudson River erlebten. Außer „Klasse Klassikern“ wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ (23.8., 21 Uhr) und „Die Blechtrommel“ (2.9., 20.45 Uhr) werden täglich Filme gezeigt, die in diesem schwierigen Kinojahr gelaufen sind. Oder auch verschoben wurden. Zu ihnen gehört Burhan Qurbanis in die Gegenwart versetzte Literatur-Neuverfilmung „Berlin Alexanderplatz“, laut ZEIT eine „virtuose Parabel gegen Rassismus“. Er schließt am Samstag, 5. September, 20.45 Uhr, das Sommernachtskino ab. Info: www.sommernachts-kino.de

Foto: © Grandfilm

Portugal 2019 Regie: : Pedro Costa Mit: Vitalina Varela, Manuel Tavares Almeida u.a. Verleih: Grandfilm Laufzeit: 124 Minuten Start: 10. September 2020

Wenig Licht im Dunkel (ewei). Vom legendären Licht Lissabons ist in diesem Film wenig zu sehen. Die erzählte – und offenbar authentische – Geschichte spielt auch nicht in den sonnengefluteten, von Touristen als malerisch empfundenen Gassen der Altstadtviertel der portugiesischen Hauptstadt. Sondern in einem der erst in den letzten 40 Jahren entstandenen Quartiere an ihrer Peripherie. Dort, wo Einwanderer aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien ihre ärmlichen Behausungen aufgeschlagen haben: in den blinden Flecken der Stadt – den unübersichtlichen Labyrinthen der Bairros de Lata, in die sich kaum jemals jemand verirrt. Es ist die Geschichte von Vitalina Varela, die ihrem Mann von Cabo Verde nach Portugal folgt – 40 Jahre, nachdem er sie ohne ein Wort verlassen hat. Und die drei Tage nach seinem Begräbnis eintrifft, sich die Spuren ihres Lebens selbst zusammenpuzzeln muss. Eine Geschichte in dunklen Bildern, die wie Gemälde wirken. Ausgezeichnet – mit dem Goldenen Leoparden von Locarno 2019.


KINO CHICHINETTE

PERSISCHSTUNDEN

ENFANT TERRIBLE

Foto: © missingFILMs

Foto: © Alamode

Foto: © Weltkino

Deutschland 2019 Regie: Nicola Alice Hens Dokumentation Verleih: missingFILMs Laufzeit: 86 Minuten Start: 17. September 2020

Deutschland 2020 Regie: Vadim Perelman Mit: Nahuel Pérez Biscayart, Lars Eidinger u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 127 Minuten Start: 24. September 2020

Deutschland 2020 Regie: Oskar Roehler Mit: Oliver Masucci, Hary Prinz, Eva Mattes Verleih: Weltkino Laufzeit: 134 Minuten Start: 1. Oktober 2020

Keine zufällige Spionin

Die Erfindung einer Sprache

Ein atemlos kurzes Leben

(ewei). Sie ist 100 Jahre alt. Und es ist – wie bei allen Menschen ihres Alters – ein Wunder, dass sie noch lebt. Bei Marthe Hoffnung Cohn ist es freilich ein ganz besonderes: Im April 1920 im lothringischen Metz geboren, drohte ihr in der Nazizeit – wie allen damals lebenden europäischen Juden – die systematische Ermordung. Der nach der Besetzung Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht etwa auch ihre Schwester Stéphanie und auch ihr Verlobter ­Jacques nicht entgingen. Sie selbst konnte sich mithilfe ihr wohlgesinnter Nazigegner retten – woraufhin sie im letzten Kriegsjahr entschied, als Spionin für die Alliierten zu arbeiten und für das Ende des Kriegs zu kämpfen, auch wenn sie dabei erneut ihr Leben aufs Spiel setzte. Schließlich gelang der fließend Deutsch sprechenden jungen Frau, die Grenze zu überqueren, nach Freiburg zu gelangen und kriegsentscheidende Informationen zu ergattern. Eine erstaunliche Antifa-Geschichte, bestens recherchiert und in Szene gesetzt.

(ewei). Im Jahr 1942 hat Hauptsturmführer Klaus Koch, Küchenkommandant in einem SS-Übergangslager, genug von den Gräueltaten und dem Krieg des Naziregimes, dem er immer treu ergeben war. Und immer noch ist: Auch wenn er nicht mehr an den allenthalben beschworenen Endsieg glaubt und sich mit dem Gedanken trägt, noch vor dem ihm unabwendbar scheinenden Untergang das Land zu verlassen und irgendwo in der Welt ein Restaurant zu eröffnen, ist er doch weiterhin willfähriger Vollstrecker der herrschenden Menschheitsverbrecher. Das bekommt auch Gilles zu spüren, ein junger belgischer Jude, der von der SS verhaftet und ins Lager gebracht wurde und den Koch ohne zu zögern exekutieren lassen will. Doch Gilles hat ein auf Farsi verfasstes Buch bei sich, das sich als Lebensretter erweist: Ohne auch nur ein Wort Farsi zu beherrschen, gibt er sich als Perser aus und bietet Koch an, ihn die Sprache zu lehren – die er erst noch erfinden muss. Ein waghalsiges Projekt auf Leben und Tod.

(ewei). „Wenn sich jemand über die biederen Grenzen des deutschen Erzählkinos hinweggesetzt hat, dann Fassbinder. Das lässt ihn einzigartig scharf und schillernd dastehen“, sagt Regisseur Oskar Roehler über seinen berühmten Kollegen Rainer Werner Fassbinder, dessen atemlos kurzes und manisch arbeitswütiges Leben er nun in einem ziemlich großartigen Film nicht nacherzählt, sondern neu inszeniert. Möglicherweise so, wie es das „Enfant terrible“ des deutschen Kinos vielleicht selbst getan hätte. Wenn er denn dazu gekommen wäre. Doch der Autor von mehr als 40 Kinofilmen, sagt Roehler weiter, starb mit 37 Jahren, „auf dem Höhepunkt seines schöpferischen Ruhms“. Dem offenbar auch sein ungehemmter Drogenkonsum nur wenig anhaben konnte, wie der episodenhafte Rückblick der von Oliver Masucci ­kongenial verkörperten Filmikone nahelegt. Und die den Menschen und Künstler, der beruflich und privat polarisierte wie kein anderer, dennoch zerstörte – neben etlichen anderen Faktoren.


Verwüstete Leben BILDER UND GESCHICHTEN VON MENSCHEN HINTER GEFÄNGNISMAUERN

von Erika Weisser

Strafraum. Absitzen in Freiburg von Reinhild Dettmer-Finke, Thomas Hauser, Britt Schilling (Hrsg.) Verlag: Herder, 2020 112 Seiten, kartoniert Preis: 15 Euro

Doch der von Reinhild Dettmer-Finke, Thomas Hauser und Britt Schilling herausgegebene Band ist kein Ausstellungskatalog: Die Themen kreisen um Täter und Opfer, um Bewährung und Rückfall, um Gewalt und Einsamkeit, um Sinn und Unsinn von Strafe, um Wiedereingliederung und Sicherungsverwahrung, um Arbeit und Drogenkonsum, um Gefängnisarchitektur und Knastalltag. Und noch viel mehr. „Ich will hier raus“, schreibt Michael Philippi im April 2018 nach einer „zum Glück nicht eskalierten Auseinandersetzung zwischen zwei Häftlingen“ in sein Notizbuch. Um gleich und spürbar erleichtert „... und ich darf ja auch“ hinzuzufügen. Philippi ist einer von zwei VollzeitAnstaltspfarrern; als evangelischer Seel­sorger steht er den Gefangenen in ihren Lebenskrisen und -brüchen zur Seite. Und sitzt dabei nach eigener Aussage „oft dazwischen“: zwischen den „Abgründen menschlichen Seins und Scheiterns“ und dem „Dennoch der Vergebung“. Aus seiner Feder stammt der zusammen mit Thomas Hauser recherchierte Beitrag über die Geschichte der im Volksmund als „Café Fünfeck“ bekannten Strafanstalt. Philippi ist außerdem der erste Anstoß für das Zustandekommen dieses Buches – und der Ausstellung – zu verdanken: Seit vier Jahren nimmt die Fotografin Britt Schilling als ehrenamtliche Mitarbeiterin an seinen wöchentlichen Gesprächskreisen teil. Ge­meinsam entwickelten sie ein TagebuchProjekt, das schließlich in die inzwischen schon viel beachtete, durchaus großartige Bilderserie mündete.

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Foto: © Britt Schilling

M

it der Justizvollzugsanstalt (JVA) Freiburg und seinen regelmäßig mehr als 700 Insassen befasst sich das Buch „Strafraum. Absitzen in Freiburg“, das beim Herder-Verlag zur Eröffnung der gleichnamigen, noch bis zum März 2021 gezeigten Foto-Ausstellung an den Außenmauern des Gefängnisses erschienen ist.

Ein Bild im Buch zeigt: die innere Gefängnismauer mit den Vorderansichten der außen Abgebildeten.

Natürlich sind im Buch auch einige Seiten aus den Tagebüchern der am Projekt beteiligten JVA-Insassen abgedruckt. Auf einer ist etwa zu lesen, dass der Verfasser „mega happy“ ist, weil ihm das Jugendamt Informationen über die gute Schulentwicklung seiner Kinder geschickt hat. Außerdem kommt ein sogar namentlich genannter, seit 23 Jahren einsitzender Sicherungsverwahrter zu Wort – die JVA Freiburg ist für ganz Baden-Württemberg die zentrale Sicherungsverwahranstalt für männliche Täter. In einem Beitrag über „Verwüstete Leben“ beschreibt er die Hoffnungslosigkeit derer, die nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz von 1933 zu Sicherungsverwahrung verurteilt wurden – nach Verbüßen ihrer „tat- und schuldangemessenen“ Freiheitsstrafe. Sie, schreibt er, „haben zum einen die Leben anderer verwüstet, zum anderen sind sie selbst oftmals verwüstete Menschen“, deren Heimat eine 14 Quadratmeter große Zelle ist – „in nicht wenigen Fällen bis zum Tod“. Bedenkenswerte Gedanken, die auch der Bewährungshelfer Peter Asprion, der Strafrechtler Thomas Galli, der Rechtsphilosoph Martin Hochhuth und der ehemalige Anstaltsleiter Thomas Rösch aufgreifen. Mit unterschiedlichen Antworten. Denen der Leser seine eigenen hinzufügen kann.


FREZI

POCAHONTAS III – WARUM CORTÉS WIRKLICH SIEGTE

von Klaus Theweleit Verlag: Matthes & Seitz, 2020 609 Seiten, gebunden Preis: 38 Euro

Zivilisierte Mörder

GEISTERTURM

von Roland Weis Verlag: Rombach, 2020 304 Seiten, Paperback Preis: 12 Euro

Der Tote im Eis

(ewei). Ein Name, vier Silben: Po- (bar). Name: Alfred. Beruf: Lokalreca-hon-tas. Klaus Theweleit, der porter. Ausbildung: Studium der GeFreiburger Kulturwissenschaftler, schichte und Politik noch nicht abgehat mit diesen Silben des Namens schlossen. Wesen: Irgendwas zwischen der legendären Königstochter des Detektiv und Schwerenöter. Alfred nordamerikanischen Indigenen-­ also verliert eine Trinkwette, weil Stammes Powhatan vier Bücher be- Tschorli von den Hornochsen schneltitelt. Darin öffnet er auf annähernd ler den Aussichtsturm auf dem Hoch3000 Seiten eine neue Sicht auf die first über Neustadt erklimmen kann. Weltkulturgeschichte der Kolonisie- Alfred aber entdeckt oben eine Fratze rung. Etwa 20 Jahre lang arbeitete in der eisüberzogenen Turmwand. er an dem Mamutwerk. Mit „Hon“, Eine festgefrorene Leiche. Sieht ein dem dritten Band der Tetralogie, ist bisschen aus wie der Balzer Herrgott. es nun vollendet. Das ist die erste Geschichte für das Theweleit kommt in diesem Band Portal „Goodwood Wälder-News“, das anhand ausgiebiger und eindrück- Alfred mit Kumpels gerade ins Laufen lich bebilderter Exkursionen in his- bringt. Der rätselhafte Tote am Turm torische und kunsthistorische, aber legt den Grundstein zum neunten auch heutige Zusammenhänge zu Schwarzwald-Krimi von Roland Weis. dem Schluss, dass Hernán Cortés Im Turm hört Alfred später Stimmen. und die spanischen Conquistadores Und landet bei der Recherche bei Spiden neuen Kontinent nicht nur we- onagestorys aus dem Zweiten Weltgen ihrer Feuerwaffen eroberten. krieg. Bei der Neonazitruppe „GerechSondern vor allem wegen der von ih- te Rechte“. Er ermittelt. Was eigentlich nen eingeschleppten Haustierviren, Sache von Oberkommissar Siegfried die 95 Prozent der damaligen indige- Junkel ist. Der hat den Fall auf „Goodnen Bevölkerung umgebracht hätten bums Dingsbumms“ gefunden. – also „mindestens 20 Millionen Weis führt sein Personal peu à peu Menschen“. auf die Bühne der Geschichte. AuDie Technologie der Haustierdo- thentische Typen, von der frivolen Lamestikation, sagt Theweleit, habe es teinlehrerin Frau Dr. Silvia Win„in den Amerikas“ nicht gegeben. krewcz vielleicht mal abgesehen. Ob Die koloniale Eroberung basiere also das parapsychologische Institut aus außer auf militärischer auch auf zivi- Freiburg bei der Tätersuche helfen lisatorisch-technologischer Gewalt. kann, ob Alfred oder Junker den Fall Und, wie in der gesamten Geschich- aufklären, wenn überhaupt, sei an te fremder Landnamen, auf der ge- dieser Stelle nicht verraten. Wohl waltsamen Unterwerfung der Körper aber, dass Alfred auch noch den Balder Königstöchter. zer Herrgott geben wird.

FREIBURG 2020

von Peter Kalchthaler (Hrsg.) Verlag: Promo, 2020 164 Seiten, Broschur Preis: 20,20 Euro

Mehr als Bobbele (ewei). Peter Kalchthaler, Leiter des Museums für Stadtgeschichte und Herausgeber des offiziellen Jubiläumsbuchs der Stadt Freiburg, lässt keinen Zweifel daran: Lange vor dem heute als Gründungsjahr Freiburgs gefeierten Jahr 1120 lebten Menschen am Fuße des Schlossbergs. Und diese frühen Siedler trieben so erfolgreich Handel und Bergbau, dass der Zähringerherzog Konrad ihnen damals das Marktrecht verlieh. Seither hat die Stadt sich kontinuierlich entwickelt, haben nicht nur „wechselnde Herrschaften“ ihre bewegte Geschichte bestimmt und geprägt, sondern auch „einfache Bürgerinnen und Bürger, Kirchenleute, Mönche und Nonnen, Menschen in Politik, Wissenschaft und Kultur“. An sie wird erinnert; dabei ist es ein besonderes Verdienst des Autorenteams, dass außer vielen Freiburgern der frühen Jahre auch Persönlichkeiten Erwähnung finden, die mancher Leser noch selbst kannte: Tonio Pflaum, Emilie Meyer, Eugen Martin oder Rolf Böhme. Die Menschen sind in den kenntnisreichen historischen Abriss ihrer Epoche eingefügt. Weitere umfangreiche Kapitel setzen sich mit der Architektur auseinander, die in diesen Epochen entstanden ist, den Gebäuden und Plätzen. Ein sehr informatives und lesenswertes, mit Karl-Heinz Raachs Fotografien der Extraklasse bestens bebildertes Buch. SEPTEMBER 2020 CHILLI CULTUR.ZEIT 65


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